Tagebücher von Leira ================================================================================ Schwarze Tage ------------- Seid gegrüßt, meine lieben Leserinnen und Leser, seid gegrüßt! Vielen, vielen Dank für die zahlreichen Kommentare zum letzten Kapitel! Es ehrt mich, dass ihr... die Lösung des Falls gut fandet. Ja... irgendwann musste es mal aus ihm raus. Ich dachte auch, ich kann ihn das nicht ewig in sich hineinfressen lassen, und die Situation schien geeignet, ihn mal ein bisschen ausrasten zu lassen. Damit ist der Fall nun zu Ende... das heißt, ganz zu Ende noch nicht, denn es bleibt ja noch die Frage, wo die Tatwaffe jedesmal hinverschwunden ist ;D In diesem Sinne wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen, ich denke... das Kapitel ist... ziemlich emotional, wenn man es mal vorsichtig ausdrücken will. *hust* Also dann! Gute Unterhaltung, bis nächste Woche! Liebe Grüße, eure Leira :D _________________________________________________________________________ Kapitel 9: Schwarze Tage Gegenwart Guten Tag… Hier, mein sehr geehrtes Töchterchen, oder auch mein hochgeschätzter Sohn, gebe ich dir eine Lektion, die du dir merken solltest: Das Leben ist nicht fair. Hört sich grausam an, ist es auch; und was es noch grausamer macht, ist, es ist wahr. Nun; aber haken wir das fürs Erste ab. Manchmal gibt es doch noch Gerechtigkeit… oder zumindest so etwas in der Art. Sayuri schluckte. Es war früher Nachmittag, und sie hatte sich gefreut, endlich in Ruhe in seinen Aufzeichnungen schmökern zu können, nachdem sie am Vormittag wie auf Kohlen stundenlang in der Schule gesessen war… Aber das hier hörte sich keinesfalls unterhaltsam an. Es war nicht derselbe Plauderton wie immer. Irgendetwas musste passiert sein, an dem Tag, als er das hier geschrieben hatte… soviel war nach den ersten Worten schon klar. Sie holte Luft, drückte sich tiefer in die Kissen des Sessels, in dem sie kauerte, zog ihre Beine an. Ich hab wirklich lange… lange überlegt, ob ich dir das hier überhaupt aufschreiben sollte, weil es… mit Erinnerungen verbunden ist, die ich eigentlich lieber gleich wieder vergessen wollen würde, aber da ich das Thema in einem der vorangegangen Einträgen angerissen hatte, denke ich, bin ich dir schuldig, dir auch den Rest nicht vorzuenthalten. Schon allein, weil es auch in Bezug auf… meine Einstellung zu dir einen gewissen Einfluss hatte, aber dazu dann später. Es geht hier nun also… es geht um den Fall. Den Serienmörder. Du erinnerst dich? Sayuri nickte unbewusst. Die gute Nachricht ist, seit heute sitzt er hinter Schloss und Riegel. Wir konnten ihn endlich festsetzen, und nicht nur ich bin deswegen froh und erleichtert… Nun bin ich offensichtlich arbeitslos, weil ich morgen bei Meguré antanzen und meine Kündigung unterschreiben werde… aber jetzt kann ich das ruhigen Gewissens tun, weil ich erledigt habe, was noch zu erledigen war. Also kann ich mich jetzt um andere Dinge kümmern, die auch noch auf mich warten. Aber… nun, erstmal geht es um den Abschluss des Falls. Eigentlich könnte ich hier aufhören, und gleich zum Ende gelangen, aber ich denke… vielleicht interessiert es dich, wie ich herausgefunden habe, wer er ist, Kraft meiner außergewöhnlichen Brillanz… Due to my extraordinary brainpower, wie Sherlock Holmes sagen würde. Das Mädchen zog die Augenbrauen hoch, starrte kurz mit nachdenklicher Miene an die Wohnzimmerwand, seufzte. Eigentlich wäre der Vergleich mit seinem Idol doch etwas Witziges… aber irgendwie lockerte diese Phrase das alles nicht im Geringsten auf. Er klang etwas bitter… bedrückt. So, als hätte er sich etwas vorzuwerfen. Als wäre etwas passiert, dass er so nie haben wollte. Es war zwar deutlich herauszulesen, wie erleichtert ihr Vater über den Abschluss des Falls war; erst jetzt wurde ihr langsam klar, wie groß die psychische Belastung gewesen sein musste für ihn… Aber richtig fröhlich oder gar stolz klang er nicht. Der Fall war zu Ende. Aber was war passiert, das ihm immer noch zu schaffen machte? Sie suchte mit ihren Augen die Stelle, wo sie abgebrochen war und las weiter. Ich muss… dir wohl einfach erzählen… wie das alles dann doch… ein mehr oder weniger unschönes Ende, allerdings mit einer wohl wirklich… großen… Erkenntnis, genommen hat. Ich hoffe, du kommst damit klar, dass ich mich jetzt mal vor dir so derart ausschütten muss. Eigentlich ist mir das auch nicht Recht, denn du solltest meine Probleme nicht hören. Da ich aber wohl alles in allem ein einziges Problem in deinem Leben bin… kommt es wohl auf die paar nicht an… und in deiner Zeit… spielt das alles ohnehin schon alles keine Rolle mehr. Schon lange nicht mehr… du musst dir also keine Gedanken darüber machen. Ich muss hier nur mal was loswerden, und… die, mit denen ich in dieser Zeit reden könnte, hab ich heute schon genug vor den Kopf gestoßen. Ich will sie nicht noch weiter beunruhigen. Also. Fangen wir von vorne an, beim Fall an sich. Einige junge Frauen wurden ermordet, wie du ja weißt. Sie waren immer um die zwanzig Jahre alt, hatten langes, schwarzes Haar und arbeiteten als Kellnerinnen oder Barkeeperinnen, um sich ihr Gehalt aufzubessern. Sie alle wurden dadurch getötet, indem man ihnen die Halsschlagader durchtrennte. Alle immer in der Nacht von Sonntag auf Montag, immer um Mitternacht… Der Mörder hinterließ immer Perlenschmuck bei ihnen; kein Mord deutete auf Kampfspuren hin, also schlossen wir daraus, dass er die Opfer kannte, und sie wiederum ihn. Sie hatten ihm vertraut, und er nutzte dieses Vertrauen aus, brachte sie hinterlistig um… Wie du ja weißt, hat er mir Briefe geschrieben. Daraus schloss ich, dass es jemand aus meinem Umfeld sein musste, denn er wusste Dinge, von denen er als Außenstehender eigentlich nichts wissen konnte… Von Rans und meiner Hochzeit, von Rans Schwangerschaft, später… er kannte mich, mein Verhalten, meine Freunde. Er kannte mich viel zu gut. Als wir also wegen einer weiteren Mordankündigung einen polizeilichen Großeinsatz ausführten, wurde klar, dass es einer der drei Polizisten sein musste, der mit mir und Heiji in dem Lokal war, das wir beschatten sollten; denn es war unser Lokal, in dem der Mord geschah. Unser Lokal. Alle drei verloren wir kurz vor der Tat aus den Augen, und kurz nach der Tat waren sie wieder da. Sie alle drei kannten mich natürlich, schließlich waren wir alle im Morddezernat beschäftigt… und ein anderer Polizist war nicht vor Ort, auch kein anderer Bekannter von mir, ausgenommen Heiji, von dem wir wohl beide ausgehen, dass er kein Mörder ist. Sayuri schluckte. Schon wieder so ein Anflug von Humor, der gar nichts Spaßiges an sich