Tagebücher von Leira ================================================================================ Bilder ------ Hallo liebe Leserinnen und Leser! Vielen lieben Dank für eure Kommentare zum letzten Kapitel! Viel zu sagen gibt’s zu diesem Kapitel eigentlich nicht… am Besten lest ihr einfach selbst… Ich wünsch euch viel Vergnügen beim Lesen! Viele Grüße, eure Leira :) PS: Halbzeit, Leute! Ich gratuliere allen, die noch nicht das Handtuch geworfen haben!!! ;D _________________________________________________________ Kapitel 15: Bilder Gegenwart Für Sayuri war ihre Mutter damit gestorben. Gut, ja, sie hatte ein schlechtes Gewissen. Das hatte sie wirklich, jedesmal, wenn sie sich irgendwo im Haus über den Weg liefen und Sayuri demonstrativ den Kopf abwandte. Sie wusste, sie tat ihr weh damit; aber ihre Mutter hatte ihr auch weh getan. Anfangs hatte sie sogar noch versucht, mit ihrer Mutter zu reden; beim Frühstück am Tag nach ihrem Geburtstag, hatte sie versucht, sie zu einem Einlenken zu bewegen, aber Ran hatte nicht mit sich verhandeln lassen; und nachdem auch ein paar weitere, manchmal zaghafte, manchmal schon fast streitähnliche Überzeugungsversuche stattgefunden hatten, hatte Sayuri das Handtuch geworfen und war dazu übergegangen, ihre Mutter mit Missachtung zu strafen. Seit gestern, um genau zu sein, und sie litt darunter. Ihr Geburtstag, der nun schon drei Tage her war, war an diesem Tag wahrlich gelaufen gewesen. Sie war zwar nach unten gegangen, hatte sich von ihrer Großmutter mitschleifen lassen; hatte sich artig beschenken lassen von ihren Freunden und ihrer Familie - aber ihrer Mutter gegenüber war sie sehr unterkühlt und reserviert entgegen getreten. Wie sie mit Sonoko und ihrem Großvater noch debattiert hatte, hatte sie zwar gehört... aber sie war in ihr Zimmer gegangen. Sie wusste, wie stur ihre Mama war. Nachts, als alle weg waren, hatte sie geweint. Sie fand es schrecklich, dass sie nicht weiterlesen durfte und die Ungewissheit um sein Schicksal machte sie fast wahnsinnig. Sie fand es einfach furchtbar, dass ihr die Bücher genommen worden waren. Das er ihr genommen worden war. Sie hielt es fast nicht aus, nicht zu wissen, was er ihr noch hatte sagen wollen. Etwas fehlte. Sie war unruhig und entzweigerissen, und war schon fast erstaunt darüber, dass jemand, den sie faktisch nicht kannte, so etwas mit ihr machen konnte. Sie nahm es ihm nicht übel, schließlich konnte er wohl am Wenigsten dafür. Sie wusste auch, ihre Mutter handelte nicht aus böser Absicht so, wie immer wollte sie wohl ihr Bestes, ja… sicher… aber... sie hatte kein Recht, ihr ihren Vater nehmen zu wollen. Sie hatte einfach kein Recht dazu. Und dass sie es sich dennoch herausnahm, machte Sayuri so wütend. Die zarten Bande, die sie gerade eben wieder geknüpft worden waren zwischen ihr und ihrer Mutter, waren mit der Aktion, ihre Bücher wegzusperren, gekappt worden. Sayuri ließ sich nicht blicken, weder zu den Mahlzeiten noch anderweitig. Wenn sie kam, ging sie in ihr Zimmer. Sie aß, wenn Ran nicht da war, arbeitete oder sonst irgendwie beschäftigt war. Sie grüßte sie nicht, sie gab keine Antwort auf Fragen. Sayuri war wütend. Sie war nicht sauer, nicht verärgert, nicht verstimmt - in ihr herrschte Zorn. Sie war wirklich wütend. Ihre Mutter war im Unrecht; sie konnte damit nicht umgehen, dass sie ihren Mann so früh verloren hatte, schön und gut; oder nicht gut? Wohl eher. Aber sie hatte nicht das Recht, ihr das einzige, was ihr von ihrem Vater geblieben war, wegzunehmen, nur weil sie selber nicht damit klarkommen konnte. Das warf sie ihr vor; und ließ es sie spüren. Sie war kein kleines Kind mehr, sie war fünfzehn, und so wollte sie auch behandelt werden. Ran wurde immer verzweifelter, als sie sah, wie