Tagebücher von Leira ================================================================================ Prolog: Eine Frage der Identität -------------------------------- Tja, Hallo an euch, verehrte Leser! Schön, dass ihr euch hierher verirrt habt, und ich hoffe, es lohnt sich für euch. Wie nun dem Vorwort zu entnehmen ist, wird dies hier ein Drama, eine traurige Geschichte; allerdings war mir wichtig, dass diese Fanfiction nicht nur traurig wird :D Ich hoffe doch, hier kommt jeder auf seine Kosten. Deshalb wird das hier auch ein Krimi, eine Romanze und... Epik musste ich es wohl oder übel setzen, allein die Länge, die diese Geschichte hat, drängt mich förmlich dazu. Nun. Ich habe lange, lange überlegt, ob ich das hier laden soll... und nach einigem Ringen und einiger Überzeugungsarbeit von gewissen Leuten *aufgewissePersonschielt* habe ich mich nun doch dazu entschlossen, das hier nicht nur für die Schublade, bzw. die Festplatte geschrieben zu haben. Ich wünsche euch viel Vergnügen beim Lesen und verbleibe bis nächste Woche Eure Leira PS: Laderhythmus wie gewohnt Dienstagabends/Mittwochvormittag, ein Kap pro Woche. ________________________________________________________________________________ Prolog: Eine Frage der Identität Heute Ran schaute von ihren Unterlagen auf, als sie ein leises Geräusch vernahm. Neben ihr stand sie, ihre Tochter, und schaute sie fragend an. Sie beide wussten, was jetzt kam. Und sie beide hatten Angst davor, aber jede auf ihre eigene Art, und jede aus einem anderen Grund. Minuten vergingen, in denen keine von ihnen auch nur ein Wort sagte. In denen das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach, das Ticken der Wanduhr war, ein großes, antik aussehendes Monstrum von einer Pendeluhr, die wohl schon seit der letzten Eiszeit in diesem Zimmer stand. Die Uhr schlug. Laut, donnernd- Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Das Mädchen räusperte sich, biss sich auf die Lippen, rang deutlich sichtbar mit sich selber, bevor sie ihrer Mutter die Frage stellte, die ihr schon so lange auf dem Herzen lag. So unglaublich lange. „Wer ist er?“ Die Rechtsanwältin hielt beim Schreiben inne, legte ihren Kugelschreiber auf ihr Blatt und schluckte schwer. Also war es heute soweit. Heute… Sie hatte es kommen sehen - schon zu oft hatte Sayuri Andeutungen gemacht, ihre Frage umschrieben, sie ein wenig gelöchert, nur ein bisschen, in der Hoffnung, ihre Mutter verstünde ihr Anliegen, würde von selber zu reden anfangen - über ihn. Bisher immer erfolglos. Deshalb stellte sie sie nun direkt. „Wer?“, fragte Ran, obwohl die Frage eigentlich überflüssig war. Sie wusste genau, wen ihre fast fünfzehn Jahre alte Tochter meinte. Sayuri blinzelte, holte Luft. Man sah ihr an, wie viel Mut die folgenden Worte kosteten. „Mein Vater. Wer war er? Warum… warum ist er nicht bei uns?“ Sie setzte sich ihrer Mutter gegenüber an den Tisch, in einen der Stühle, in denen sonst Rans Klienten saßen, wenn ihre Mutter sie mal mit nach Hause nahm. Nervös faltete sie ihre Hände in ihrem Schoß. „Du hast mir nie von ihm erzählst, weichst Andeutungen geschickt aus. Deswegen frage ich dich jetzt direkt. Wer war er? Und wo ist er…? Warum ist er nicht hier, liebt er uns nicht? Hat er uns verlassen? Warum trägst du einen Ehering, wenn doch kein Ehemann dazu da ist?“ Sie deutete auf den goldenen Ring am rechten Ringfinger ihrer Mutter. „Wo ist der, der den anderen trägt? Und wer ist er?“ Ihre Stimme klang drängend, und in ihren Augen glimmte Entschlossenheit. Sie wollte Antworten. Jetzt. Ran schluckte, dann stand sie auf, ging zur Tür. Als sie auf den Gang hinaustreten wollte, merkte sie, dass ihre Tochter ihr nicht folgte. „Komm mit, Sayuri.“ Mehr sagte sie nicht. Vor seinem Zimmer blieb sie stehen. Lange starrte sie die Tür einfach nur an. Es war sein Büro gewesen und seit Jahren war es abgeschlossen. Es war fast… fast als ob er immer noch da drin wäre, irgendwie. Die Tür zu öffnen, zu sehen, dass das Zimmer leer war… zu sehen, dass er nicht drin war… sie hatte es nicht übers Herz gebracht. Seit er weg war… war niemand mehr hier gewesen. Nicht einmal seine Eltern hatten danach gefragt, sie gebeten, ihnen den Schlüssel zu geben. Sie rieb sich die Augen, um nicht zu zeigen, wie nahe sie den Tränen war, dann griff sie an ihren Hals, zog unter ihrem Hemd eine Kette hervor, an der ein Schlüssel hing. Sie öffnete den Verschluss, nahm den Schlüssel und sperrte auf. Der Staub wallte auf, als sie den Raum betraten. Ran blinzelte, ihre Sicht verschwamm. Ein heiserer Schluchzer entrang sich ihrer Kehle, sie konnte sich nicht mehr länger beherrschen. Sayuri, die bis jetzt hinter ihr gewesen war, schaute ihre Mutter nur fragend an, wagte nicht, etwas zu sagen. Ran durchmaß den Raum mit großen Schritten, nahm einen Karton, der auf dem Schreibtisch stand, wischte die zentimeterdicke Staubschicht ab und drückte die Schachtel ihrer Tochter in die Arme. Die riss erstaunt die Augen auf, ob des unvorhergesehenen Gewichtes des Kartons. Dann folgte sie ihrer Mutter nach draußen. Ran sperrte die Tür wieder ab. „Was ist da drin?“ Sie schaute zu ihrer Mutter und erschrak. Ran lehnte an der Wand, ihr Gesicht war tränennass, ihre Unterlippe bebte, ihre Hände zitterten wie Espenlaub. „Deine… deine Beziehung zu deinem Vater.“ Damit ging sie, beeilte sich in ihr eigenes Büro zu gelangen, warf die Tür hinter sich zu. Sayuri Kudô starrte ihr hinterher, dann ging sie, mit der Kiste in den Armen, die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Oben angekommen, setzte sie sich mit dem Ding auf den dicken Teppich auf dem Boden in der Mitte des Raums und klappte klopfenden Herzens den Karton auf. Drinnen lagen Bücher. Viele identische Notizbücher, Format DIN A4, und zwanzig sorgsam in Geschenkpapier eingeschlagene Päckchen. Die Bücher waren durchnummeriert, genauso wie die Pakete. Sayuri nahm das erste Buch heraus und schlug es auf. Tagebuch Von Shinichi Kudô Eine klare Handschrift, deutlich lesbar. Der Titel war das einzige, was auf der ersten Seite zu lesen war. Sayuri schluckte schwer, blätterte um, las weiter. Meine liebe Tochter, ich weiß nicht, wann du dieses Buch in deinen Händen halten wirst. Ran, also deine Mutter, und ich hielten es für das Beste, dass du selber den Zeitpunkt bestimmen solltest, an dem du dich reif fühlen würdest für diese Geschichte. Meine Geschichte… Also wirst du heute wohl deine Mutter nach mir gefragt haben. Wir hatten abgemacht, dass dies wohl die beste Gelegenheit wäre, dir das hier zu erzählen; denn wenn du selber fragst, dann heißt das, dass du etwas wirklich wissen willst - und das solltest du auch, denn die folgenden Seiten werden kein Spaziergang sein. Nicht für mich - und nicht für dich. Dennoch hast du ein Recht darauf, es zu erfahren. Nun - du wirst dich wohl fragen, warum deine Mutter dich allein aufgezogen hat; und warum du nun vor dieser Kiste sitzt, mit diesem Buch in deiner Hand. Der Grund, warum ich nicht bei euch bin, ist ein ganz einfacher. Ich bin tot. Das heißt, jetzt noch nicht, aber bald. Zu dem Zeitpunkt, an dem du das hier liest, auf alle Fälle. Schon seit Jahren. Ich werde sterben, in nicht allzu ferner Zeit. Eigentlich… eigentlich schon sehr, sehr bald. Die weiteren Details erspare ich dir an dieser Stelle, das führt jetzt zu weit; ich habe dir die genaueren Umstände weiter hinten aufgeschrieben. Nun, die Ärzte waren sich einig, dass es für mich keine Heilung mehr gibt, schließlich ist das, was mich umbringt, auch keine bekannte Krankheit... Sie entließen mich mit der Diagnose, und der Prognose von einem halben Jahr. Wir haben sie getoppt, immerhin. Diese Seite, die du gerade liest, ist die Letzte, die ich geschrieben habe. Ich habe mit dem Schreiben der Bücher an dem Tag begonnen, an dem deine Mutter mir sagte, dass sie mit dir schwanger ist. Der Sinn dieser Bücher ist, dass du nachvollziehen kannst, wer ich gewesen bin. Ich dachte, es interessiert dich vielleicht, und ich möchte, dass du weißt, dass ich gern dein Vater gewesen wäre, mit dir das gemacht hätte, was Väter so mit Töchtern machen, was weiß ich… Zelten gehen und Angeln, ins Kino gehen, dich für Bücher begeistern, dir meine Ideale vermitteln, dir das Fahrradfahren beibringen und so weiter. Das alles ist mir leider nicht vergönnt, wird uns nicht vergönnt sein… deswegen versuche ich auf diesem Weg, wenigstens ein wenig präsent in deinem Leben zu sein. Ich will, dass du weißt, wer ich gewesen bin, denn ich kann mir vorstellen, dass das für dich wichtig ist. Es tut gut zu wissen, wo seine Wurzeln liegen. Es ist wichtig, dass wir unsere Vergangenheit kennen, denn sie beeinflusst unsere Zukunft - und da ich Teil deiner Vergangenheit bin, wollte ich dir diesen Teil persönlich schildern. Ich denke, du wirst viele Fragen haben, und ich hoffe, ich kann dir einige damit beantworten… denn du hast die Antworten sicherlich verdient. Ich wollte es nicht nur deiner Mutter und deinen Großeltern überlassen… ich wollte, dass du etwas von mir hast. Ich will, dass du weißt, dass du unendlich wichtig bist für mich, auch wenn das hier vielleicht komisch klingen mag. Deshalb die Bücher. In den Päckchen sind Geschenke zu deinen Geburtstagen. Ich hab sie auf zwanzig beschränkt, weil das hier in Japan das Alter ist, an dem ein junger Mensch als erwachsen gilt, obwohl ich dir gern ein ganzes Zimmer voll geschenkt hätte, aber irgendwo muss man wohl Grenzen setzen. Nun. Noch bist du nicht da, aber lange wird’s wohl nicht mehr dauern. Wir werden sehen, wer von uns beiden es eiliger hat… :) In Liebe, dein Vater Shinichi Kudô Teil I - Der Anfang vom Ende ----------------------------- So... und zum Auftakt der Fic gibt's für die, die noch weiterlesen wollen, gleich das erste Kapitel... Teil Eins der Vorgeschichte. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen, MfG, eure Leira _______________________________________________________________ Teil 1: Vergangenheit Kapitel 1: Der Anfang vom Ende 16 Jahre früher Unsere Vergangenheit beeinflusst unsere Zukunft. Sie macht uns zu denen, die wir sind… das ist wohl die Wahrheit. Auch wenn wir es nicht wissen wollen - wir können das, was vergangen ist, nie ganz hinter uns lassen. Das liegt nicht in unserer Macht. Shinichi schluckte, während er sich darauf konzentrierte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Irgendwann holt einen die Vergangenheit immer ein. Und hebt die Zukunft aus den Angeln. Die Sonne strahlte viel zu warm für diese Jahreszeit. Es war ein wundervoller Tag, klar und freundlich - ein wahrlich wundervoller Tag. Viel zu wundervoll für diese Jahreszeit. Viel zu wundervoll für die Nachricht, die er ihr mitzuteilen hatte. Sie lief neben ihm, plapperte fröhlich vor sich hin, erzählte von Blumenarrangements und Kuchen, von Menüfolgen und Musik und weißen Tauben und bekam nur am Rande mit, dass der, der neben ihr ging, fast nichts von dem hörte, was sie ihm mitteilen wollte. Schließlich wurde sein Schweigen dann aber doch zu lange, zu tief, zu… laut. „Shinichi?“ Sie blieb schließlich stehen, packte ihn am Arm und drehte ihn zu sich herum. „Hast du auch nur einen Bruchteil von dem gehört, was ich dir gesagt habe?“ Sie funkelte ihn verärgert an. Der Ausdruck des Ärgers in ihrem Gesicht veränderte sich schlagartig, als sie in sein bleiches Gesicht blickte. Bleich. Warum zur Hölle war er so blass…? „Shinichi, was ist mit dir?“ Er schluckte, schüttelte den Kopf. „Nicht hier.“ Mehr sagte er nicht. Er wusste, er musste es ihr sagen; er wusste, er konnte ihr das nicht verheimlichen, auch wenn er sie… wenn er ihre Welt damit aus dem Gleichgewicht bringen würde, ihr den Boden unter den Füßen wegzog, wenn… „Hat es damit zu tun, wo du heut Vormittag warst? Warum machst du so ein Geheimnis draus? Steckst du mal wieder in Schwierigkeiten?“ Sie unterbrach seine Gedankengänge, schaute ihn immer noch mit bohrendem Blick in die Augen. Ihr gefiel nicht, dass er so gar nicht rausrücken wollte mit der Sprache. Sie kannte das von ihm, und es bedeutete immer etwas Schlimmes. Ran seufzte, streckte die Hand aus, strich mit den Fingern am Kragen seines Hemdes entlang. „Also?“, wiederholte sie ihre Frage gerafft in Kurzform. Er schüttelte heftig den Kopf. Ran schaute ihn fragend an und griff dann nach seiner Hand. Er drückte sie sacht. „Hast du Angst?“, murmelte sie. „Vor was? Vorm Heiraten?“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Nein. Nein, das ist es nicht. Wirklich nicht. Ich erzähl’s dir zuhause, Ran. Bitte...“ Er drückte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn, und sie gab nach. Sie musste zugeben, er wusste genau, wie er sie rumkriegte. Ran lächelte ihn an. Sie war so froh, ihn an ihrer Seite zu wissen. Sie waren jetzt gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt, und bald… bald würden sie Mann und Frau sein. Der Gedanke an ihre bevorstehende Hochzeit jagte ihr einen wohligen Schauer über den Rücken. Sie wusste, dass er es war - der Mann. Mit dem sie eine Familie gründen, ein schönes Leben führen, mit dem sie alt werden wollte. Sie zog ihn mit sich. Er schaute sie nur betrübt an, versuchte, sich seine Sorgen nicht anmerken zu lassen. Hinter ihnen war die Tür zugefallen. Sie stand in der Küche und schaute ihn fragend an. „Erzählst du mir jetzt, was du mir draußen nicht sagen wolltest?“ Shinichi schluckte; er hatte damit gerechnet, dass sie nicht locker lassen würde, es nicht vergessen würde, aber er hatte es doch insgeheim gehofft. Den ganzen Weg nach Hause hatte er sich überlegt, wie er ihr das beibringen sollte. Möglichst schonend beibringen sollte. Ihr etwas mitteilen sollte, was er selber fast nicht verkraftete, von dem er nicht wusste, wie er es seinen Eltern sagen sollte, wie und ob überhaupt er es seinen Freunden berichten sollte - Ran musste er es sagen, das war ihm klar. Was ihm nicht klar war, war das wie. Er holte tief Luft. „Setz dich besser.“ Seine Stimm klang rau. Er griff sich irritiert an den Hals. Ran starrte ihn verständnislos an. Als sie nicht reagierte, drückte er sie eigenhändig auf einen Stuhl. Shinichi schluckte, sah sie lange an. Dann senkte er den Blick, trat einen Schritt zurück. Er wusste nicht, wie er es anstellen sollte. Ran war noch blasser geworden während der letzten paar Minuten. „Shinichi? Was... was ist los?“ Ihre Stimme klang sanft, aber beunruhigt. „Du machst mir Angst… so sag doch, was los ist. Bitte!“ Er starrte sie hilflos an. Sein Kopf war leer, nicht ein einziges Wort war mehr vorhanden. Nicht eins. In ihr keimte ein furchtbarer Verdacht. Eigentlich traute sie es ihm nicht zu, aber sie musste ihn dennoch fragen. Sie musste es wissen. „Shinichi…? Hast du eine Affäre? Hast du… hast du dich in… jemand anderen verliebt?“ Er starrte sie überrascht an, blinzelte. „Wie - wie kommst du darauf? Nein! Nein, natürlich nicht…“ Ran merkte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. „O-okay. Ich, ich dachte nur, weil du so… so überhaupt nicht mit der Sprache rausrücken willst, da hatte ich Angst, es wäre…“ Er schüttelte bestimmt den Kopf. „Nein. Nein, das ist es nicht.“ „Und irgendeine mysteriöse Organisation ist auch nicht hinter dir her?“ „Nein. Das - das sagte ich doch schon… es ist nicht die Art von... von Schwierigkeiten.“ „Was kann denn dann so schlimm sein…?“ Sie lächelte ihn zärtlich an. „Was kann denn so schrecklich sein, dass du dich davor fürchtest, es mir zu sagen…?“ Er hielt sich die Hand vor dem Mund, als ihm fast übel wurde, fuhr sich dann über die Augen, lehnte sich an den Tisch. „Ich kann’s dir nicht sagen.“, presste er hervor. Er atmete tief durch, versuchte sich wieder zu beruhigen, schließlich musste er es ihr sagen, er musste… das wusste er. Alles andere wäre feige und ungerecht ihr gegenüber. Sie musste wissen, auf was sie sich einließ, also war es seine Pflicht, sie ins Bild zu setzen. Was er immer noch einfach nicht wusste, war das Wie. Ihre Stimme, dieses liebevolle Leuchten in ihren Augen, wenn sie ihn ansah. Er konnte ihr das nicht antun, das ging nicht, das war zu grausam… Ran seufzte. Langsam war ihre anfängliche Erleichterung verflogen, ein flaues Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit. „Sags einfach. Bitte. Dieses Warten macht es unerträglich für mich… sag es einfach. Machs kurz und schmerzlos.“ Er warf ihr aus den Augenwinkeln einen Blick zu. Ran fing ihn auf und erschrak. So viel Schmerz… „Ich werde sterben, Ran.“ Jetzt war es raus. Er wandte sich wieder ab. Ran sagte nichts, starrte ihn an. Er vernahm, wie sie Luft holte, wie sich ihre Hände in den Rock ihres Kleides krallten - er hörte das knirschende Geräusch, als sich der Stoff spannte. „Es… es ist das Gift. Von... von damals. Es bringt mich um. Letzten Endes vollbringt es nun doch, wozu es gemacht wurde…“, fuhr er fort, um sich zu erklären. Erst jetzt drehte er den Kopf wieder, schaute ihn ihr Gesicht. Und ihre Reaktion war genau die, die er erwartet hatte. Ihr Gesicht war leichenblass. Sie sah buchstäblich so aus, wie er sich fühlte. Ihre Augen glitzerten feucht, eine Träne bahnte sich ihren Weg über ihre Wange, ihre Lippen waren in ihrer Ungläubigkeit leicht geöffnet. Langsam begann sie den Kopf zu schütteln. „Du - wenn das ein Scherz ist…“, hauchte sie. Ihr Herz schien sich zu verkrampfen, ihr fiel das Atmen schwer, ihr Magen fühlte sich an, als ob ein Kilo Kieselsteine darin läge. Langsam begann sie zu zittern. „Kein Scherz.“ Er schluckte. Dann ging er zur Kommode, kramte in einer Schublade, holte von ganz unten einen Ordner heraus, zog ein Blatt hervor, reichte es ihr. Sie hielt es so fest, dass sie es fast zerriss. Seine Diagnose. Ausgestellt von einem Arzt. Ran warf das Blatt mit einer hektischen Bewegung weg. „Das ist nicht wahr…“ Ihre Stimme war kaum hörbar. Sie presste die Lippen aufeinander, versuchte, Fassung zu bewahren. Sie scheiterte kläglich. Ran bebte nun am ganzen Körper, ihr Atem begann schnell und flach zu werden. „Das ist nicht wahr…“ Sie starrte in die Leere, ihre Augen weit aufgerissen. Er schluckte, stützte sich mit beiden Händen am Tisch ab, ließ den Kopf nach unten hängen, schloss die Augen. Er merkte, wie es langsam zu viel für ihn wurde. Shinichi ertrug diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht. Er ertrug den Schmerz nicht, den er ihr brachte. Warum hatte sie sich ausgerechnet ihn aussuchen müssen, unentwegt bereitete er ihr Kummer… sie hatte etwas soviel Besseres verdient. Stattdessen liebte sie ihn. Und dafür liebte er sie und hasste sich selbst. Langsam wandte er sich ihr wieder zu, sah in ihr Gesicht. Und sah etwas, was er da nicht sehen wollte. Kampfgeist… Sie wollte noch nicht aufgeben. Dabei nützte es nichts. Was kam, kam unausweichlich… sie konnten es nicht verhindern. „Aber wir können doch was dagegen tun! Die Medizin heutzutage…“, begann sie dann hoffnungsvoll. Er presste die Augen noch fester zusammen, schüttelte langsam den Kopf. „Nein, Ran. Shiho - sie… sie hat zu spät erkannt, was es bei mir angerichtet hat, immer noch anrichtet. Ich war zu lange Kind… Ich war auch schon bei Spezialisten, bei drei Ärzten, alle sagen das Gleiche. Sie geben mir noch ein halbes Jahr.“ Ihr die Hoffnung zu nehmen fiel im unglaublich schwer. Aber er wollte sie nicht anlügen. Er wollte, dass sie so schnell wie möglich losließ, sich damit abfand. Es reichte, wenn einer von ihnen beiden sich quälte. „Ungefähr.“, fügte er noch an. „Was…?“ Sie schrie nicht. Ihre Stimme war kaum lauter als das Flüstern des Windes, der draußen durch die blühenden Kirschbäume strich. Sie war aufgestanden, stand da, starrte ihn fassungslos an. Er sah, wie die Tränen nun haltlos über ihre Wangen rollten. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, nachdem er ihr eröffnet hatte, was passieren würde; aber diese Prognose… gab ihr den Rest. „Sag, dass das nicht wahr ist.“ Ihre Stimme kippte. Er stieß sich vom Tisch ab, wandte sich ihr zu, wollte etwas Beruhigendes sagen, etwas, dass die Sache nicht ganz so schlimm erscheinen ließ, wie sie war. Ihm fiel nichts ein. Jedes einzelne, verdammte Wort wäre eine Lüge gewesen. So in etwa stellte er sich die Hölle vor. „Sag, dass das nicht wahr ist!“ Er fuhr zusammen. Ran ging näher, stand nun so nah vor ihm, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte. „Bitte, bitte, sag dass das nicht wahr ist… Bitte… bittebittebitte...“ Sie bettelte. Sie bettelte ihn um sein eignes Leben an. Shinichi fühlte sich, als bräche unter ihm der Boden weg. Das hier nicht nur eine Vorstellung... das hier war die Hölle. Die Hilflosigkeit, die Verzweiflung, die sich in ihm breit machten, übermannten ihn fast. Er konnte sie so nicht sehen. Er wollte sie so nicht sehen. Stumm schüttelte er den Kopf, schluckte. Rührte sich ansonsten nicht. Sie schrie auf, krallte ihre Hände in seinen Hemdkragen, zerrte ihn zu sich - Schluchzer schüttelten ihren zarten Körper, sie starrte ihn Hilfe suchend an. „Sag, dass das nicht wahr ist, Shinichi! Sag, dass das nicht wahr ist! Du machst doch einen Scherz, das ist nur ein Witz… ein böser Traum…“ Er schluckte, drückte nur wortlos ihren Kopf an seine Schulter, legte ihre Arme um sie, zog sie an sich. „Das kann nicht wahr sein… das ist nicht wahr… ich träume das nur, so grausam kann die Welt doch gar nicht sein, das…“ Er wusste nicht, wie lange sie so dagestanden hatten, nachdem er ihr die Hiobsbotschaft überbracht hatte. Irgendwann hatte Shinichi sie mit sich auf die Couch gezogen, wo sie weiter in seinen Armen gelegen hatte, sich die Seele aus dem Leib geweint hatte. Irgendwann war sie vor Erschöpfung eingeschlafen. Er lag nur da und starrte die Decke an. Eine einzelne Träne verließ seinen Augenwinkel, rollte über seine Wange, tropfte auf ihren Kopf und versickerte in ihren Haaren. Sie schlief immer noch, als er seine Eltern anrief. Es ihnen zu sagen, war ungefähr genauso schlimm, wie, es Ran zu sagen; und deshalb sparte er es sich auch. Er bat sie lediglich zu kommen - so schnell wie möglich, weil er ihnen etwas Wichtiges zu sagen hätte. Etwas, das so wichtig war, dass er es ihnen nicht am Telefon erklären konnte. Mehr sagte er nicht. Er wollte das nicht am Telefon machen, und er fühlte auch, dass er nicht in der Lage war, diese Nachricht heute noch einmal zu überbringen. Sie hatten gefragt, was los war - er war ihnen ausgewichen. Das Telefonat endete damit, dass er von ihnen die Zusage hatte, sich in den nächsten Flieger zu setzen. Anscheinend hatte er sich aufgewühlt genug angehört, am Telefon. Unabsichtlich, weiß Gott… er wollte nicht, dass man ihm sein Elend anhörte... aber er war momentan wohl nicht ganz Herr über sich. Seine Selbstkontrolle ließ zu wünschen übrig. Er hatte gerade den Hörer aufgelegt, als er hinter sich ein leises Schniefen vernahm. Shinichi schluckte, drehte sich um; dann drückte er Ran, die mit rotgeweinten Augen und zerzausten Haaren vor ihm stand, das Telefon in die Hand, nahm seine Jacke vom Haken und ging. Sie so zu sehen trieb ihn an die Grenze dessen, was er momentan verkraften konnte. Er sah ihre Trauer, ihre Verzweiflung, ihren Schmerz, und wusste, wusste, er konnte nichts dagegen tun. Gar nichts. Gar nichts. Ihm waren die Hände gebunden, er konnte ihr nicht helfen. Obwohl er alles dafür täte, aber ihr konnte er nicht helfen. Er konnte ja nicht mal sich selber helfen. Shinichi schnappte unwillkürlich nach Luft, griff sich an den Hals. Er brauchte frische Luft. Er musste da wegkommen, jetzt gleich… Hinter sich hörte er sie noch leise rufen, aber er ignorierte sie. Es war zuviel. Soviel Leid auf einmal ertrug er nicht. Er brauchte jetzt Abstand - ihm fehlte die Kraft, noch Trost zu spenden, nach dem Telefonat mit seinen Eltern war sein Reservoir leer. Anstatt, dass ihm jemand Mut zu sprach, ihn tröstete, musste er es für alle anderen leichter machen. Er musste weg, sonst würde er durchdrehen. Sonst würde er ihr und sich selbst nur noch mehr wehtun. Ein paar Stunden Ruhe, um dem totalen Zusammenbruch zu entgehen. Hinter ihm fiel das Gartentor zu, er wusste nicht, in welche Richtung er ging. Es war ihm egal. Und er sah nicht die rotblonde Frau am Fenster des Nachbarhauses, die ihm nachsah, mit versteinerter Miene und leblosen Augen. Als er wieder kam, wurde es bereits dunkel. In der Küche brannte Licht, und er konnte aus dem Wohnzimmer gedämpfte Stimmen hören. Er blieb einen Moment stehen, horchte angestrengt, um zu identifizieren, wer es war. Er hörte Ran - ihre Stimme klang immer noch tränenerstickt. Dann Kogorô. Eri. Der Professor. Shiho. Und er zweifelte keinen Moment daran, dass auch Sonoko bereits Bescheid wusste. Er seufzte. Eigentlich wollte er jetzt keinen sehen. Er verstand, dass Ran darüber reden musste, dass sie jemand brauchte, bei dem sie sich ausweinen konnte, jemand anderen als ihn; sie brauchte jemanden, der auch dann noch für sie da war, wenn er es nicht mehr sein konnte…- er für seinen Teil verspürte momentan allerdings keinerlei Mitteilungsbedürfnis. Er wollte seine Ruhe haben, verdrängen, was vor ihm lag. Und was nicht. Also schlich sich Shinichi auf Zehenspitzen durch den Flur, hatte den Griff des Treppengeländers bereits in der Hand, als die Küchentür aufging. In der Tür stand Kogorô. Er schaute ihn nur an, seine Miene schien versteinert. Er hatte keine Ahnung, was in dem Mann vorging. Shinichi drehte sich ganz um, lehnte sich gegen das Geländer, wich seinem Blick aus. „Du musst dich nicht zu uns setzen, wenn du nicht willst.