hatte. Die Tatwaffe war in allen Fällen ein ziemlich großes Messer, und das war es, was uns die Aufklärung so schwer machte; wir wussten nicht, wo der Mörder das Messer gelassen haben könnte, nach seinem Mord. Wir wussten nicht, wie es sein konnte, dass es nicht auftauchte, dass außer der Blutlache um die Leiche nirgendwo Blut nachzuweisen war. Es war nie ein Messer aus der Küche der Lokale und Bars; und es wurden auch auf keiner Toilette, keinem Waschbecken und in keinem Abfluss Blutspuren gefunden, die auf eine Säuberung des Messers zurückzuführen wären, und auch in der Kanalisation, in den Abfalleimern und Müllcontainern war kein Messer zu finden. Das hier führte uns nicht weiter. Also versuchten wir, uns auf die Personenprofile zu konzentrieren. Alle drei waren auf ihre Weise verdächtig; allerdings nicht auf den ersten Blick. Man muss dazu wissen, dass der Schnitt, der den Opfern den Tod brachte, sehr präzise ausgeführt worden war; dass der Perlenmörder, so war sein Spitzname, pflegte, Zitate über Perlen zu hinterlassen, an den Tatorten manchmal, immer aber in seinen Briefen; und eins der Zitate wies darauf hin, dass der Mensch, der dieses Zitat ausspricht, keine Schönheit wäre; wörtlich lautete es: Sie lachten über mich und sagten, ich sei nicht gerade schön; ich gab ihnen zurück, in den Austern, die auch nicht schön wären, steckten Perlen. Die anderen waren: Perlen bedeuten Tränen. Wenn du dir eine Perle wünschest, Such sie nicht in einer Wasserlache. Denn wer Perlen finden will, muss bis zum Grund des Meeres tauchen. Ein Optimist ist ein Mensch, der ein Dutzend Austern bestellt, in der Hoffnung, sie mit der Perle, die er darin findet, bezahlen zu können. An der Krone funkeln die Perlen nur und freilich nicht die Wunden, mit denen sie errungen ward. Wie ein Meer sind Königsgnaden: Perlen fischt man, wo es ruht, aber hüte dich vor Schaden, wenn ein Sturm erregt die Flut. Das alles sind Zitate aus der klassischen Literatur. Nun ist es also so; einer der Verdächtigen hat Medizin studiert, was für die Tötungsart und deren Ausführung spricht; der andere hat Literaturgeschichte und Philologie studiert, was für die Zitate spräche; der dritte war nun… nicht besonders schön, wie ihn auch eins der Zitate beschreibt. Es galt also nun unter all diesen Verdächtigen den herauszufinden, der auch wirklich der Täter war. Und das ohne Tatwaffe. Wir recherchierten also, hauptsächlich Heiji und ich. Wir hielten unseren Verdacht, so gut es ging geheim, dass der Mörder ein Polizist war; schnüffelten ein wenig im Lebenslauf unserer Kandidaten herum. Dann kam der nächste Brief , nach dem Mord in der Bar, der den nächsten Mord ankündigte. Wir haben… diesmal unsere drei Männer beschattet, in Zweierteams. Shiho und Agasa, deine zwei Opas, Heiji und ich. Und nun… leider gingen unsere drei Beschattungsobjekte zusammen einen heben. Du kannst dir denken, wie wir geflucht haben. Wie sollten wir jetzt herausfinden, wer der Mörder ist? Das Lokal war proppenvoll, so dass wir unsere Verdächtigen sehr schnell aus den Augen verloren haben. An diesem Abend geschah auch tatsächlich wieder ein Mordanschlag. Allerdings konnten wir diesmal verhindern, dass die junge Frau starb; aber der Täter hatte sich in einen Mantel gehüllt, ein Kapuzencape. Das bewies, was wir ahnten; dass er sich so vor Blutflecken schützte, die ihn verraten konnten. Und… verhinderte auch gleichzeitig, dass man sein Gesicht sehen konnte. Ich war der, der ihm nachgelaufen war. Und ich sah das Messer… als er der Frau damit den Hals durchschneiden wollte. Das silberne Aufblitzen im Mondschein… wie die Frau plötzlich zusammenbrach… Ich werde das nie vergessen können. Ich hab nur noch auf sie gestarrt… mitbekommen, wie der Täter flüchtete, aber ich konnte nicht erkennen, wer es war, es war zu dunkel, das Cape hatte sein Gesicht verhüllt… es… ich konnte ihn nicht aufhalten, ich hab daran auch nicht gedacht, ich rannte zu der Frau. Sie lebte noch. Ich hatte ihn doch wohl soweit überrascht, dass er nicht richtig geschnitten hat, aber sie verlor dennoch viel Blut. So viel Blut… Ich… dieser Ausdruck in ihren Augen, diese Angst… Ich kümmerte mich um sie, versuchte, die Blutung zu stillen, wobei mir mein Vater half, der dann ebenfalls angerannt kam; irgendwann dann kam endlich auch der Krankenwagen. Eigentlich geb ich das nicht gern zu, aber ich stand wohl doch irgendwie unter Schock, an diesem Abend… es ist alles schief gelaufen, was schief laufen konnte, nur eines hatten wir doch geschafft… es gab kein neues Todesopfer. Die Frau überlebte. Sie trägt heute eine große Narbe; aber sie ist davongekommen. Sie lebt. Nun… nach diesem Abend ging es natürlich weiter mit Ermittlungen, fieberhafter als je zuvor, und im Zuge dessen stieß ich auf einen weiteren Hinweis. Einer unserer Verdächtigen hatte vor einem halben Jahr seine Freundin bei einer Messerstecherei in einer Bar verloren. Sie war die Bardame gewesen. Ich hatte so etwas in der Art schon lange vermutet, aber jetzt hatte ich den Beweis für das Motiv; und noch eine Entdeckung machte ich… derselbe Polizist hatte sich vor ein paar Monaten einer Operation unterzogen. Er hatte sich sein Gesicht verändern lassen. Es war der Mann, der das Literaturgeschichtsstudium beendet hatte. Er war vorher ‚nicht schön’ gewesen. Und die Methode, wie er seine Opfer umbrachte, war der angeglichen, wie seine Freundin ermordet worden war. Es passte alles. Einfach alles. Nur beweisen konnten wir es nicht. Ich erklärte es Heiji, was ich wusste; alles bis auf den Namen und die Sache mit der Operation. Das wusste ich zwar, aber das zu erzählen, dazu kam ich nicht mehr. Mich beschlich so ein Gefühl… Wir waren im Büro, ich war mitten in meinen Ausführungen, als mir auffiel, dass eigentlich deine Mutter mich hätte abholen kommen sollen; aber sie kam nicht. Sie kam nicht! Sie hätte schon längst da sein sollen, aber sie war es nicht. Und dann sah ich zur Tür; dort lag ein weiterer Brief. Vom Perlenmörder. In ihm stand das letzte Zitat. Es war klar, was es bedeutete… er hatte an der Tür gelauscht, und wusste, wie es um ihn stand. Er hatte Angst, und war zu allem fähig. Würde alles tun, was er tun musste, um sein Ziel noch zu erreichen. Der Mann hatte dich und deine Mutter entführt, als er erkannte, dass er so gut wie überführt war. Er war verzweifelt, er wollte sein kaputtes Leben dadurch aufwerten, indem er ein anderes Leben auch ruinierte. Meins. Wir fuhren also mit der Polizei zum Haus unseres Literaturfreundes um deine Mutter zu befreien… und dich. Als wir ankamen… als ich ins Wohnzimmer lief… stand er da… stand da… Ran… sie war gefesselt, geknebelt, und