sie nach ihrem Mann auch noch ihre Tochter zu verlieren drohte. Sayuri entglitt ihr zusehends… und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte Angst. Unablässig tigerte das Mädchen also drei Tage nach ihrem Geburtstag durch ihr Zimmer. Sie war drauf und dran ins Büro einzubrechen; allein die Tatsache, dass sie damit seine Privatsphäre verletzte, hielt sie ab. Und momentan die Anwesenheit ihrer Mutter im Haus. Sie seufzte entnervt. Sayuri wollte weiter lesen. Wollte mehr über ihren Vater erfahren. Wollte so viel wissen… Gedankenverloren starrte sie in den Spiegel. Ein Paar blauer Augen starrte zurück. Unwillig strich sie sich ihre Ponyfransen aus dem Gesicht, als sie ihre Wimpern kitzelten. Und da kam ihr ein Gedanke; oder besser gesagt, die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie kannte immer noch kein Foto ihres Vaters. Sie wusste immer noch nicht, wie er eigentlich ausgesehen hatte. Wurde ihr nicht immer wieder gesagt, wie sehr sie ihm auch äußerlich ähnelte? Dass sie seine Augen hätte? Sayuri blinzelte ihr Spiegelbild an. Es wurde wirklich Zeit, dem auf den Grund zu gehen. Viel zu lange schon hatte sie auf Bilder von ihm verzichten müssen. Mit ihrer Mutter konnte sie jetzt ohnehin kaum reden. Nun, können vielleicht schon; aber nicht über das Thema, das sie gern besprechen würde. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Mit jemand anders allerdings sicher. Und dieser Jemand hatte bestimmt Fotos. In Hülle und Fülle. Sie griff nach ihrer Tasche, rannte aus dem Zimmer. Wenig später hörte Ran die Haustür zufallen, seufzte bedrückt. Yusaku hastete durch den Flur, als er die Glocke läuten hörte. Kurz darauf öffnete er die Tür und war nicht überrascht, seine Enkelin zu finden. „Opa… wie sah er aus?!“ Kein Hallo, keine Umarmung, nichts. Sie stand nur da, ihr Gesicht noch bleicher als beim letzten Mal, aber ihre Augen glänzten, waren rotgerändert. Ihr Atem ging heftig und stoßweiße und leichter Schweiß auf ihrer Stirn zeigte ihm, dass sie den Weg von Zuhause bis hierher gelaufen war. „Freut mich auch, dich zu sehen.“, meinte er dann, zuerst ein wenig pikiert - dann legte er ihr seine Hand in den Rücken, schob sie herein. Sie war wie sein Sohn. Hatte sie ein Ziel, vergaß sie alles andere, nahm auf fast nichts Rücksicht. Keiner von ihnen hatte je Shinichis Tagebücher auch nur angefasst – aber aus den Reaktionen seiner Enkelin konnte er sehen, wie sehr sie sie fesselten. Umso schlimmer war es, dass Ran ihr eine Zwangspause verordnet hatte; die sich bis in alle Ewigkeiten ausdehnen konnte, seine Schwiegertochter war stur genug dafür. Alles Reden hatte bis jetzt nichts gewirkt, jedes Wort von ihm oder Yukiko in diese Richtung war bei Ran auf taube Ohren gestoßen. Er seufzte, schaute in Sayuris schuldbewusstes Gesicht, als sie sich bückte, ihre Schuhe auszog und in die Pantoffeln schlüpfte. „Entschuldige. Hallo, Opa. Wie sah er aus?“ Yusaku lächelte nachsichtig. „Komm mit.“ Er ging ins Wohnzimmer, zum Schrank, machte ihn auf und griff ein paar Alben heraus. Und plötzlich stockte er. Er war sich nicht sicher, ob er bereit war, sich die Bilder anzusehen. Er schluckte hart, drückte Sayuri die Alben in die Hand, und ging, mit der Bemerkung, Kaffee zu kochen, in die Küche. Sie schaute ihm hinterher, erstaunt; aber sagte nichts. Dann suchte sie das früheste Album, setzte sich an den Tisch und schlug es auf. Was sie sah, waren Kinderfotos. Ihr Vater als Baby im Strampelanzug. Unwillkürlich musste sie lächeln. Doch eigentlich interessierte sie das nicht; sie wollte wissen, wie der Mann ausgesehen hatte, der ihr Vater war. Wie er mit Mitte Zwanzig ausgesehen hatte. Sie nahm ein anderes Album und schlug es auf. Ihr stockte der Atem, ihr Magen schien sich