“ Kogorôs Stimme war leise und sehr, sehr ernst. Shinichi schaute erstaunt auf. Rans Vater hielt seinem Blick stand. Und das... erstaunte und ermutigte ihn zugleich. Es tat gut, dass nicht jeder voller Beschämung und Verlegenheit den Blick von ihm abwandte. Kogorô fuhr fort. „Ich kann verstehen, wenn du deine Ruhe haben willst. Also geh ruhig, und leg dich hin. Aber ich werde Ran sagen, dass du wieder da bist. Sie hat Angst um dich.“ Er seufzte. „Ich kann verstehen, dass die Situation für dich keine leichte ist. Aber du bist nicht der Einzige, der darunter leidet, wie du ja wohl wissen wirst. Also - wenn du mal wieder das Bedürfnis hast, aller Welt den Rücken zuzukehren, dann nimm dein Handy mit. Damit ist deine Einsamkeit zwar nicht absolut, aber damit wirst du leben müssen.“ Er griff das Mobiltelefon von der Kommode im Gang und warf es Shinichi zu. Der fing sein Handy mit einer Hand auf. „Nur für… für alle Fälle. Sie macht sich nämlich verdammt noch mal Sorgen um dich. Mach ihr nicht noch mehr Kummer, als sie ohnehin schon hat.“ Shinichi kniff die Lippen zusammen, nickte nur. Dann stieg er die Treppe hoch. Hinter ihm fiel die Küchentür wieder zu. Hiobsbotschaft -------------- Hallo! Ich möchte euch an dieser Stelle gleich mal danken für eure Kommentare! Ehrlich, ich danke euch sehr und ich freu mich unglaublich! Nun... mit diesem Kapitel fängt dann ganz heimlich still und leise der angekündigte Kriminalfall an, der sich dann über die nächsten Kapitel ziehen wird... zu viel braucht ihr heute allerdings noch nicht erwarten. Nun denn. Bis nächste Woche! Liebe Grüße, eure Leira ______________________________________________________________________ Kapitel 2: Hiobsbotschaft Das Frühstück am nächsten Morgen verlief schweigend. Er wusste, sie starrte ihn an. Immer wieder senkte sich ihr Blick, aber nicht für lange. Ran hatte ihn gestern nicht mehr angesprochen, sich schweigend neben ihn ins Bett gelegt. Sie hatte gehört, dass er nicht schlief. Seine Augen waren geschlossen gewesen, aber er war wach gewesen. Sie hatte neben ihm gelegen und an die Decke gestarrt, hatte nicht verhindern können, dass die Tränen von Neuem zu laufen begannen. Irgendwann war es ihm zuviel geworden. Der Schmerz, ihr zuzuhören, und einfach nur dazuliegen, nichts zu tun, erschien ihm zu grausam, auch ihr gegenüber. Er wollte ja nicht, dass sie so litt, jetzt, mal wieder wegen ihm. Eigentlich hatte er seine Ruhe haben wollen. Eigentlich hatte er schlafen wollen, ein wenig vergessen… obwohl er nicht glaubte, dass er in Morpheus Armen seliges Vergessen gefunden hätte. Der Gott des Traumes hätte für ihn wohl ein paar seiner schlimmsten Nachtmahre auf Lager gehabt. Also stellte er sich dem Alptraum seiner Wirklichkeit, seines Wachens, drehte sich zu Ran, legte seine Arme um sie, zog sie an sich und ließ sie weinen. Irgendwann war sie eingeschlafen, fest in sein Hemd gekrallt. Shinichi hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Und nun saß er hier, beim Frühstück, hatte bereits die zweite Tasse extrastarken, schwarzen Kaffee intus und saß vor der dritten, und fragte sich, wie lange das noch so weitergehen sollte. Wie sie mit der Situation umgehen sollten. Nicht einmal ein Tag war um und sie beide waren schon am Ende. Vor ihm lag die Zeitung, aber seine Augen verharrten auf der Stelle. Er hörte, wie Ran ab und an mechanisch an ihrer Tasse nippte, hörte das Geräusch, wenn sie die Tasse abhob, leise schlürfte, schluckte, die Tasse wieder absetzte - und es machte ihn wahnsinnig. Er fuhr sich über die müden Augen, schluckte, schlug die Zeitung zu und schaute sie an. „Hast du Heiji schon angerufen?“ Ran verschluckte sich fast. Mit der Frage hatte sie nun so gar nicht gerechnet. „Ich meine... weil du ja deinen Eltern und dem Professor gestern schon... Bescheid gesagt hast...?“, fügte er unsicher an. „Nein.“, sagte sie dann. „Ich... bist du sauer? Dass ich gestern...“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, wirklich nicht, das ist schon gut so... und außerdem muss ich es jetzt ihnen nicht mehr sagen, ich sollte mich bei dir bedanken.“ Er lächelte traurig. Sie seufzte leise, strich sich über die Augen, holte Luft. „Ich... du warst einfach weg.“ Ran schluckte kurz. „Nach dieser Nachricht... ich hab jemanden um mich gebraucht, ich musste reden, ich brauchte... brauchte einen Rat, jemanden, der mir zuhörte, ich war geschockt, konnte gar nicht denken und du... du warst gegangen, ich wusste mir nicht anders zu helfen, ich...“ „Ran.“ Er legte den Kopf schief. „Es ist schon gut. Ich muss ja zugeben... dass es etwas unüberlegt war, einfach abzuhauen, aber ich habs einfach nicht mehr ausgehalten.“ Seine Stimme verlor sich zu einem Flüstern. „Und wie gesagt, ich danke dir dafür...“ Ran schaute ihn bekümmert an. „Nun... also... nichts zu danken. Aber zu deiner Frage noch mal... Heiji hab ich nicht angerufen. Ich nahm an... nahm an, du möchtest es ihm selbst sagen.“ Shinichi blinzelte. „Danke für deine Umsicht.“ Dann schüttelte er allerdings sacht den Kopf. „Was Heiji betrifft... Ich werd’ ihm gar nichts sagen.“ Ran schaute ihn verwirrt an. „Und du auch nicht.“, setzte er hinzu. „Bitte.“ Ran setzte nun ihre Tasse, die sie mit beiden Händen gehalten hatte, ab. „Aber… er ist dein bester Freund…!“ Shinichi schaute ihr ins Gesicht, fixierte sie mit seinen blauen Augen. Ran schluckte, rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Sie ahnte, was er vorhatte, und es gefiel ihr nicht. „Ja, und genau deshalb will ich, dass er es nicht weiß. Weil er mein Freund ist. Ich will ihn nicht auch noch belasten damit... Dir musste ich es sagen, du bist meine Verlobte, meine Freundin… wir leben zusammen… ich wollte dir gegenüber mit offenen Karten spielen. Aber… Heiji - das muss nicht sein. Ich will nicht, dass er sich Sorgen macht. Dass er am Ende noch ein schlechtes Gewissen kriegt oder so…“ Er leerte seine Tasse auf einen Zug. „Ich will einfach nicht, dass sich an unserem Verhältnis, unserer Freundschaft, etwas ändert. Ich will nicht, dass über allem dieser Schatten hängt…“ Ran seufzte, griff nach seiner Hand, drückte sie. Sie verstand ihn ja... aber guthieß sie seine Idee dennoch nicht. Allerdings stand sie zu ihm; er musste wissen, was er tat. „Ist gut. Du kannst dich auf mich verlassen… von mir wird er nichts erfahren.“ Er warf ihr einen fragenden Blick zu. „Keine Bange. Kazuha auch nicht…“ Er nickte, schaute auf die Tischplatte. „Shinichi…?“ Ihre Stimme klang sanft. Shinichi blickte auf. „Ich liebe dich…“ Er lächelte traurig. „Ich dich auch… und ich hätte… hätte auch dir das gern erspart…“ Ran schüttelte sacht den Kopf. „Mach dir keine Sorgen. Ich komm schon… klar.“ Sie wischte sich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel. Er sagte nichts mehr. Shinichi spürte ihre Blicke im Rücken, als er die Wohnung verließ. Er wusste, sie machte sich Sorgen. Wahrscheinlich hatte sie sogar Angst, er würde Abends nicht wiederkommen. Logisch betrachtet war diese Angst unbegründet, ja... aber wer dachte in dieser Situation logisch...? Shinichi schluckte, seufzte, drehte sich am Gartentor noch einmal um, den Autoschlüssel bereits in der Hand. „Ran... Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ Sie nickte tapfer. „Das weiß ich.“ „So siehst du aber nicht aus…“ Sie seufzte, holte tief Luft. „Mach dir keine Sorgen. Ich komm schon klar.“ Shinichi schaute sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Er glaubte ihr kein Wort. „Bis heute Abend…“, murmelte er schließlich. Er hatte keine Lust auf Diskussionen. Er versuchte ein Lächeln. Sie versuchte es auch. Und sie beide scheiterten kläglich. Dann ging er auf die Straße hinaus, stieg ins Auto. Und Ran drehte um, holte ihre Aktentasche, um in die Kanzlei zu fahren. Das Gefühl der Beklemmung ließ sie den ganzen Tag nicht los - sie konnte von Glück reden, dass sie keinen Fall zu verhandeln hatte. Egal was es gewesen wäre - sie hätte ihn wohl verloren. Mittlerweile war früher Abend – die Dämmerung begann Tokio mit einer sanften Decke zuzudecken. Shinichi trabte stumm neben Kommissar Meguré her, hing seinen Gedanken nach. Der Fall war aufreibend gewesen. Ein Mordfall, allein das wäre noch nicht so schlimm gewesen. Aber die Art und Weise, wie der Täter zu Werke ging, war grauenhaft. Und noch grauenhafter war, dass es ein Serientäter war, und sie ihn noch nicht schnappen konnten. Er seufzte. Er wusste, er war nicht bei der Sache gewesen, und er wusste, dass Meguré das wohl aufgefallen war. Darüber reden wollte er nicht. Er wollte nicht, dass das das Präsidium Bescheid wusste. Noch nicht. Es reichte, sich eine Erklärung zu Recht zu schustern, wenn er irgendwann den ersten Fall ablehnen würde. Sie wussten nichts von Conan, und so sollte es bleiben. Um Kogorôs Willen. Hinter ihm ging Takagi, und erzählte mit glänzenden Augen von Minako, seiner kleinen Tochter. Minako war jetzt ein halbes Jahr alt. Er und Miwako hatten letzten Sommer geheiratet - und der Nachwuchs hatte nicht lange auf sich warten lassen. Shinichi schwieg sich aus. Ihm war gerade ein weiterer Abschnitt seines Lebens bewusst geworden, den er nicht mehr erleben würde. Er würde wohl nie Vater werden. Sie hatten nie gesprochen, über Kinder; aber er wusste, Ran hätte gern eine Familie gehabt. Sie war der Typ für so was. Sie wäre eine wundervolle Mama geworden. Er hatte keine Ahnung, wie er als Vater ausgesehen hätte, aber er hätte es gern versucht. Er hätte bestimmt sein Bestes gegeben. Nun. Ob er als Vater versagen würde… darüber brauchte er sich jetzt keine Sorgen mehr zu machen. Soweit würde es nie kommen. Die Hände tief in die Taschen seines Jacketts vergraben, stapfte er weiter, schluckte bitter. Das Leben war nicht fair. Es war einfach nicht fair. „Shinichi?“ Takagi tippte ihn auf die Schulter, hielt ihm ein Foto von einem Baby vor die Nase. „Sie ist unheimlich süß, nicht?“ Shinichi blinzelte, starrte ihn an. „Ganz die Mama.“, murmelte er dann, zwang sich zu einem Lächeln. Takagi konnte ja nichts dafür. Er sollte sich für ihn freuen, er hatte lange und hart genug um Miwako gekämpft. Aber es gelang ihm nicht. Und so blieb es bei einem künstlichen Hochziehen der Mundwinkel, was Takagi nicht weiter auffiel, weil er nur Augen für sein Töchterlein hatte. Jemand anderem fiel es auf. Jûzô Meguré schaute ihn nur an, sagte nichts. Ihm war Shinichis Verhalten aufgefallen. Sein künstliches Lächeln, diese freudlose, gewollte Geste, fügte sich nahtlos ein. Er würde abwarten, ob das nur eine kurze Phase war - einen schlechten Tag hatte jeder Mal. Aber er fürchtete, dass hinter Shinichis Stimmungswandel, hinter seiner Unkonzentriertheit, ein anderer Grund steckte. Ein ganz und gar unerfreulicher Grund. Er wusste nur nicht, was. Schweigend gingen sie weiter, zurück ins Präsidium. Die Sonne ging unter, als Shinichi den Wagen wieder vor dem Haus abstellte. Er stutzte, als er sah, wer ihn am Tor zum Kudô-Anwesen erwartete. Es war nicht Ran. Es war Shiho. Sie stand da, ihre Augen rot geweint. Shinichi stieg aus, schlug sanft die Autotür hinter sich zu, schloss ab. Verwirrung machte sich in ihm breit. Er verstand sie nicht. Sie hatte doch gewusst, was los war, seit Wochen schon. Schon vor allen anderen hatte sie gewusst, dass er sterben würde. Sie war die Erste gewesen, die es erkannt hatte, und hatte es ihm mit erstaunlicher Distanziertheit beigebracht. Höchst professionell - aber in dem Zusammenhang war ihre Kühle für ihn wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Was sie veranstaltet hatte, war würdig eines Arztes gewesen, der seinen Patienten die schlimmste aller Nachrichten überbringt. Aber sie war nicht sein Arzt. Sie war seine Freundin. Von ihr hätte er sich… etwas anderes erhofft. Deswegen… verstand er es nun nicht. Er hatte sich vor einiger Zeit noch über ihre Kälte geärgert, sie als unmenschlich bezeichnet, ihr das auch vorgehalten. Er hatte mehr Mitgefühl von ihr erwartet. Sie hatte es abgetan und war gegangen. Hatte ihm gesagt, er würde sterben, bald, mit einer Miene, die keine Gefühlsregung zeigte, hatte sich seinen Vorwurf über ihr Verhalten angehört, hatte mit den Schultern gezuckt und war ohne ein weiteres Wort verschwunden. Das war der Zeitpunkt gewesen, an dem er an ihrer Freundschaft gezweifelt hatte. An dem er sich von ihr zurückgezogen hatte... ihren Kontakt auf ein Minimum beschränkt hatte. Er wusste nicht mehr, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. Und jetzt stand sie hier, vor seinem Haus, völlig aufgelöst. „Shiho?“ Er sprach ihren Namen sehr leise aus. „Shiho, was ist los…?“ Sie hob den Kopf, starrte ihn an. In ihren Augen stand die Schuld. Schmerz. Und langsam dämmerte es ihm. Langsam ging ihm auf, dass ihr auf-Abstand-bleiben nur dem einen Zweck gedient hatte - sich selbst zu schützen. Dieses Einmauern, diese Gefühlskälte, hatte nur diesen einen Sinn gehabt… es nicht zu nahe an sich ran kommen zu lassen. Weil es sie an den Rand des Wahnsinns brachte. Wie es aussah, hatte irgendetwas nun aber ihre Mauern eingerissen. Und jetzt… jetzt tat ihm das Leid. Nun hatte er noch einen Menschen mehr, um dessen Wohl er sich sorgen musste. Er hatte geglaubt, Shiho käme klar. Offensichtlich… offensichtlich war dem nicht so. Offensichtlich lag ihr viel mehr an ihm, als sie je hatte durchblicken lassen. Und nun gab sie sich die Schuld an seinem Schicksal. Lange sagten sie nichts. Lange starrten sie sich nur an, warteten darauf, dass der andere den ersten Schritt tat. Schließlich war sie es, die das Schweigen brach. „Ich war heut noch mal bei Ran…“ Ihre Stimme klang brüchig. Und dann brach es aus ihr heraus. „Es ist meine Schuld! Herrgott, Shinichi, es ist meine Schuld! Dass du sterben musst, dass sie so leiden muss, dass ihr beide nicht das Leben bekommen werdet, das ihr verdient - ich bin schuld! Ihr solltet mich hassen! Hassen!!!“ Die letzten Worte hatte sie geschrieen. Er sah ihren inneren Kampf, erkannte, wie sehr sie um ihre Fassung rang. Die Schlacht dauerte nicht lange; sie verlor sie mit wehenden Fahnen, hatte keine Chance. Die rotblonde Forscherin fing an zu schluchzen, dann gab es kein Halten mehr. Ihr schmaler Körper bebte, ihre Schultern zuckten, sie lehnte gegen die Mauer und japste nach Luft, weinte wie noch nie in ihrem Leben, während sie unter Tränen mehr zu sich selbst als zu ihm sprach. „Meine Schuld, alles, alles, meine Schuld… warum trifft es dich? Warum nur trifft es dich?! Warum nicht mich, ich hätte es verdient, verdammt, ich… ich hätte es verdient… stattdessen…“ Er starrte sie an, wusste nicht, was er sagen oder tun wollte. Shiho stand vor ihm, starrte auf seine Füße, ihre Hände in die Mauer gekrallt und verfluchte sich selbst, weinte und schluchzte. Sie sah so unendlich verletzt aus. Passanten, die vorbeigingen, schauten sie verwirrt an. Shinichi trat einen Schritt nach vorne, wollte ihr ins Gesicht schauen, aber sie wandte jedes Mal den Blick ab. „Shiho, bitte, was du sagst ist doch Unsinn… du bist nicht…“ „Halt die Klappe!!“ Sie warf ihm einen zornfunkelnden Blick zu, der sofort in Verzweiflung umschlug, wandte den Blick wieder ab. „Hör auf, so mit mir zu reden, verdammt! Warum schreist du mich nicht an? Warum verfluchst du nicht den Tag, an dem ich geboren wurde? Warum bist du immer noch so nett zu mir, wegen mir…“ „Shiho, jetzt hör mal…“ „HÖR AUF!“, fauchte sie ihn an. Sie hob den Kopf wieder, ihre Augen schwammen in Tränen. „Hör auf, hör auf, hör auf…! Hör auf so gut zu mir zu sein, ich bitte dich…“ Sie hustete, versuchte sich zu sammeln und scheiterte kläglich. Immer mehr Schluchzer schüttelten sie. „Du bist so ein verdammter Gutmensch, es ist schrecklich! Warum kannst du mich nicht als das sehen, was ich bin? Du erkennst doch einen Mörder, wenn er vor dir steht, oder etwa nicht?!“ Shinichi zuckte zusammen, starrte sie fassungslos an. Sie schien seine Reaktion allerdings nicht zu bemerken. „Warum hasst du mich nicht… ich bitte dich, hasse mich… damit kann ich besser leben als mit deinem Verständnis… Du solltest das nicht verstehen müssen. Du solltest das nicht ertragen müssen…“ Sie wimmerte, legte ihre Hand auf ihren Mund, kniff die Augen zusammen. Er wollte ihr eine Hand auf den Arm legen, aber sie schlug ihn beiseite. Shinichi seufzte, war mit seinem Latein am Ende. Es war klar, dass sie sich von ihm nicht beruhigen lassen würde. Dann hörte er, wie die Tür aufging, eilige Schritte auf dem Pflaster, das zum Tor führte. „Shiho!“ Ran. Offensichtlich hatte sie sie vom Fenster aus gesehen; ihre Stimme klang besorgt. Von der anderen Seite näherten sich ebenfalls Schritte. „Shiho…“ Der Professor. Shinichi warf ihnen einen Blick zu - dann stürzte er nach vorn, als er merkte, wie die rotblonde Frau zu Boden rutschte. Vorsichtig nahm er sie unter den Achseln - Ran nahm den einen Arm, er den anderen, und so führten sie sie zurück ins Haus des Professors. Der schritt neben ihnen her, betrachtete die immer noch weinende Frau betrübten Blickes. „Was - was war denn los…? Was ist mit ihr passiert? Sie wusste es doch… ich dachte, sie packt das…?“, fragte er verwirrt. „Anscheinend haben Sie sich getäuscht, Professor Agasa. Anscheinend – haben wir uns alle getäuscht. Ich eingeschlossen.“ Shinichi presste die Lippen aufeinander. „Himmel, das hätte ich doch merken müssen. Ich weiß doch eigentlich, dass sie nur immer so stark tut…“ „Tja. Sie hat ihre Rolle überzeugend gespielt…“, murmelte Agasa. „Aber warum ist sie jetzt eingebrochen?“ Ran schluckte, schaute Shinichi an, dann den Professor. Sie schluckte, räusperte sich. „Sie ist heute vorbeigekommen… sie wollte sich erkundigen, wie’s dir geht… und mir… sich entschuldigen… wollte, dass... Sie sagte, sie hätte dich umgebracht...“ Shinichi zuckte zusammen. Ran starrte ihn entschuldigend an. Sie las seine Gedanken in seinem Gesicht, sah seine zusammengekniffenen Lippen, den starren, ernsten Blick in seinen Augen. „Nun sie… sie wollte reden und … und ich… ich bin wohl…“ „Zusammengebrochen.“, bemerkte er, bemühte sich um einen sachlichen Tonfall. Mittlerweile bereute er es, sie alle eingeweiht zu haben. Zu sehen, wie er sie alle mit sich in den Abgrund riss, machte ihn fast wahnsinnig. Das gab seinem eigenen Leiden, seiner persönlichen Tragödie, noch ganz andere Dimensionen. Ran nickte, ihre Wangen wurden rot. „Ich habs… ich habs nicht ausgehalten. Ich hab mich an ihrer Schulter ausgeweint. Ich hab ihr nichts vorgeworfen… das war sie dann selber...“ Sie blickte ihn aus flehenden Augen an. „Wirklich, ich hab nichts gesagt! Ehrlich nicht! Und ich wollts ihr auch ausreden! Ich weiß doch, dass sie…“ Sein Blick war besänftigend. „Das weiß ich doch.“ Dann waren sie beim Professor angekommen, betraten das Haus und legten Shiho auf das Sofa. Ihr rannen immer noch stumm die Tränen übers Gesicht. „Warum muss das passieren… warum gerade du… warum ich nicht…“ Sie klang heiser. Shinichi schüttelte den Kopf. „Du kennst das doch... man nennt es Schicksal.“ Bitterkeit spiegelte sich in seinen Augen. „Und du solltest dir auch nichts vorwerfen, ich bitte dich. Du hast mir das Gift nicht gegeben. Man hat dich gezwungen, es herzustellen - du hast das nicht freiwillig gemacht, und du wolltest niemanden töten. Du kannst nichts dafür. Das ist… das ist… etwas…“ Er seufzte, strich ihr eine nasse Haarsträhne aus den Augen, setzte sich auf die Tischkante. „Es ist... wie es ist... Man kann es nicht ändern. Also… gib dir nicht die Schuld. Sieh lieber zu, dass dir nicht das Gleiche passiert…“ Er lächelte traurig. Er merkte, wie sich Ran neben ihm niederließ, sich an ihn lehnte. „Das Leben ist nicht fair. Das wissen wir doch alle…“ Er versuchte zu lächeln, ironisch, aber es wirkte trotzdem wie eine Farce. Ran vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Shiho wandte den Kopf ab, drehte ihm den Rücken zu, ihre zitternden Schultern verrieten ihnen, dass sie leise weiterweinte. Professor Agasa stand da, schaute ihn an, seine Augen dunkel von Kummer. „Ja…“, murmelte der alte Mann. „Das wissen wir.“ Als sie zurück ins Haus kamen, waren seine Eltern da. Er starrte sie an, immer noch aufgewühlt von Shihos Verhalten, brauchte ein paar Sekunden, ehe er realisierte, warum sie überhaupt da waren. Als er dann soweit war, wurden seine Gedankengänge auch schon unterbrochen. „Wäre es zuviel verlangt gewesen, uns vom Flughafen abzuholen, wenn wir schon unbedingt hierher kommen müssen? Ich hab extra die Buchtour meines neuesten Romans…“, begann Yusaku genervt. Shinichi schluckte, schaute ihn an, es war offensichtlich, dass er heute keinen Sinn für Sticheleien hatte. Seine Miene wurde immer finsterer. Ran neben ihm starrte ihn nur an, fühlte sich, als ob sie neben einem Pulverfass stand. Der Vergleich an sich war nicht schlecht. „Sind dir deine dummen Bücher schon wieder mal wichtiger?“, wisperte er leise. Seine Stimme klang gefährlich. Yusaku hielt inne, bedachte seinen Sohn mit einem einigermaßen wütenden Blick. „Sag mal, wie redest du…“ Shinichi atmete tief durch, streckte seine zur Faust geballten Finger mehrmals. „Ich hab euch gebeten, herzukommen, so schnell wie möglich, weil ich euch etwas Wichtiges, sehr Wichtiges sogar, mitzuteilen habe. Und zwar persönlich. Allein das müsste dir zu denken geben. Stattdessen stehst du hier und blaffst mich an wegen irgendwelcher Buchpromotionstouren. Wenn dir das Zeug wichtiger ist, warum bist du dann nicht…“ „Hört auf…!“ Yukiko stellte sich zwischen die beiden, funkelte zuerst den einen, dann den anderen warnend an. Ran griff nach Shinichis Arm. „Gehen wir doch in die Küche…“ Sie zog Shinichi mit sich, fühlte seine kalten Finger in ihrer Hand, drückte sie sacht. Er warf ihr einen Blick zu. Er sah furchtsam aus. Er hatte Angst, und er war nervös - und sie wusste, er wollte ihnen das, was er ihnen gleich sagen würde, lieber nicht erzählen. Er hatte nur keine Wahl. Sie setzten sich um den Tisch. „Also, was gibt es nun…?“ Yusaku klang besänftigt. Ihm war nicht entgangen, dass Shinichi immer bleicher geworden war. Ganz davon abgesehen, dass er schlecht aussah. Erschöpft. Übermüdet. Krank. Shinichi schaute ihn an. Er öffnete den Mund- Und schloss ihn wieder. „Ich kanns nicht.“ Er flüsterte es nur. Lehnte sich zurück, sank merklich auf seinem Stuhl zusammen. Ran schaute ihn an, strich ihm über die Schläfe. Sein Atem ging flach, seine Hände wurden noch kälter, sein Magen war flau. Schließlich war es Yukiko, die das Wort ergriff. „Ist es was Schlimmes?“, flüsterte sie fragend. So wie sich ihr Sohn benahm, drängte sich ihr die Frage förmlich auf. Shinichi nickte nur. Yusaku lehnte sich nach vorne, jegliche Genervtheit war von ihm gewichen. Er war angespannt, und irgendetwas sagte ihm, dass hier wirklich etwas Ernstes passiert war. Yukiko seufzte bedrückt, schaute ihn besorgt an. „Sags einfach. Egal was es ist, egal, was du ausgefressen hast… wir sind deine Eltern, wir werden dir helfen, wir kommen klar… Egal was es ist, es wird sich bestimmt regeln lassen, sich wieder einrenken…“ Er starrte sie an. „Nein, das glaub ich nicht.“ Seine Stimme klang brüchig, er räusperte sich. Yusaku musterte ihn besorgt. Mittlerweile bereute er es ernsthaft, ihn so anmeckert zu haben. Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung, das war mehr als offensichtlich. „Shinichi…?“ Shinichi schüttelte hilflos den Kopf. Da saßen sie, die zwei Menschen, die ihm sein Leben geschenkt hatten - deren Liebe zueinander er es zu verdanken hatte, dass er existieren durfte; und er musste ihnen jetzt sagen, dass… dass ihr einziger Sohn… Ran konnte sich nur ansatzweise vorstellen, wie schwer es für ihn war. Sie drückte seine Finger. „Soll… soll ich… es…?