er hielt ihr dieses Messer… dieses Messer an den Hals. Er sagte, er hätte mich erwartet, und warf mir seine Waffe zu. Du musst wissen, ich trug nie eine Pistole, keinen Revolver, ich wollte keine Schusswaffe haben… ich konnte schießen, ja. Ich tat es auch, wenn ich musste, aber ich könnte nie jemanden umbringen damit, und deshalb wollte ich auch keine Waffe ständig bei mir haben. Der Perlenmörder… Officer Saijo, wie er eigentlich hieß… stellte mich vor die Wahl, entweder ihn zu erschießen oder zuzusehen, wie er Ran… und dich… tötet. Sayuri glitt das Buch aus den Händen. Sie saß da, ihr Brustkorb hob und senkte sich hektisch. Mittlerweile war ihr klar geworden, warum ihr Vater nicht einfach grenzenlos erleichtert sein hatte können, dass der Fall beschlossen war. Sie wusste zwar, dass sie es offensichtlich alle heil überstanden hatten, aber sie konnte sich ausmalen, wie diese Stunden für ihren Vater hatten sein müssen. Wie die Erinnerung ihn, als er das hier alles aufgeschrieben hatte, immer noch gequält hatte. Warum, so fragte sie sich jedoch, hatte es ihr dann eigentlich unbedingt erzählen wollen? Sie schluckte, merkte, dass ihre Kehle ausgetrocknet war, holte sich aber nichts zu trinken, sondern griff nach dem Buch, schlug es wieder auf. Sie biss sich auf die Lippen, als ihr Blick über die nächsten Zeilen glitt. Halte mich für wen oder was du willst, aber konnte ihn nicht erschießen. Nicht einmal dann. Nicht einmal, als er drohte, euch umzubringen. Ich frag mich selber, was mit mir los war… eigentlich sollte die Entscheidung doch klar sein, aber ich bin… bin einfach nicht zum töten gemacht. Abgesehen davon, dass ein Restrisiko für euch blieb… ein nicht zu verachtendes Restrisiko, dass er Ran doch noch umbringt… Ich sollte aufhören, mich zu verteidigen. Nun… natürlich konnte ich aber auch nicht zulassen, dass er euch tötet… Ich wusste nicht, was ich tun sollte, um ehrlich zu sein. Ich weiß nicht, ob ich ihn noch erschossen hätte, wäre dann nicht das passiert, was sich in den nächsten Minuten abgespielt hatte. Ich kann es dir wirklich nicht sagen. Ich will auch gar nicht darüber nachdenken… Ich hab ihn also gefragt, in meiner… Zerrissenheit, in meiner Verzweiflung, warum er das tat… warum er nicht einfach nur mich umbringen wollte, wenn er doch ein Problem mit mir hatte. Und dann erklärte er es mir. Erklärte mir, warum er das tat, warum er euch… umbringen wollte, warum er all die Mädchen ermordet hat. Er wollte wirklich, dass ich unglücklich bin, weil ich es seines Erachtens zu schön hab. Gefeiert, gebildet, berühmt, geliebt, geachtet… wohlhabend. Er wollte nur das. Nicht meinen Tod. Sondern mein Unglück. Mein Leid. Er wusste, ich könnte nicht mehr glücklich sein, wenn ich Ran sterben lasse, und dich, und er wusste, ein Mord würde mich ebenfalls zugrunde richten. Ich weiß nicht, wie man beschreiben kann, was in diesem Sekunden mit mir passiert ist. Hab ich die Nerven verloren, meinen Verstand? Auf alle Fälle die Kontrolle über beides… Als er mir das eröffnet hatte, ist es mit mir durchgegangen. Ich verlor die Beherrschung über mich, über das, was ich sagte und tat. Ich hab ihm seine Waffe entgegengeschleudert, ich war so wütend… ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben so wütend gewesen zu sein. Da stand er… dieser… dieser… Bastard… und behauptet, mein Leben wär zu gut für mich. Der Kerl hatte doch keine Ahnung! Nicht den blassesten Schimmer…! Wie das ist… wie das ist, wissen zu müssen, nicht nur, dass man stirbt, sondern wann man stirbt… Und das nicht so bald ist, dass man es gleich hinter sich hätte, sondern erleben darf, wie der Abschied, der Schmerz sich über Monate zieht… Wenn man richtig Zeit hat, zu sehen, zu erleben, was man alles hinter sich lassen muss, verliert, … und doch so bald schon, zu bald, dass man soviel nicht mehr erlebt. Wie kann er da… wie kann er es wagen, mir da mein Leben noch mehr ruinieren zu wollen… Er hat nur gesehen, wie erfolgreich ich bin… was für eine wunderbare Frau ich hab… dass ich mir keine finanziellen Sorgen machen muss… er sah nur das… Er hat tatsächlich geglaubt, er hätte so gut über mich recherchiert, aber das Wichtigste hat er nicht herausgefunden. Er stand da, mit einer Dreistigkeit, einer Ignoranz, in seinen Worten, setzte Ran ein Messer an die Kehle, ich hab echt geglaubt… ich dreh gleich durch… Das konnte doch nicht wahr sein… nach allem was ohnehin schon passiert, bleibt mir wohl wirklich nichts erspart. Nun… Ich... ich weiß immer noch nicht, wie das passieren konnte… warum ich so viel erzählt hab… warum ich so geschrien hab, so aus der Haut gefahren bin… wahrscheinlich tat ich es, weil es wohl wirklich die einzige Chance war, euch zu retten, ohne zum Mörder zu werden… ich… ich hab ihm erzählt, was ich allen anderen nie erzählt hab, meine Sichtweise zu meiner Situation, wie das alles ist für mich, ich hab viel zu tief blicken lassen. Ich hab mich so geschämt hinterher, ich hätte mich besser im Griff haben sollen, aber ich konnte nicht mehr… diese Angst um euch, die Wut auf ihn, die Frustration über mein Leben, das alles…gab mir den Rest, in diesem Minuten. Nun, damit hatte er nicht gerechnet. Das hat ihn so… überrannt… dass er die Geiselnahme aufgab. Ich glaube, ich tat ihm Leid. Makaber, oder? Er hat sich sogar entschuldigt hinterher… aber was bringt das noch? Die Mädchen werden davon nicht mehr lebendig. Rans Angst, die sie heute aushalten musste, kann man damit auch nicht mehr ungeschehen machen. Es hätte sonst was passieren können… sie hätte… hätte…dich… Sayuri sog scharf die Luft ein. Sie wusste genau, an was er gedacht hatte, als er das geschrieben hatte. Und offensichtlich nahm es ihn so sehr mit, dass er es nicht mal aufschreiben konnte. Nicht nur das Leben ihrer Mutter hatte auf dem Spiel gestanden. Auch… aber nicht nur. Sie fröstelte, dann las sie weiter. Und all die schlaflosen Nächte, all die Augenblicke, in denen ich in den Wochen während der Ermittlungen mir die Schuld gab für all das Leid… das wird dadurch nicht mehr gut gemacht. Ich kann ihm das nicht verzeihen. Glaub mir, eure Entführung… das waren die bisher schlimmsten Minuten meines Lebens. Es dauerte wahrscheinlich nur knappe zwei Stunden, bis alles über die Bühne war; aber es war furchtbar… einfach nur furchtbar. Ich hatte solche Angst, dass er euch etwas antun könnte. Der Mann war… ist… geistesgestört. Er leidet an einer Persönlichkeitsspaltung… er ist unberechenbar. Und das, weil er die Liebe seines Lebens verloren hatte. Den Fall bearbeiteten damals Meguré und Takagi. Allerdings war es unmöglich, den Täter zu bestrafen; er wurde nie