aufreizend langsam zusammenzuziehen. Schnell glitten ihre Augen über die Fotos, blieben hie und da hängen, gierig, alles in sich aufzusagen. Das war er. Ihr Vater. Ohne Zweifel. Ihre Hände begannen zu zittern, als sie kurz auf die Glastischplatte schaute, ihre Reflexion darin betrachtete, und dann mit den Fotographien ihres Vaters abglich. Und jetzt verstand sie, was sie alle immer meinten, wenn sie sagten, sie sehe ihm so ähnlich. Das tat sie wirklich. Mehr als sie je geahnt hatte. Sie biss sich auf die Lippen, schaute immer wieder auf den Tisch, dann ins Album. Es stimmte alles. Sie hatte seine Haare. Sie hatte wirklich seine Haare. Unwillkürlich griff sie sich in den Pony. Und seine Augen. Klare, blaue Augen. Und genau diese Augen waren es, die sie so faszinierten. Die sie in ihren Bann schlugen, ohne dass sie sich auch nur im Geringsten wehren konnte. Ihre Augen. Seine Augen. Augen, in denen der Schalk blitzte, Augen voller Neugier, wissende Augen, Augen, aus denen eine ungeheure Intelligenz sprach, Augen, die so liebevoll blicken konnten, gütige Augen… und traurige. Sie schluckte. Er schien allein durch Blicke alles sagen zu können. Sein Gesicht war ebenmäßig, ja, er sah gut aus. Er machte einen sportlichen Eindruck. Und er schien sie anzusehen. Auf jedem Foto anders. Sie wusste, er hatte den Fotografen angesehen. Seine Eltern, ihre Mutter, seine Freunde… auf manchen war er allein, bei anderen war er mit ihrer Mutter, seinen Eltern, Onkel Heiji oder anderen Leuten zu sehen. Er schien soviel sagen zu wollen. Sayuri schluckte schwer, strich mit viel Gefühl über die Bilder, tastete über sein Gesicht, wohl wissend, dass sie nur glattes Fotopapier fühlen würde, nicht seine Haut. Niemals seine Haut. Ihre Lippen begannen zu zittern, sie merkte, wie ihre Finger langsam immer kälter wurden. Genau das, wovor sie die ganze Zeit schon Angst hatte, war passiert. Sie trauerte nicht mehr um ihn. Oder besser; sie trauerte nicht nur. Sie sehnte sich nach ihrem Vater. Sie wollte ihn wieder haben. Sie wollte ihn jetzt gleich hier haben. Neben ihr. Sie wollte mit ihm reden. Ihn ansehen. Von ihm angesehen werden. Wollte, dass er sie in die Arme nahm. Sie wollte hören, wie seine Stimme klang. Wollte wissen, ob sie sich so anhörte, wie sie sie sich vorstellte. Sie wusste, sie war dumm, aber… dieses Denken würde es ihr nur schwer machen, irgendetwas anzuschauen oder zu lesen, was mit ihm zu tun hatte, aber… Sie vermisste ihn, obwohl sie ihn nicht kannte. Er fehlte ihr. Wirklich. Yusaku kam wieder, mit zwei Tassen Kaffee, sah seine Enkelin an und deutete ihren Blick richtig. Langsam stellte er die Tassen ab, setzte sich neben das Mädchen, seufzte leise. „Sayuri, das bringt nichts… Du vermisst ihn. Du verfluchst dein Leben, sein Schicksal, weil es dir und ihm soviel vorenthalten hat… das ist okay… aber ruiniere dich nicht mit Wünschen, die nie in Erfüllung gehen…“ Sayuri lief eine Träne über die Wange. „Es scheint mir, als würde ich ihn kennen…“ „Er war ein einzigartiger Mensch. Und ihm lag viel daran, dass du deine Wurzeln kennst, Sayuri. Er hat seine Bücher wohl gut geschrieben, deshalb… deshalb glaubst du, ihn zu kennen. Aber du kanntest ihn nicht.“ Yusaku setzte sich, schaute sie an. „Er hat dich sehr geliebt. Ich hoffe, das weißt du.“ „Ich… hab ihn auch lieb… aber er… er weiß es nicht…“ Ihre Finger wurden langsam zu Eiszapfen, die Kälte kroch weiter hoch, brachte ihren ganzen Körper dazu, sich zu schütteln. Sie fror, zitterte, weinte. Immer mehr Tränen perlten über ihre Wangen. Der Schriftsteller sah sie betroffen an. „Gib mir das Album wieder.“ „Nein.“ „Du solltest dir die Bilder nicht anschauen, wenn sie dich so mitreißen, Kleines… gib es mir wieder, das war genug für heute…“ Er schaute sie traurig an, wollte ihr das Buch wegnehmen, aber sie hielt es fest. „Nein!