“ Ihre Stimme bebte. Er drehte den Kopf, blickte sie liebevoll an. Dann schüttelte er ihn langsam. „Nein.“ Er holte tief Luft. „Ich… ich muss das selber… machen. Aber Danke…“ Dann wandte er sich wieder seinen Eltern zu. „Ich… es… es tut mir Leid, euch das…“ Yukiko wurde bleich. Unwillkürlich tastete sie nach Yusakus Hand, fasste sie, klammerte sich fest. Shinichi schluckte, strich sich über die Augen. Er zitterte, er merkte, wie sein Kreislauf langsam absackte, wie die Nervosität, die Angst, der Schmerz ihn von innen her auffraßen. Irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu. „Ich…“ Er brach ab, als ihm seine Stimme ihren Dienst versagte. Einfach kippte, brach. Unwillkürlich griff er sich an den Hals. Verzweiflung machte sich ihn ihm breit. Er wollte das nicht tun. Er wollte es ihnen nicht sagen. Er wollte ihnen nicht sagen, dass ihr Sohn, ihr einziges Kind, vor ihnen sterben würde. Beklommen starrte er auf die Tischplatte, biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte. „Shinichi…“ Der Angesprochene schaute unsicher auf. Yusaku beugte sich vor, schaute seinem Sohn fest in die Augen. „Sag es. Sag es schnell, was immer… was immer es auch ist. Dann hast du’s hinter dir. Kümmere dich nicht um die Konsequenzen, wenn du sie nicht vermeiden kannst…“ Shinichi nickte langsam, brach jedoch den Blickkontakt wieder. Er konnte ihm bei den Worten, die er ihm gleich entgegen werfen würde, nicht ins Gesicht sehen. Es ging einfach nicht. „Ich werde sterben. In ungefähr… sechs… sechs Monaten….“ Dann schlug er sich die Hand vor den Mund, als hoffe er, dadurch sein Geständnis wieder rückgängig machen zu können. Yukiko starrte ihn wie vom Donner gerührt an. Dann wanderte ihr Blick zu Ran. Ihr liefen mittlerweile die Tränen übers Gesicht. Sie nickte langsam, beantwortete damit Yukikos unausgesprochene Frage. Die blonde Frau brach in Tränen aus, formte mit ihren Lippen ein lautloses Warum. Shinichi sah es nicht. Sein Kopf war nach vorne gesunken, seine Augen blicklos. Er schwieg. Yusaku starrte ihn lange einfach nur an. Sagte nichts. Rührte sich nicht. Nach minutenlangem Schweigen schließlich… „Das kann nicht dein Ernst sein.“ Er atmete hörbar aus. Shinichi hob langsam den Kopf, schaute ihn nur traurig an. „Doch. Ist es.“ Die Worte kamen schleppend, so als weigerten sich seine Lippen, sie auszusprechen. „Nein.“ Yusaku schüttelte den Kopf. Er war bleich geworden in den vergangenen Minuten, schien um Jahre gealtert zu sein. Ihm war schlecht, in ihm erwachte ein Gefühl von Schmerz, das er so noch nie gespürt hatte, als er begriff, was Shinichis Worte bedeuteten. Doch gleichzeitig machte sich in ihm eine unbeschreibliche Wut breit. Wut, weniger auf seinen Sohn, als auf dessen Schicksal – aber dem Schicksal konnte er nichts vorwerfen. Seinem Sohn schon. Auch wenn es ungerecht war. „Vater…“ „NEIN!“ Yusaku schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Shinichi zuckte zusammen, rutschte unwillkürlich auf seinem Stuhl zurück, blickte ihn erschrocken an. Ran schaute ihn aus tränennassen Augen ebenfalls ängstlich an, und Yukiko… Yukiko wollte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter legen, doch ihr Mann wehrte sie unwirsch ab. „Was hast du diesmal angestellt, verdammt?! Du wirst nicht-…“ Seine Stimme überschlug sich fast. „Doch.“ Shinichi schluckte - er wandte seine Augen nicht vom Gesicht seines Vaters ab. Yusaku war weiß vor Zorn, war sichtlich aufgebracht. Er konnte es nicht verstehen. Wollte es auch nicht. Das war nicht richtig, was hier lief. Es war einfach nicht richtig. Yukiko wollte vermitteln. „Aber, Shinichi… was… was ist es denn? Bist du krank? Was fehlt dir denn…? Kann man es denn nicht… behandeln…?“ Shinichi seufzte, fuhr sich mit einer kalten Hand über das Gesicht. „Nein, ich bin nicht krank. Nicht… wirklich. Und glaubt mir, man kann es nicht behandeln…“ „Was ist es dann, das dich umbringt, verdammt?!“ Yusakus Stimme war laut geworden. Shinichi versuchte sich nicht provozieren zu lassen, schließlich ahnte er, warum sein Vater so reagierte, er verstand es, auch wenn es ihn aufregte. Also versuchte er, sich unter Kontrolle zu halten, aber es kostete ihn Mühe. „Es ist das Gift von damals…“ „Aber Shiho kann da doch sicher…!“, begann Yukiko hoffnungsvoll. „Shiho hat dir doch das Gegengift auch schon gemacht, sie kann dir sicher helfen, bei was auch immer… sie kennt sich da doch aus, das ist doch ihr Gift…!“ Sie redete weiter wie ein Wasserfall, immer mehr Sätze verließen ihre Mund, sturzbachartig, immer mehr Vorschläge und Ideen, wie man ihn retten könnte, eine so vergeblich und umsonst wie die andere. Irgendwann reichte es ihm. „Kannst du aufhören?!“ Shinichis Stimme war nicht besonders laut, aber fest. Sein Vater starrte ihn wütend an. „Wie redest du mit deiner Mutter? Und du brauchst nicht glauben, dass ich einfach so zulasse, dass du-“ „Es geht hier nicht darum, ob du etwas zulassen willst oder nicht…“, begann Shinichi ruhig, wurde jedoch gleich wieder von Yusaku unterbrochen, der aufgestanden war. „Seit wann gibst du gleich auf?! Seit wann wirfst du gleich von Anfang an die Flinte ins Korn, verdammt-! Du musst dagegen kämpfen!“ Shinichi schluckte, stand ebenfalls auf. Langsam, begeleitet von dem scharrenden Geräusch, das der Stuhl verursachte, als er über den Boden nach hinten rutschte. „Das hat nichts mit… mit aufgeben zu tun. Und seit wann denkst du, du könntest über mein Leben bestimmen, mir sagen was ich tun und lassen soll… die Zeit, in der das noch ging, hast du verschenkt. Wer wollte den in die Staaten, als ich dreizehn war…?“ Yusaku schüttelte vehement den Kopf. Eine innere Stimme flüsterte ihm, dass alle Worte hier nichts mehr halfen. Er kannte doch seinen Sohn, er würde nie so was in den Raum stellen, würde es nicht wirklich den Tatsachen entsprechen. Aber etwas in ihm weigerte sich, diese Wahrheit zu akzeptieren. Und zwar der Vater, der in ihm steckte. Der Vater, der seinen Sohn liebte, ihm vertraute, stolz auf ihn war. Der Vater, der eher sein eigenes Leben geben würde, als das seines Sohnes schwinden zu sehen. Er wollte sich nicht dem Gefühl der Ohnmacht, des Schmerzes und des Verlusts aussetzen, das Shinichis Schicksal in ihm auslöste. Er wollte seinen Sohn nicht sterben sehen. Ihn nicht sterben lassen. Also ignorierte er Shinichis bissige Bemerkung, ignorierte die Stimme in seinem Kopf, die ihm beharrlich sagte, das sein Sohn die Wahrheit sagte, und zwar die endgültige Wahrheit; und fuhr ungerührt fort mit seinen Vorwürfen. „Warum willst du dir nicht helfen lassen!? Warum bist du so stur?“ Shinichi schaute ihn traurig und wütend zugleich an. Warum musste er es denn nun auch noch schlimmer machen, als es war? Warum konnte sein Vater es nicht einfach akzeptieren…? „Es geht nicht darum, dass ich mir nicht helfen lassen will. Aber ihr habt, entschuldigt bitte, keine Ahnung…“ Er versuchte, ruhig zu bleiben. Atmete tief ein und aus, merkte, wie sich ein unangenehmes Pochen in seinem Kopf bemerkbar machte, widerstand dem Drang, sich die Schläfen zu massieren. „Dann lass dir doch helfen! Wir wollen dich nicht verlieren, dass muss dir doch klar sein…“ Yukikos Stimme war zärtlich. Ihre mütterliche Fürsorge gab ihm fast den Rest. Shinichi schloss die Augen. Ein leichtes Übelkeitsgefühl bemächtigte sich seiner; er atmete weiter tief durch, versuchte es wieder niederzuringen. „Shinichi, das kannst du doch nicht wollen…! Du kannst doch nicht…!“ Sein Vater klang immer noch wütend. Anklagend. „Du tust ja gerade so, als wäre ich scharf drauf, zu sterben…“ Es war nur ein Satz. Nur ein paar Wörter, aber die trafen mitten ins Schwarze. Yusakus Wut verflog augenblicklich, als er diese Bitterkeit in seiner Stimme vernahm. Diesen Schmerz. Er wich zurück. Shinichi starrte ihn an, der Blick in seinen Augen hatte etwas Furchteinflößendes. Bitter. Geschlagen. Kampfesmüde... und unglaublich verzweifelt. So hatte er seinen Sohn noch nie gesehen. Und die Worte, der Tonfall, in dem Shinichi in den nächsten Minuten zu ihnen sprechen würde, würde Yusaku Kudô sein Leben lang nie vergessen. „Was denkst du eigentlich von mir?! Glaubst du nicht, ich hätte bereits alles versucht?! Ich bin vierundzwanzig, glücklich liiert, erfolgreich in meinem Beruf, warum glaubst du, würde ich sterben wollen, hm? Kannst du mir das sagen?! KANNST DU DAS?“ Er schrie, atmete schwer. Die Verzweiflung und der Schmerz, den er seit Tagen schon in sich trug, suchten sich in diesem Moment ein Ventil. „Shinichi, bitte… bitte beruhige dich…“ Ran blickte ihn einigermaßen erschrocken an, ließ seine Hand los, griff seinen Arm, wollte ihn wieder auf den Stuhl ziehen, ihm beruhigend zureden, doch er schüttelte ihre Hand ab, hörte ihre Stimme nicht. Shinichi schaute seinen Vater abwartend an, ohne zu blinzeln. Er war kalkweiß im Gesicht, seine Augen schienen fiebrig zu glänzen. Er war aufgewühlt, frustriert, wütend. Man sah ihm an, wie sehr ihn das Wissen um sein Schicksal fertig machte. Als keine Antwort kam, beantwortete er sich seine Frage selbst. „Das kannst du nicht, hab ich Recht? Das kannst du nicht...“ Er biss sich auf die Lippen, fuhr sich mit einer Hand über die Augen, mit der anderen stützte er sich schwer auf dem Tisch ab. „Soll ich dir was sagen? Genau wie du dachte ich vor ein paar Wochen auch noch. Ich wollte es auch nicht wahrhaben. Aber mittlerweile war ich bei drei Ärzten, und sie sagen alle das Gleiche! Es tut uns schrecklich Leid, Herr Kudô, aber was sie umbringt, kann keiner aufhalten. Sie sind absolutes medizinisches Neuland…“ Er keuchte. Yusaku und Yukiko starrten ihn entsetzt an. „Was glaubt ihr denn?! Seitdem ich wieder der Alte bin, kommen sie - die Anfälle, die Schmerzen. Keiner hat es mitbekommen, weil ich nicht wollte, dass es jemand merkt. Immer wenn sich einer ankündigte, ging ich. Sie kamen ja eigentlich auch selten genug, kaum der Rede wert. Ich dachte, damit müsste ich leben, ich dachte, das wäre einfach... eine Nebenwirkung, die ich nicht mehr loswerde. Und auch Ai - Shiho… sie konnte es sich zunächst nicht anders erklären. Ich lebte jahrelang mit dem Gedanken, das wäre die kosmische Strafe für meine Verfehlungen. Dann wurde es schlimmer, die Schübe häuften sich. Auf Shihos Rat ging ich zu einem Arzt, einem Spezialisten - und der stellte fest…“ Er lachte bitter auf, starrte an die Decke, bevor er weiter sprach. „… dass meine Zellen sich umbringen. Langsam, aber beständig. Jedes Mal ein paar mehr, bei jedem neuen Anfall. Das Gegengift verhindert, dass ich wieder ins Kindesalter falle - aber den Rest, das Zellsterben, kann es nicht verhindern. Die letzten Jahre konnte die Telomerase, gestützt durch das Gegengift, noch halbwegs Schritt halten, auch wenn sie ständig abbaute - denn je älter ich werde, desto mehr nimmt die Zellteilung ab. Das ist der Lauf der Dinge. Irgendwann wird der Punkt erreicht sein, wo mehr Zellen sterben, als neue entstehen. Und das geht dann so weiter… bis ich eines Tages...“ Er brach ab. Fasste sich langsam wieder, atmete tief durch. Der Glanz in seinen Augen verschwand, seine Gestalt sackte zusehends in sich zusammen. „Dieser Zeitpunkt wird… wird… so ungefähr in einem halben Jahr erreicht sein. Das Zellsterben nimmt nämlich… zu. Exponentiell.“ Er brach ab, fuhr sich übers Gesicht, räusperte sich. Dann setzte er von Neuem an. „Das sagte Shiho - und das sagte auch der Spezialist. Und ihr hättet den Arzt sehen sollen. Sagenhaft, wie weiß ein Mensch im Gesicht werden kann.“ Er schluckte. „Ich denke, doch, es tat ihm Leid. Mir sagen zu müssen, dass er den programmierten Selbstmord meiner Zellen nicht aufhalten kann. Dass es nichts gibt, was den Zerstörungswillen meines Körpers bremsen kann. Natürlich wollte ich es auch dann noch nicht wahrhaben, ich dachte, das kann nicht sein - bin zu zwei weiteren Ärzten gegangen, bei beiden mit demselben Ergebnis. Ich kann Medikamente nehmen, damit es nicht ganz so… qualvoll… wird, aber heilen – nein. Heilung gibt es nicht mehr. Ich hab noch ein halbes Jahr, dann gehen die Lichter aus.“ Er setzte sich wieder hin, vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Er spürte Rans Atem an seinem Hals, als sie ihre Stirn gegen seinen Kopf lehnte, einen Arm um seine Schultern legte. Kurz hob er den Kopf noch einmal, schaute zu seinem Vater und seiner Mutter auf. Seine Augen waren gerötet. „Ihr habt keine Ahnung, wie das ist, also redet nicht. Es lässt sich nicht ändern, also lasst mir verdammt noch mal meine Ruhe damit. Ich will nicht ständig daran denken. Ich will die Tage nicht zählen…“ Er seufzte. „Ich wollte nur, dass ihr es wisst. Es tut mir... tut mir Leid...“ Im Raum herrschte Stille. Alle schwiegen bedrückt – ihnen allen, vor allem aber Ran, wurde erst jetzt klar, wie lang das für ihn schon so ging. Dieses Auf und Ab, das Hoffen und Bangen, die Qual, diese niederschmetternde Diagnose gleich dreimal zu hören… nie hatte er ein Wort gesagt, bevor er nicht wusste, er musste es tun. Er hatte ihnen seine Last nicht aufbürden wollen, bevor er sie nicht zwangsläufig teilen musste. Nie hatte ihn jemand begleitet, zu den Ärzten… mit ihm gewartet, ihn ermutigt – oder ihn aufgefangen, ihn getröstet, wenn er ein ums andere Mal zu Boden gegangen war. Die Schmerzen, die er seit Jahren ertragen hatte… den stillen Kampf um sein Leben, er hatte ihn alleine ausgefochten. Ein Kampf, den er nun verlieren würde. Sie hatten alle nie etwas davon gemerkt. Er hatte sie alle getäuscht, wieder einmal... ein weiteres Mal hatte er bewiesen, was für ein exzellenter Schauspieler er war. Sein Leiden, seine Ängste vor allen verborgen, damit er sie nicht belastete. Erst jetzt, erst nachdem er die Hüllen hatte fallen lassen, als er die Fassung verlor – erst jetzt begriffen sie langsam, was es für ihn bedeuten musste, zu wissen, dass er sterben würde. Und noch schlimmer – wann er sterben würde. Ran schluchzte leise. Yukiko saß da, schaute ihren Sohn mit tränenverschleiertem Blick an. Ein unglaubliches Gewicht schien auf ihren Brustkorb zu drücken, das Atmen fiel ihr auf einmal so schwer - so viele Dinge gingen durch ihren Kopf. So viele Erinnerungen, Gedanken, die sich alle nur um den Menschen drehten, der ihr Sohn war. Langsam streckte sie ihre Hand aus, über den Tisch. Ihre Finger zitterten, als sie nach seinen griff. Shinichi drückte ihre Hand sanft. Er konnte nur erahnen, wie es für sie, seine Mutter, sein musste. Zu sehen, das der, dem sie einst das Leben schenkte, es so bald schon verlieren würde. Yusakus Blick verlor sich irgendwo in der Luft vor ihm. Er stand immer noch, seine Hände auf der Tischplatte aufgestützt. Äußerlich schien er die Ruhe selbst zu sein – doch in ihm herrschte Chaos. Seine Welt war gerade in Ruinen versunken, nur noch ein Haufen Trümmer. Und er konnte es nicht glauben. Er wusste, es war wahr; aber er wollte es nicht glauben. Es tat so weh. Kurz warf er Shinichi einen Blick zu, lange ertrug er es nicht. Er merkte, wie irgendwo in ihm etwas zu Bruch ging, als er den Glauben an die Gerechtigkeit verlor. Gerechtigkeit gab es nicht. Wäre sie existent, dann würde Shinichi das nicht passieren. Dann müsste er nicht… Er schüttelte hoffnungslos den Kopf - dann drehte er sich um und ging. Shinichi schaute auf, als er die Tür zufallen hörte. Er schluckte, fasste sich, stand ebenfalls auf. Als Ran ihn fragend anblickte, drückte er ihr nur kurz die Schulter. Dann lief er seinem Vater hinterher. Er holte ihn erst auf der Straße wieder ein. Sah ihn vor sich gehen, eine gebeugte Gestalt, die Hände in den Hosentaschen vergraben, den Kopf gesenkt, der Schritt schleppend. Der Anblick versetzte Shinichi einen Stich. Innerhalb weniger Minuten hatte er es geschafft, die Welt für noch zwei weitere Menschen zur Hölle zu machen. „Hey!“ Yusaku drehte sich um. Sein Gesicht war starr wie eine Maske. „Bleib… wo du bist. Komm nicht näher.“ Shinichi blieb stehen. Starrte ihn an, wollte seinen Ohren nicht trauen. „Was…“ „Du sollst bleiben, wo du bist. Nein, du sollst zurückgehen. Geh. Ich kann mit dir jetzt nicht reden, Shinichi.“ Yusaku bemühte sich um einen sachlichen Ton. Er wollte ihm nicht wehtun, aber er konnte jetzt nicht mit ihm sprechen. Wirklich nicht. In ihm tobte es, das Chaos regierte ihn. Wenn er jetzt mit Shinichi sprach, würde sie das ihnen beiden nicht gut tun; es würde sie noch mehr verletzen als sie es ohnehin schon waren. Er musste denken. Er brauchte seine Ruhe, um das einigermaßen zu verdauen. Shinichi schluckte bitter. „Bist du… bist du sicher…?“ Yusaku nickte. „Geh zurück. Kümmere… kümmere dich um Ran und deine Mutter. Oder… lass zu, dass sie sich um dich kümmern. Ich komm… später wieder.“ Als er sein zweifelndes Gesicht sah, schluckte er. „Gib mir etwas Zeit, um damit klar zu kommen, dass ich meinen einzigen Sohn verlieren werde, Shinichi. Bitte. Ich kann das nicht, wenn du… wen du vor mir stehst und mich die ganze Zeit daran erinnerst, wie viel ich verlieren werde…“ Seine Stimme war leise geworden. Shinichi sagte nichts mehr. Er drehte sich um und ging. Yusaku kam nicht wieder, blieb den Rest des Tages fern. Yukiko sollte ihn erst abends in ihrem Hotelzimmer finden, eine niedergeschmetterte, gebrochene Gestalt, ein Schatten seiner selbst. Leben - oder so ähnlich ----------------------- Guten Abend, verehrte Leserinnen und Leser! Hier also folgt Kapitel drei. Viel gibts nicht zu erzählen hierzu... Nun; wie und ob überhaupt Heiji es erfährt, werdet ihr bald erfahren; allerdings noch nicht in diesem Kapitel. Ansonsten... hab ich eigentlich nichts mehr zu sagen, außer, dass ich mich außerordentlich über eure Kommentare freue! Ganz besonders bei dieser Geschichte... ich dank euch sehr! ^__________~ MfG, bis zum nächsten Mal, eure Leira *verbeug* _____________________________________________________ Kapitel 3: Leben- oder so ähnlich Die nächsten Tage wurde dieses Thema im Hause Kudô nicht angesprochen. Seine Eltern hatten sich in einem Hotel einquartiert, wollten ihm und Ran nicht ständig auf der Pelle sitzen, aber dennoch in der Nähe bleiben;- ganz davon abgesehen, dass Yusaku sich seit jenem denkwürdigen Abend sich nicht mehr hatte blicken lassen. Er rief nicht an, weigerte sich, mit Shinichi zu reden, vermied jeden Kontakt. Yukiko konnte nur stumm und voll Bedauern den Kopf schütteln, wenn ihr Sohn sie wieder einmal fragend ansah. Shinichi traft das mehr als hart, aber er nahm es hin, vorerst. Er verstand ja, dass es schwer war für seinen Vater… dennoch hoffte er, hoffte er wirklich, dass Yusaku Kudô sich bald wieder fing. Er brauchte ihn. Einmal in diesem Leben brauchte er ihn wirklich. Und es verletzte ihn, dass er nun so reagierte, ihn schnitt, ihn einfach ignorierte. Aber noch... noch tolerierte er dieses Verhalten. Wenn Kogorô, Eri, der Professor oder Shiho mal zu Besuch vorbeikamen, wurde über alles geredet - nur nicht über eben dieses gewisse Thema. Er spürte ihre Blicke in seinem Nacken, er konnte ihre Gedanken in ihren Augen lesen, die Trauer, die Sorge, den Schmerz... und die Verzweiflung; aber er versuchte, sie zu ignorieren. Er wollte nicht daran denken. Und so kam es... dass diese Verdrängungstaktik es fast so erscheinen ließ, als wäre es nur ein böser Traum gewesen. Shinichi wusste, dem war nicht so. Er merkte es buchstäblich am eigenen Körper. Ran hingegen… Ran schien so tun zu wollen, als wäre nie etwas passiert. Als wäre die Tatsache, dass ihm die Ärzte noch ein halbes Jahr gegeben hatten, nur ein Scherz. Sie plante weiterhin eifrig ihre Hochzeit, hakte die Rückantworten der Einlandungen ab, bestellte das Essen, die Kuchen und holte für ihn verschiedene Anzüge, die er daheim anprobieren sollte. Shinichi flippte fast aus, als er Ran dabei zusah, wie sie weiterhin die fröhliche Braut spielen konnte, obwohl sie doch wusste, was Sache war. Aber er hielt sich zurück, zunächst. Ihretwegen. Er konnte sich nicht erklären, wie sie das noch durchziehen konnte, verstand ihr Verhalten nicht, deutete es völlig falsch; und so kam es, dass ihm, ziemlich genau eine Woche nach jenem denkwürdigen Abend, nach dem Mittagessen der Kragen platzte, weil sie mit den Tortenproben an den Tisch kam. Laut klatschte seine Faust auf die Holzplatte. „Ran! Kannst du damit aufhören, bitte?!“ Sie schaute ihn verletzt an. Dann stellte sie die Kuchenschachteln auf den Tisch, setzte sich ihm gegenüber und sah ihn lange schweigend an. Er wagte nicht, sie anzusehen, stierte die auf Hochglanz polierte Tischplatte an. Einerseits tat ihm sein Ausbruch von gerade eben ja Leid, aber er… er ertrug diese zwanghafte Fröhlichkeit einfach nicht. Er konnte nicht mehr. Es ging nicht mehr. Shinichi blickte erst auf, als er ihre Hand auf seinen immer noch zur Faust geballten Fingern spürte. Er biss sich auf die Lippen. „Was ist los mit dir, Shinichi…?“ „Du weißt, was los ist.“, fauchte er ungehalten. Frustration staute sich in ihm auf. „Nein, ich weiß es nicht.“ Ihre klare Stimme drang an sein Ohr. Er hob den Kopf, schaute sie an, verwirrt. Dann schüttelte er verbittert den Kopf. „Warum, Ran... warum tust du das? Warum planst du immer noch diese Hochzeit, es macht doch keinen Sinn. Du solltest gehen... solang du’s noch kannst… warum verlässt du mich nicht? Warum, um alles in der Welt, tust du dir das an…? Du musst nicht bleiben, mir nicht zusehen, wie…“ Er stockte, seine Lippen zitterten, sein Gesicht wurde bleich. „Du weißt doch, dass ich… dass ich… sterben werde…“ Er brach ab, sein Blick bohrte sich in die Tischplatte, er schüttelte den Kopf, immer und immer wieder. Er verstand es nicht. Er verstand Ran nicht. Verstand sein Leben nicht. Verstand diesen Gott, der ihn so quälte, nicht… Seine Hände ballten sich zu Fäusten, seine Kehle schnürte sich zu. Ran atmete tief aus. „Ja, ich weiß es. Ich weiß, dass du… dass du…“ Tränen füllten ihre Augen. Sie konnte das Wort nicht aussprechen. „Ich weiß, was kommen wird. Ich denke jeden Moment seit diesem verdammten Augenblick daran, jede Minute, jede Sekunde des Tages, und in der Nacht liege ich wach und lausche krampfhaft, ob du noch atmest. Ich habe es nicht vergessen.“ Ihre Stimme bebte. Er hob ruckartig den Kopf, schaute sie traurig an. In seinen Augen spiegelten sich Schuld und Schmerz. „Das tut mir…“ „Das muss dir nicht Leid tun. Du kannst nichts dafür, Shinichi.“ Sie drückte seine Hand. Eine Träne rollte ihr über die Wange. Als er seine Hand unter ihrer hervorziehen wollte, um sie ihr wegzuwischen, hielt sie sie fest. „Du kannst nichts dafür und dir muss es nicht Leid tun. Ich weiß nicht, ob ich damit umgehen kann, aber… ich liebe dich. Ich liebe dich wirklich. Ich will dich nicht früher hergeben, als ich muss… denn du… du machst mein Leben so viel schöner. Du verleihst meinem Dasein ganz andere Höhen… und Tiefen. Und auch wenn es schmerzt - auf diese Hochgefühle, die nur du mir bescherst, will ich nicht verzichten, auch wenn ich Angst habe, nach dem tiefen Fall, der... der sicher kommen wird... zerschmettert auf dem Boden zu liegen und nicht mehr aufstehen zu können…“ Ihre Stimme verlor sich zu einem Flüstern, ihre Finger krampften sich um seine Hand. Er löste seine Faust, griff mit seinen Fingern die ihre, drückte sie sanft. Shinichi schluckte schwer, presste seine Lippen zusammen. Es tat weh. Jedes ihrer Worte tat unglaublich weh. Er merkte, wie seine Augen zu brennen anfingen, wie sich in seinem Hals ein Kloß zu bilden begann, wollte etwas sagen, doch Ran hielt ihn mit einem Blick zurück. „Ich hab solche Angst, dass jeder Moment der Letzte sein könnte, und deswegen… deswegen will ich unsere Zeit nicht verschwenden. Deine Zeit nicht verschwenden…“ Sie blinzelte - dann hob sie den Kopf, fixierte ihn mit ihren blauen Augen, schaute ihn fest an, ließ ihn nicht los. Es war ihm unmöglich, den Blick abzuwenden. Als sie sprach, klang ihre Stimme entschlossen. „Ich werde dich nicht verlassen, auch wenn dir das vielleicht lieber wäre. Ich will jede einzelne Sekunde mit dir verbringen, die wir noch haben. Ich will, dass es eine perfekte Hochzeit wird. Es soll wunderbar werden. Ich liebe dich. Ich will dich heiraten, und wenn wir nur ein paar Augenblicke verheiratet sind. Ich will, dass wir die Zeit, die wir noch haben, glücklich miteinander sind, nicht ihn der düsteren Vorahnung dessen, was unvermeidlich kommen wird, dahinvegetieren. Ich will leben. Leben, hörst du?! Mit dir…“ Sie schluchzte, wischte sich mit ihrer anderen Hand die Tränen, die nun immer zahlreicher über ihre Wangen liefen, unwillig beiseite und lächelte. Es war das traurigste Lächeln, das er je gesehen hatte. „Ich will deine Frau werden, Shinichi Kudô. Unbedingt. Und deswegen plane ich diese Hochzeit immer noch, auch wenn du darin keinen Sinn mehr siehst…“ „Aber das stimmt nicht…“ „Warum dann das alles?