gefasst. Das hat ihm wohl den Rest gegeben, und so suchte er wohl, neben seiner verzweifelten Suche nach Ersatz für seine Freundin, auch einen Weg, seiner Wut Ausdruck zu verleihen, seine Liebe zu rächen und irgendjemanden bezahlen zu lassen. Ich muss zugeben, ich hab an den Fall zuerst nicht gedacht… ich wusste nicht, dass es Saijos Freundin war, ich war darin nicht involviert gewesen, weil ich auswärts in Osaka Heiji bei einem anderen Fall geholfen hatte. Ich weiß nicht, warum er sich genau mich ausgesucht hat für meine Rache, abgesehen von der Tatsache, dass er wohl meinte, mir gings zu gut, nachdem er Heiji über meine Hochzeit hatte reden hören und sich die Mühe gemacht hatte, sich mich und meinen Hintergrund ein wenig genauer anzusehen. Ich weiß nicht, warum er mich bestrafen wollte. Ich frage mich, ob es etwas geändert hätte, wäre ich damals bei den Ermittlungen hier gewesen. Wenn man den Täter gefunden und bestraft hätte. Nun. Er verlor den Verstand, und wollte Rache, wollte seine Liebe zurück, und kam auf solche Abwege… das ist tragisch… irgendwo ist er wohl bemitleidenswert. Andererseits auch wieder nicht, er hatte ja mit mir auch keins… als er meinte, er müsse mich kaputtmachen. Ich bedaure so sehr, dass sie alle sterben mussten… wegen mir. Dass ich so langsam war… Und hätte ich damals den Fall seiner Freundin bearbeitet, wäre es vielleicht nie so weit gekommen, wer weiß... Er hätte sie nie umgebracht, diese Frauen, nie dich und deine Mama entführt, ich hätte nie so ausrasten müssen… Aber was hilft alles Spekulieren im Nachhinein… gar nichts. Um ehrlich zu sein, schäme ich mich immer noch gewaltig, da so die Nerven verloren zu haben… nicht so sehr vor ihm, aber vor den anderen. Vor Takagi, Meguré, Heiji und meinem Vater. Was müssen sie jetzt denken… diese Minuten werden sie wohl nie vergessen, egal was ich dagegen sage, es wird kaum Gewicht haben. Dabei will ich ihnen doch keine Sorgen machen… ich hätte mich ihretwillen besser im Griff haben sollen… aber was wäre dann aus euch geworden? Ich weiß es nicht. Eigentlich kann ich aufhören, mir Gedanken zu machen, es ist ohnehin vorbei jetzt. Es ist nicht mehr zu ändern. Aber mit ihnen reden will ich jetzt auch nicht. Sonst mach ich ihnen noch mehr Sorgen. Außerdem seid ihr wieder hier, das ist das Wichtigste… alles andere wird mit der Zeit wohl wieder etwas… abflauen. Ich werde morgen meine Kündigung unterschreiben… und dann muss mich wohl jetzt für den Rest meiner Tage zu Tode langweilen :) Zum ersten Mal huschte ein winziges Lächeln über Sayuris Lippen. Langsam schien er zur Ruhe gekommen zu sein, während er all das losgeworden war, was ihn an diesem Tag so schwer zu schaffen gemacht hatte. Ach ja; und die Letzte, die Frage aller Fragen, ist hiermit auch geklärt: wo war die Tatwaffe? Nun; da er ein Polizist war, konnte er sich gleich zu Beginn aus dem Täterkreis raushalten; er versteckte das Messer, das unbenutzte Messer, wohlgemerkt, am Körper; zumeist wohl in einer Scheide oder etwas ähnlichem gesichert im Schaft eines seiner Stiefel. Da er Kripobeamter ist, trug er bei solchen Einsätzen keine Uniform, konnte also tragen, was er wollte. Und hinterher… als wir ihn dann verdächtigten, konnten wir ihn nicht filzen lassen, denn sonst hätten wir Meguré damals schon gestehen müssen, dass die Briefe an mich waren, nicht an Heiji, und damit hätte man uns beiden erstens, den Fall entzogen und zweitens, Heiji wäre seinen Job wohl los gewesen, weil er für mich gelogen hatte. Er hatte gesagt, dass er die Briefe gekriegt hätte, was so nicht stimmte; sie waren alle an mich adressiert. Hätte aber Meguré das gewusst, hätte er mich aus den Ermittlungen ausgeschlossen, und das wollte ich nicht, egoistisch, wie ich bin. Ich… konnte es nicht, den Fall abgeben... ich fühlte mich verantwortlich, weil die Sache ja so persönlich wurde und außerdem… brauchte ich den Fall noch. Ich musste noch etwas haben, wo ich mich nützlich machen konnte… und so hat Heiji für mich den Kopf hingehalten. Auf eigene Faust. Und ich kann ihm das nicht hoch genug anrechnen, denn er hat wirklich viel riskiert… Meguré weiß es jetzt doch, aber er wird das nicht weitergeben. Wohl… mir zuliebe. Einer der letzten Gefallen, die er mir noch machen kann, ist meinen Freund, der mir geholfen hat, dafür nicht hinzuhängen. Nun, das ist also der Grund warum wir sie nur nach ihren ‚Alibis’ also ihren Aufenthaltsorten während der Tatzeit befragen konnten, und das brachte kein Ergebnis. Außerdem hätte man an ihm weder Blut in seiner Kleidung noch das Messer gefunden, denn wie er die Tatwaffe loswurde, gleicht einem Zaubertrick; er wickelte das Messer in das Cape, dass er trug, damit man sein Gesicht nicht erkannte und ihm kein verräterischer Blutstropfen auf die Kleidung fiel; das Cape war für einer dieser Plastikregenumhänge und passte zusammengefaltet in seinen Jackenärmel. Dann, und stell dir das mal vor… klemmte er es unter ein parkendes Auto… und davon fuhren unsere Beweise. Sie fahren wohl jetzt noch irgendwo in Tokio rum, wenn sie nicht irgendwo mal verloren gingen. Das muss man sich jetzt mal auf der Zunge zergehen lassen. Auf Ideen kam der Mann… irgendwo muss man fast seinen Hut ziehen. Tja. That’s life. Mein letzter Fall… gelöst und ad acta gelegt. Und nun… werde ich also mein Leben genießen, wie’s deine Mutter ausdrückt. Ach ja… ich hatte dir ja auch noch eine Erkenntnis versprochen, nicht wahr? Die Lösung des Falls und die Erkenntnis, die mich getroffen hat wie ein Schlag ins Gesicht. Nun. Tatsache ist, der heutige Tag hat mich wohl wenigstens eines gelehrt, was man als ‚gut‘ bezeichnen kann… mir ist klar geworden, wie viel du mir eigentlich schon bedeutest. Seit heute ist mir klar, wie gern gerne ich jemanden zumindest vom Aussehen her kennen lernen würde, und zwar dich, wie du dir wohl denken kannst… also dachte ich… Ich könnte ja versuchen, ob ich dich noch abwarten kann. Ein wenig Zeit schinden, im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten. Ich hab keine Lust, mir von meinem Schicksal alles nehmen zu lassen. Es ist so doch schon wirklich ungerecht genug zu mir. Irgendwo muss sich die Waage doch halten können… man kann mir doch nicht alles verwehren… Nein. Das kann so doch auch nicht angehen… Sayuri schaute auf. Sie meinte, den trotzigen Ton in seinen Worten, seinen Gedanken, fast herauslesen, heraushören zu können. Du wirst wohl jetzt wissen wollen… warum ich auf den Gedanken nicht früher kam? Ganz einfach… ich hab nicht daran zu denken gewagt. Ich gebe zu… auch wenn ich diese Bücher hier schreibe und all das drum herum… so hab ich doch bis jetzt versucht, zu