“ „Sayuri… Shinichi hätte nicht gewollt, dass du dich selber quälst…“ „Lass mich! Nimm du ihn mir nicht auch noch weg!“ Sie klammerte beide Hände um das Album, beugte sich nach vorn, um es mit ihrem Oberkörper zu schützen. Yusaku ließ los, als hätte er sich verbrannt. Ihre Worte hatten mitten ins Schwarze getroffen, also ließ ihr ihren Willen. Sie war nach vorn gesunken, in Tränen ausgebrochen. Er schluckte, schaute, welche Seite sie aufgeschlagen hatte – und wandte sich dann schnell ab. Es war, wie er befürchtet hatte. Er konnte ihn nicht ansehen. Alte Wunden rissen auf, brannten wie Feuer. Langsam nahm er sie in die Arme, zog sie an sich, vermied es, die Bilder anzusehen. „Das ist nicht gerecht!“, schluchzte sie. „So unfair! Warum musste das passieren? Warum konnte er nicht… warum musste er denn sterben…?!“ „Ich denke, dass hat er dir erklärt…?“, murmelte Yusaku leise. „Ja, hat er schon… aber… aber… ich… ich meine… wie kann es das Schicksal… zulassen…?“ Ihre Stimme zitterte. Sie warf einen weiteren Blick auf die Fotos. Sie merkte, wie sich die Bilder in ihrem Gedächtnis einbrannten. Jedes einzelne, jede Einzelheit. „Er sieht so… so… fröhlich… aus.“, murmelte sie leise. Yusaku musste unwillkürlich lächeln. „Das sieht nur so aus, weil er auf den Bildern lacht. Manchmal echt, manchmal gekünstelt, wie dir wohl aufgefallen ist; aber es gibt auch welche, da lacht er nicht… das machte aus ihm einen ganz anderen Menschen.“ Er atmete tief durch, löste das Album aus ihren Fingern, blätterte es durch; fand nicht, was er suchte, zog ein anderes Album hervor. Es kostete ihn Kraft, das zu tun, aber er war es ihm schuldig. Dann fand er, was er suchte. Schnappschüsse. Shinichi hatte sie gehasst, das wusste er. Er hatte sie nicht leiden können, weil er bei dieser Art von Foto keine Kontrolle auf das Ergebnis ausüben konnte. Er war immer ein guter Blender, ein hervorragender Schauspieler gewesen, wenn er es hatte sein wollen, was selten genug vorgekommen war. Beim Fotographieren allerdings oft. Yusaku drehte das Album, so dass Sayuri reinschauen konnte. „Da.“ Eine Reihe Fotos war zu sehen, die offensichtlich bei ihnen zuhause aufgenommen worden waren. Auf einem stand er im Gang, die Hände in den Hosentaschen vergraben, betrachtete nachdenklich ein Bild an der Wand. Das nächste zeigte ihn eher genervt in die Kamera blickend, über einem Notizbuch, offensichtlich etwas angesäuert, dass man ihn störte. Sayuri blinzelte, als sie das Buch und den Füller, den er in den Finger hielt, erkannte; es war eins ihrer Bücher. Er hatte eine Hand in seinen Haaren vergraben, mit der anderen zielte er mit dem Füller auf den Fotographen. Ein drittes Foto zeigte ihn, mit einer schlafenden Ran im Arm. Er war sich offensichtlich des Fotographen nicht bewusst gewesen, denn der Blick, den er auf seine Frau warf, war durch und durch voll Trauer. Zwar sprach er auch von Liebe und Zuneigung; man sah, dass er die Frau in seinen Armen wirklich liebte. Aber die Bitterkeit dieser Szene war unübersehbar. Ran war schwanger, das war deutlich zu erkennen. Und sie wusste genau, was ihr Vater beim Blick auf ihre Mutter gedacht hatte. Sie schluckte schwer, riss ihre Augen los, wandte sich dem nächsten Bild zu. Hier hatte man ihn offensichtlich überrascht, denn der Blick in seinen Augen war voll Erstaunen. Sie lächelte. Ihr gefiel der Ausdruck. Er schien so offen, voll Neugier, aber auch voll vorsichtiger Gespanntheit, auf das, was ihn da so hinterrücks überfiel. Und so reihte sich ein Schnappschuss an den anderen. Er schüttete sich Kaffee über die Hose und schimpfte; stand in einer Dampfwolke am Herd; zündete ihm Wohnzimmer eine Kerze auf dem Tisch an