“, fragte sie drängend. „Warum fährst du mich dann so an? Warum fragst du allen Ernstes nach, warum ich diese Hochzeit noch will?“ „Weil…“, begann er, suchte nach Worten. „Weil?“ „Weil ich dir diesen Schmerz nicht antun will… weil ich denke, je früher du gehst, desto leichter wird es vielleicht für dich. Und weil… weil ich dich nicht als Witwe zurücklassen will. Nicht so jung…“ Er seufzte, stützte seinen Kopf schwer auf seine noch freie Hand. „Aber ich will als nichts anderes zurückgelassen werden.“ Ihre Stimme zitterte. Ihm fehlten die Worte, er schaute sie nur an. Und in diesem Augenblick sah er sie - eine Frau, die unglaublich stark war; eine Frau, momentan so ungleich viel stärker als er, egal wie zerbrechlich sie aussah. Langsam atmete er aus. Dann stand er auf, ging um den Tisch herum, zog sie hoch und drückte sie an sich. Lange standen sie wortlos da, still in ihrer Umarmung vereint, ehe er das Schweigen brach. „Ich liebe dich.“, flüsterte er, seine Stimme klang rau. Er wusste nicht, wie er ihr das jemals danken konnte... war in diesem Moment, trotz all der Bitterkeit, nur einfach froh, sie zu haben. Er hatte keine Ahnung, wo er landen würde, ohne sie. „Du ahnst nicht, wie sehr…“, fügte er murmelnd an, kniff die Augen zusammen, seufzte leise. Ran seufzte, sog tief den Duft seines Aftershaves ein, vergrub ihr Gesicht an seinem Hals. „Ich dich auch. Ich dich doch auch. Und ich ertrage den Gedanken nicht…“ Sie krallte ihre Finger in seinen Rücken, schmiegte sich so dicht es ging an ihn. „Dann denk nicht daran…“ Er blinzelte. In dem Moment klingelte es an der Haustür. Ran gab ihm noch einen kurzen, flüchtigen Kuss auf die Lippen, ließ sich von ihm die Tränen von den Wangen wischen, dann ging sie, um zu öffnen. Herein kamen Sonoko und Eri. „Hallo Ran…!“ Dann fiel ihr Blick auf Shinichi, der im Türrahmen lehnte. „Stören… stören wir etwa? Wir dachten, wir könnten… das Brautkleid…?“ Shinichi zog die Augenbrauen hoch. Dann grinste er verhalten, seufzte leise. „Nein, ihr stört nicht. Ich muss ohnehin gleich weg. Der Fall…“ Ran schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. „Shinichi…“ Er seufzte, stieß sich vom Türrahmen ab. „Ran.“ Kurz schloss er die Augen. „Das wird mein Letzter sein. Danach kündige ich. Aber den einen musst du mir noch lassen. Den Kerl muss ich noch hinter Gitter bringen… sonst kann ich nicht ruhigen Gewissens das Handtuch werfen.“ Er lächelte zaghaft. „Und außerdem sind Meguré und die anderen ja auch da. Mir passiert nichts. Versprochen. Und was soll ich auch allein daheim, wenn ihr Brautkleider anprobieren geht?“ Ran ließ ihre Stirn gegen seine sinken, strich ihm über die Schläfen, dann nickte sie. „Schon gut, du hast wahrscheinlich Recht… geh nur. Aber pass wirklich auf dich auf, ja…?“ „Natürlich.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, griff sich Jacke, Handy, Geldbörse und Schlüssel. „Viel Vergnügen, die Damen.“ Er lächelte ihnen kurz zu, hob die Hand zum Gruß, und damit war er aus der Tür draußen. Sonoko starrte ihm verwundert hinterher. „Der scheint das aber gut zu verkraften.“ Ran folgte ihrem Blick, dann schüttelte sie langsam den Kopf. „Der tut nur so, glaub mir, Sonoko. Das ist nichts weiter als Fassade, damit wir uns keine Sorgen machen. Wie schlecht es ihm geht, sieht man nur, wenn die Fassade zu bröckeln beginnt.“ „Er macht uns und sich selbst was vor…“, murmelte Eri. „Dass er ein Meister darin ist, hat er uns ja schon einmal bewiesen.“ Dann holte sie tief Luft. „Und nun kommt schon, ihr zwei, Yukiko wartet bestimmt schon auf uns.“ Als er am Tatort eintraf, wartete nicht nur eine Überraschung auf ihn. Zum einen war da Kogorô - und zum anderen Heiji. Er sah, wie sich dessen Gesicht zu einem breiten Lächeln verzog, als er seinen Kollegen aus Tokio erblickte. Shinichis Augen flackerten zu Kogorô. Und der wusste seinen erschrockenen Blick zu deuten. Kein Wort zu Hattori. Er seufzte innerlich, nickte aber unmerklich. Wenn du glaubst, dass du dir das zumuten willst - für deinen besten Freund ein Schauspiel inszenieren… dann bitte. Dein Geheimnis soll bei mir sicher sein. Shinichi nickte ebenfalls. Dann wandte er sich seinem Freund zu, begrüßte ihn. „Hattori, was machst du hier?“ „Kudô!“ Heiji klopfte ihm auf die Schulter. „Was macht die Kunst?“ „Was machst du hier?“, wiederholte Shinichi, zog die Augenbrauen hoch. Heiji seufzte. „Ja, immer noch der Alte, was? Aber schon gut. Also… es sieht so aus, als ob dein Serienmörder auch mein Serienmörder is. Wir haben ein paar Fälle in Osaka, die denen hier in Tokio frappierend gleichen.“ Er schob seine Hände in die Taschen seines Sakkos. „Warum hast du ihn noch nicht dingfest gemacht? Lässt deine Kombinationsgabe etwa nach, mein Bester? Ihr habt hier eindeutig mehr Hinweise als wir in Osaka… oder bist du mit wichtigeren Dingen beschäftigt?“, begann er, ihn aufzuziehen. „Das ihr weniger Hinweise habt als wir, könnte daran liegen, dass eure Beobachtungsgabe drüben in Osaka nachlässt, mein Lieber, ist dir der Gedanke schon mal gekommen?“, gab Shinichi pampig zurück. Heiji schaute ihn erschrocken an. Sein Mund war verkniffen, sein Blick ernst. So dünnhäutig kannte er ihn nicht. „Hey, ich… ich wollte nur…“ „Ich weiß schon. Nimms mir nicht übel bitte, aber in der Hinsicht bin ich wohl etwas… empfindlich geworden. Es… es macht mich nämlich auch ziemlich fertig, dass wir ihn noch nicht haben. Jeder… jeder weitere Mord, der auf sein Konto geht… es fühlt sich fast an, als… als hätte ich die Person umgebracht… weil ich ihn nicht aufhalten kann…“ Vorsichtig warf er ihm einen Blick zu, versuchte zu ergründen, ob seine Ausrede was die Entschuldigung für seine Patzigkeit betraf, gegriffen hatte. Heijis mitleidvollen Gesichtsausdruck zu deuten, war dem so. Er seufzte erleichtert, fuhr sich müde über die Augen, und fuhr dann fort, blieb wohl wissend beim Thema, fing ein Gespräch über den Fall an, der ihn in der Tat ziemlich mitnahm. „Seit Wochen, Heiji! Seit Wochen schon! Er arbeitet makellos... sauber... hinterlässt nur die Spuren, die er hinterlassen will. Bestimmt sitzt er irgendwo und lacht mich aus.“ Heiji legte ihm eine Hand auf die Schulter, versuchte aufmunternd zu lächeln. „Dann lacht er mich aber auch aus, Kudô. Was bin ich’n für’n angehender Polizeichef…“ Shinichi seufzte geschlagen. So wirklich konnte Heijis Kommentar ihn nicht aufheitern. Heiji schaute ihn besorgt an. Shinichi war auffallend blass. Und er kam ihm… irgendwie erschöpft vor. „Du solltest mehr schlafen, Shinichi.“ Heijis Stimme klang auf einmal sehr ernst. Shinichi hob den Kopf. „Hm?“ „Du siehst nicht gut aus.“ Der Detektiv aus Tokio wandte den Blick ab. Wenn du wüsstest… „Ich seh zu, was sich einrichten lässt. Willst du dir die Leiche ansehen? Hast du sie schon gesehen?“, wiegelte er ab. Er wollte um jeden Preis verhindern, dieses Thema zu vertiefen, auch wenn ihm der Gedanke an die Leiche auch nicht unbedingt behagte. Heiji schüttelte den Kopf. Gemeinsam gingen sie vorbei an Kogorô, der seinem Schwiegersohn in Spe einen langen Blick zuwarf. Er machte sich Sorgen. „Und, hast du’s schon an?“ Yukikos Stimme klang gedämpft durch den Vorhang in die Kabine. Ran steckte fest in einer Wolke aus Tüll und Spitze und seufzte entnervt. „Nein… es wehrt sich…“ „Soll ich helfen?“ Eri schob den Vorhang kurz beiseite, steckte den Kopf rein. „Ja, bitte.“ Ran drehte sich um, damit ihre Mutter ihr den Reißverschluss schließen konnte. Dann raffte sie den Rock, tappte auf Zehenspitzen nach draußen, stellte sich vor den großen Spiegel - und brach in Tränen aus. Stumm. Nicht ein Laut war zu hören; man sah nur die Tropfen, die über ihre Wangen perlten. Und es war nicht das Kleid, das sie zu Tränen rührte. Es war der Gedanke an den Mann, dem sie in so ein Kleid gehüllt am Traualter gegenüberstehen würde. In zwei Wochen. Das waren… das waren wieder zwei Wochen weniger… weniger… Seit heute Morgen, seit dem Gespräch mit ihm, trug sie sich mit dem Gedanken, versuchte, sich zu verdeutlichen, dass sie ihn wirklich verlieren würde. Dachte an den Ausdruck in seinen Augen, der dieser Tage nicht verschwinden wollte. Dachte an die Einsamkeit, die über sie hereinbrechen würde, wenn er weg war. Und sie ertrug den Gedanken nicht; und nun stand sie hier, kaufte das Kleid, in dem sie seine Frau werden würde, und wusste doch genau, dass sie ihren ersten Hochzeitstag nie erleben würden. Und es machte sie fertig. Und so stand sie da, weinte lautlos vor sich hin, als der Kummer sie zu ertränken drohte. Yukiko, Eri und Sonoko sahen sich an. „Ran…?“ Sonoko näherte sich ihr behutsam. „Ran, geht’s dir gut?“ „Was mach ich nur…?“ Ihre Stimme klang leise, kaum lauter als das sanfte Rascheln des Stoffs. „Was mach ich nur, was mach ich nur…?“ Immer mehr Tränen rollten über ihr Gesicht. Eri starrte sie betroffen an. „Ran…“ „Was mache ich, wenn er… wenn er… ich kann gar nicht dran denken…“ Sie wimmerte, hielt sich eine Hand vor den Mund, schaute mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen in den Spiegel. „Ran… Ran, Liebes…“ Yukiko fasste sie vorsichtig am Arm, wollte sie beruhigen - aber Ran schien sie nicht einmal wahrzunehmen. Sie redete weiter. „Ich will ihn nicht gehen lassen…“, erklang es gedämpft unter ihren Fingern. Ihre Stimme war flüsternd, tränenerstickt. „Was mache ich ohne ihn? Er war mein Leben lang für mich da... so abgedroschen es auch klingt, aber er ist mein Gefährte, mein Seelenverwandter, mein Partner… was mach ich ohne ihn? Das kann er mir doch nicht a-antun…“ Ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz, in ihren sonst so sanften Zügen manifestierte sich ihre seelische Qual. Sonoko erschrak. Erst langsam wurde ihr bewusst, wie viel Shinichi ihrer Freundin wirklich bedeutete; wie sehr sie ihn liebte. Und wie sehr sie sein Weggang treffen würde, was für eine Lücke sein Verlust hinterlassen wurde, welchen Schmerz ihr allein der Gedanke daran verursachte. Am Telefon hatte sie das gar nicht so bemerkt, als sie es ihr erzählt hatte, vor ein paar Tagen… klar hatte sie traurig geklungen… aber jetzt erst begriff Sonoko, dass Shinichi ein Teil von Ran war. Genauso wie im Umkehrschluss Ran ein Teil von Shinichi war. Sie hatte sich nie eingehend damit beschäftigt… zwar gewusst, dass die beiden sich liebten, aber nie begriffen, wie weit ihre Liebe tatsächlich ging. Ran konnte sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Dann riss die Stimme ihrer Freundin sie aus ihren Gedanken. „Ich will ihn nicht verlieren… was mach ich, wenn er nicht mehr ist? Was ist, wenn er jetzt schon…“ Sie begann zu zittern. „Was ist, wenn er schon...? Wenn er zusammengebrochen ist? Er schien so blass heute Morgen..." „Ran…! Ran, du reagierst panisch... du musst dich beruhigen, hörst du?“ Yukiko griff fester. Eri und Sonoko stellten sich vor den Spiegel, versperrten ihr die Sicht auf sich selbst. „Du kannst ihn ja anrufen.“, schlug Sonoko vor. Eri und Yukiko starrten sie ungläubig an. Ran war offensichtlich kurz vor einem Nervenzusammenbruch, und Sonoko kam mit derart banalen Vorschlägen. Zur Überraschung aller nickte Ran nur, ging in die Umkleidekabine zurück, zog energisch den Vorhang zu und suchte nach ihrem Handy. Yukiko schaute die beste Freundin ihrer zukünftigen Schwiegertochter konsterniert an. „Glaubst du, er hat’s nicht ohnehin schon schwer genug?“ Sonoko schwieg. Sie ahnte zwar, dass es schwer für Shinichi war, sich Rans Ängsten zu stellen – eben weil er sie zu verantworten hatte. Aber auch gerade weil er sie zu verantworten hatte, war es in ihren Augen seine Pflicht, ihr da beizustehen. Außerdem war er der Einzige, der sie jetzt beruhigen konnte. Shinichi beugte sich mit Heiji über die Leiche, eine junge Frau, eigentlich fast noch ein Mädchen, notierte ihre Verletzungen, wobei er sich bemühte, sie nicht zu genau anzusehen. Das allerdings ließ sich nicht vermeiden. Diese blasse, weiße Haut, fast schon grau... die durchscheinenden Lider, die blutleeren Lippen, dieser Hauch von Leblosigkeit, der sie umgab. Er nahm vorsichtig ihre Hand hoch, um ihre Finger anzusehen, erschauderte, als er merkte, wie kühl sie war. Tot. Erst jetzt erschloss sich ihm der Begriff so wirklich. Ihm wurde fast schlecht bei dem Gedanken. Ließ die Hand sinken, schloss die Augen, wandte sich ab, um nicht zu zeigen, was allein der Anblick der Leiche bei ihm anrichtete. Heiji schaute auf, zog die Augenbrauen hoch. Was is’ mit deiner Professionalität? Wo is’ deine Distanziertheit? Das hat dir doch noch nie was ausgemacht, Kudô... was is’ nur los mit dir?! Shinichi wollte sich gerade wieder umdrehen, um sich nicht völlig bloßzustellen, als er merkte, dass sein Handy in seiner Tasche vibrierte. Ein kurzer Blick aufs Display genügte, um ihm zu sagen, wer anrief. Er warf Heiji einen entschuldigenden Blick zu und entfernte sich. „Ran, was ist los?“ Ran saß in der Umkleidekabine und lauschte seiner Stimme. Langsam kehrte sie wieder in die Realität zurück. Sie merkte, wie ihre Panikattacke abflaute. „Ran?!“ Er hörte sich etwas ungeduldig an. „Ach nichts…“, murmelte sie leise. „Wegen nichts rufst du nicht an, Ran. Also, was ist los…?“ Er klang etwas sanfter. Sie seufzte. „Ich weiß auch nicht. Ich hatte wohl… ich weiß nicht. Ich stand da, vor dem Spiegel, in diesem weißen Kleid und dachte an dich und daran…“ Shinichi legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen. „Wo bist du?“ „Im Wedding Shop in Shibuka. Warum?” „Weil ich schnell vorbeikomme.“ „Aber ich… du musst nicht extra kommen!“ Ran wurde rot, geriet ins Stammeln. „Echt nicht, es… es geht schon wieder, ich…“ „Du hattest eine Panikattacke.“ Ran schloss die Augen. „Du liest meine Gedanken.“ „Nein, tu ich nicht. Ich deduziere. Ich kenne dich… Also warte wo du bist, ich komm vorbei; und dann erklär ich dir mal was.“ „Aber…“ „Aber was?“ Ran druckste herum. „Was?“, wiederholte er. „Ich hab ein Brautkleid an.“, murmelte sie zögernd. Shinichi musste unwillkürlich grinsen. „Ist es das, welches du zu kaufen beabsichtigst?“ Ran schüttelte den Kopf, zupfte an den Lagen Tüll ihres Rocks. „Nein. Nein, nicht wirklich.“ „Na, wo ist dann das Problem? Dann macht es doch nichts.“ Sie seufzte. „Deine Logik ist mal wieder unbestechlich heute.“ „Ist sie immer, aber trotzdem Danke. Also bis gleich.“ Er hängte ein. Ran seufzte leise, klappte ihr Mobiltelefon zu. Sie wusste schon, warum sie ihn liebte. Und sie verfluchte das Leben, das so grausam war. Shinichi ging an Heiji vorbei direkt zu Kogorô. „Hör mal…“, begann er leise. Kogorô schaute ihn aufmerksam an. „Ich müsste mal kurz weg. So… für ne dreiviertel Stunde. Könntest du… mich vertreten solange? Und Leute abwimmeln, die fragen, wo ich abgeblieben bin?“ „Wo musst du denn so dringend hin?“ „Zu Ran.“ Kogorô sah das Handy in seiner Hand. „Worauf wartest du dann noch?“ Shinichi blinzelte ihn erstaunt an. „Danke…“, murmelte er noch, dann lief er zum Auto. Zehn Minuten später stand er in einem Wald aus weißen Gewändern und schlug sich durch. „Hey.“ Yukiko, Eri und Sonoko, die vor Rans Umkleidekabine standen, fuhren herum. „Was machst du hier?“ Bevor er jedoch antworten konnte, wurde er unterbrochen. Hinter ihm erschien eine entsetzte Verkäuferin. „Aber Sie dürfen da nicht rein!“ Sie wuselte um ihn herum, baute ihre 1,50 m Körpergröße vor ihm auf. Er hielt den Vorhang schon in der Hand, seufzte genervt. „Und warum nicht…?“ „Weil besetzt ist.“ Er verdrehte die Augen. „Ich will auch kein Brautkleid anprobieren, Verehrteste. Das ist meine Zukünftige da drinnen. Glauben Sie mir, das geht in Ordnung.“ „Dann dürfen Sie da erst Recht nicht rein!“ Sie zog am Vorhang, versuchte, ihn ihm zu entwinden. „Sie hat kein Kleid an, das sie kaufen wird. Und jetzt machen Sie mich nicht ärgerlich, und lassen Sie mich endlich rein. Das ist wichtig.“ Die leicht pummelige Frau schaute bei dem ernsten Tonfall auf, ließ reflexartig den Vorhang los. Er ging in die Kabine, steckte dann noch mal den Kopf nach draußen. „Und ihr drei geht außer Hörweite, verstanden?“ Die drei Frauen traten gehorsam zurück, schauten ihn erstaunt an. Er zog den Vorhang zu, drehte sich langsam um. Ran schaute ihn an, eine zierliche, blasse Person mit langen dunklen Haaren umgeben von einem gigantischen Bausch Zuckerwatte, wie es den Anschein hatte. Deutlich sah man noch die Tränenspuren auf ihrem Gesicht, ihre leicht geröteten Augen. Er lächelte. Trotz ihrer Trauer, trotz ihrer Aufgewühltheit… sah sie bezaubernd aus. „Ich würd dich so vom Fleck weg heiraten.“, murmelte er leise. Stand da, schaute sie einfach nur an. Sie wich seinem Blick nicht aus. Blickte ihn nur an, war so froh, so froh, dass er da war. Dann verbreiterte sich sein Lächeln ein wenig, er grinste. „Auch wenn das Kleid ein wenig…“ Er zupfte an ein paar Lagen Tüll. „… voluminös ist. Lass mich raten. Meine Mutter.“ Ran schniefte, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und nickte, lächelte zaghaft. „Mach mal ein wenig Platz…“, murmelte er, begann an den Röcken zu schieben, bis er neben ihr auf der kleinen Bank zum Sitzen kam. Sanft zog er sie in die Arme. „Siehst du, ich bin noch nicht tot.“, murmelte er. „Ich… ich weiß, das war… das war dumm von mir…“ „Nein, war es nicht. Und darauf wollte ich auch nicht hinaus. Dein Verhalten ist absolut verständlich, Ran. Was ich allerdings sagen wollte, war…“ Er seufzte, gab ihr einen sanften Kuss auf die Schläfe. „Ich bin noch nicht tot. Und du kannst mir glauben, das Gift bringt mich nicht innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden um. Uns bleibt dieses halbe Jahr… und ich will jeden Tag das tun, was du vorgeschlagen hast.“ Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Leben, Ran.“ Sie lehnte seine Stirn an seine, schniefte leise. „Du brauchst keine Angst haben, dass ich dich morgen schon verlasse. Das werde ich nicht. Gut, wenn mich ein Auto überfährt, war das Pech…“ Ran lachte leise. „Du bist ein Idiot.“ „Das weiß ich.“ Er schmunzelte. „Aber die Zeit, die mir bleibt, will ich nutzen. Ich will jeden Tag leben, als ob’s mein Letzter wäre. Ich will die Zeit mit dir genießen. Ich will was davon haben, vom Leben. Ich will, dass du was davon hast. Das wir was davon haben, gemeinsam. Also… lass uns vergessen, was kommt, solange es nicht akut ist…“ Shinichi schaute ihr in die Augen. Ran nickte. Dann lächelte sie. „Es sind fast genau die gleich Worte, die ich dir schon heute morgen…“ „Ich weiß.“ Er grinste. „Und du hattest Recht, Ran. Also halten wir uns dran. Und nun such dir ein schönes Brautkleid. Nicht so ein Monstrum aus – was ist das eigentlich? Fliegengitter?“ Und dann war es passiert. Ran fing an zu lachen. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, lachte befreit auf. Er drückte sie an sich, lächelte erleichtert, hielt sie eine Weile fest. Dann stand er schließlich doch auf, zog sie ebenfalls hoch. „Also, geht’s wieder?“ Ran nickte. „Ja. Du darfst jetzt wieder deinen Mörder suchen gehen.“ Sie streichelte ihm über die Wange. „Danke, gnädige Frau.“ Er verbeugte sich linkisch, wollte gerade rausgehen, als sie ihn am Arm zurückhielt. „Shinichi?“ „Hm?“ Er schaute sie fragend an. Sie tippte sich auf die Lippen. Shinichi verstand – beugte sich vor, küsste sie sanft. Als sie sich voneinander lösten, seufzte sie leise. „Und nun hau schon ab.“ Er nickte. „Bis heut Abend.“ „Ja… bis heut Abend…“ Sie lächelte ihn an, als er den Vorhang aufzog. „Und… Shinichi?“ „Ja?“ Er stand schon draußen, drehte sich noch mal um. „Danke…“ Shinichi lächelte nur, schüttelte den Kopf. Er wandte sich seiner Mutter zu. „Kein Fliegengitterkleid.“ Dann beeilte er sich, zu verschwinden, bevor sie ihn erwischte. „Das ist TÜLL!“, schrie im Yukiko verärgert hinterher - aber auch sie konnte sich ein leises Schmunzeln nicht verkneifen. Sie bewunderte ihn. Seine Stärke gab ihr Mut; offensichtlich hatte er sich dazu entschlossen, das Beste daraus zu machen – und sie würde ihn darin tatkräftig unterstützen. Auch wenn es wohl doch manchmal schwer fallen würde. Es schmerzte sie, wenn sie daran dachte, was passieren würde. Aber er hatte sich wohl für das Leben entschlossen – und was konnte sie sich als Mutter mehr erhoffen? Sie seufzte, schaute ihm hinterher. Alles, was sie hoffen konnte, war, dass sich seine Einstellung nicht änderte. Dass er nicht doch noch irgendwann... den Mut verlor. Und dass es nicht alles nur Fassade war, was er zeigte, sondern auch glaubte, wovon er sprach. Er war ein guter Schauspieler, sie wusste das am Besten. Dann wandte sie sich an Ran, die in der Kabine lehnte. „Seide?“ Fragend zog sie die Augenbrauen hoch. „Ja, Seide…“, murmelte Ran, wischte sich mit den Fingern eine letzte Träne aus den Augen. Gespräche --------- Guten Tag allerseits! Zuersteinmal möchte ich mich sehr bedanken für die Kommentare zum letzten Kapitel. Ganz ehrlich, das bedeutet mir viel, und ich hoffe, dass euch die Fic auch weiterhin gefallen wird – vor allem, weil sie sehr, sehr lang werden wird... Nun; gut, das hier ist ein Drama, und es soll dem Genre auch gerecht werden, allerdings hoffe ich doch, dass ich sie ausgewogen genug geschrieben habe, dass nicht nur alles in Trauer versinkt ^^; Zu Papa Kudô kommen wir heute; was Heiji betrifft... müsst ihr noch ein ganz klein wenig warten. Ich wünsche euch gute Unterhaltung beim Lesen, Liebe Grüße, Eure Leira :D PS: Ich darf an dieser Stelle wohl ankündigen, dass nächste Woche an Weihnachten ein kleiner Oneshot erscheint; allerdings wird diese Fic dafür nicht ausgesetzt. Kapitel fünf wird am Dienstagabend geladen. __________________________________________________ Kapitel 4: Gespräche Shinichi hatte nicht viel versäumt, als er wieder am Tatort eintraf. Bevor er allerdings Heiji suchen ging, fahndete er zuerst einmal nach Kogorô – schließlich mussten sie seine Ausrede für seinen Verbleib noch abstimmen. Er fand ihn, an einem Tisch in dem Lokal sitzend, hinter dem der Mord verübt worden war. „Und?“ Kogorô war der erste, der sprach, warf ihm von der Seite einen kurzen Blick zu. „Es geht schon wieder. Sie hatte wohl… einen kleinen Hänger, aber jetzt geht’s wieder. Und es sind ja noch Eri, meine Mutter und Sonoko bei ihr. Sie suchen immer noch ein Kleid.“ Shinichi seufzte. „Und…?“ „Und was?“ Der junge Detektiv schaute auf. „Wie geht’s dir?“ Kogorô schaute ihn an, zog eine Augenbraue hoch. „Ich komm schon klar…“ Shinichi wich seinem Blick aus. „Ich hoffe, du erwartest jetzt nicht von mir, dass ich dir das abkaufe.“ Shinichi zuckte unmerklich zusammen, starrte ihn verwundert an – und wandte dann beschämt den Blick ab. Kogorô hatte einen Nerv getroffen, aber das zuzugeben fiel ihm doch schwer. Allerdings... verdiente er wohl eine Antwort, und so seufzte er kurz, räusperte sich, ehe er sprach. „Nein, das erwarte ich wohl nicht, auch wenn ich es gehofft hatte, zugegebenermaßen. Ich... weiß wohl selber nicht, wie’s mir geht und was ich mit mir anfangen soll. Jetzt in diesem Moment...“ Er schluckte. „... geht’s mir wohl eher... schlecht. Mehr oder weniger. Gerade ging’s mir noch gut, als ich von Ran weggegangen bin; und jetzt steh ich hier, schau mich um, weiß, dass es das letzte Mal sein wird, dass ich das hier mache… sehe die Leiche… und…“ Shinichi schloss die Augen, atmete tief durch. „Ich bin gut im Mutmachen, nur kann ich das bei mir selber nicht anwenden.“ Seine Stimme klang zynisch. Kogorô registrierte das mit hochgezogenen Augenbrauen. „Du musst das Beste…“ „… draus machen? Schon klar. Ich versuch’s ja, wirklich.