dir ein wenig Abstand zu waren, ich bin da wohl ein wenig feige gewesen, ich habe Angst, ja… ich wollte mir den Abschied vom Leben nicht schwerer machen als nötig. Mir keine Hoffnung machen… auf etwas, das so unwahrscheinlich ist. Aber mir ist da jetzt durch die jüngsten Ereignisse eins klar geworden. Ihr wart nicht lange weg… du und deine Mutter… als er euch entführt hat. Als der Serienmörder mich erpressen wollte, mich ruinieren wollte, indem er mich vor die Wahl stellte, zuzusehen, wie er sie… euch… tötet, oder selber einen Mord zu begehen… Aber ich kann dir sagen… das waren die schlimmsten Momente meines Lebens. Ich hatte Angst; sehr, sehr große… unfassbar große Angst um deine Mutter… und auch um dich. Und da sah ich eins ein… dass das, was ich vermeiden wollte… nämlich, mich allzu sehr an… an den Gedanken zu gewöhnen dass du meine Tochter bist, oder mein Sohn… mein Kind… schon längst eingetreten ist. Ich wollt‘s nur nicht wahrhaben. Mir wurde klar, dass ich diesen Kampf schon längst verloren hatte. Du warst schon wesentlich präsenter in meinem Leben, als ich es je zulassen wollte, das mag sich jetzt hart anhören für dich, aber es ist so. Ich fürchte… fürchte mich vor dem Zeitpunkt, an dem ich Lebwohl sagen muss. Und ich will ihn für mich und auch für alle anderen nicht schrecklicher machen, als er unbedingt sein muss, indem ich mich in was hineinsteigere, etwas ersehne, erhoffe... Ich werde sterben, bald, mit dem Gedanken müssen wir uns abfinden. Egal wie sehr ich mich sträube, mich wehren will… das Ende wird kommen, und das in sehr absehbarer Zeit. Aber bevor ich gehe… will ich dich noch sehen. Ich will sehen, wie du hier ankommst, bevor ich diese Welt verlasse. Und ich merke, ich werde mal wieder schrecklich pathetisch hier. Nimms dir nicht zu Herzen, das machen die Umstände aus mir :) Und nun; wünsche ich dir einen schönen Tag... Ich... ich geh jetzt wohl besser mal zu deiner Mutter… ich glaub, das sollte ich wirklich, sie hat ja auch einen harten Tag hinter sich. Bis die Tage! Sayuri seufzte, legte das Buch beiseite, schlang ihre Arme um ihre Beine und legte ihr Kinn auf ihre Knie. Sie fröstelte. Das was sie gerade zu lesen bekommen hatte, war nicht leicht zu verdauen... schließlich ging es irgendwie auch um ihr Leben. Klar, es lag weit zurück und sie war ja hier. Sie existierte. Aber... Aber... Sie seufzte, strich sich über ihre Unterarme, merkte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. Und... dann kam noch dazu, was er alles durchmachen hatte müssen. Er tat ihr so Leid. Dieses Geständnis, dass ihm da wohl abgerungen worden war… schien ihm wirklich unangenehm zu sein. Er schien wohl nicht zu wollen, dass sein Elend… seine Gefühle… so sehr nach außen drangen, genau wie ihr alle bis jetzt immer erzählt hatten. Er wollte sein Leid für sich behalten, die anderen nicht belasten. Da hatte man ihm wohl gründlich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Hie und da konnte man zwischen den Zeilen lesen, dass es ihn ziemlich mitgenommen hatte… aber er hatte den Fall immerhin gelöst. Und so bitter sein Erfolg auch gewesen war, angesichts der vielen Opfer und der Tatsache, dass es sein letzter dieser Art gewesen war… so war es doch faszinierend, zu sehen, wie er seine Arbeit erfolgreich zu einem Abschluss gebracht hatte. Sie war sehr stolz auf ihn. Er war wirklich brillant gewesen. Passioniert und brillant. Noch mehr als der Fall interessierten sie allerdings die letzten paar Zeilen. Da war es also gewesen… das war das Ereignis, nachdem er sich entschlossen hatte, seine Prognose zu toppen und ihre Geburt erleben zu wollen. Eine Träne rollte über ihre Wange, ohne dass sie es verhindern konnte. Sie hatte ihn dazu gebracht, doch noch weiterzukämpfen… nicht aufzugeben. Es zu versuchen, seine Zeit zu verlängern… Sie wusste, dass ihm das gelungen war, ja; aber nicht, ob er sein Ziel erreicht hatte. Hatte er? Hatte er sie noch… ankommen sehen? Bevor er… bevor er… Sie schluckte, wollte das Wort nicht denken. Sie wusste, es war kindisch, aber sie wollte das Wort gestorben nicht mit ihrem Vater in einem Satz nennen. Dann wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als ihre Mutter ihren Kopf ins Zimmer streckte. „Sayuri?“, fragte Ran leise. „Kannst du nicht anklopfen?“, entgegnete ihre Tochter ihr unwirsch. Sie griff sich das Buch hastig, versteckte es hinter ihrem Rücken. Ran schluckte, schüttelte den Kopf. „Du brauchst es nicht zu verstecken. Hätte ich es lesen wollen, hätte ich sie alle schon während der letzten fünfzehn Jahre lesen können. Ich hab es nicht getan, weil Shinichi mich drum gebeten hat es nicht zu tun; er wollte gerne, dass es etwas gibt, das nur ihr beide teilt.“ Sie seufzte schwer. „Hör zu, ich kann verstehen, dass du wütend bist.“ Ran schaute ihre Tochter lange an. Die Ähnlichkeit war wirklich frappierend; diese Augen waren den seinen so ähnlich, dass es ihr manchmal schien… als würde er sie ansehen. Der Gedanke wühlte in ihr. Sie wusste, der Tag war nahe… der Tag, an dem es sich jährte… Shinichis Todestag. In ein paar Wochen würde es wieder soweit sein, und wie jedes Jahr graute ihr auch dieses Jahr wieder vor diesem Datum. Mehr, als je zuvor, wenn sie ehrlich zu sich war. Und plötzlich wusste sie nicht mehr, was sie ihrer Tochter hatte sagen wollen. Sie wusste nicht mehr, warum sie hier war, in der Tür stand. Sie schluckte, starrte sie an; Sayuri verzog das Gesicht, schaute sie grübelnd, nachdenklich an. Und dieser Anblick gab Ran den Rest. Das war Shinichis Gesicht, wenn er nachdachte, Shinichis Gesicht! Warum hatte sie ihm so ähnlich werden müssen? Sie wandte den Kopf heftig ab. Dann drehte sie sich wortlos um, ging. Eilte hinaus, raus auf die Straße, flüchtete fast. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich etwas überzuwerfen; sie hatte nicht vor, lange draußen zu sein. Sie wollte zu ihren Eltern. Sie brauchte jetzt jemanden, der sie auffing… denn sie merkte bereits, wie sie den Halt verlor. Zu fallen drohte. Und während Sayuri, einigermaßen verwirrt, im Wohnzimmer zurückblieb und ihr Buch wieder aufschlug, klingelte Ran bei ihren Eltern. Eri machte ihr auf, schaute sie erstaunt an, zog sie dann ohne ein weiteres Wort herein. „Schht. Sag nichts.“ Sie drückte sie an sich, streichelte ihr übers Haar, als Ran an ihrer Schulter zu weinen anfing, sich hilfesuchend an ihre Mutter klammerte. Kogorô, angelockt von der Türklingel, blieb abrupt stehen, als er seine weinende Tochter im Flur stehen sah. „Ich will ihn zurück…!“ Ihre Stimme klang heiser, schien eine ganze Oktave höher als sonst. „Ich will ihn wieder, ich halt das nicht aus, ich… warum…?