oder kroch mit einem Buch in der Hand unter einem Tisch hervor. Oder schlief. Sayuri seufzte leise, blätterte langsam immer weiter. Ihr Großvater hinter ihr rührte sich nicht, versuchte, sich die Bilder nicht zu genau anzusehen und gleichzeitig vor seiner Enkelin sich seine Schwäche nicht anmerken zu lassen. Nach einer Weile, als die Stille im Raum doch fast greifbar wurde, wandte sie sich um, wollte etwas fragen und starrte in das fast ausdruckslose Gesicht ihres Großvaters, wagte nicht, die Frage auszusprechen, die ihr auf der Zunge lag. Kurz stutzte sie; dann merkte sie, wie er sie endlich ansah, anscheinend auf ihre Frage wartete, und sie räusperte sich. Während des Betrachtens der Bilder war ihr ein Gedanke gekommen. „Ich will ihn besuchen.“ Yusaku starrte sie entgeistert an. „Du willst was?“ Sayuri zog unwillkürlich verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Nun ja, ich will ihn besuchen… sein Grab. Ihr… ihr habt ihn doch…“ Yusaku nickte geistesabwesend, dann schüttelte er den Kopf. „Natürlich haben wir ihn beerdigt. Aber ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist, ausgerechnet heute da hin zu gehen. Du bist viel zu aufgewühlt.“ „Ich schaff das schon.“, bemerkte sie stur. „Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Behandle du mich bitte nicht wie meine Mutter es tut.“ Yusaku trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken aus, bevor er sich zu einer Antwort durchrang. Stellte die Tasse langsam auf den Tisch, stapelte die Alben aufeinander. „Gut…“, murmelte er leise. „Ganz wie du willst, Sayuri. Auf deine Verantwortung.“ Den fragenden, erstaunten Blick, den seine Enkelin ihm zuwarf, fing er nicht mehr auf; er war bereits aufgestanden, zog sich seine Jacke an. Sie rannte ebenfalls hinaus, tat es ihm gleich, merkte, wie es in ihrer Magengegend vor Aufregung zu kribbeln begann. Sie hatte Angst, ja. Allerdings… wollte sie das unbedingt. Sie wollte ihm… einen Besuch abstatten. Dem Mann, der ihr diese Bücher geschrieben hatte. Während der Autofahrt zu Friedhof schwieg ihr Großvater. Und auch während sie zwischen den Gräberreihen entlang schritten, verließ kein Wort seine Lippen. Sie merkte, wie sich, ganz im Gegenteil, seine Lippen immer fester aufeinander pressten. Dann blieb er so abrupt stehen, dass sie, die hinter ihm ging, fast in ihn hineinlief. Er nickte nur, und sie warf einen Blick auf das Grab, das zu ihren Füßen lag. Weiße und rote Rosen blühten üppig auf dem Grab; in einer Ecke brannte geschützt in einer Laterne eine Kerze. Das war es allerdings nicht, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war der Grabstein. Aus Marmor, sauber, rein und glänzend, mit einer eingemeißelten Taube als Relief neben den Buchstaben, die silbern und geschwungen verlauten ließen, wer hier seine letzte Ruhe gefunden hatte. Shinichi Kudô 1978-2002 Geliebter Ehemann, Vater, Sohn und geschätzter Freund Viel zu früh musstest du uns verlassen – Doch sei dir sicher, wir werden dich nie vergessen. Langsam hob sie die Hand, hielt sie sich vor den Mund, um ihr Wimmern zu unterdrücken. Es war so präsent - so durchdringend - dieses Verlustgefühl. Was sie bis jetzt noch nicht so richtig hatte wahrhaben wollen, obwohl es eine unbestreitbare Tatsache war… ihr Vater war tot. Er lag hier. Vor ihr. Seit fünfzehn Jahren schon. Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen, leise. Stumm. Unaufhörlich. Ihre linke Hand ballte sich in ihrer Jacke zur Faust, als sie versuchte, dem Sturm in ihrem Inneren Herr zu werden, sie war so beschäftigt mit sich selbst, dass sie auf ihren Großvater nicht mehr achtete. Yusaku starrte in den Himmel. Fakt war, er war lange nicht mehr hier gewesen. Er packte das nicht… nicht wirklich. Er verdrängte seine Gedanken an seinen Sohn nicht, nein. Aber es gab gewisse Dinge, die ihn mehr mitnahmen als andere. Das eine waren Bilder von ihm. Das andere war sein Grab. Kein Vater sollte sein Kind zu Grabe tragen müssen. Der Gedanke, dass sein Sohn wenigstens nicht dieses Schicksal erleiden musste, tröstete ihn nur geringfügig. Er vermisste ihn. Vermisste sein Lachen, vermisste ihre Diskussionen, ihre Streitereien, vermisste das Gefühl von Stolz, wenn er lesen durfte, sich anhören durfte, was sein Sohn geleistet hatte. Shinichi hatte dieses Schicksal nicht verdient. Und seine Enkelin ihres auch nicht. Er spürte, wie alles wieder hochkam... es fühlte sich an wie an dem Tag, als sie ihn hierher getragen hatten. Wie am Tag seiner Beerdigung. Und hielt es nicht aus. Es war zu viel, was auf ihn hereinbrach. Viel zu viel. Yusaku ging in die Knie, krallte sich an der Grabeinfassung fest. „Shinichi… verdammt noch mal…“ Dieser Satz riss Sayuri aus ihren Gedanken. Sie schaute neben sich, sah ihren Opa auf dem Boden knien, merkte, wie ihr Herz schmerzhaft gegen ihren Brustkorb zu hämmern begann. Er versuchte, sich zu fangen. Er rang um Fassung, wirklich. Aber Yusaku Kudô spürte, dass er diesen Kampf eventuell verlieren könnte. Fest kniff er die Augen zusammen, schluckte hart, seine Finger verkrampften sich immer mehr, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Tatsache war, er hatte nicht nur nicht hierherkommen wollen, weil er Sayuri schützen wollte; gut, das auch. Aber vorrangig… der Hauptgrund… war der gewesen, dass er… sich selbst diese Folter ersparen hatte wollen. Er war ein Feigling, er wusste es, und er hatte wahrlich kein Recht, Ran einen Vorwurf zu machen. Sehr viel besser als sie kam er wohl mit dem Tod seines Sohns auch nicht zurecht. Er keuchte leise, wischte sich mit fahrigen Fingern über die Augen. Sayuri fing an zu zittern. So kannte sie ihren Großvater gar nicht. Langsam tat ihr ihr Egoismus Leid - denn langsam begriff sie, dass sie hier mit dem Mann stand, dessen Sohn in diesem Grab lag. Den er selbst hatte begraben müssen, viel zu jung. Sie glaubte, ihren Vater zu kennen. Ihr Großvater hatte ihn tatsächlich gekannt. Das war der Unterschied. Sie hätte auf ihn hören sollen, nicht hierher kommen sollen. Aber nun war es zu spät. „Verdammt, warum musstest du sterben…? Warum konnten wir nicht tauschen? Warum trifft es immer die Falschen, du wirst hier noch gebraucht, siehst du das nicht, warum musstest du gehen…? Warum musstest du uns schon so früh verlassen…?“ Tränen liefen über Yusakus Gesicht. Sayuri ließ sich zu Boden sinken, schlang ihre Arme um ihren Opa, drückte sich an ihn, versuchte, ihn so zu beruhigen. „Du wirst hier noch gebraucht…! Du wirst hier doch noch gebraucht...“ Er hörte nicht auf damit. Sayuri schluckte. Langsam bekam sie Angst. Sie kannte ihren Großvater so gar nicht. Sie stand auf, langsam, zog ihr Handy aus ihrer Tasche, die Augen immer noch auf das Grab geheftet, wählte dann die Nummer ihrer Großmama Yukiko. Minuten später, als Yukiko Kudô sich dem Grab ihres Sohns näherte, war die Szene unverändert. Yusaku kniete immer noch im Kies, sein Gesicht verzerrt vor Gram und Schmerz. Neben ihm stand Sayuri, in Tränen aufgelöst, am ganzen Körper zitternd. Yukiko wurde bei dem Anblick das Herz schwer, aber sie riss sich zusammen. Sie beugte sich nach vorne, pflückte zwei Rosen, eine weiße, eine rote, und drückte sie Sayuri in die Hand, wortlos. Sanft legte sie ihrem Mann die Hand auf die Schulter; wartete kurz. Dann griff sie ihn am Arm, zog ihn hoch, packte Sayuri bei der Hand und führte sie mit sich. Beim Gehen drehte sie noch einmal kurz ihr schönes Haupt, blickte traurig zurück. Wie du siehst, Shinichi… du bist weit davon entfernt, je vergessen zu sein. Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange, dann wandte sie sich ihrem Mann zu, gab ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Yusaku, schhhhht... denk nicht nach… denk nicht nach…“ Ran seufzte. Sie hatte den Tag heute gut herum gebracht. Erstaunlich gut. Keine dummen, schmerzlichen Gedanken, keine tränennassen Augen. Sie dachte nicht an ihn und es ging ihr gut damit. Und doch fühlte es sich so falsch an. Gedankenverloren drehte sie am Ring an ihrem Ringfinger. Warum trug sie ihn eigentlich noch? Vielleicht wäre es besser, sie nähme ihn ab? Vielleicht verursachte der Ehering dieses mulmige Gefühl. Langsam zog sie ihn von ihrem Finger. In all den Jahren hatte sie ihn niemals abgenommen, nicht für eine Sekunde. Jetzt lag er in ihrer ausgestreckten Hand. Sie legte ihn auf den Tisch vor sich, rutschte auf dem Stuhl zurück. Und sie fühlte sich nackt. Fühlte sich einsam. Und sie wusste nicht warum, aber viel zu hastig schnellte ihre Hand vor, steckte sich den Ring wieder an, ballte eine Faust und legte ihre andere Hand wie zum Schutz um sie. Ihr Atem ging heftig, aber sie wusste nicht, warum. Der, der den Ring als Letztes berührt hatte, war der, der ihn ihr angesteckt hatte. Shinichi. Sie schluckte. Dachte daran, wie er ihre Hand genommen hatte, sie den Finger ausgestreckt hatte... wie er ganz vorsichtig den schmalen goldenen Reif darüber geschoben hatte. Das Zeichen ihrer ewigen Verbundenheit. Ewig. Ewig. Er gehörte immer noch zu ihr. Auch wenn sie immer noch nicht an ihn denken wollte. Allerdings... Ran seufzte laut. Allerdings war sie wohl einem Irrtum aufgesessen. Yusaku hatte Recht gehabt... auch wenn sie für sich beschloss, den Gedanken an ihn zu verdrängen, so hatte sie kein Recht, ihr zu verbieten, sein Andenken zu waren. Dann läutete das Telefon, und sie stand auf, hob ab. Lauschte einer ziemlich mitgenommenen Frauenstimme und wurde blass. Yusaku stand in dem Zimmer, das er sich als Bücherzimmer eingerichtet hatte. Es war geräumig, hatte einen kleinen Erker und stand voll mit Büchern. Die Atmosphäre beruhigte ihn, die Anwesenheit dieser vielen Wörter schien auf ihn wie ein Sedativum zu wirken. Hier drinnen lebte es. Diese Bücher erzählten alle eine Geschichte, unentwegt. Konserviert in Druckerschwärze auf Papier überdauerten sie ein Menschenleben um ein Vielfaches. Langsam schritt er zu einem Regal, das ganz hinten stand. Dort stand, auf einem Regalbrett, nur ein einziges Buch. Und dieses Buch nahm er heraus, trug es mit sich zum Sofa in der Fensternische des Erkers, wo bereits eine Tasse Tee auf ihn wartete, ließ sich in die Kissen sinken und schlug es auf. Denn es gibt nur eine Wahrheit Ein Kriminalroman von Shinichi Kudô Langsam atmete er durch. Er kannte das Buch auswendig, er hatte es unzählige Male gelesen, aber diese Seiten bedrucken Papiers schafften, was sonst nichts zustande zu bringen vermochte. Er vergaß. Vergaß, dass sein Sohn tot war, vergaß das grausame Schicksal, das ihn ereilt hatte... denn wenn er diese Worte las, war es, als hörte er ihm zu beim Erzählen der Geschichte. Es wäre definitiv ein Bestseller geworden, aber er wagte es nicht, sein Versprechen zu brechen. Das Buch hatte wirklich enorme Klasse, das musste er ihm neidlos zugestehen und es erfüllte ihn mit Stolz. Nichtsdestotrotz blieb es ein Unikat. Aber bald... bald würde er es wohl einer bestimmten Person einmal ausleihen. Sein Sohn hätte bestimmt nichts dagegen, eine Leserin mehr zu gewinnen für sein Werk. Yusaku lächelte, dann versank er in der Lektüre. Yukiko stand an der Tür, sah sein entspanntes Gesicht und atmete durch. Sie wusste, wie schwer es für ihn war. Und sie dankte Shinichi im Stillen für dieses Buch. Es war fast, als hätte er es gewusst. Es war spätabends, als