“ Er lachte bitter auf. „Aber wie, Kogorô? Wie soll ich das machen, wenn mein Denken momentan nur von Zahlen beherrscht wird? Sechs Monate, 24 Wochen… 11532 Tage, 691920 Stunden,… Ich wollte nicht zählen, aber ich tu’s… mein Gott…“ Shinichi wurde bleich, strich sich müde übers Gesicht. „Ich bin hier, sollte einen Serienmörder dingfest machen, aber ich… ich steh hier nur rum, und kann nichts tun. Ich kann nicht denken. Ich kann keine Zusammenhänge erstellen, keine Deduktionen, keine Analysen, nicht mal Beobachtungen machen. Ich kann gar nichts mehr. Irgendwo bin ich jetzt schon... tot... ich will nicht, dass es mich beherrscht, dass der Gedanke daran mein Leben bestimmt, aber es fällt mir so schwer, nicht daran zu denken… Wie soll ich was Gutes daran finden, dass mein Schicksal so makaber ist? Wie kann ich versuchen, noch etwas Glück zu finden, wenn ich allen… allen anderen durch meine Misère das Leben schwer mache? Ran - was meinst du, wie’s gerade eben mit ihr war? Man sieht ihr ihre Verzweiflung an, und ich bin mir sicher, heimlich weint sie... immer dann, wenn ich nicht da bin, immer dann, wenn ich es nicht sehe, weil sie nicht will, dass es mir dadurch schlecht geht. Und ich... ich denke immer nur daran, wie das für sie ist. Sie will jemanden heiraten, mit dem sie mehr schlechte Zeiten haben wird als gute, mehr Krankheit als Gesundheit, und der Tod, der uns scheidet, wird schneller kommen, als wir dachten. Sie wird an mir nicht viel haben. Sie wird das nicht kriegen, was sie sich wünscht. Was ich ihr so gern gegeben hätte – ein schönes Leben. Ein glückliches Leben. Eine Familie. Das wird sie nicht bekommen, nicht mit mir, aber gehen will sie auch nicht!“ Er holte tief Luft. „Zuerst baut sie mich auf, um dann selber in ein Loch zu fallen. Ich frag mich, wie ich ihr das guten Gewissens antun kann. Seit Tagen geht’s auf und ab. Wir haben keine ruhige Minute mehr, kein normales Leben. Ich weiß nicht, ob sich das nach unserem Gespräch jetzt ändert. Ich kann’s für sie nur hoffen… Und dann… Dann kommen auch noch meine Eltern - Mann… was glaubst du, was das für ein Gang ist… den eigenen Eltern zu sagen, dass man sie nicht überleben wird - dass man sterben wird? Als einziges Kind? Dass man sich selber sein Leben im wahrsten Sinne des Wortes ruiniert hat? Er redet immer noch nicht mit mir. Er sagt, er muss es verarbeiten, das tut er seit Tagen. Er ruft nicht zurück. Besucht mich nicht. Lässt über meine Mutter nicht mal was ausrichten.“ Shinichi fuhr sich über die Augen. „Mein Leben ist die Hölle, momentan. Aber… Entschuldige, ich mülle dich zu mit meinen Angelegenheiten…“ Er war bleich geworden während seinem Redeschwall - er fröstelte, obwohl er sich schämte, ihm die Hitze zu Kopfe stieg. Soviel hatte er nicht reden wollen, erst Recht nicht zu Kogorô. Er wollte sich abwenden, versuchen, doch noch was an den Beweisstücken zu finden, aber Kogorô hielt ihn an der Schulter zurück. „Shinichi. Wenn du reden musst, dann rede. Ich hör dir zu.“ Der junge Mann schaute ihn ungläubig an. „Aber…“ „Vergiss, was war. Ich hab mich getäuscht, ich hab mich geirrt, ich hab Fehler gemacht, das haben wir beide, aber ich sah lange nur deine. Es tut mir Leid, dass ich es jetzt erst einsehe. Aber ich will, dass du weißt, ich bin… ich werde gern dein Schwiegervater sein, und als solchen darfst du mich auch sehen. Und behandeln. Also… wenn du mal nicht zu deinen eigenen Eltern gehen kannst, dann…“ Lange schwieg er. Dann… „D-danke.“ Shinichi wandte den Blick ab, vergrub einigermaßen verlegen seine Hände in seinen Hosentaschen. Aus dem Augenwinkel sah er Heiji heraneilen. „Du musstest den Ofen ausschalten.“ Kogorô grinste schief. „Entschuldige, was Besseres fiel mir nicht ein. Und die Entfernung passt zeitmäßig gut…“ „Danke.“ Shinichi lächelte ihm erleichtert zu, nickte kurz, dann ging er Heiji entgegen. „Und? Is der Ofen aus oder haste deine Bude abgefackelt?“ Heijis Stimme troff vor Sarkasmus. „Er war aus.“, erwiderte Shinichi kühl, bedachte Heiji mit einem prüfenden Blick. Es war offensichtlich, dass Heiji Kogorôs Ofenmärchen nicht glaubte. „Kudô… is irgendetwas passiert, wovon ich wissen sollt’?“ Shinichi starrte ihn erschrocken an. Der Ausdruck des Schreckens flackerte zwar nur für die Dauer von Sekundenbruchteilen über sein Gesicht, aber nichtsdestotrotz hatte Heiji ihn bemerkt. „Was is’ los…?“ „Gar nichts.“ Die Antwort kam ein wenig zu schnell, und das wussten sie beide. Shinichi bemühte sich um einen überzeugenden Gesichtsausdruck, um eine feste Stimme, als er nachsetzte. Angriff ist die beste Verteidigung. „Wirklich, Heiji, es ist nichts. Wie kommst du darauf?“ Heiji zog die Augenbrauen hoch. Ja, genau Kudô… dreh den Spieß nur um. Aber vergiss nich’, mit wem du hier sprichst. Ich bin dir gewachsen. „Na… du wirkst unkonzentriert. Du benimmst dich seltsam. Du redest wenig, du scheinst in deinen Ermittlungen nich’ voranzukommen… das is’ untypisch für dich. Außerdem bin ich dein Freund, ich merk’, wenn mit dir was nich’ stimmt. Wir kennen uns lang genug.“ Heiji verschränkte die Arme vor der Brust. Du bist dran. Shinichi starrte ihn an. Wie du willst. Er seufzte. „Na, ich heirate bald, falls dir das entgangen sein sollte; das ist los. Da kann man schon mal in Gedanken wo anders sein.“ Heiji zog eine Augenbraue hoch. Ja, sicher kann man das. Alle anderen. Aber nich’ du. Nich’ du. Shinichi wandte den Blick ab. Hör auf zu fragen, Heiji. Du willst die Antwort doch gar nicht wissen. Heiji schluckte. Was is’ los mit dir? Was willst du mir verheimlichen? Der Detektiv aus Osaka seufzte, dann beschloss er, die Sache für heute auf sich beruhen zu lassen; er bohrte auf Granit, und das würde sich in den nächsten Minuten wohl auch nicht ändern. Aber zufrieden war er noch lange nicht – dieses Gespräch würde noch fortgesetzt werden. Unbehaglich schaute er seinem Freund hinterher, der sich ein paar Schritte entfernt hatte, um sich den Tatort genauer anzusehen, und merkte nicht, wie sich etwas an Shinichi veränderte, als er einen kleinen Zettel aus der Hand der Leiche zog. Er faltete ihn auseinander, strich ihn glatt, fing an zu lesen. Seine Augen weiteten sich vor entsetzen. Perlen bedeuten Tränen. Einst weinte ich für jede Perle eine Träne, und es waren viele, viele Perlen… Nun weine ich nicht mehr, ich habe keine Tränen mehr… ich verschenke meine Perlen… für jede Träne eine. Sag mir, wer weint nun? Der Zettel in Shinichis Fingern fing an zu zittern. Was ist das?! Es war später Nachmittag in der Villa Kudô. Shinichi, Shiho und Agasa standen in der Küche und machten sich ans Zubereiten des Abendessens. Shinichi seufzte. Ran war mit Eri, seiner Mutter und Sonoko anscheinend immer noch unterwegs. Als er heimgekommen war, nachdem man für den Tag die Ermittlungen abgeschlossen hatte, war niemand hier gewesen; aber nur fünf Minuten später standen Agasa und Shiho, die immer noch beim Professor wohnte, vor der Haustür. Und so standen sie nun zu dritt am Herd und kochten. Shinichi hatte kurzerhand beschlossen, heute das Abendessen zuzubereiten; er wollte nicht rumsitzen und Themen anschneiden, die ihnen allen eigentlich eher unangenehm waren, also beschäftigte er sie einfach alle, damit wurde die Konversation automatisch auf ein Minimum beschränkt, wollte man vermeiden, dass man sich die Finger abhackte mit den scharfen Messern. Bis jetzt ging seine Taktik ganz gut auf. Ab und an wanderte sein Blick zu Shiho; sie schien gefasst, auch wenn sie immer noch sehr blass war, man in ihren Augen immer noch ihr Bedauern und das Gefühl der Schuldigkeit lesen konnte. Aber sie beherrschte sich. „Wie geht’s deinen Eltern?“ Shinichi hielt inne, als er die Sauce rührte, schaute nicht auf. Agasa schluckte, ahnte, dass er eine falsche Frage gestellt hatte. „Du musst nicht… tut mir Leid, ich hab nicht nachgedacht…“ Shinichi blickte auf, schaute in das betroffene Gesicht seines alten Freundes, lächelte traurig, schüttelte den Kopf. Offensichtlich hatte sein Plan doch ein paar Schwachstellen gehabt. „Nein, schon gut. Nun, Mama… sie kommt eigentlich so gut wie jeden Tag vorbei. Manchmal nervt es mich schon fast. Soviel mütterliche Zuwendung wie in den letzten Tagen hab ich in den ganzen letzten zwanzig Jahren nicht erfahren…“ Er zog die Augenbrauen zusammen, grinste verlegen und schüttete Sojasoße in den Topf. „Nun. Sie ist sehr tapfer, das muss man ihr lassen. Manchmal sieht man ihr ihren Kummer an, aber sie… sie stellt sich dem allen. Sie kommt und sieht, wo sie helfen kann. Momentan ist sie mit Eri und Ran unterwegs, ein Brautkleid kaufen…“ Er schob den Topf vom Herd, griff nach der Pfanne. Bei dem Gedanken an seinen Vater trat ein verbissener Gesichtsausdruck auf sein Gesicht. „Und Vater… er… er redet nicht mehr mit mir.“ Agasa ließ das Messer, mit dem er gerade die Lauchzwiebeln klein schnitt, sinken. Shiho, die gerade Karotten schälte, hielt ebenfalls inne, starrte ihn an. „Was?“ Shinichi goss Öl in eine Pfanne, schwenkte sie kurz, dann hob er den Kopf, atmete tief durch. „An dem Tag, als ich es ihnen gesagt hab… vor ner Woche also… ist er gegangen. Ich bin ihm nach, und er hat mich weggeschickt. Er meinte, er könne mich jetzt nicht sehen. Er müsse erst verarbeiten, was ich ihm gesagt habe. Er muss erst verdauen, was passieren wird… und er bräuchte Zeit dafür.“ „Aber das ist doch…“ „Verständlich? Ja, sicher ist es das. Das sehe ich auch ein, und wirklich, ich denke, ich kann in etwa nachempfinden, wie das sein muss für ihn. Was ich aber nicht mehr verstehe ist, warum er dafür eine geschlagene Woche braucht, und so wie’s aussieht, sogar mehr; warum er nicht mal anruft; warum er mir über meine Mutter nichts ausrichten lässt… warum er mich auflegt, wenn ich bei ihm anrufe… das ist…“ Er biss sich auf die Lippen, schnappte sich das Brett mit dem klein geschnittenen Fleisch und kippte es mit Schwung in die Pfanne, dass das heiße Fett nur so spritzte; er schien es nicht zu bemerken. „Das ist grausam von ihm, merkt er das nicht?“ Bitterkeit schwang in seiner Stimme. Er holte sich einen Pfannenwender, schubste die Schublade zu, dass es krachte und das Besteck darin klirrte. Agasa und Shiho starrten ihn sprachlos an. Ihm war anzusehen, wie sehr es ihn mitnahm, dass sein eigener Vater ihn schnitt. So tat, als würde er nicht existieren. Agasa kippte seine Zwiebeln zum Fleisch, nahm Shinichi den Wender aus der Hand. „Er wird sich wieder fangen.“ „Ja, das sagen alle.“ Seine Stimme klang tonlos. Dann klingelte es an der Haustür. Shiho ging, um zu öffnen; Shinichi nahm mit ausdrucksloser Miene die Soße vom Herd und goss sie in die Pfanne. Dampf wallte empor, stieg in Wolken an die Decke. „Wir haben eins!“ Sonoko stürmte in die Küche, ihr Gesichtsausdruck war triumphierend. „Es hat gedauert, aber wir haben eins! Und du wirst jetzt sicher wissen wollen, wie’s aussieht, aber wir werden dir nichts sagen! Ha! HA!“ Sie hielt ihm die Schachtel unter die Nase. Er versuchte ein Lächeln. „Freut mich.“ Zu mehr Begeisterung konnte er sich nicht überwinden. Sie zog die Augenbrauen verwundert hoch, als er sich abwandte, um den Reis aus dem Topf zu holen. Agasa warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. „Frag nicht.“ Dann betraten Ran und Yukiko die Küche. „Entschuldige, dass es noch gedauert hat… wir waren noch mit Eri bei Kogorô, haben ihm das Kleid gezeigt, und ich musste noch mal kurz ins Hotel um…“, begann Yukiko, wurde dann aber sofort von ihrem Sohn unterbrochen. „Hat er was gesagt?“ Yukiko wich seinem Blick aus, schüttelte dann bedrückt den Kopf. „Nein, Shinichi… ich versuch’ ja mit ihm zu reden, aber er blockt ab. Du musst ihm Zeit geben, damit klar zu kommen…“ „Ist ihm schon mal die Idee gekommen, das Zeit genau das ist, was ich am wenigsten hab?!“ Yukiko zuckte zusammen, schaute ihn erschrocken an. Die Heftigkeit und auch der Wahrheitsgehalt seiner Worte erschütterte sie. Shinichi war aufgebracht; die Szene heute mit Kogorô ging ihm nicht aus dem Kopf. Niemals hätte er von ihm soviel Verständnis erwartet, aber Rans Vater war erstaunlich mitfühlend gewesen. Er hatte ihm zugehört. Ihm Hilfe angeboten. Ihm seine Hand gereicht. Etwas, dass er von seinem eigenen Vater vermisste. Schmerzlich vermisste. Er fühlte sich allein gelassen. Zum ersten Mal in seinem Leben. Shinichi holte Luft. „Er behandelt mich wie einen Aussätzigen! Oder so, als ob ich schon tot wär! Verdammt noch mal, da würde ich ihn mal wirklich brauchen und auch dann ist er nicht für mich da… glaubt er denn, für mich ist es einfach? Denkt er, er ist der einzige, dem’s mies geht? Dann soll er sich mal hier umhören…“ Sonoko legte das Kleid ab. Das war es also. Sie und Shinichi waren ungefähr in gleichen Verhältnissen groß geworden. Sie beide hatten sich nie Sorgen machen brauchen; aber gleichzeitig hatten sie beide Eltern, die ihnen große Freiräume gaben; manchmal wohl auch zu große. Dennoch hatten sie beide immer auf sie zählen können; auch wenn sie sich manchmal etwas lax in ihrer Erziehung gezeigt hatten, gerade bei Shinichi, aber hatte er sie je wirklich gebraucht, waren sie da gewesen, das wusste sie von Ran. Und nun war dem anscheinend nicht mehr so. Kein Wunder, dass er eben etwas kühl reagiert hatte. Shinichi starrte frustriert auf den Reis, goss das Wasser einen Tick zu heftig ab, verbrannte sich am heißen Dampf die Finger, fluchte. Dann stellte er die Schüssel mit dem Reis temperamentvoller auf den Tisch, als nötig war – ein paar Reiskörner flogen durch die Gegend kullerten auf die Tischplatte und sprangen auf den Boden. Ran schaute ihn bestürzt an. So erlebte man ihn selten. „Ich kann ja verstehen, dass er… dass es hart ist für ihn. Aber wirklich… ich… ich könnte seine Unterstützung echt brauchen. Kann er sich denn nicht mal überwinden, dir was für mich auszurichten…?“ Seine Stimme klang immer noch erregt, in seinen Augen jedoch lag etwas Verzweifeltes. Yukiko seufzte, legte ihm eine Hand auf den Arm, die er abschüttelte. „Er fragt mich, wie’s dir geht.“ „Wie aufmerksam von ihm.“ Shinichis Stimme klang zynisch. Dann drehte er plötzlich sich um, ging entschlossen zur Tür. Ran starrte ihn an. „Wo willst du hin…?“ Er seufzte, strich sich mit der Hand über den Hinterkopf. „Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, dann muss der Berg eben zum Propheten kommen…“ „Shinichi!“ Yukiko fuhr auf. „Du weißt ganz genau, dass das nichts bringen wird…! Lass ihn doch in Frieden…“ „Nein. Das kann er vergessen.“ Shinichis Stimme klang fest. „Versteh mich nicht falsch, Mama… ich kann ihn schon nachvollziehen. Aber ihr müsst mich auch verstehen… ich will erstens, so nicht auseinander gehen, nicht mit meinem Vater, und zweitens, die Zeit die ich noch habe, sinnvoll nutzen. Streits zählen nicht zu meiner Definition von sinnvoll genutzter Zeit. Also werde ich die Sache mit ihm klären. Jetzt. Das dauert ohnehin schon zu lange…“ „Er ist verletzt, Shinichi…“ Yukiko hielt ihren Sohn am Ärmel fest. „Lass ihn doch…“ Shinichi schüttelte sie ab. „Und was meinst du, was ich bin?“, flüsterte er leise, seine Augen blitzen vor unterdrückter Wut. Damit ging er. Wenig später hörten sie das Auto wegfahren. „Kudô-Männer.“, grollte Yukiko. „Die werden sich die Köpfe einschlagen. Er hat Yusaku in den letzten Tagen nicht gesehen… das alles geht ihm ziemlich nahe…“ Ran, die gerade das Gemüse vom Herd genommen hatte, stellte den Topf beiseite, schaute Yukiko ernst an. „Aber er weiß nicht, dass er in einem halben Jahr sterben wird, oder? Und er fragt sich nicht, was er angestellt hat, dass sein Vater nicht mehr mit ihm spricht? Er quält sich nicht mit…“ Yukiko war bleich geworden. Ran hielt inne. „Du hast ja Recht, Ran.“, murmelte die ehemalige Schauspielerin leise. „Du hast ja Recht.“ Shinichi stand vor der Tür des Hotelzimmers, in dem seine Eltern derzeit wohnten. In seinem Magen kribbelte es, sein Magen schien sich zu verknoten, und gerade dankte er dem Zufall, sein Abendessen nicht gegessen zu haben. Dann nahm er all seinen Mut zusammen, klopfte. „Yukiko?“, erklang es von drinnen. „Hast du den Schlüssel vergessen?“ „Ich bin nicht Yukiko.“ Shinichi hörte, wie sich drinnen jemand gegen die Tür lehnte, laut ausatmete. „Verschwinde, Shinichi.“ Der junge Detektiv schloss gequält die Augen, atmete tief durch. „Nein.“ „Ich will dich aber nicht sehen.“ Die Stimme klang gedämpft und war sehr leise - aber dennoch konnte Shinichi heraushören, dass seinem Vater das Sprechen mit ihm nicht leicht fiel. „Ich werde aber nicht gehen.“ „Dann wirst du die ganze Nacht da stehen.“ „Dann mache ich das eben.“ Seine Stimme klang trotzig. Er ließ sich zu Boden sinken. „Wie du willst!“, ertönte es ärgerlich von drinnen. Schritte entfernten sich. Shinichi lehnte seinen Kopf gegen die Tür. „Warum gehst du mir aus dem Weg? Findest du das gut so?“ Keine Antwort. „Weißt du, wie sich das anfühlt?“ Wieder keine Reaktion. Shinichi seufzte, zog die Beine an, schlang seine Arme um die Knie. Dann ging er in die Vollen. Er musste reden, jetzt. Egal ob er ihm zuhörte oder nicht. „Ich kann es dir sagen, wie das ist. Mir fällt die Decke auf den Kopf, weißt du. Mir geht’s momentan wirklich nicht besonders... wie du dir wohl denken kannst... und einer der wenigen Menschen, mit denen ich gern reden würde, über… über das, was… was passieren wird…“ Er kniff die Lippen kurz zusammen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, allein darüber nachzudenken war schrecklich, es auch noch auszusprechen war fast nicht auszuhalten. Von drinnen ertönte nicht das leiseste Geräusch. Er sammelte sich, holte tief Luft. „Einer dieser Menschen redet nicht mit mir. Behandelt mich, als ob ich schon tot wäre. Warum tust du mir das an? Glaubst du, du bist der Einzige, der sich mit dem Gedanken nicht anfreunden kann? Verdammt noch mal, du bist mein Vater! Ich hab dich in meinem Leben nicht oft gebraucht… aber jetzt… jetzt wäre es mal der Fall, wirklich. Und jetzt verwehrst du mir dein Ohr, deine Hand… ich liege am Boden und du lässt mich liegen, drehst dich um und gehst. Was meinst du, wie das ist? Mein Leben gerät gerade aus den Fugen, und eine der wichtigsten Konstanten löst sich mit dir ebenfalls in Luft auf. Ich… ich brauche dich. Ich weiß nicht mehr ein noch aus, ich weiß nicht, was ich tun soll. Wie ich damit fertig werden soll…“ Er wollte schlucken, aber es gelang ihm nicht. Sein Mund war trocken. Shinichi räusperte sich, er bemühte sich, seine Stimme fest klingen zu lassen, als er sprach… etwas, das ihm nicht ganz gelang. „Ich… mir fällt das auch nicht leicht. Ich kann verstehen, dass es schwer ist, für dich, mich… gehen zu sehen. Aber gerade darum bitte ich dich… bitte… lass mich nicht allein auf diesem Weg…“ Er fuhr sich mit zitternden Händen übers Gesicht. Aus dem Zimmer drang kein Laut nach außen. Shinichi starrte die Decke an. Bitterkeit stieg in ihm hoch, zusammen mit Verzweiflung, Wut und Enttäuschung. Aber er blieb sitzen. Und wartete. Starrte an die Decke, fing sich von einem Pagen einen tadelnden Blick ein, und wartete weiter. Irgendwann… irgendwann gab er es auf. Er wusste nicht, wie lange er gewartet hatte. Es mussten wohl Stunden gewesen sein. Sein Rücken schmerzte, und er wusste, er konnte seine Drohung nicht wahr machen und die ganze Nacht hier warten. Er war so überstürzt aufgebrochen, dass er sogar vergessen hatte, sein Schmerzmittel zu nehmen. Das Risiko, hier zusammenzubrechen wollte er nicht eingehen. Langsam schob er sich an der Tür entlang nach oben, bedachte sie mit einem traurigen Blick. „Also kann ich auf dich nicht zählen…“, wisperte er mehr zu sich selbst als zu jemand anderem. Dann wandte er sich um und ging. Hinter ihm ging die Tür auf. Shinichi drehte sich um, als er das Geräusch hörte - und erschrak. Die Gestalt, die auf dem Gang stand, hätte er fast nicht erkannt. So hatte er seinen Vater noch nie gesehen. Blass. Erschöpft. Seine Augen gerötet. Yusaku schluckte… dann griff er nach seinem Arm, zog ihn mit sich zurück, ins Hotelzimmer. Hinter ihnen beiden schloss er die Tür, bedeutete Shinichi, sich auf das Sofa zu setzen, blieb selber vor ihm stehen. Lange Zeit schaute er ihn unschlüssig an. Als er sprach, klang seine Stimme ein wenig heiser. „Es… es tut mir Leid. Mein Verhalten war inakzeptabel, Shinichi, ich weiß nicht wie ich das rechtfertigen kann…“ Er geriet ins Stocken. „Ich bin ein lausiger Vater.“ Shinichi schaute ihn betroffen an. „Nein, das bist du…“ „Rede nicht, Shinichi. Genau das bin ich. Ich hab dich mit dreizehn Jahren allein gelassen. Du warst so selbstständig, das hab ich wohl... unbewusst... ausgenutzt. Dann kam die Sache mit der Organisation und auch da… hab ich eher wenig getan, um dir wirklich zu helfen. Das Einzige, was man mir gutheißen kann, ist, dass ich genug Vertrauen in dich hatte, um dir zuzutrauen, das allein zu meistern. Und das hast du. Aber ich hab dich so gut wie nie angerufen. Dich nicht gefragt, wie’s dir geht. Wie du vorankommst. Ich hab als Vater versagt. Und jetzt…“ Er hob den Kopf, schaute seinen Sohn aus müden Augen an. „Und selbst jetzt, wo du kommst, um Hilfe bittest, denke ich an mich, weil ich befürchte, dass es mich zugrunde richtet. Ich komme nicht klar mit der Tatsache, dass du vor mir stirbst. Und ich komme nicht klar mit der Tatsache, dass du überhaupt sterben musst, auf diese Weise. Du hast das nicht verdient. Du hast nichts getan, weswegen irgendeine höhere Macht dich derart bestrafen müsste. Du…“ Er lächelte ihn traurig an. „Du solltest das nicht ertragen müssen. Und ich komme nicht klar damit, dagegen nichts tun zu können.“ Yusaku schluckte, starrte an die Decke, als er sprach. „Weißt du... Shinichi... ich war dabei, als du auf die Welt kamst. Ich schwor, dich zu beschützen, mit meinem Leben. Und nun muss ich sehen… muss sehen, dass mein Leben nichts wert ist, weil ich genau das nicht kann…“ Unwillig wischte er sich über die Augen. „Vater…“ „Hör bitte auf damit, Shinichi. Bitte. Du hast Recht mit allem, was du mir vorwirfst. Ich habe als Vater oft versagt, aber was ich mir in den letzten Tagen geleistet habe, ist unverzeihlich. Du bist als Mensch so ungleich viel stärker als ich. Du bist jemand, vor dem ich mein Haupt neigen muss - allein was du in den letzten Wochen mitgemacht hast, würde reichen, um viele andere auf den Boden zu schmettern, aber du - du stehst noch. Du weißt, dass du nichts ändern kannst, aber du gibst deswegen noch lange nicht auf.“ Er hielt inne, schaute seine Finger an. Sein Blick fiel auf die Reflektion seines Spiegelbilds in der Tischplatte des Glastisches, der zwischen ihnen stand. Bleich. Ausgezehrt. Er hatte sich gehen lassen in seinem Kummer, und das sah man ihm an. Yusaku wandte den Blick ab, räusperte sich. „Ich weiß nicht, ob ich, wäre ich an deiner Stelle, soviel Haltung bewahren könnte wie du. Schau mich doch an, wie ich jetzt schon aussehe…“ Er lachte humorlos. „Ich glaube nicht, dass ich soviel Selbstlosigkeit noch hätte wie du, in erster Linie immer noch an alle anderen zu denken... streit’s nicht ab, man hat es dir angesehen, als du es uns sagen musstest… es stand dir ins Gesicht geschrieben, wie sehr es dich schmerzt, deiner Mutter und mir das antun zu müssen. Du dachtest an uns, nicht an dich. Und auch jetzt weiß ich von Yukiko, dass du dir hauptsächlich Gedanken machst um Ran… und um alle anderen. Du… du… Glaub mir, du brauchst meine Hilfe nicht…“ Er brach ab. Shinichi schüttelte den Kopf. „Nein, das siehst du falsch. Ich hab’s dir doch gesagt, ich komme auch nicht klar damit. Ich bin nicht stark. Ich versuche zu verdrängen, das ist nichts… was man bewundern müsste…“ „Shinichi.“ Yusaku schaute ihn fest an, beugte sich leicht nach vorne. „Wenn du herkommst, und um meine Hilfe bittest… nennst du das verdrängen? Du willst, bei dieser Sache, von der du glaubst, allein nicht fertig werden zu können, meinen Beistand. Allein das zeigt, dass du dich deinem Schicksal stellst! Du versuchst Shiho zu beruhigen, die sich die Schuld zu geben scheint… willst ihr ausreden, dass sie sich schlecht fühlen muss. Du überlegst, wie du’s für Ran am Besten machen könntest... du siehst nur das Leid der anderen…“ Er ging um den Tisch herum, ohne seinen Sohn aus den Augen zu lassen, vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen. Dann wiegte er den Kopf bestimmt. „Nein, wirklich… du stellst dich ihren Ängsten und deinen. Glaub mir, du tust alles, aber nicht verdrängen. Vielleicht willst du’s, aber du tust es nicht. Und deswegen glaube ich, du brauchst… brauchst meine Hilfe nicht.“ Yusaku seufzte, strich sich mit einer Hand über die Augen, schaute seinen Sohn bewegt an. „Aber wenn du sie dennoch willst… so kann ich dich nur bitten, nur hoffen, dass du mir noch eine Chance gibst. Dann werde ich mit dir diesen Weg gehen, der so bitter ist… so hart werden wird, für uns beide… bis zum… Ende… werde ich für dich da sein. Ich versprech’ es dir. Ich werde dich nicht mehr allein lassen.