“ Sie schluchzte, zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub. „Warum, warum, warum?“ Ihre Stimme verlor sich. Langsam begannen Rans Finger kalt zu werden, der Gedanke an ihn, der Gedanke, dass er nicht mehr hier war, auch nicht wieder kam, war nach fast fünfzehn Jahren immer noch genauso schmerzvoll, genauso schwer zu ertragen, wie damals. In ihr tobte es. Einerseits schämte sie sich, dass sie jetzt wieder so schwach war, nicht stark sein konnte, und andererseits quälten sie der Verlustschmerz und ihr schlechtes Gewissen gegenüber Sayuri. Eri drückte sie fester an sich, strich ihr über den Rücken, flüsterte beruhigend in ihr Ohr. „Sch… Ran…“ Sie warf Kogorô einen bekümmerten Blick zu. Es kam nicht oft vor, dass Ran zusammenbrach. Sie war so stark, so tapfer gewesen, die letzten Jahre, hatte die Aufgabe, ihre Tochter großzuziehen, sehr ernst genommen, war ihr eine fürsorgliche, liebevolle Mutter, stets; aber manchmal… üblicherweise einmal im Jahr… kam ein schwarzer Tag für Ran. Dann war für sie die Welt kein schöner Ort mehr; dann musste sie raus, aus ihrem Haus, und auch weg von ihrer Tochter, weil die Erinnerung und seine indirekte Präsenz ihr die Luft zum Atmen raubten, ihr ihren Verlust so deutlich machten, dass sie es nicht ertrug. Früher hatten sich dann Yukiko und Yusaku um die Kleine gekümmert; als sie älter wurde, war Ran auch mal unter einem Vorwand gegangen, hatte Sayuri zuhause, beim Professor oder mit ihren Freunden gelassen. Wer wusste, wie es heute, unter diesen neuen Umständen gelaufen war. „Rufst du bitte Yukiko an, damit sie bei Sayuri vorbeischaut?“, murmelte Eri leise. Kogorô nickte, wollte sich gerade umdrehen, als er sie schreien hörte. Ran. „Das ist nicht fair, nicht fair! Ich will ihn wiederhaben, warum hat man ihn mir weggenommen…?!“ Tränen strömten ihr über die Wangen, in ihren Augen lag so viel Unglück, soviel Schmerz, als sie sich immer noch an ihre Mutter klammerte. Kogorô starrte sie an, merkte, wie sich sein Magen zusammenzog. Und einmal mehr wurde klar… wie sehr… sie ihn vermisste. Wie sehr sie ihn immer noch liebte. Shinichi. Sie würde über ihn nie hinwegkommen. „Es ist nicht gerecht…!“ Ihre Stimme war wieder herabgesunken auf ein leises Flüstern. Eri zog sie mit sich ins Wohnzimmer, auf das Sofa, hielt sie fest, während ihre Tochter sich ausweinte; Kogorô ging in die Küche, telefonierte mit Yukiko, die ihm versicherte, sofort zu ihrer Enkelin zu gehen, dann kochte er Kaffee. Als er damit fertig war, hatte sich auch Ran wieder einigermaßen beruhigt. „Ich weiß nicht, was ich tun soll…“, murmelte sie gerade, als Kogorô mit dem Tablett das Wohnzimmer betrat. Ihre Augen waren immer noch rotgeweint, aber sie schniefte nur noch leise, ab und an. Dankbar nahm sie die Tasse, die er ihr reichte, nippte an dem heißen Getränk. „Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“, wiederholte sie heiser. Sie seufzte. „Ich wünschte, ich könnte mich endlich abfinden, damit… ich wünschte, ich hätte die Kraft, mit ihr mal vernünftig über ihren Vater zu reden. Ich kann ja verstehen, dass sie wütend ist, ja! Ich wäre es auch, an ihrer Stelle, und wie…“ Sie schluckte. „Aber ich konnte, kann nicht über ihn reden, das versteht sie einfach nicht… Ich würds an ihrer Stelle wohl auch nicht. Aber sie… sie weiß nicht, wie es ist, ihn verloren zu haben, denn wirklich hatte sie ihn nie. Sie kann nicht wissen, aber auch nicht nachvollziehen, wie ich mich fühle. Sie trauert, dass sie ihn nicht kennen lernen durfte, ja, dazu hat sie jedes Recht; sie findet es unfair, dass ich zuließ, dass sie so ein falsches Bild von ihm kriegt, und auch da hat sie Recht...“ Eri seufzte, legte ihr beruhigend eine Hand auf ihren Arm. Ran seufzte, warf ihr einen scheuen Blick zu, ehe sie wie gebannt in ihre Kaffeetasse starrte, als läge auf deren Grund die Lösung all ihrer Probleme. „Aber sie kann nicht abschätzen… nicht… ahnen… wie schwer es ist… immer noch… ihn gekannt zu haben, und verloren… wenn einem nichts weiter bleibt als die Erinnerung daran… wie es mit ihm war…“ Ran durchlief ein leises Zittern, dann hatte sie sich wieder im Griff. „Ich will ihn zurück.“, wisperte sie. „Mausebein…“ „Ich weiß, es ist albern.“ Sie runzelte ihre Stirn, schaute ihren Vater an. „Ich weiß, er ist tot, ich war dabei, als er starb, ich kann mich daran noch erinnern, als wäre es gestern gewesen…“ Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange, tropfte von ihrem Kinn. „Aber ich vermisse ihn. Ich vermisse, dass er nicht mehr neben mir liegt, wenn ich morgens aufwache. Ich vermisse, dass er mich anlächelt, den Blick in seinen Augen, wenn er mich ansah. Mir fehlt sogar, dass er nicht mehr in der Küche sitzt und Zeitung liest... und der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee, den er schon gemacht hatte, wenn ich kam. Ich vermisse den Klang seiner Schritte, die man immer hörte, wenn er in seinem Büro Kreise lief, weil er sich bewegen musste, wenn er grübelte… ich… ich vermisse, von ihm in den Arm genommen zu werden…“ Ihre Stimme wurde weinerlich. „Ich vermisse den Klang seiner Stimme… ich vermisse das Gefühl, dass ich empfunden hab, wenn er mich geküsst hat… ich vermisse die Wärme, die Nähe, die ich immer spüren durfte, wenn er mich an sich gedrückt hat… dieses Gefühl der Geborgenheit, des Schutzes, des sich-aufgehoben-Fühlens… ich vermisse es… ich vermisse es…“ Immer mehr Tränen verließen erneut ihre Augenwinkel, ihre Finger krampften sich um ihre Tasse. „Er war immer für mich da… und ich vermisse das… ich vermisse ihn… seit er weg ist, fühle ich mich nur noch halb… ich… er fehlt mir...“ Eri und Kogorô starrten sie an. Ihr Vater schluckte schwer, merkte, wie ihm langsam die Luft wegblieb. Es war unfair, was hier passiert war. Seine Frau neben ihm kämpfte mit den Tränen, er konnte es sehen, daran erkennten, wie sie ihre Kiefer aufeinander presste. Eri war keine Frau, die leicht zu Tränen zu rühren war, aber das Elend ihrer Tochter nahm auch sie unglaublich mit. Ran schluckte, versuchte, sich wieder zu fassen. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr er mir fehlt…“ Sie trank mehrere Schlucke Kaffee, kniff die Augen zusammen. „Und jetzt kommt sie, sie… die ihm so unglaublich ähnlich ist… und macht es mir noch schwerer… noch schwerer… macht mir diese Vorwürfe, und das Schlimme ist, sie hat Recht! Sie hat Recht… ich hab zugelassen, dass sie so von ihm denkt, ich hab euch allen den Mund verboten, weil ich damit zu kämpfen hab, damit klarzukommen, dass er nicht mehr wiederkommt, wie erbärmlich ist das… nach fünfzehn Jahren bin ich immer noch so kaputt…!