es an ihrer Zimmertür klopfte. Sie sagte nichts, wusste, dass ihre Mutter draußen stand, aber bat sie nicht herein; die Tür öffnete sich trotzdem. Ran trat ins Zimmer, ihre Augen waren glasig, aber sie wirkte gefasst. Sie hatte mit Yukiko telefoniert, die ihr erzählt hatte, was vorgefallen war. Was heute alles passiert war. Sayuri… wusste nun, wie er aussah. Ausgesehen hatte… Sie kannte die Bilder. Yukiko wusste von Yusaku, wie sie darauf reagiert hatte. Dass sie ihn vermisste... sich wünschte, er wäre hier. Ran schaute an die Decke. Hier. Und sie hatte sich mit ihm wohl auch ein Stück weit identifiziert... war ihm wohl noch ein Stück näher gekommen. Sie sah sich in ihm. Sah ihn in sich. Und sie war ihn besuchen gewesen. Sie war an seinem Grab gewesen, mit Yusaku. Ran blinzelte langsam, seufzte leise. In ihr wühlte das schlechte Gewissen. Sie wusste, wie schwer es Yusaku fiel, an sein Grab zu gehen. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, sie als Mutter hätte ihr Fotos von ihrem Vater zeigen sollen, hätte mit ihr reden sollen, mit ihr seine letzte Ruhestätte besuchen… Eigentlich hätte das an ihr sein sollen... stattdessen hatte er es auf sich genommen. Yukiko hatte ihr erzählt, wie schlecht es ihm deswegen ging. Wie fertig er immer noch war. Nun... nach diesem Telefonat erklärte sich auch, warum Sayuri nichts gegessen hatte. Warum sie wortlos in ihr Zimmer gerannt war, hinter sich die Tür zugeschlagen hatte. Das, was sie befürchtet hatte, war längst passiert. Ihre Tochter war dabei, ihren Vater zum zweiten Mal zu verlieren. Nur würde sie es diesmal wirklich merken. Und der Schmerz war bereits gegenwärtig… egal ob sie die Tagebücher fertig lesen würde oder nicht. Sie waren nur… die letzte Institution, die es noch gab. Die letzte Konsequenz. Ließ sie sie nicht fertig lesen, riss sie ihn wieder aus ihrem Leben, ließ offene Wunden zurück… sie war es ihm schuldig, ihn sich von ihr verabschieden zu lassen. Und sie war es ihr schuldig, sie ihm Lebwohl sagen zu lassen. Also stand sie jetzt in der Zimmertür ihrer Tochter, umklammerte mit beiden Händen den Karton mit den Büchern, drückte ihn an ihre Brust. Sayuri sprang aus dem Bett, eilte zu ihrer Mutter, blieb einen Meter vor ihr stehen. „Dein Großvater hatte Recht. Ich darf das nicht.“ Rans Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. „Ich darf ihn dir nicht vorenthalten.“ Sie schluckte, drückte ihr die Schachtel in die Hände. Sayuri schluckte, starrte sie an. Ran wischte sich fahrig über die Augen. „Aber versprich mir… dass du dich nicht zu sehr rein steigerst… das hätte er… auch nicht gewollt. Er hätte es nicht ertragen können, sein kleines Mädchen weinen zu sehen…“ Sie schniefte leise, strich ihr sanft über die Wange. „Mama...?“ Ran schaute sie an, wartete. „Wie geht’s Opa...?“ Ran seufzte. „Oma Yukiko sagt, es geht schon wieder. Du musst dir um ihn keine Sorgen machen, ja?“ Sie lächelte ihr kurz zu, dann drehte sie sich um, ging, ohne ein weiteres Wort. Eine Träne perlte Sayuri aus dem Augenwinkel. Dann stellte sie die Kiste ab, suchte das Buch, in dem sie gerade gelesen hatte und setzte sich aufs Bett. Ruhe erfasste sie, als sie die Seiten aufschlug. Er war wieder da… Hallo Töchterlein! Wie geht’s dir? Mir geht’s prächtig, denn bald ist Neumond… und weißt du, was Neumond passiert…? Kaito KID wird versuchen, den Red Teardrop zu klauen… versuchen, sage ich, weil ich es vereiteln werde! Genau ;) Deine Mutter hatte endlich ein Einsehen mit mir… Ihre Augen funkelten, als sie aufsah. Seine Vorfreude übertrug sich auf sie. „Nicht nur mit dir hatte Mama ein Einsehen…“, murmelte sie dann leise. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie weiter las. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)