“ Shinichi starrte ihn an. Er presste seine Lippen aufeinander, krallte seine Hände in die Sofakissen, um nicht zu zeigen, wie aufgewühlt er war. Und wie unendlich dankbar. Dann nickte er langsam. „Die Frage stellt sich gar nicht… ob ich dir verzeihe. Natürlich… tue ich das…“ Yusaku schaute kurz auf, Erleichterung flackerte über sein Gesicht - dann senkte sich sein Blick niedergeschlagen zu Boden. „Shinichi, es tut mir so Leid… wirklich, wenn ich tauschen könnte mit dir, ich würd’s tun. Sofort… sofort…. Denn du… du hast das nicht verdient… du hast das nicht verdient.“ Seine Worte verloren sich in einem Flüstern. Shinichi stand langsam auf, trat einen Schritt nach vorne. „Das weiß ich doch… Mach dir keinen Vorwurf bitte. Es lässt sich nicht ändern, also bitte… mach dir keinen Vorwurf…“ Dann schluckte er… merkte, wie ihm schwindlig wurde, kurz flimmerte es schwarz vor seinen Augen, er sank langsam wieder zurück aufs Sofa. „Ist dir nicht gut?“ Yusaku schaute ihn erschrocken an, griff ihm an die Stirn. Shinichi schob seinen Arm unwillig beiseite. Ihm war das peinlich. „Nur schwindelig. Es ist nichts, ehrlich.“ Sein Vater musterte ihn eindringlich. „Wirklich. Es ist nicht… das. Mir ist wirklich nur ein wenig komisch. Glaub mir, ich kann’s auseinander halten…“ Der Schriftsteller seufzte. „Bleib trotzdem besser sitzen.“ Shinichi seufzte genervt. Die Anweisung war unnötig; selbst wenn er hätte aufstehen wollen, wäre er nicht dazu in der Lage gewesen. „Wann hast du zum letzten Mal was gegessen oder getrunken?“ Yusaku sah ihn prüfend an. Er war blass, kalter Schweiß war auf seine Stirn getreten. Aber keine Art von fiebrigem Glanz in den Augen, und er schien auch keine Schmerzen zu haben. Also konnte es sein… Shinichi überlegte. Er kam auf kein zufrieden stellendes Ergebnis. „Keine Ahnung. Kaffee heut Mittag auf dem Revier? Gegessen… gestern Abend…?“ „Dann sackt grad dein Kreislauf…“ „…zusammen, ja, scheint so…“ Er lächelte ironisch, dachte an das Essen, dass er daheim hatte stehen lassen. Yusaku zog die Augenbrauen hoch. „Ich hol dir ne Cola. Und dann fahr ich dich heim.“ „Hm…“ „Wirklich, du solltest besser auf dich aufpassen.“ „Das sagst du so einfach.“ Yusaku ging kurz in ein anderes Zimmer, kam mit einem Glas eisgekühlter Cola zurück, reichte es seinem Sohn. „Besser…?“ Shinichi nickte, nachdem er die ersten Schlucke getrunken hatte. „Ich meinte das ernst.“, fing der Schriftsteller wieder an. „Du solltest besser auf dich aufpassen. Du musst nicht auch noch unnötig…“ „Das weiß ich… das weiß ich doch.“ Shinichi seufzte schwer. „Aber das ist alles nicht so einfach.“ „Wegen…?“ „Nicht nur.“ Shinichi schaute kurz auf. „Es ist schon wahr, es ist… kaum zu ertragen. Ich weiß nicht, was ich wegen Ran noch tun soll. Sie leidet so sehr darunter, unter der Vorstellung, dass ich...“ Seine Stimme verlor sich. Dann trank er noch einen Schluck Cola, setzte neu an. „Ich hab ihr schon vorgeschlagen, sie soll gehen. Hab ihr gesagt, wir müssen nicht heiraten. Sie will aber. Sie haben heute das Brautkleid gekauft. Demnächst müssen wir wohl die Trauringe besorgen… ich will ja gerne, dass sie glücklich ist, also werde ich wohl alles tun, was sie gern haben will...“ Er seufzte, lächelte traurig. Yusaku setzte sich neben ihn auf die Couch, drückte kurz seinen Arm. Shinichi nippte an seinem Glas, bevor er fort fuhr. „Und dann… dann kommt da noch die Sache mit dem Fall. Mit Heiji und den Leuten vom Präsidium. Ich will nicht, dass sie’s wissen.“ „Heiji auch nicht?“ Sein Vater schaute ihn etwas überrascht an. „Ja. Ich will nicht, dass er’s weiß. Er würde es sich zu sehr zu Herzen nehmen. Und ich will nicht, dass Meguré und die anderen es wissen, weil ich befürchte, sie nehmen mich dann nicht mehr für voll, behandeln mich wie... ein Kind…“ Er stockte. Conan. Dann riss er sich zusammen. „Ich hasse diese mitleidigen Blicke. Sie sind nicht böse gemeint, das weiß ich… aber trotzdem… ich hab’s heut bei Eri und Sonoko erst wieder gesehen. Ich will das nicht. Alle schauen mich an, und es scheint mir, als warten sie nur drauf, dass ich umfalle. Ich will mir das wenigstens bei der Arbeit sparen. Und…“ „Und?“, hakte Yusaku nach, zog die Augenbrauen hoch. Der grüblerische Ausdruck auf dem Gesicht seines Sohns gefiel ihm nicht. „Sag dir der Perlenmörder was?“ Yusaku versteifte sich. „Der Perlenmörder?“ Er schaute seinen Sohn fassungslos an. „Der Serienmörder, der schon zwei junge Frauen auf dem Gewissen hat?“ „Fast.“ Shinichi starrte auf seine Finger. „Gestern Nacht hat es die dritte erwischt.“ „Drei…? Dann… dann bist du an dem Fall…“ „Dran, ja.“ Shinichi trank seine Cola aus. „Weißt du, wie er sie umbringt? Er schneidet… schneidet ihnen die Kehle durch. Sie verbluten. Wenn sie sterben… sie sehen noch im Tod bezaubernd aus. Sie sind schneeweiß im Gesicht, ihre Haut schimmert wie Mondlicht. Und ich kann mir das nicht ansehen…“ Er seufzte. „Tote Menschen… so jung… er nimmt immer junge Mädchen… Kellnerinnen. Durch die Bank. Immer in der Nacht von Sonntag auf Montag, immer in der Nähe ihrer Lokale… und er hinterlässt…“ „Immer eine Perle…“ „Ja.“ Shinichi seufzte, raufte sich die Haare, biss sich auf die Lippen. „Eine Perle… immer sind es Perlen. Und obwohl er so schön systematisch vorgeht, immer nach Schema F, immer dieselben Indizien zurücklässt… glaubst du, wir könnten ihn kriegen? Er ist absolut sauber. Er hinterlässt keine Fingerabdrücke. Keine Faserspuren. Keine Haare. Keinen Speichel, kein Blut, außer dem des Opfers. Keine Tatwaffe. Nichts! Er ist ein Perfektionist, wie es ihn grausamer nicht gibt. Ein Lehrbeispiel für den perfekten Mord.“ Er schnaubte frustriert, ballte die Hände zu Fäusten. Und neuerdings hinterlässt er Nachrichten. ‚Perlen bedeuten Tränen. Einst weinte ich für jede Perle eine Träne, und es waren viele, viele Perlen… Nun weine ich nicht mehr, ich habe keine Tränen mehr… ich verschenke meine Perlen… für jede Träne eine. Sag mir, wer weint nun?’ „Sag mir, wer weint nun?“, murmelte Shinichi leise. Yusaku schaute ihn eindringlich an. Den Blick kannte er bei seinem Sohn, dieses Verhalten war klassisch. Der Fall drohte mal wieder die Überhand zu gewinnen… ihn mit Beschlag zu belegen, ihm den Schaf zu rauben, ihn an die Grenze seiner Kräfte zu treiben. Er sah ihm an, wie ihn die Sache mitnahm. Wie sehr es ihn traf, den Mörder noch nicht geschnappt zu haben. Er fühlte, dass Shinichi auch hierfür sich die Schuld gab. Yusaku seufzte. In normalen Fällen hätte er seinen Sohn jetzt zusammengestaucht. Ihm gesagt, er solle sich nicht reinsteigern, weil ihm das nicht gut tat. Er hätte ihm unter sogar Umständen geraten, ihn abzugeben, diesen Fall, weil er ihn persönlich nahm und damit seine Objektivität verlor. Aber er sah auch… er erkannte, als er ihn so sprechen hörte… und das erschreckte und erleichterte ihn gleichermaßen, eine Tatsache, ihn schaudern ließ… dass dieser Fall es war, der Shinichi sein Schicksal vergessen ließ. Er lenkte ihn ab. Beschäftigte ihn. Ließ ihm keine Zeit, über sich zu grübeln. Yusaku erkannte wohl, dass Shinichi nun die Leichen mit anderen Augen sah, wohl das einzige, das ihn dann und wann an sich selbst erinnerte… aber der Fall erforderte bald seine ganze Aufmerksamkeit. Ließ man ihn, würde er sich total verlieren, in Fakten und Deduktionen. Dieser dritte Mord hatte ihn schwer getroffen. Er gab sich die Schuld, dass er nicht hatte verhindert werden können, und das machte diesen Fall zu einer persönlichen Fehde zwischen ihm und dem Mörder. Er sah den Glanz in seinen Augen. Dieses wütende, kämpferische Funkeln. Er wusste von Yukiko, dass er sich nicht darauf konzentrieren konnte, wenn er abends über den Fotos und den Berichten brütete, seit Wochen. Aber dieser dritte Mord… Hatte das Blatt offensichtlich gedreht. Die Dreistigkeit, mit der er sie alle an der Nase herumführte, hatte seinen Sohn persönlich beleidigt. Der Mörder hatte ihm den Krieg erklärt. Und Shinichi hatte ihn aufgegriffen, den Fehdehandschuh, der ihm vor die Füße geworfen worden war. Er würde ihn nicht hergeben, bis die Entscheidungsschlacht geschlagen war, soviel war sicher. Dieser Fall beschäftigte ihn... und Beschäftigung konnte Shinichi in diesem Moment wohl mehr als gut gebrauchen. Und deswegen… weil dieser Fall in Shinichi neuen Kampfgeist weckte, wenn auch auf eine Art, die er sich nicht gewünscht hatte… … schaffte Yusaku Kudô es nicht, ihn zu Recht zu weisen. Er würde ihn machen lassen. Aber er würde ein Auge auf ihn haben. Yusaku stand auf. „Komm, ich fahr dich nach Hause.“ Shinichi blickte auf, ergriff die Hand seines Vaters, die er ihm entgegenstreckte, ließ sich hochziehen. Ja, es wurde wohl Zeit, nach Hause zu kommen. Deduktionen ----------- Guten Tag, allerseits! Heute kommt das Kapitel ein wenig früher, damit es später nicht im allgemeinen Weihnachtsficupload verschütt geht ^^ Da wird dann ein anderes Werk zum Thema von mir zu finden sein, ein Weihnachtsoneshot, heute, oder, optimalerweise, morgen. Zu diesem Kapitel aber, um beim Thema zu bleiben, ist wohl nicht viel zu sagen, außer... nun, der Fall wird wohl langsam etwas intensiver vorangetrieben- und ein gewisser Detektiv aus Osaka darf hierbei natürlich auch nicht fehlen. In dem Zusammenhang wird dann wohl auch eine bestimmte Frage endgültig beantwortet. Ich wünsche euch viel Vergnügen beim Lesen, und verbleibe bis zum Nächsten Mal, Eure Leira :D ______________________________________________________________________________ Kapitel 5: Deduktionen Lieber Herr Detektiv… ...nachdem Sie sich jetzt wohl sehr intensiv mit meiner Person beschäftigen werden, dachte ich mir, ich melde mich einmal persönlich bei Ihnen! Sagen Sie, wie fühlen Sie sich? Nachdem Sie weder den dritten Mord weder verhindern, noch mich bis jetzt anhand dessen finden und schnappen konnten? Ich verfolge Ihre Karriere schon seit Jahren, Herr Detektiv, und ich muss sagen, eigentlich haben Sie mir immer imponiert. Sie waren so schlau, so intelligent, so gerissen… Deshalb war ich nur allzu bereit, die Herausforderung, die mir gestellt wurde, anzunehmen, und in einem fairen Wettkampf gegen Sie anzutreten. Leider sind Sie allerdings anscheinend nicht halb so gut, wie ich dachte. Was ist los mit Ihnen? Wo bleiben Ihr Schwung, ihr Elan? Wo bleiben Ihre Brillanz, Ihre Kombinationsgabe? Sie enttäuschen mich. Ist Ihnen der Fall zu langweilig? Soll ich mir etwas Neues überlegen, etwas, das Sie mehr reizt? Früher hätten Sie solche einen Fall doch im Handumdrehen gelöst - nicht, dass ich bedauern würde, noch nicht im Knast zu sitzen, aber dass Sie noch so im Dunkeln tappen… noch so gar keine Ahnung haben, so ratlos zu sein scheinen… Sie beleidigen mich. Aber ich will nicht selbstgerecht sein. Ich werde weiter machen, bis Sie mir Einhalt gebieten. Und ich werde Ihnen auch weiterhin einen Tipp hinterlassen… Der Wettstreit gegen Sie ist nicht das Einzige, was mich antreibt. Wenn Sie schlau sind, haben Sie mein Motiv schon lange gefunden… ein Motiv, neben dem der Wunsch, Sie in den Wahnsinn zu treiben und zu besiegen, und dem Willen meines Herausforderers gerecht zu werden, winzig scheint. In diesem Sinne auch mein Schlusswort... Wenn du dir eine Perle wünschest, Such sie nicht in einer Wasserlache. Denn wer Perlen finden will, muss bis zum Grund des Meeres tauchen. Hochachtungsvoll, Der Perlenmörder. PS: Danke für den Spitznamen. Er gefällt mir außerordentlich. Das Blatt zitterte in seinen Händen. Es sind die Perlen. Shinichi keuchte, ihm wurde fast schlecht. Er lehnte an der Haustür, von wo er den Brief aufgehoben hatte - jemand hatte ihn unter der Tür durchgeschoben. Es sind die Perlen in ihren Haaren. Das war der Hinweis, der sie zum Täter führen würde. Das Einzige, das wirklich auf der Hand lag. Wo man sonst immer nach Gemeinsamkeiten suchte, störten sie hier schon fast... Die Verbindungen zwischen den Frauen… es gab viele, von ihrem Alter, ihrem Berufsstand, den Tatorten, der Tatzeit, bis zur Todesursache; es gab zu viele Übereinstimmungen. Das Einzige, was nicht stimme, waren die Perlen, sie glichen sich nie. Und das war auch das Einzige, was demzufolge Aufschluss über den Täter gab. Es war jedes Mal eine andere Perle. Und jedes Mal anders befestigt. Manchmal waren es große Spangen, ein anderes Mal eine einzelne Haarnadel... mit einer einzigen Perle dran. Manchmal waren sie echt, dann wieder nur Kunststoff… Manchmal hatte man der Frau noch einen Zopf geflochten, oder im Gegenteil die Haare aufgemacht, um die Perlen besser zur Geltung zu bringen. Es war klar, dass der Mörder sie nicht gekauft hatte, sie wiesen alle Gebrauchsspuren auf. Und sie passten nicht zueinander. Sie schienen vielmehr einer Sammlung eines Liebhabers zu entstammen... aber welcher? Wenn du dir eine Perle wünschest, Such sie nicht in einer Wasserlache. Denn wer Perlen finden will, muss bis zum Grund des Meeres tauchen. Shinichi runzelte die Stirn. Bis zum Grund des Meeres… Klar, Perlen fand man in Austern, und Austern lebten im Meer… aber was wollte er damit sagen? Bezog sich das Zitat überhaupt wörtlich auf die Perlen... oder sollte man es übertragen? War es eine Metapher für etwas anderes? Kratzten sie gerade mal an der Oberfläche? Hatte das alles einen tieferen Sinn? Wenn ja, welchen? Wer waren die Perlen? Wenn sie eine Metapher waren... was symbolisierten sie? Und warum sollte er selbst sich eine wünschen…? Warum hinterließ der Mörder welche? War das ein Spleen? Tötete er aus Rache? Und was sollte dieser ‚Auftrag’ zum Wettstreit mit ihm? Handelte er auf Befehl? Steckte hinter all diesen Morden noch ein anderes, ein viel brillanteres Hirn? Und wie um alles in der Welt konnte er diesen ‚Wettkampf’ noch als fair bezeichnen? Fair?!? Fragen, Fragen, Fragen… Er ließ frustriert aufseufzend den Kopf nach hinten sinken, starrte an die Decke. Was zur Hölle willst du von mir? Warum tust du das? Und welches dritte Motiv treibt dich, außer dem Wunsch mich fertig zu machen und damit einen Auftrag zu erledigen…? Kanntest du sie? Die jungen Frauen? „Shinichi?“ Ran trat aus der Küche, sah ihn stehen, kalkweiß - und zog die falschen Schlüsse. „Geht’s dir nicht gut?“ Ihre Stimme klang besorgt. Er schaute auf, sah ein, das Schwindeln zwecklos war uns seufzte resignierend. „Nein, es geht mir nicht gut. Aber nicht aus diesem Grund, keine Sorge. Mir kanns auch noch wegen anderen Dingen nicht gut gehen…“ Er schluckte, stieß sich schwerfällig von der Tür ab. „Der Fall.“ Ran schluckte. Sie sah ihm an, wie er ihn kaputtmachte, jetzt schon. Sein letzter Fall nahm ihn unglaublich mit. Er kam kaum zum schlafen, zum Essen oder dazu, sich mal auszuruhen. Dabei brauchte er das. Ruhe. Dringend sogar. Aber der Fall ließ ihn nicht schlafen, verdarb ihm den Appetit. Weil er sich die Schuld gab, dass sie ihn noch nicht hatten. Weil schon drei Frauen tot waren, und er nicht einen einzigen Hinweis auf den Täter hatte. Weil er glaubte, er hätte versagt, da er sich solange nicht auf dieses Verbrechen hatte konzentrieren können, weil seine Gedanken nur von einer Sache beherrscht worden waren... Doch eigentlich war es immer noch so... er dachte immer noch an die gleiche Sache. Alles, an was er dachte, war der Tod. Ob es nun sein eigener war oder der anderer... Ach, Shinichi... Ran seufzte trat näher, zog ihn an sich, lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Erst als sie leises Papierrascheln hörte, als er ihr über den Rücken streichelte, merkte sie, dass er etwas in der Hand hielt. Sie drehte sich um, nahm ihm den Brief aus den kalten Fingern. Las ihn durch, wurde immer blasser, starrte ihn an. Und wusste, warum er so schlecht aussah, warum er so aufgewühlt war, heute Morgen. „Mein Gott… Shinichi…“ Der schüttelte nur den Kopf, griff sich an die Stirn; nahm ihr den Brief wieder ab, las ihn selber noch mal. „Das ist… krank… was will er denn von dir? Warum…?“ Ihre Stimme zitterte. Sie bekam Angst - Angst um ihn. Nicht nur, dass ihn dieser Fall ohnehin schon mehr mitnahm, aller sollte… nein. Jetzt existierte da auch noch jemand, der offensichtlich Shinichi psychisch systematisch fertig machen wollte. „Rufst du Meguré an?“, fragte sie leise. „Nein.“ „Warum nicht?“ „Weil ich mir selber erst mal ein wenig klar werden muss. Er gibt auch keine Hinweise auf den Täter, also ist der Brief unerheblich…“ „Das stimmt nicht. Das Zitat ist ein Hinweis auf den Täter. Du schweigst aus anderen Gründen - du hast Angst, dass er dir den Fall entzieht. Weil der Mörder dich selber angreift…“ Shinichis Kopf fuhr herum. „Ran…“ „So ist es doch!“ „Ich…“ Sie seufzte, schüttelte traurig den Kopf, hob hilflos die Hände, ließ sie wieder sinken. Er warf ihr einen unsicheren Blick zu, dann ging er ohne ein weiteres Wort in sein Büro. Er musste die Fotos der Perlen vergleichen. Sich ansehen, wie sie in den Haaren festgemacht waren. Vielleicht fand sich da eine Spur. Während er sie hervorholte, wollten ihm die Worte des Mörders nicht aus dem Kopf gehen. Immer wieder warf er einen Blick auf das handgeschriebene Schreiben. Die Dreistigkeit in seinen Worten war ungeheuerlich. Aus diesem Brief sprach pure Schadenfreude, Häme… und Überlegenheit. Er fühlte sich überlegen, er, der Mörder… und wohl mit ihm sein Boss, der Drahtzieher des Ganzen. Shinichi legte seinen Terminplaner beiseite, um Platz für die Fotos zu schaffen - und erst jetzt fiel es ihm auf. Es war Montag. Heute war Montag… das hieß, gestern war Sonntag gewesen… Sonntag… Shinichi schluckte, ließ sich in seinen Stuhl sinken. „Shinichi?“ Ran streckte ihren Kopf ins Zimmer, sah ihn immer noch grübeln. „Shinichi, kommst du frühstücken?“ Sie kniff ihre Augen zusammen. Seine Antwort war vorhersehbar. „Keinen Hunger.“, murmelte er abwesend. „Nein.“ Ran schluckte, straffte die Schultern. Er schaute sie erstaunt an. „Aber-…“ „Kein Aber. Willst du umkippen, oder was? Komm gefälligst mit und iss was. Ohne lasse ich dich nicht gehen, ich schwör’s dir.“ „Aber…“ „Ich ruf deinen Vater an. Und Meguré, wenn’s sein muss.“ Shinichi stöhnte leise auf. „Du bist unfair. Das ist Erpressung.“ Er seufzte noch einmal, tat dann aber wie ihm geheißen, begab sich artig in die Küche. Ran verdrehte die Augen und schaute ihm hinterher. Es war wieder einmal soweit. Ein Fall bestimmte sein Leben so sehr, dass er sich selbst darüber vergaß. Aber genau das durfte er diesmal nicht. Er musste auf sich Acht geben, denn sein Körper würde ihm eine raue Behandlung diesmal nicht so leicht verzeihen. Und sie würde dafür sorgen, dass er auf sich schaute… sie wollte ihn nicht früher verlieren als nötig. Sie sah ein, so schwer es ihr fiel, dass er diesen Fall, noch dazu wo er jetzt so persönlich zu werden schien, lösen musste. Aber nicht auf Kosten seiner Gesundheit. Sie waren gerade dabei, das Geschirr wieder abzuräumen, als das Telefon klingelte. Allein das Klingeln reichte, damit sich ihm der Magen umdrehte. Er ahnte, wer anrief und weshalb. Es würde Meguré sein, mit der Nachricht, dass eine neue Leiche gefunden worden war. Wieder ein blutjunges, bildschönes Mädchen, wieder eine Kellnerin, wieder mit Perlen im Haar. Und genau so war es. Shinichi seufzte, als er vor dem Hotel parkte, in dem Heiji wohnte. Für die Dauer seines Aufenthalts bezahlte man ihm, dem Herrn Polizeichef in Spe, der es in seinen jungen Jahren schon soweit gebracht hatte, ein Zimmer in einem schicken Hotel; wie sollte es anders sein. Er brauchte gar nicht erst auszusteigen, um ihn zu holen – er sah ihn aus dem Hotelportal treten und ihm entgegen eilen. Er hatte wohl bereits auf ihn gewartet; ohne Zweifel hatte ihn der Kommissar ebenfalls informiert, nachdem er Shinichi angerufen hatte. Heiji ließ sich neben ihm auf den Beifahrersitz sinken, atmete tief durch. „Also noch eine.“ Shinichi ließ den Motor an, schaute um, setzte den Blinker und fädelte ein. „So ist es. Noch eine.“ Er nickte schwach. Es ging ihm nicht aus dem Kopf. Lieber Herr Detektiv… In Shinichi kochte bei der Erinnerung an den Brief von heute Morgen wieder die Wut hoch. Er biss die Zähne aufeinander, krallte seine Hände so fest ums Lenkrad, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Heiji blieb das nicht verborgen. Er warf seinem Freund einen fragenden Blick zu. „Kudô?“ „Hm…?“ „Was is’ los…?“ „Nichts.“, presste er hervor, stierte auf die Straße. Heiji seufzte. „Du gib dir doch nich’ die Schuld, weil wir ihn noch nich’ haben, stimmt’s? Kudô… Du bist nich’ der einzige Detektiv, der an der Sache dran is’. Wir sind alle noch nich’ weiter. Du bist nich’ Holmes, und selbst der kam nich’ mit allen Fällen reibungslos klar…“ Er seufzte, schaute seinen Freund jovial an. „Du kannst nichts dafür, Shinichi.“ Wenn sie aber doch wegen mir sterben…! Wie kann ich da nicht Schuld sein... Heijis Kinnlade fiel herunter. „Was bitte?!“ Der Osakaer Detektiv starrte ihn an. Shinichi wandte erschrocken den Kopf. „Hab… hab ich das jetzt… laut…?“ „Ja…!“ Heiji atmete schwer. „Hast du…! Und jetzt erklär’ mir mal, wie zur Hölle du darauf kommst?!“ Shinichi schaute ihn an, unfähig irgendetwas zu sagen. Er wollte eigentlich niemandem von dem Brief erzählen... Warum musste er auch immer laut denken...? Er schluckte schwer, biss sich auf die Lippen. Dann riss ihn ein lautes Hupen wieder in die Realität zurück. Er fuhr herum, schenkte dem Verkehr wieder die Aufmerksamkeit, die er verdiente. Im Wagen herrschte eisiges Schweigen, aber Shinichi wagte nicht, noch mal davon anzufangen, um nicht doch noch einen Unfall zu provozieren; und Heiji begnügte sich damit, ihm fragende, stechende Blicke von der Seite zuzuwerfen. Vor der nächsten roten Ampel blieb er stehen, fasste sich mit einer Hand in seine Sakkoinnentasche, zog den Brief heraus und reichte ihn Heiji, ohne seine Augen von der Straße abzuwenden. „Lag heute vor meiner Haustür. Kein Wort zu niemandem, ich bitte dich…“ Heiji starrte ihn ratlos an. „Was is’n das…?“ „Lies ihn einfach. Du wirst es gleich merken.“ Die Ampel schaltete auf Grün, Shinichi fuhr wieder an, beschleunigte. Ein ersticktes Keuchen neben ihm sagte ihm, dass Heiji den Brief gelesen hatte; und ihn genauso verstand wie er selber. Und Ran. „Das is’ krank…“ Heijis Stimme klang heiser. „Das is’ absolut krank. Wir haben’s hier mit einem Psychopathen zu tun…“ „Ja, da kannst du Recht haben.“ Shinichi seufzte, nahm ihm den Brief, den er ihm entgegenstreckte, ab und verstaute ihn wieder in seiner Sakkoinnentasche. „Und was tust du jetzt?“ „Na was wohl?! Den Kerl finden und einbuchten! Ihm seine gerechte Strafe zukommen lassen, was sonst?! “ Shinichi starrte ihn kurz an; aber lange genug, dass Heiji den Funken von Kampfgeist, von Entschlossenheit in seinen Augen glimmen sah, den er solange vermisst hatte. Aber dennoch, und er wusste nicht wieso, er konnte es sich nicht erklären… war ihm nicht wohl dabei. Sie hielten vor einem der In-Cafès schlechthin; dem letzten Schrei der Partykultur in Shibuka, dem ‚Lost Paradise’. Über ihnen öffnete der Himmel seine Schleusen. Shinichi und Heiji stiegen aus, hasteten zu Meguré und Takagi, die sie im Eingang des Lokals ausgemacht hatten, um nicht nasser zu werden als nötig. An der versteinerten Miene des Kommissars war eines abzulesen. „Der Tatort ist ihm Freien.“, seufzte Shinichi genervt. Takagi nickte. „Ja, wie alle anderen auch. Wir versuchen gerade, ein Zelt darüber aufzubauen, damit nicht alle Beweise weggeschwemmt werden, sofern welche da sind… diesmal… aber… optimal ist das nicht.“ Heiji vergrub seine Hände in seinen Jackentaschen. „Und? Dann informieren Sie uns mal… mittlerweile wird man wohl mehr wiss’n, als dass es sich um ne weibliche Tote handelt, mit Perlenschmuck im Haar…“ Takagi nickte erneut. Meguré beobachtete Shinichi. Irgendetwas schien heute anders zu sein; seine Aufmerksamkeit, seine Konzentration schienen wieder besser geworden zu sein. Hatte er sich etwa alles nur eingebildet? Vielleicht hatte er ja wirklich nur einmal eine paar schlechte Tage gehabt. Stress zuhause oder dergleichen. Obwohl er sich nicht vorstellen konnte, dass Shinichi und Ran so sehr miteinander stritten, dass ihn das bis in die Arbeit verfolgte. Und er war immer noch so bleich… er sah immer noch müde aus. Gut, das konnte am Fall liegen. Aber… Aber… Ja, aber was? Meguré seufzte vernehmlich, was ihm einen schrägen Blick seines Beobachtungsobjekts einbrachte; kurz starrten sie einander an, dann genoss Takagi auch ihre vollste Aufmerksamkeit. „Das Opfer heißt Minami Furukawa, ist 19 Jahre alt und wie auch die anderen Mädchen…“, er blätterte in seinen Notizen, „also Chiyo Yamamura“, er nickte Heiji zu, denn sie war die einzige Leiche, die in Osaka gefunden worden war, „Fumiko Yuumura und Sachiko Yonehara, arbeitete Minami als Kellnerin, um sich etwas dazu zu verdienen. Sie ist Studentin an der Teitan Universität, Fachrichtung Etymologie. Sie ist, wie die anderen auch schlank, zierlich gebaut, hat lange, schwarze Haare. Wie auch die anderen Opfer war die Todesursache das Durchtrennen der Halsschlagader mit einem scharfen Gegenstand mit glatter Schneide, vermutlich einem Dolch oder Messer. Die Tatwaffe ist wie immer unauffindbar, auch wenn sich hier, wie in allen anderen Lokals auch, derartige Messer befinden. Wir prüfen natürlich, ob eins als Tatwaffe in Frage kommt, aber der Pathologe ist sich fast sicher, dass dem nicht der Fall sein wird; die Wundränder zeigen deutlich, dass es immer das gleiche Messer war, und das kann nicht sein, wenn er immer ein am Tatort vorhandenes nimmt, meint er. Es ist also davon auszugehen, dass es das gleiche Messer wie bei den anderen Morden war, und er es wieder mitgenommen hat. Einen Hinweis darauf, dass es sich um den gleichen Täter handelt…“ „… gibt die Perle in ihren Haaren.