“ Sie wischte sich unwillig über die Augen, ein Hauch von Wut klang in ihrer Stimme. „Sie hat so Recht… ich behaupte, ich liebe ihn, und dennoch verrate ich ihn so dermaßen…“ Sie setzte ihre Tasse ab, nahm ihren Ehering ab, hielt ihn auf offener Handfläche, schaute ihn sehnsüchtig an. „Ich hab ihn verraten… und jeden Tag verrat ich ihn aufs Neue…“ Yukiko schaute Sayuri lange an. Sie saß jetzt seit ein paar Minuten mit ihr in der Bibliothek, in den weichen Sesseln, sie hatten Kaffee gekocht und sich Kekse geholt, neben Sayuri lag eins seiner Notizbücher. Und gerade hatte sie damit geendet, ihrer Enkelin zu erzählen, was es mit Rans schwarzen Tagen auf sich hatte. Sayuri schwieg bedrückt, schluckte. „Er hat mich noch gebeten, nicht so hart zu ihr zu sein…“, murmelte sie beschämt, ihr Gesicht hatte eine hochrote Farbe angenommen. „Er meinte es wohl in einem anderen Zusammenhang, aber eigentlich hat er wohl auch in allgemeinerem Sinne Recht… ich hab nicht nachgedacht… ich…“ Yukiko schüttelte langsam den Kopf. „Sayuri… du hast in gewisser Hinsicht das Recht, wütend zu sein. Aber du solltest langsam… versuchen zu verstehen, was deine Mutter fühlt. Die beiden… kannten sich ihr ganzes Leben lang. Die Zeit, in der sie endlich wirklich zusammen waren, als sie sich wirklich lieben konnten, war für sie… zu schön, um wahr zu sein.“ Sie seufzte leise. „Du vermisst ihn, oder? Du vermisst ihn, obwohl du ihn nicht kanntest… du kennst ihn nur aus seinen Büchern und aus dem, was wir dir jetzt über ihn erzählen, aber das allein reicht dir, damit er dir fehlt.“ Sayuri nickte langsam. Yukiko griff ihre Hand. „Du kennst das Gefühl. Und nun… denk an deine Mutter.“ Yukiko lächelte melancholisch, strich ihrer Enkelin über ihr Haar. „Ran… Ran kannte ihn. Wirklich. Sie teilte ihr Leben mit ihm. Sie kannte ihn besser, als wir ihn kannten, wahrscheinlich sogar besser als er sich selbst; für sie war er ihre andere Hälfte, die beiden waren nur zusammen ganz; wenn sie getrennt waren, haben sie gelitten, sie waren nur mit sich im Reinen, wenn sie wussten, dem anderen geht es gut. Und sie musste ihn verlieren. Denk daran, wie sie sich fühlen muss…“ Das Mädchen biss sich auf die Lippen, ihr schlechtes Gewissen verursachte ihr Bauchschmerzen, so sehr brannte es in ihr. Ihre Großmutter schaute sie mitfühlend an. „Sie hat ihn geliebt, weißt du… das steht außer Zweifel. Als er ihr gesagt hat, dass er sterben wird… da waren sie ja noch nicht verheiratet, wie du weißt. Er wollte sich trennen von ihr, das wollte er wirklich. Er wollte, dass sie loslässt, dass sie sich jemand anderen sucht, schnell vergisst, wer er war, damit sie abschließen und mit einem anderen Mann glücklich werden kann… aber sie hat ihn nicht gelassen. Sie liebte ihn so sehr, dass sie ihn trotz allem geheiratet hat, ihn überredet hat, ihr Mann zu werden, so wie sie’s vorgehabt hatten. Für sie war es fast beleidigend, dass er ihr den Vorschlag gemacht hatte, er machte sie wütend und traurig zugleich; er hat schließlich klein beigegeben, er liebte sie ja schließlich. Genauso war es auch, als sie ihm schließlich eröffnet hatte, dass sie schwanger war. Sie hat ihn die letzten Monate seines Lebens zum Leben gezwungen, sie hat nicht zugelassen, dass er sich gehen lässt oder aufgibt. Einerseits, indem sie ihn immer wieder aufbaute, und andererseits, indem sie ihm immer zeigte, jederzeit spüren ließ, wie sehr sie ihn brauchte. Und das tat sie auch; sie brauchte ihn in dem Maße wie er sie. Es war ihm nicht Recht, er wollte nicht, dass sie sich so an ihn klammerte… er hatte Angst, sie würde, wenn er erst weg wäre, in ein Loch fallen… fallen und nicht mehr aufstehen können. Und zum Teil hatte er Recht. Ran war… sehr tapfer. Sie hat alles für dich getan, sie liebt dich mehr, als du dir vorstellen kannst, aber leider ist auch Shinichis Befürchtung wahr geworden; nämlich die… dass du sie Tag für Tag daran erinnerst, was… und wen… sie verloren hat. Und je älter du wirst, desto ähnlicher wirst du deinem Vater. Dir fällt es nicht auf, weil du ihn nicht kennst; aber uns allen… wird es umso deutlicher. Und so tapfer Ran auch war, so stark sie ist… so hatte sie doch… immer ihre schwachen Momente. Schwarze Tage, wie wir sie nannten. Tage, in denen die Erinnerung an Shinichi sie fast verrückt werden ließ und lässt, weil sie ihn immer noch so sehr vermisst… und diese Tage… kommen immer um diese Zeit… um seinen Todestag herum. Für gewöhnlich solltest du nichts mitbekommen…“ Sayuri riss die Augen auf. „Die Ausflüge?“ Yukiko nickte. „Ja. Wir haben mit dir dann etwas unternommen… Ran ging dann zu ihren Eltern, raus aus diesem Haus… ein Tag reichte ihr für gewöhnlich, und es war okay.“ Sie seufzte leise, nahm einen Schluck Kaffee. „Aber dieses Jahr sind die Umstände einfach anders…“ Yukiko wischte sich unwillig eine Träne aus den Augen. „Jetzt, wo du weißt… wer dein Vater war… sie damit konfrontierst… du machst es ihr nicht eben einfacher…“ Sayuri fing leise an zu weinen. Yukiko stand auf, setzte sich neben sie, zog sie an sich. „Du kannst nichts dafür, es ist einfach nur schwer für sie. Sie liebt dich, sie hat ihre Entscheidung für dich nie bereut… Glaub mir, sie wird sich wieder fangen, so wie sie sich noch immer wieder gefangen hat, aber… es wäre vielleicht… gut, wenn du nicht ganz so harsch zu ihr wärst. Sie kann damit nicht umgehen, dass sie ihn nicht mehr wiederbekommt. Das hat sie nie gelernt… in all den Jahren nicht.“ Als Ran gegen Abend wiederkam, fand sie ihre Schwiegermutter und ihre Tochter in der Küche, wo sie das Abendessen zubereiteten. Sie sagte nichts, drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Haare, wisperte ein leises Dankeschön zu Yukiko und fing an, den Tisch zu decken. Sie sprachen nicht darüber. So wie sie nie darüber gesprochen hatten. In dieser Nacht kehrte der Traum zurück. Lange, lange hatte sie nicht mehr von ihm geträumt, von Shinichi. Die ersten Wochen nach seinem Tod war es nahezu unerträglich gewesen, ihn jede Nacht so greifbar vor sich zu sehen nur um dann aufzuwachen, um neben sich niemanden zu finden. Er war nicht mehr da. In ihren Träumen suchte er sie heim, redete mit ihr; in ihren Träumen durfte sie noch einmal spüren, wie es war, bei ihm zu sein, seine Wärme, seine Nähe zu fühlen. In ihren Träumen… und nur in ihren Träumen. Es brachte sie an die Grenzen ihres Verstandes, weil es eben nur Träume waren, weil die Realität so grausam war. Er war nicht mehr da. Und in dieser Nacht, da träumte sie wieder von ihm. So intensiv, so real… es schien so wirklich. Es war Frühling, und die Luft war voller süßer Düfte, der Himmel fast schon unverschämt blau