“ Shinichi seufzte. Es war klassisch. Er suchte sich immer denselben Typ Frau, sie arbeiteten alle in derselben Berufssparte, er tötete sie immer auf die gleiche Weise, hinterließ immer ein bestimmtes Indiz… Ein Serienmord aus dem Lehrbuch. Nur, warum? War das Motiv, dass laut seiner eigenen Aussage so offensichtlich war, Rache? Rache für was? Kannte er die Mädchen? Wessen Perlen verteilte er? Warum…? Dann fuhren sie alle herum, als ein schmerzerfüllter Aufschrei, gefolgt von hemmungslosem Geschluchze, ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Perlen bedeuten Tränen… „Das…“, murmelte Takagi leise, „das ist die Mutter der Getöteten. Leider haben wir immer noch keinen Hinweis auf das Motiv…“ Shinichi schaute auf. „Doch, haben wir.“ Takagi und Meguré blinzelten. „Na, die Perlen.“ Und da war es. Dieses Gefühl des Beobachtetwerdens. Shinichi fuhr herum, ließ seinen Blick aufmerksam durch die Menge schweifen. Man hatte die Leiche erst heute Morgen gefunden; der Todeszeitpunkt kreiste irgendwo um Mitternacht. Also hatte man den Lokalbesitzer gebeten, alle anderen Kellner und Kellnerinnen, die zu dem Zeitpunkt Dienst hatten, zu holen, damit sie ihre Aussage machen konnten, und reihum in den Häusern geklingelt und die Leute gefragt, ob sie zu dem Zeitpunkt eventuell eine verdächtige Gestalt bemerkt hatten. Ein paar der Leute schauten in an. Andere wandte den Blick sofort wieder ab. „Inspektor Takagi…“, begann er dann, drehte sich wieder um. „Sagen Sie, wo befindet sich die Leiche?“ „Noch am Tatort.“ „Dann geh ich sie mir mal ansehen.“ Damit drehte sich der junge Detektiv um und überließ es den anderen, die Zeugen zu vernehmen. Der Anblick versetzte ihm, wie er erwartet hatte, einen Stich. Er schluckte hart, versuchte zu verdrängen, was in diesen Augenblicken in seinem Kopf Form anzunehmen drohte, und zog sich seine weißen Handschuhe über. Dann untersuchte er den Körper des toten Mädchens. Sie war zweifellos durch den Schnitt an ihrem Hals umgekommen, das stand fest. Ihr Blut war überall; ihr Kopf lag in einem purpurnen See, der sich langsam mit dem Regenwasser mischte, ihre weiße Bluse war durchtränkt vom roten Lebenselixier. Sie zeigte keine Abwehrspuren, keine Angriffsmerkmale, keine weitere Verletzung außer der, die zu ihrem Tod geführt hatte. Hatte sie ihren Mörder gekannt? Warum war sie hinters Lokal gegangen? Es gab keinen Grund… sie hatte noch Dienst, die Mülltonnen standen woanders… hier in der kleinen Gasse war nichts, was sie hätte interessieren können. Außer ihrem Mörder...? Also kannte sie ihn? Länger oder kurzfristig? Hatte sie sich von ihm verführen lassen? War sie ihm freiwillig hierher gefolgt? Sie hatte sich nicht gewehrt… und der Tod war schnell und überraschend über sie gekommen… Ganz anders als es bei ihm selber… der Fall sein würde. Er schluckte, wandte sich kurz ab, versuchte sich wieder zu konzentrieren. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder, ging dann näher, schaute sich die junge Frau genau an. Sie hatte langes, schwarzes Haar, in das eine zierliche, perlenbesetzte Nadel gesteckt worden war. Er rief sich ins Gedächtnis, wie es bei den anderen gewesen war. Bei der Ersten war eine Haarnadel in die Frisur geschoben worden, ähnlich wie hier; bei der Zweiten hatte man einen Zopf geflochten, um dessen Ende ein Perlenband geschoben worden war; der Dritten hatte man eine kleine perlenbesetzte Spange als Schmuck ins Haar geklemmt. Er hob die Strähne hoch, inspizierte sie und die Kopfhaut darunter. Die Nadel war an den Kanten etwas scharf, die schützende Lackschicht war schon abgeblättert… aber an der Kopfhaut ließen sich keinerlei Verletzungen feststellen. Kein Kratzer, keine Rötung, nichts. Ganz genau wie bei der ersten Ermordeten. Hatte man es da noch auf den Zufall schieben können, manifestierte sich jetzt in Shinichis Kopf eine Theorie. Entweder hatte es der Mörder nicht eilig gehabt, ihr die Nadel reinzustecken, mit so viel Sorgfalt, wie er es gemacht hatte; oder sie war noch am Leben gewesen und sie hatte sich von ihm schmücken lassen, was ja unverfänglich gewesen wäre; oder aber… sie hatte sie sich selbst reingesteckt, nachdem er ihr sein Geschenk mit dieser Bitte übergeben hatte. Nummer zwei und drei ließen ihn jedoch eine Schlussfolgerung ziehen; der Täter hatte sie gekannt. Und sie ihn. Wahrscheinlich hatte er sie alle gekannt… Für diese Theorie standen die Chancen ziemlich gut; die Möglichkeit, dass er einfach Glück gehabt hatte, als er ihr die Nadel so eng an die Kopfhaut in die Haare setzte, war wohl eher gering. Also war sie noch am Leben gewesen; bei einer Leiche hätte er zweifellos versucht, so schnell wie möglich sein Werk zu vollenden und hier zu verschwinden. Die Gasse war zwar eng, aber um diese Zeit war hier dennoch die Gefahr gegeben, dass jemand kam. Außerdem stand außer Zweifel, dass der Fundort der Leiche auch der Tatort war. Die Menge des Blutes stimmte. Hätte er sie woanders umgebracht, wäre hier weit weniger Blut zu sehen, weil man bei einem solchen Schnitt in die Halsschlagader rasch viel Blut verlor. Er geht also raus mit ihr, oder sie erwartet ihn draußen, und schenkt ihr die Nadel. Sie ist geschmeichelt, steckt sie sich ins Haar. Oder lässt sie sich von ihm in die Haare stecken. So weit, so gut. Er betrachtete den Schnitt am Hals. Er war ziemlich tief… dennoch ließ sich feststellen, dass er nach rechts hin breiter wurde und auch weiter nach hinten verlief als auf der linken Seite. Wie bei all den anderen Leichen auch; er war entweder Linkshänder oder er schnitt ihnen die Kehle von hinten durch. Dann zieht er sie hier in die Türöffnung, nimmt sein Messer, scheidet ihr die Kehle durch. Lässt sie fallen, verschwindet. Mit dem Messer. Nur wohin geht er…? Shinichi war überzeugt, dass es ein Mann war, der diese Taten verübte. Die Handschrift des Briefes war die eines Mannes gewesen; und er glaubte nicht, dass er diktiert war. Sein Instinkt sagte ihm, dass es sich um einen Mann handelte. Er hatte ja auch seinen Namen nicht in Perlenmörderin korrigieren lassen; ein so selbstgefälliger Mensch, der er ja zu sein schien, hätte da aber bestimmt etwas gesagt… Er legte gedankenverloren die Handflächen aneinander und berührte mit seinen Fingerspitzen sein Kinn. Wohin bist du gegangen…? Wieder ins Lokal? Oder die Gasse entlang, weg vom Tatort? Wohin hast du die Tatwaffe gesteckt? Hinter ihm trat Heiji zum Tatort. „Kudô?“ „Schhht!“ Unwillig wedelte der Detektiv aus Tokio mit den Händen. Heiji stutzte, aber schwieg. Shinichi überlegte fieberhaft. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die junge Frau ihre Hände zu Fäusten geballt hatte. Heiji stellte sich hinter ihn, zog die Augenbrauen hoch, betrachtete die grübelnde Gestalt seines Freundes nachdenklich. Diesmal ist etwas anders… diesmal lässt er Anhaltspunkte zurück… oder war ich vorher einfach zu blind? Oder macht er es einfacher, mir zuliebe? Wohl kaum… Shinichis Statur lockerte sich, er schaute kurz zu Heiji, dann stieg er über die Leiche, nahm ihre rechte Hand hoch, schaute ihre Finger an, versuchte die Leichenstarre zu lösen, um ihre Faust zu öffnen. Er warf seinen Kollegen einen auffordernden Blick zu, der sich daraufhin mit der anderen Hand zu schaffen machte. Shinichi zog einen Zettel aus ihren Fingern. „Was hast du?“ Heiji pfriemelte eine Perle aus ihrer Hand, hielt sie hoch. Sie beide schauten das Schmuckstück an. „Wo gehört die dazu?“ „Fehlt in der Haarnadel eine?“ Heiji stand auf, wanderte zum Kopf des Mädchens, hielt die Perle an den Haarschmuck. „Möglich. Doch, ich glaub schon…“ „Warum hält sie sie in der Hand?“ „Was steht auf dem Zettel?“ Shinichi faltete das Stückchen Papier auseinander, strich es glatt. "Weiß und bleich wie Perlen sollt ihr sein, eure Haut strahlen wie der Mond in dunkler Nacht, wie die große schimmernde Perle auf schwarzem Samt…" „Perlen, Perlen. Immer nur Perlen…“ Er seufzte. „Nun, damit dürfte geklärt sein, warum er sie verbluten lässt. Sie sollen bleich sein… bleich wie der Mond, schimmernd wie eine Perle…“ Shinichi schluckte, schaute die Frau bedauernd an. Auch du starbst viel zu jung… glaub mir, ich verstehe, wie du dich gefühlt haben musst, als du merktest, wie dein Leben dich verließ… „Einen komischen Fetisch hat der Typ…“ Dann fiel seine Aufmerksamkeit wieder auf Heiji. „Aber warum hast du mich jetzt eigentlich gesucht? Oder wolltest du dir nur die Leiche ansehen?“ „Nein.“ Heiji seufzte, tütete die Perle ein. „Nein, ich hab dich gesucht. Stell dir vor, keine der Bedienungen kann sich dran erinnern, Minami mit jemandem nach draußen gehen gesehen zu haben. Sie dacht’n wohl, sie macht eine Raucherpause. Da, die Kippen. Und der Aschenbecher.“ Er hielt eine Glasschale in einer Tüte hoch. „Den haben die Angestellten immer mitgenommen, wenn sie raus gingen zum Rauchen. Damit kein Dreck vor der Hintertür is, macht nämlich n schlecht’n Eindruck…“ Shinichi nickte geistesabwesend. „Dann hatte sie eine Verabredung…“ „Du glaubst nich’, dass sie ihn zufällig hier getroffen hat?“ Heiji schaute ihn erstaunt an. „Nein, keineswegs.“ „Weswegen?“ „Wegen der Haarnadel. Nun, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dem ist so. Auf alle Fälle hat Minami nicht geraucht, eigentlich kannst du den Aschenbecher hier lassen. Auf keiner der Kippen ist Lippenstift, sie hat aber welchen aufgetragen.“ Heiji schluckte. „Also hat se… hat se tatsächlich auf den Kerl… wenn es n’ Kerl is…“ „Ich denk’ schon, ja.“ Sie beide standen da, die Hände tief in ihren Hosentaschen vergraben, schauten mit Bedauern die junge Frau an. „Also hat er sie gekannt? Sie… alle?“ „Gute Frage. Leider… war bei den anderen dreien ja… zuviel los; oder gar nichts… also hat keiner was gesehen. Zwei wurden erst nach Dienstschluss umgebracht, bei der anderen konnte sich keiner erinnern, sie raus gehen gesehen zu haben… man kann es nicht sagen. Aber ich denke, sie hier kannte er mit Sicherheit. Und er hat sie sich nicht erst drinnen angelacht. Ich denke aber, die Theorie lässt sich auf alle anpassen.“ Flüchtigen Dates schenkt man keinen Haarschmuck. „Warum hat er nicht bis zu ihrem Dienstschluss gewartet?“ „Vielleicht hatte er es eilig?“ Ja, aber warum? Er geht ein Risiko ein. Ein Risiko, dass er vermeiden hätte können, indem er gewartet hätte… Shinichi kratzte sich am Kopf. „Warum?“ Ja, warum… Warum? Ich weiß es nicht… warum? „Kudô?“ Heiji betrachtete seinen in Gedanken versunkenen Freund besorgt. Dieser grüblerische Ausdruck auf seinem Gesicht gefiel ihm nicht. „Vielleicht… ach, was weiß denn ich, Heiji!“, rief Shinichi aufgebracht. Er seufzte, strich sich müde über die Augen. „Entschuldige… ich bin etwas müde…“ „Kudô… geht’s dir nich’ gut?“ Shinichi schaute ihn nervös an. Fängst du schon wieder an? „Nein, ich bin nur müde. Zu wenig geschlafen wegen dem Fall. Das könntest du doch von mir gewohnt sein.“ Heiji schluckte, schaute ihn an, ohne zu blinzeln. Schon, aber… warum glaube ich dir nicht? Shinichi wich Heijis musternden Blick aus. „Was war denn in ihren Taschen?“, fragte er, um das Thema zu wechseln. Heiji legte den Kopf in den Nacken, als er nachdachte. „Lipgloss. Puder, eine Nagelschere, ihre Geldbörse, Handy, Schlüssel. Und Tabletten. Kopfschmerztabletten. Minami litt unter Migräne, hat mir eine ihre Kolleginnen erzählt.“ Shinichi durchlief es siedendheiß. Tabletten. Er klopfte seine Sakkotaschen ab, in der Ahnung, dass es zwecklos sein würde; er hatte sie vergessen. Seine Tabletten. In der Aufregung um den Brief und das vierte Opfer… hatte er sowohl vergessen sie zu nehmen, als auch, sich welche einzuschieben. Er konnte nur hoffen, dass er heute einen guten Tag hatte. „Kudô, is’ was?“ Heiji waren die hektischen Bewegungen seines Freundes nicht entgangen. „Nein, nichts. Schon gut.“ „Was haste dann gesucht..?“ Er schaute ihn skeptisch an. Shinichi erwiderte den Blick etwas unsicher. Im Ausredenerfinden war er kein Meister. „Kleingeld?“ „Für was brauchste Kleingeld?“ „Für Kaffee?“ „Kudô, wir sind in nem Lokal. Die können dir auch große Scheine wechseln…“ Heiji musterte ihn misstrauisch. „Stimmt! Natürlich, du hast völlig Recht! Dann holen wir uns doch gleich mal welchen! Werden die Zeugen noch verhört?“ Shinichi zog seine Handschuhe aus, steckte sie in eine Plastiktüte, setzte sich in Bewegung, packte Heiji am Ärmel und zog ihn mit sich. „Ja, werden se…“, konnte der nur noch hervorbringen, als er sich auch schon wieder im Inneren des Lokals wieder fand. Was is’ los mit dir…? Das Verhör dauerte Stunden, so viele Leute waren anwesend. Shinichi wusste, er konnte sich nicht davonmachen; das würde zu sehr auffallen, wenn er, der bei den Ermittlungen ja so wichtig war, sich die Zeugenverhöre entgehen ließ. Also saß er neben Heiji und Meguré, und verfolgte die Aussagen, machte sich Notizen, wenn es nötig war. Er trank gerade einen Schluck Kaffee, als er es merkte. Es war wie immer. Wie seit mehr als sieben Jahren schon, er wusste, was jetzt kam… er kannte die Symptome. Ihm wurde heiß. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Shinichi schluckte, setzte mit einer unglaublich gezwungenen Bewegung die Tasse ab, um sein Zittern zu verbergen, entschuldigte sich murmelnd auf die Toilette und ging. Heiji sah ihm stirnrunzelnd nach. Ihm war nicht entgangen, dass sein Freund auf einmal sehr bleich geworden war… und auch den kurzen, erschrockenen Ausdruck auf seinem Gesicht hatte er bemerkt. Er stand auf, entschuldigte sich ebenfalls. Meguré sah ihnen misstrauisch hinterher. Shinichi wankte den Gang entlang; Allerdings nicht zu den Waschräumen. Er verließ das Haus durch den Hinterausgang. Mittlerweile war die Leiche in die Gerichtsmedizin gebracht worden, die Leute von der Spurensicherung waren weg. Leichter Regen fiel immer noch, ein kühler Wind strich durch die Gasse, griff mit seinen unsichtbaren Fingern in sein Haar, aber verschaffte ihm dennoch kaum Kühlung. Heiji suchte kurz in der Herrentoilette – als er dort niemanden fand, wie er erwartet hatte, ging auch er zum Hinterausgang. Shinichi lehnte an der Hausmauer, krallte seine Hand in sein Hemd, genau über der Stelle, wo sein Herz schlug. Schmerzhaft, schnell, schlug. Warum hatte er auch die Tabletten vergessen? Er hätte sich ohrfeigen können, in diesem Augenblick. Ein leises Stöhnen verließ seine Lippen. Es tat so weh… Er schluckte, dachte daran, wann dieser ganze Mist begonnen hatte… damals, am 13. Januar 1994, als Conan Edogawa in sein Leben getreten war. Ganz hatte der kleine Junge mit der Brille ihn nie verlassen. Es quietschte leise, als die Tür zum Lokal sich öffnete. Shinichi sah ihr zu, wie sie aufschwang. Nein…! Heiji trat heraus, sah seinen Freund an der Mauer stehen, kreidebleich und mit schmerzverzerrtem Gesicht, rannte näher. „Mein Gott, Kudô, was is’ mit dir?“ Shinichi war nicht in der Lage eine Antwort zu geben. Er unterdrückte einen Aufschrei, konzentrierte sich einzig und allein darauf, nicht den Halt an der Hauswand zu verlieren. Sein Freund stand vor ihm, schaute ihn besorgt an. Griff mit seiner Hand an seine Stirn, zog erschrocken die Finger zurück. „Shinichi, verdammt, du glühst ja! Geht’s noch, was fehlt dir denn? Willste dich hinlegen? Soll ich dich… ins Krankenhaus…?“ „Nein…!“ Shinichi richtete sich leise stöhnend auf. „Nein, es geht schon wieder.“ „Was is’ mit dir?“ „Nichts…“ Er wollte gehen, verschwinden, was hirnrissig war, weil er ohnehin nur taumelnd und mit Hilfe einer stützenden Mauer vorwärts gekommen wäre, aber er wollte an Heiji vorbei treten, weg von ihm… alles, nur weg von ihm… Aber der junge Polizist hielt ihn an der Schulter fest, riss ihn herum und drückte ihn wieder gegen die Hausmauer. „Was is’ los, verdammt?!“ Shinichi starrte ihn an, schluckte. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. „Rück endlich raus mit der Sprache!“ „Nichts.“, wiederholte er, bemühte sich um Contenance. Er hätte sich selbst nicht geglaubt. Und Heiji tat es auch nicht. Heiji schluckte, hatte eine Art Déjà-vu... Er sah ihn rausgehen, damals, bei ihrer ersten Begegnung… bei dem Fall mit dem Giftmord, als er ihm sein Können auf so beeindruckende Weise unter Beweis gestellt hatte. Damals... damals war er auch aus dem Raum gewankt, kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten, hatte auch geschwitzt, sich mit der Hand an die Brust gefasst, gegen seinen Brustkorb gepresst, diese unerträglich scheinenden Schmerzen hatten ihn seinerzeit schon gequält... Der junge Mann aus Osaka biss sich auf die Lippen. Konnte es…? Nein, das war nicht möglich... oder? Er beschloss, diesmal nicht zurückzustecken, nicht nachzugeben. Er musste es jetzt wissen. Heiji holte tief Luft, schaute ihm fest in die Augen. „Das glaubste doch selber nich’. Ich will wissen, was los is’. Wenn ich’s nich’ besser wüsst’, würd’ ich sagen, dass das mit dem Gift von damals…“ Shinichi wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn. Seine Finger zitterten. Zwar ebbte der Anfall jetzt langsam ab, aber sein Kreislauf war immer noch im Keller. Heiji starrte nur die Hand an. Dann das bleiche Gesicht seines Freundes. „Shinichi…“ Der Angesprochene warf ihm einen Blick zu. Heiji sammelte sich. Ein schlimmer Verdacht keimte in ihm. Der Schlimmste überhaupt. „Weiß ich’s wirklich besser…?“ Seine Stimme war leise. Und jetzt klang sie nicht mehr besorgt - in ihr schwang Furcht. „Glaub mir, du willst das nicht wissen, Hattori…“, flüsterte Shinichi leise. Er verzog gequält das Gesicht, seine Stimme klang fast bittend. „Shinichi…!“ Heiji umklammerte seine Schulter, drückte ihn noch fester an die Mauer. Shinichi ließ seinen Kopf erschöpft nach hinten sinken. Der Regen setzte wieder stärker ein, ein wahrer Schauer ergoss sich über ihre Köpfe, durchnässte sie binnen Sekunden. Hinter ihnen, auf der Straße spülte er ihr Blut vom Asphalt. Heiji starrte ihn immer noch an. In ihm tobte es. Irgendetwas Schlimmes war los, so schlimm, dass Kudô es mit allen Mitteln verheimlichen wollte. Aber was konnte so... so schrecklich sein, dass nicht mal er davon wissen sollte? Er hatte ihm doch sonst auch immer alles erzählt... selbst von Conan hatte er gewusst... wenn auch zuerst unfreiwillig, aber später dann hatte Shinichi ihm vertraut. Weshalb tat er es diesmal nicht? „Was is’ los mit dir…?“ Heiji Hattoris Stimme klang etwas verstört, verwirrt - und ein wenig hilflos. Man sah ihm an, er machte sich große Sorgen. Seinen Freund so zu sehen, mit den ihm auch nur allzu bekannten Symptomen, musste Assoziationen bei ihm wecken. Und Befürchtungen. Shinichi schluckte schwer. Er merkte, wie sich dieses Ohnmachtsgefühl wieder einstellte, wie eine kalte Hand sein Herz zusammenpresste, bis er glaubte, er könne es nicht mehr aushalten. Er schaffte es nicht, ihm eine Antwort zu geben. „Kudô…?“ Heiji blickte ihn unverwandt an. Shinichi wandte den Kopf, kurz nur; schaute ihn an. Dann starrte er wieder in den Himmel. Und Heiji wusste es. Der Blick allein hatte ihm genügt, Shinichi musste es nicht aussprechen. In seinen Augen war so etwas Fatalistisches gewesen… und absolute Hoffnungslosigkeit. Ein Ausdruck, den er in Shinichis Augen noch nie gesehen hatte. Und diese Hoffnungslosigkeit, gepaart mit der Tatsache, dass er jetzt vor allen in diese Gasse geflüchtet war, wo er mit schmerzverzerrtem Gesicht stand und nicht mit der Sprache rausrücken wollte, ließ nur einen Schluss zu. Nur einen. Das hier hatte nichts mehr mit Conan zu tun. Das hier... war weit schlimmer. „Nein…!“, wisperte er. „Doch.“ Shinichi schloss die Augen. Regentropfen rannen über sein Gesicht, sammelten sich an seinem Kinn, tropften in seinen Kragen. „Doch, genau das…" Er brach ab. Lange sprach keiner ein Wort. Nur der Regen und der immer noch etwas schwere Atem Shinichis waren zu hören. „Ich werde... werde sterben... Heiji.“ Seine geflüsterten Worte gingen im Geprassel des Regens fast unter. Ein Regentropfen löste sich von seiner Nasenspitze, fiel auf den nassen Asphalt. Der Detektiv aus Osaka keuchte, starrte ihn entsetzt an – dann ließ er ihn los, presste sich die Hand vor den Mund, drehte sich um und ging. Ging davon, hinaus in den strömenden Regen, klatschnass, ohne zu wissen wohin. Fing an zu laufen, irgendwohin - egal; nur weg hier. Und er blieb allein zurück, in der Gasse. Schaute ihm nicht hinterher. Er sah auf den Boden, wo der Regen eben die letzten Spuren von Purpur von der Straße wusch. Erst als Rufe laut wurden, ging er zum Verhör zurück, um sich für heute abzumelden. Meguré sah ihn nur an, nickte. Schon allein, weil er bis auf die Haut durchnässt war, ließ er ihn gehen, allerdings... Dieser Ausdruck auf seinem Gesicht... machte ihm Sorgen. Und einmal mehr bestätigte sich die Meinung des alten Kommissars, dass mit Shinichi Kudô mehr nicht stimmte, als es den Anschein hatte. Von Heiji sahen weder er noch Shinichi eine Spur. Ran lief aus dem Haus, als sie ihn aus dem Auto steigen sah. „Großer Gott, Shinichi, was...“ Sie lief zu ihm, berührte mit ihren Finger sein Gesicht, schluckte, als sie Kühle unter ihren Fingerspitzen spürte. Er war sehr blass... blasser als sonst... und das Wasser troff aus seinen Kleidern. Er schaute sie nicht an, starrte auf den Boden, schlotterte vor Kälte. Der Regen prasselte auf sie nieder, durchnässte auch Ran binnen Sekunden. Sie wollte ihn mit ins Haus ziehen, aber er blieb stehen. Ran griff ihn am Handgelenk. „Shinichi...?“ Langsam hob sich sein Blick. Ran erschrak, als sie in seine Augen sah. Irgendetwas musste geschehen sein. Sie strich ihm eine Strähne aus den Augen. „Shinichi, was ist passiert...?“ Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen - und schloss ihn wieder, ohne dass ein Laut seine Lippen verlassen hätte. Ein Ausdruck von Schmerz machte sich auf seinem Gesicht breit. Ran konnte nicht sagen, was es war, das ihn so aufwühlte, aber es machte ihr Angst. Sie zog ihn an sich, merkte, wie er langsam seine Arme um sie legte und sie an sich drückte, seine Stirn auf ihre Schulter sank. „Ran, er... er weiß es...“ Seine Worte waren nicht mehr als ein Wispern. Sie musste nicht fragen, wen er mit er meinte. Sie gab ihm wortlos einen Kuss auf die Stirn, zog ihn mit sich ins Haus. Es war spätabends, als es an der Haustür klingelte. Shinichi war im Sessel über einem Kriminalroman eingenickt, und so war es Ran, die öffnete. Erstaunen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie sah, wer da vor ihr stand. Es war Heiji. Er war tropfnass - und sah auch ansonsten elend aus. „Isser da…?“ Seine Stimme klang brüchig. Ran nickte. Shinichi hatte ihr mittlerweile erzählt, was vorgefallen war, nachdem er unter der heißen Dusche, unter die sie ihn geschoben hatte, wieder hervorgekommen war. Eigentlich hatte er gar nicht reden wollen – sie hatte ihn so lange gelöchert, bis er berichtet hatte, was passiert war. Bei dem Gedanken, dass er allein während einem Anfall in einer Gasse gestanden hatte, bei diesem Wetter... war ihr anders geworden. Genau solche Sachen hatte sie befürchtet. Genau das. Ein leises Husten riss sie aus ihren Gedanken. Sie schaute wieder zu Heiji, der immer noch auf ihre Antwort wartete. „Ja, ist er. Aber er schläft…“, murmelte sie Heiji schluckte. „Nun komm aber erst mal herein, bevor du dir noch ne Erkältung einfängst…“ Sie zog ihn am Jackenärmel herein, schloss hinter ihm die Tür. „Weiß Kazuha…? Was… was los ist mit…?