und das erste, zarte Grün zeigte sich hie und da. Sie ließ ihre Augen durchs Zimmer gleiten, fühlte eine tiefe Zufriedenheit, wie sie sie schon lange nicht mehr gespürt hatte, atmete tief durch. Sie wollte Sayuri suchen, um mit ihr zu reden, deswegen war sie ins Wohnzimmer gekommen. Und dann sah sie ihn. Er stand hinter einem der beiden großen Ohrensessel, die mit der Couch um den niedrigen Wohnzimmertisch gruppiert waren. Im Sessel saß Sayuri, las in einem seiner Bücher. Sie schien ihn nicht zu bemerken, und er tat nichts, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange. Er legte den Kopf schief, schaute sie traurig an, streckte die Hand aus, um sie zu berühren, ihr ein wenig Trost zu spenden, aber zögerte. Es war eine Geste, so voller Sehnsucht, dass es Ran einen Stich versetzte. Sie schluckte, musste mit ansehen, wie er die Hand wieder sinken ließ, sich darauf beschränkte, seine Tochter mit einem Ausdruck in den Augen anzusehen, der von unendlicher Traurigkeit zeugte, von Bitterkeit und Frustration; und doch glomm auch ein Funken Stolz in ihnen. Er liebte sie, und er war stolz auf sie. Auch wenn er es ihr nicht zeigen konnte. Ran seufzte leise und er schaute auf, sah sie; verließ seinen Platz hinter dem Sessel, trat an ihr vorbei auf den Gang hinaus. Sie folgte ihm. Draußen blieben sie beide stehen; er schloss die Tür leise hinter sich. Ran schaute ihn an, konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden. „Shinichi…?“ „Ich muss mit dir reden“, meinte er leise. „Ran…“ Sie starrte ihn an, hing an seinen Lippen, merkte, wie ihr Herz bis zum Hals schlug, spürte diese Sehnsucht… sie wollte ihn wieder haben, sie wollte ihm nahe sein… Er schien ihre Gedanken zu lesen, schüttelte langsam, bedauernd den Kopf. „Du weißt, dass das vergebens ist, Ran…“ Langsam streckte er seine Hand aus, doch anders als bei seiner Tochter, führte er die Bewegung zu Ende, strich ihr liebevoll über die Wange. Sie schmiegte ihren Kopf in seine Handfläche, berührte mit ihren Finger seinen Arm, strich langsam über den Stoff seines Hemdes, dann über seine Haut, griff nach der Hand, die immer noch auf ihrer Wange ruhte und presste sie fester an sich. Sie wollte ihn nicht loslassen. „Shinichi…“ Er schaute sie an, unglücklich. „Ran, das ist nicht echt… du weißt das doch. Tu dir das nicht an… ich wollte mit dir über etwas anderes…“ Weiter kam er nicht, weil sie ihre freie Hand in sein Hemd gekrallt hatte, ihn an sich zog, seine Hand losließ und in seinen Haaren vergrub, seinen Kopf nach unten zog, sich ihm entgegenstreckte… „Ran, du weißt, du träumst das nur…“, wisperte er atemlos. Sie hörte ihn nicht, berührte mit ihren Lippen sanft die seinen, presste sich an ihn, wollte ihn spüren, wollte seine Nähe fühlen, dieses Gefühl von Geborgenheit wiedererwecken, dass er ihr immer vermitteln konnte… Dann drückte er sie weg, hielt sie auf Abstand, atmete schwer. „Ran, hör auf damit! Du tust dir weh…!“ Er wich zurück, schaute sie gramerfüllt an. „Ich kann nicht… hier bleiben, wenn du dir das antust…“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein…!“ Immer heftiger schüttelte sie den Kopf, wollte sich krampfhaft an ihm festhalten, als er ihre Finger von seinem Hemd zu lösen versuchte. „Nein…!!! Geh nicht! Bitte, geh nicht! Bitte…! Bitte!!!“ Er schaute sie ein letztes Mal traurig an. Dann drehte er sich um, verschwand. „Shinichi!“ Sie wachte schlagartig auf. Fuhr hoch, saß kerzengerade in ihrem Bett, ihr Herz raste; sie zitterte am ganzen Körper, fing leise an zu weinen, als er sich einstellte, derselbe stechende Schmerz über diesen Verlust wie damals, am Tag, nachdem er gestorben war. Der Ruf klang immer noch in ihren Ohren, fast so als hätte sie seinen Namen tatsächlich geschrien. Die Wirklichkeit schien über ihr zusammenzubrechen. Sie tastete neben sich, fühlte nur den kalten Stoff des seit fünfzehn Jahren leeren Bettes. Er war nicht mehr da. Er war nicht da. Nicht da. Sie drehte sich auf die Seite, zog seine Bettdecke an sich, hielt sich fest, krallte ihre Finger in den Stoff und brach vollends in Tränen aus. Es tat so weh. Es war so real gewesen, sie hatte ihn anfassen können, sie hatte ihn geküsst, aber er hatte sie weggeschickt… Shinichi hatte ja recht gehabt, aber… wenigstens in ihren Träumen hätte er ihr doch ein wenig Seelenfrieden gewähren können… Sie schrie in das Kissen, ihr ganzer Körper bebte. Lange, lange war es nicht mehr so schlimm gewesen. Meistens gelang es ihr, den Schmerz auf ein dumpfes Pochen zu reduzieren, ihn zu betäuben; aber diesmal gelang es ihr nicht. Es war so echt gewesen. So echt. Er war doch im Wohnzimmer gewesen, hatte seine Tochter angesehen. Er hatte sie doch angefasst… sie hatten geredet… sie hatte seine Stimme gehört, ihn gerochen, ihn gefühlt, wie konnte er jetzt weg sein, wie konnte er… Wie konnte er? Sie merkte nicht, wie die Tür leise aufging, und sich ihre Tochter sich langsam näherte. Sayuri war geweckt worden vom lauten Schreien ihrer Mutter; ihre Zimmer lagen nebeneinander, sie war nicht umhin gekommen, es zu hören. Langsam schlich sie sich näher, blieb vor ihrem Bett stehen, starrte sie unbewegt an, wagte kaum zu atmen. Was sie sah, machte ihr zu schaffen. Sie schalt sich in Gedanken, machte sich Vorwürfe, dass sie in letzter Zeit so egoistisch, so blind gewesen war. Ran lag immer noch im Bett, ihre Arme in seine Bettdecke gekrallt und weinte. Dann fiel die Tür, verursacht durch einen Luftzug, zu; und Ran schaute erschrocken auf, sah sie im Zimmer stehen. Sie sah nur die Augen. Seine Augen. Shinichis Augen. Und sie konnte sie nicht ertragen, nicht jetzt. Nicht jetzt. „Geh!“, wisperte sie. Sayuri blickte sie erschrocken an. Die Haare ihrer Mutter waren zerzaust, ihre Augen rotgerändert, ihre Lippen blutleer, ihr Gesicht kalkweiß. Das fahle Mondlicht tat das seinige, um sie noch mehr wie ein Gespenst aussehen zu lassen. Sie wich zurück. „Geh!“, wiederholte Ran, nun doch etwas lauter. „Nun geh endlich, geh, geh, geh! Verschwinde!“ Ihre Stimme kippte, brach. Sayuri starrte sie an, blinzelte, dann rannte sie aus dem Zimmer. Sie hörte, wie hinter ihr die Tür zuschlug, hörte, wie ihre Mutter weinte, und merkte, wie ihr selber die Tränen übers Gesicht rannen, lange noch, als sie bereits wieder unter ihren Kissen vergraben in ihrem Bett lag. Sie wusste, warum ihre Mutter so außer sich war. Sie wusste, sie hatte geträumt, und sie wusste auch von wem. Von ihrem Vater. Sie hatte sie seinen Namen rufen hören. Was Ran glaubte, geträumt zu haben, war kein Traum gewesen. Sie hatte wirklich nach ihm gerufen. Shinichi. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)