“, fragte sie leise. Heijis Blick war starr, aber er nickte; leises Tropfen hallte durch die Luft, als das Wasser von seiner Kleidung troff. „Ich musst mit ihr… drüber…“ „Schon… es ist... schon gut…“ Sie nickte. Sah ihm seine Betroffenheit an. Heiji Hattori schien in diesen Minuten kaum ein Schatten seiner selbst zu sein. Ran musste sich eingestehen, dass Shinichi wohl gewusst hatte, warum er es Heiji nicht hatte sagen wollen… „Ich hol dir ein Handtuch und was zum Anziehen. Oder willst du duschen…?“ Ran schaute ihn besorgt an. Heiji schüttelte mehr oder minder apathisch den Kopf. Sie eilte nach oben. Und dann klingelte das Telefon. Heiji glotzte es an, zu keiner Reaktion fähig; plötzlich ging die Tür auf, ein ziemlich verschlafener Shinichi, offensichtlich vom nervenaufreibenden Klingelton des Telefons geweckt, schlurfte aus dem Wohnzimmer, griff nach dem Hörer und meldete sich. Erst dann bemerkte er Heiji, blinzelte erstaunt. „Kann ich dich zurückrufen, Shiho…? Danke.“ Er legte auf. Lange war nichts außer dem leisen Platschen des Wasser zu hören, dass immer noch aus Heijis Kleidung tropfte. Der Osakaer Detektiv biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte. Schließlich war es dann aber doch er selbst, der die Stille durchbrach. „Wann wolltestde’s mir sagen…?“ Shinichi senkte den Kopf. Ran, die gerade die Treppe mit einem Bündel Klamotten die Treppe herunterstieg, blieb stehen. „Wann wolltest du’s mir sagen, Kudô? Verdammt, wann wolltestde mir sagen dassde stirbst?!“ Shinichi zuckte zusammen. Heiji stand da, atmete heftig. „WANN, verdammt?! WANN?!“ Shinichi fuhr sich über die Augen, aber schwieg. Heiji trat auf ihn zu, überbrückte die Distanz, die sie trennte, mit zwei, drei energischen Schritten, packte ihn an den Schulter und rüttelte ihn. „Hörst du mich, Shinichi?! Wann um alles in der Welt wolltestde mir das denn… erzählen? WANN?!“ Ran eilte die letzten Stufen herunter. „Heiji! Heiji, lass das! Lass ihn los…!“, rief sie entsetzt. Sie wusste, Heiji würde Shinichi nichts antun, aber Heiji war momentan nicht Herr über sich selbst, und Shinichi… nicht in der Lage, sich zu wehren. Der Angesprochene gab seinen Freund wieder frei - und sackte merklich zusammen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Shinichi wankte einen Schritt zurück. „Du wollt’st es mir gar nicht sagen…“ Seine Stimme klang heiser. Als er ihn wieder ansah, rann eine Träne über seine Wange. Nur eine. Shinichi schluckte. „Stimmt. Dir wollt’ ich es nicht sagen.“ Heiji wischte sich unwillig übers Gesicht. „Verdammt, Kudô…“ Shinichi schaute weg. Er hatte genau gewusst, warum er es vermeiden wollte, Heiji das anzutun. Er wollte es jedem ersparen, dem er es einigermaßen guten Gewissens verschweigen konnte - Heiji war einer von ihnen gewesen. Weil er wusste, dass ihn das treffen wurde. Weil er ahnte, wie er reagieren würde. Weil er wusste, dass Heiji es schlecht verkraftete, wenn er etwas gegenüberstand, dem er nicht Herr werden konnte. Dem er nichts entgegen zu setzen hatte. Weil er eine kleine Ahnung davon hatte, wie sehr Heiji ihn schätzte und wie sehr ihn sein Verlust… quälen würde. Er wusste, dass es ihn fertig machen würde, seinen Freund zu verlieren. Und er hätte ihm die Wochen voll bangen Wartens, voll Angst und Schmerz gern erspart. „Warum…?“ Heijis Stimme klang brüchig. „Warum was? Warum ich sterben werde oder warum ich dir nicht gesagt hab, dass ich sterben werde…?“ „Hör auf, Haare zu spalten…“ Shinichi schluckte, schaute auf, dann nahm er Ran die Klamotten aus den Händen, drückte sie ihm gegen die Brust. „Trockne dich erst mal ab und zieh dich um. Du kannst ins Wohnzimmer, wir warten in der Küche.“ „Das ist doch… ich muss nicht…“ Shinichi fasste ihn am Arm. „Doch, musst du. Du bist kalt wie ein Eiszapfen und klatschnass. Zieh dich um, bevor du noch krank wirst. Nicht dass du… noch vor mir abtrittst.“ Er lächelte müde. Heiji lächelte nicht. „Darüber macht man keine Witze.“ „Wenn man selbst betroffen ist, schon. Und jetzt sieh endlich zu, dass du trocken wirst.“ Damit drehte er sich um und ging mit Ran in die Küche. Heiji fand ihn, am Küchentisch sitzend. Ran stellte eine Tasse Kaffee vor ihn, setzte sich neben Shinichi auf die Bank. Heiji nahm auf einem Stuhl Platz, starrte ihn an. „Wann…?“ Er bemühte sich um Sachlichkeit in seiner Stimme, als er dieses eine Wort aussprach. Shinichi schaute ihm ins Gesicht. „Ein halbes Jahr. Ungefähr… etwas weniger, wohl…“ Heiji schloss die Augen, atmete aus. Fuhr sich mit seiner Rechten immer und immer wieder über den Hinterkopf. „Wa… warum…?“ Shinichi zögerte. „Kudô, warum?!“, wiederholte er aufgebracht. „Nachwirkungen des… des Gifts.“ Der Detektiv aus Tokio schaute seinen Freund besorgt an. „Ich wollte es dir nicht sagen, damit du… damit du dich nicht so… so…“. Er brach ab. Heiji schaute auf, fand seine Augen und schüttelte den Kopf. Langsam. Immer wieder. „Das kann nich’ wahr sein. Das kann doch nich’ wahr sein…“ Shinichi schluckte nur. „Und man kann… kann wirklich gar nichts mehr…?“ „Nein. Man kann wirklich gar nichts mehr dagegen tun.“ Shinichi atmete aus. „Heiji… Heiji, versuch, es zu vergessen, ja? Denk einfach nicht dran…“ „Und wie soll das gehen… Shinichi? Wie stellstde dir das vor? Wie soll ich’n das anstellen… du bist mein Freund, ich bin dein… dein Trauzeuge…“ Er hielt inne. „Wollt ihr eigentlich noch…?“ „Ja!“ Rans Stimme klang bestimmt. Sie griff unwillkürlich nach seiner Hand, drückte seine Finger. „Unbedingt. Und du… du bleibst doch…?“ „Trauzeuge…?“, murmelte Heiji, schaute Shinichi an, der den Blick abgewandt hatte. „Auf jeden Fall…“ Er klang gefasst. Shinichi wandte sich ihm wieder zu. „Danke, Hattori.“ „Nichts zu danken.“ Er biss sich auf die Lippen. „Das… Kudô, ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich…“ „Sag nichts.“ Shinichi stand auf, trat neben ihm, drückte kurz seine Schulter. „Du musst nichts sagen. Wirklich nicht.“ Damit ging er. Ran und Heiji blickten einander an. „Wie… seit wann…?“ „Seit zweieinhalb Wochen. Und er… er sorgt sich mehr um alle anderen als um sich. Ich hoffe, ich kann ihm helfen, aber ich… es ist so schwer… allein der Gedanke…“ Eine Träne rollte ihr über die Wange. Heiji starrte sie an. Dann griff er über den Tisch und drückte stumm ihre Hand. „Der Fall…“, begann er dann. „…frisst ihn mit Haut und Haaren. Heiji, aber das darf er diesmal nicht! Ich brings nicht übers Herz, ihn zu verraten, weil ich sehe, er braucht das… es ist das Einzige, was ihn momentan völlig auf andere Gedanken bringen kann, und du weißt nicht, wie es ist, ihn vor sich hin brüten zu sehen, wenn er darüber nachdenkt… über…“ Heiji nickte stumm. Er hatte ihn gesehen, den Blick, als er die Leiche angesehen hatte… vor einer Woche. Dieser verzweifelte, bittere Ausdruck in seinen Augen. Diese Leere. Er wollte ihn auch nicht so sehen. Aber er durfte nicht zulassen, dass er sich im Eifer des Gefechts ruinierte. „Ich werd auf ihn aufpassen, Ran. Ich versprech’s.“ Hochzeit -------- Mesdames, messieurs... Zuerst einmal vielen, vielen Dank für all jene, die trotz der stressigen Feiertage dazu gekommen sind, das letzte Kapitel zu lesen und sogar zu kommentieren- ich danke euch sehr, ganz ehrlich! *freu* Uuuund- Ich darf an dieser Stelle eine klitzekleine Warnung aussprechen ^-^ Wie der Titel verrät, wird sich dieses Kapitel um ein Ereignis drehen... und es liegt wohl irgendwo in der Natur der Sache, dass das ziemlich... süß... wird ^^; Ich hab mich bemüht, im Rahmen zu bleiben... übertreiben wollt ich’s bestimmt nicht. Des Weiteren wurde mir von anonymer Stelle vorgeschlagen, das hier da zu lassen. *SchachtelTaschentücherauspack* In diesem Sinne wünsche ich viel Vergnügen beim Lesen! Bis zur nächsten Woche, da geht's dann auch weiter mit dem Fall... MfG, eure Leira :D PS: Da die nächste Woche schon im nächsten Jahr ist... wünsch ich euch hiermit auch gleich einen Guten Rutsch in 2009!!! __________________________________________________________ Kapitel 6: Hochzeit Ran lief, nur in ihr Nachthemd gehüllt, durchs Haus und sammelte dabei hektisch Kleidungsstücke und Kissen ein. Sie war nervös, konnte schon seit einer Stunde nicht mehr schlafen und musste sich jetzt unbedingt beschäftigen. Auch wenn es gerade mal halb sieben Uhr früh war. Hinter ihr erschien Sonoko gähnend in der Tür zum Wohnzimmer, wo sie nach dem gestrigen Junggesellinnenabschied genächtigt hatte. „Ran, Süße...“, sie kniff die Augen zu, während sich ihr Mund immer weiter öffnete, bis er schließlich von einer Hand verdeckt wurde. „...wir haben doch noch genüüügend Zeit…“ Sie blinzelte müde, zog die Augenbrauen dann hoch, mit dem Bestreben, sich dadurch einen tadelnden Gesichtsausdruck zu verleihen. Ran ging darauf gar nicht ein, warf stattdessen die Kissen aufs Sofa und ließ die Klamotten in einen Sessel fallen, um dann eiligen Fußes in die Küche zu tappen. „Aber die Haare, Sonoko! Das Kleid! Das Make-up! Ich will perfekt aussehen…!“ Sie holte Luft, schaute ihre Freundin starr an. „Ich heirate heute!!!“ Sie schaltete die Kaffeemaschine an, die leise brodelnd zum Leben erwachte. „Und aufräumen sollt ich auch noch, wie’s hier aussieht…“ Sie schmunzelte. Der vergangene Abend war so überraschend wie höchst amüsant gewesen, waren sie und Shinichi doch von Heiji, Kazuha und Sonoko überrascht worden - was darin resultiert hatte, dass man Shinichi vor die Tür gesetzt hatte, um der Tradition Genüge zu tun - schließlich durfte der Bräutigam in der Nacht vor der Hochzeit nicht mit der Braut unter einem Dach schlafen. Ran hatte ihn nur ungern gehen lassen; aber schließlich waren er und Heiji doch abgezogen. Yusaku hatte bereits im Auto auf sie gewartet; sie hatte keine Ahnung, wie die drei Männer den Abend verbracht hatten. Wohl aber wusste sie, wie sie selbst die Nacht herum gebracht hatten. Sie war mit Sonoko und Kazuha zurückgeblieben, und dann waren die Fetzen geflogen. Nachdem sie sich in unglaublich kitschige Pyjamas geworfen hatten, die Sonoko beigesteuert hatte, hatten sie es sich erst mit Schokolade und Kuchen, dann mit Rotwein, gemütlich gemacht und Rans ‚letzten Abend in Freiheit’ gefeiert. Jetzt im Nachhinein erst fiel ihr auf wie makaber der Gedanke eigentlich war… sie würde ihre Freiheit nur allzu bald wieder haben. Sie schluckte, merkte wie sich ihre Mundwinkel unwillkürlich nach unten zogen, ihre Lippe zu zittern begann. Gestern hatte sie gar nicht mehr darüber nachgedacht… es war so lustig gewesen, mit ihren Freundinnen ausgelassen zu sein. Niemand hatte ein Wort darüber verloren, über die einzige Sache, die dieses freudige Ereignis trübte – auch Kazuha nicht, die Shinichi, als er sich schließlich von Heiji mitzerren hatte lassen, einen seltsam betrübten Blick nachgeworfen hatte. Aber danach... hatten sie alle nicht mehr daran gedacht. Sie hatten gelacht, das Schlafzimmer und das Wohnzimmer verwüstet und den Abend genossen. Dann merkte sie, wie jemand sie von hinten in den Arm nahm. Sie seufzte, drehte sich um. „Es tut mir Leid… Sonoko… ich bin dumm…“ „Ach was…“ Sonoko drückte sie an sich, streichelte ihr über die Arme, merkte, wie Ran ihre Stirn auf ihre Schulter sinken ließ. „Du bist nicht dumm…“, wisperte sie leise, versuchte, sie zu beruhigen. Ran schniefte leise, ihre Schultern zuckten, aber sie versuchte, nicht zu weinen. Rans beste Freundin schaute gedankenverloren aus dem Fenster, schluckte schwer. Wie wird diese Hochzeit heute für dich sein, Ran? Was erst wird sein, wenn du versprichst, ihn zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod euch scheidet? Hältst du den Gedanken aus? Wenn ja… wie? Ran… Sie merkte, wie Ran sich langsam wieder beruhigte, sich die Tränen aus den Augen strich und sich langsam von ihr löste. „Danke…“ Sonoko schüttelte sacht den Kopf. „Nichts zu danken, Ran. Dafür bin ich doch auch da…“ Sie versuchte ein schiefes Lächeln. Dann riss die Türklingel sie aus ihren Gedanken. Sonoko fluchte, leise, schaute an sich hinab, warf Ran einen ebenso musternden Blick zu. Sie waren beide nicht unbedingt dafür gemacht, irgendjemandem die Tür zu öffnen. Erst dann kam Sonoko der Gedanke, dass es wohl nicht irgendjemand sein könnte, der vor der Tür stand. Ran schaute ihre Freundin fragend an, dann ging sie in die Eingangshalle. „Wer kann das…?“ „Wohl der Herr des Hauses. Er wird Sehnsucht haben…“, grinste Sonoko. Und sie sollte Recht behalten. Draußen standen Yusaku, Heiji und Shinichi. Allerdings trat nur Shinichi ein, schloss schnell die Tür hinter sich, zog die Augenbrauen hoch, als er Rans "Hello Kitty" -Nachthemd sah. „Sexy. Das kenn ich aber noch gar nicht…“ Er grinste breit. Ran wurde rot, dann lachte sie, schlug ihn sanft vor die Brust. „Idiot!“ Hinter ihr betrat Sonoko die Eingangshalle. Neben ihr erschien Kazuha, die einen entsetzten Schrei ausstieß, als sie ihn erblickte. „Aahhh! Was machst du hier? Du solltest doch gar nich’ hier sein! Sieh zu, dassde wegkommst!“ Heijis Freundin war nach ihrem Ausruf des Entsetzens wieder hinter die Tür gehuscht, steckte nur ihren Kopf hervor, ihre Wangen waren tomatenrot gefärbt. Sie wollte in ihrem Garfield-Outfit von Heijis bestem Freund lieber nicht zu lange gesehen werden. Sich alberne Pyjamas anzuziehen war Teil des Programms gewesen, aber sie wollte nicht, dass Heiji davon Wind bekam. Der würde sie nur damit aufziehen - immer und immer wieder... Er schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ich dachte, ich darf sie nur im Brautkleid nicht vorher sehen?“ Kazuha zog ein beleidigtes Gesicht, schnaubte leise. „Eigentlich war der Gedanke, Kudô, dass du sie bis zur Hochzeit nicht mehr siehst. Also bis du mit ihr vorm Altar stehst. Der wär damit hinüber…“ Sonoko trat vor ihn, die Arme vor der Brust, auf der Snoopy und Woodstock prangten, verschränkt, auf ihrem Gesicht lag ein mehr als genervter Ausdruck. Shinichi schaute sie besänftigend an. „Keine Angst, ich bin gleich wieder weg, Snoo- äh, Suzuki.“ „Haha.“, bemerkte Sonoko trocken. Sein Gesichtsdruck wurde plötzlich etwas ernsthafter. „Nein, Spaß beiseite, Sonoko. Ich wollte nur mit Ran… ganz kurz reden. Nur ganz kurz, dann bin ich wieder weg, versprochen, aber es ist wirklich wichtig…“ Seine Stimme war leise, aber er sprach mit Nachdruck. Sonoko starrte ihn an – und erkannte, dass er ihre Bedenken anscheinend teilte. Deshalb nickte sie und verschwand, zog Kazuha aus der Tür und schleifte sie mit sich ins Badezimmer. Er griff Ran an der Hand, zog sie zur Treppe, setzte sich. Sie schaute ihn abwartend an, ließ sich neben ihm nieder. „Shinichi…?“ Er seufzte tief. „Ran…“ Er brach ab, holte noch mal Luft. „Ran, glaubst du, du stehst das durch? Ich meine… wir müssen nicht heiraten. Du weißt was… was im Eheversprechen alles gefragt wird und…“ Er wandte sich ab. Ran streckte ihre Hände aus, legte sie an seinen Kopf, zwang ihn, sie anzusehen. „Du willst wissen, ob ich dich lieben und ehren werde, in guten und in schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit, bis dass der Tod uns scheidet…?“ Er schluckte, presste die Lippen zusammen. „Du kennst die Antwort, Shinichi…“ Sanft strich ihr Atem über sein Gesicht. Kurz schloss er die Augen, schaute sie dann wieder unverwandt an. „Ja, ich kenne sie... ich weiß das doch. Ich will nur… ich will nur nicht, dass unsere Hochzeit ein Spießrutenlauf wird, für dich… wo wir doch wissen, wie sehr dieser Satz auf uns zutreffen wird. Bald schon... zutreffen wird…“ Ran lehnte ihre Stirn an seine, begann mit ihren Finger seine Haare am Nacken zu kraulen. „Ich steh’s durch, wenn du es durchstehst. Ich werde dich da vorne an meiner Seite haben, und das macht mich stark.“ Sie lächelte. „Und ich hoffe, irgendwie hilft es auch dir zu wissen, dass du da vorn nicht allein stehst…“ Shinichi schaute sie mit großen Augen an. „N-natürlich! So… so war das auch nicht gemeint…“ Ran grinste kokett, lachte leise. „Ich weiß schon, wie du es meintest. Du hast Angst, dass die Wahrheit dieser Worte uns verletzen kann. So wie Wahrheit oft wehtut…“ Er nickte leicht, seufzte leise. „Das wird sie auch diesmal. Bestimmt wird sie das. Mit Sicherheit werden das wohl für uns ein paar schwere Minuten sein…“ Sie atmete tief aus, ließ ihre Hände über seinen Hals, seine Brust nach unten gleiten. Er legte seine Hände auf ihre, streichelte über ihre Arme. Sie griff seine Finger, drückte sie kurz. Jetzt waren sie noch nackt. In ein paar Stunden würde er am Ringfinger der rechten Hand einen Ring tragen, zum Zeichen, dass er zu ihr gehörte… genau wie es auch andersrum der Fall sein würde. „Du weißt doch, was in unseren Ringen stehen wird…“, sprach sie seine Gedanken aus. „Du weißt, was wir eingravieren haben lassen. Und ich meine es auch so.“ Sie schaute unverwandt ihn an, blinzelte nicht. „Auch wenn der Tod uns scheidet…“, murmelte er leise, schaute weg, schluckte schwer. „Ran, ich weiß nicht, was ich…“ „Sag gar nichts. Es ist nicht nur deine Entscheidung, sondern auch meine, und ich tu’s nicht nur für dich, sondern auch für mich. Ich will dich heiraten. Aus, basta.“ Sie stand auf, dann lachte sie ihn an. „Und nun verzieh dich, ich will mich umziehen! Wir sollten Sonokos Nerven nicht noch weiter strapazieren…“ Shinichi erhob sich ebenfalls, ein sanftes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Dann halt ich dich mal nicht auf… Wir sehen uns... später…“ Ran schob ihn zur Tür raus. „Ja, wir sehen uns…“ Sie sah ihm durchs Fenster nach, wie er mit seinem Vater und seinem besten Freund wieder ins Auto stieg. Und ich werde dich lieben und ehren, in guten und schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit, bis dass der Tod uns scheidet, und darüber hinaus - ganz egal, wie lange oder kurz und wie schön oder schmerzhaft es sein wird. Das verspreche ich dir. Sie seufzte, lehnte sich an die Wand, schaute an die Decke. Sie hatte sich geirrt, heute Morgen. Sie würde nie wieder frei sein. Ihr Herz würde nie jemand anderem gehören als ihm. Und wenn er ging, würde er es mitnehmen… genauso wie sie seines behalten würde. Als Sonoko Minuten später die Eingangshalle betrat, um ihre Freundin zum Frisieren zu holen, fand sie sie immer noch an der Wand lehnend… und lächelnd. Ein Hauch von Erleichterung machte sich in ihr breit. Nervös zupfte er an seiner Fliege herum, zog und zerrte an seinem Anzug. „Grau? Warum hab ich eigentlich 'nen grauen Anzug?“ „Weil schwarz morbide is’, vor allem in deiner Situation. Und in weiß wirkstde so blass.“, bemerkte Heiji trocken, hielt sich den Kopf. Im Gegensatz zu Shinichi war er beim gestrigen Pokerabend mit Yusaku und Kogorô nicht abstinent geblieben… und zahlte heute die Rechnung dafür. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit einem Presslufthammer bearbeitet. Shinichi starrte ihn leicht fassungslos an, dann packte er seinen Freund an der Krawatte, zog ihn zu sich her und verpasste ihm eine Kopfnuss. „Auauauaua! Mir brummt der Schädel doch ohnehin schon!“, jammerte Heiji. „Ein wenig mehr Taktgefühl, wenn ich bitten darf!!!“ Shinichis Tonfall klang vorwurfsvoll. Heiji schaute ihn erschrocken an, bemerkte zu seiner Erleichterung, dass sein Freund ihn angrinste und schmunzelte ebenfalls. Er strich sich über die schmerzende Stelle an seinem Kopf. „Natürlich trägst’de grau, weil dieses fast silbrige Schimmern des Stoffs deine blauen Augen besser zur Geltung bringt, Kudô.“, flachste Heiji, grinste breit. Shinichi starrte sein Spiegelbild an, grinste dann ebenfalls. „Schon besser, Hattori. In meinem Sakko sind Kopfschmerztabletten.“ Heiji verdrehte die Augen. „Du kannst hellsehen, oder?“ „Nein, aber so tief wie du gestern ins Glas geschaut hast, hätte es mich gewundert…“ Shinichi wandte sich um und zog die Augenbrauen hoch, sah seinem Freund zu, wie er eine Tablette mit Wasser runterspülte. „Das hättste mir doch auch früher sagen können.“, meinte Heiji seufzend, massierte sich die Schläfen. „Nein, warum? Du bist selbst Schuld.“ Shinichi grinste amüsiert, dann wandte er sich wieder um, zupfte weiter an der Fliege. „Nu hör’ endlich auf, deine Fliege zu richten, du machst mich ganz krank damit!“, maulte Heiji, stieß seinen Freund etwas zur Seite und begann, an seiner eigenen Krawatte herum zu fummeln. Die Tür ging auf, und Yusaku trat ein. „Es wär dann soweit.“ „Was, jetzt schon?!“ Shinichi schaute ihn leicht entsetzt an. Yusaku blinzelte, schaute ihn belustigt an. „Kriegst du jetzt etwa Nervenflattern, Sohnemann?“ Shinichi verzog das Gesicht, grummelte etwas Unverständliches. Dann trat er an seinem Vater vorbei nach draußen. Er musste an sich halten um nicht von einem Fuß auf den anderen zu treten. Heiji stand neben ihm, seufzte mitfühlend. „Warum regstde dich so auf? Du kennst’se ja schon ewig… is’ ja nich so als wüsstestde nicht, wennsde da heiratest…“ Shinichi wollte ihm deswegen gerade einen schnippischen Kommentar hinwerfen, als die Tür auf ging und die Musik einsetzte. Ran stand in der Tür, am Arm ihres Vaters, gehüllt in einen Traum aus weißer Seide. Es war ein Kleid im Empirestil, oben am Ausschnitt perlenbestickt und mit Spitze besetzt, während den Saum viele kleine Rosenblüten zierten. Sie schien von einem Meer aus weißen Blümchen begleitet zu werden, als sie gemessenen Schrittes zum Altar ging, zog sie in einer kurzen Schleppe hinter sich her. Ihre Haare waren offen, fielen ihr in weichen Wellen über den Rücken und ein zarter Schleier verdeckte ihr Gesicht, wurde gehalten von einer zierlichen Tiara am Hinterkopf, ergänzt durch eine echte weiße Lilie. In den Händen hielt sie einen locker gesteckten Strauß aus ebenfalls weißen Lilien und burgunderroten Rosen. Nie war sie schöner gewesen, nie hatte er sie strahlender gesehen. Er schluckte, nahm nichts mehr wahr, hatte nur noch Augen für sie. Heiji musste beim Anblick des Ausdrucks auf dem Gesicht seines Freundes unwillkürlich schmunzeln. Dann waren sie angekommen, Kogorô gab ihr ihre Hand und nickte ihm zu. Als Shinichi ihre Hand in seine nahm, merkte er, dass ihre Finger mindestens genauso kalt waren wie seine und lächelte amüsiert. Beide wild entschlossen und beide nervlich am Ende, wie’s aussah. „Hey.“, wisperte er leise. „Noch kannst du abhauen…“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Idiot.“ Sie warf ihm einen vergnügten Blick zu, drückte mit eiskalten Fingern seine Hand. Der Priester räusperte sich; dann begann die Trauungszeremonie. Shinichi hatte keine Ahnung, wie lange sie schon vorm Altar standen, als der Geistliche zum Kern der Sache kam. Der alte Mann warf einen prüfenden Blick in ihre Gesichter. Man sah den beiden ihre Freude, aber auch ihre Nervosität an. Der Priester holte tief Luft, dann begann er feierlich zu sprechen. Seine Stimme trug sich durch die ganze Kirche, erreichte auch die letzten Reihen. „Shinichi Kudô, nehmen Sie die hier anwesende Ran Môri als Ihre Frau an und versprechen Sie, ihr die Treue zu halten in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, und sie zu lieben, zu achten und zu ehren, bis der Tod Sie scheidet?“ Er schaute den jungen Mann vor ihm über seine Brille hinweg väterlich an. „Ja, ich will.“ Seine Stimme klang fest, sein Gesichtsausdruck war ernst und entschieden. Ran griff nach seiner Hand. Der Priester nickte wohlwollend, fing von Neuem an. „Ran Môri, nehmen Sie den hier anwesenden Shinichi Kudô als Ihren Mann an und versprechen Sie, ihm die Treue zu halten in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, und ihn zu lieben, zu achten und zu ehren, bis der Tod Sie scheidet?“ „Absolut.“, meinte sie entschlossen, ein fast kämpferischer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Shinichi schaute sie an, grinste. Der Priester schmunzelte amüsiert, ein leises Kichern ging durch die Reihen. Ran blinzelte. Shinichi beugte sich zu ihr rüber, flüsterte ihr ins Ohr. „Ja, ich will reicht eigentlich…“ Das Blut schoss Ran ins Gesicht, ihre Wangen schimmerten rosa. „Ohh… ich meine… Ja, ja, ich will. Natürlich…“ Sie drückte seine Finger noch fester. Er erwiderte es, strich ihr mit dem Daumen über ihren Handrücken. „Jeden einzelnen Tag…“, fügte sie flüsternd an. Nur Shinichi, der neben ihr stand, konnte sie hören, warf ihr einen warmen Blick zu. Sein Herz schlug bis zum Hals. Sag mir, womit hab ich dich verdient? Du bist ein Engel… wenn du keiner bist, dann gibt es sie nicht… Der Geistliche schreckte ihn wieder aus seinen Gedanken. „Nun stecken Sie einander die Ringe als Zeichen Ihrer Treue an.“ Shinichi nickte, griff sich den Ring vom Kissen, das Sonoko, in ihrer Eigenschaft als erste Brautjunger und in Ermangelung eines kleinen Mädchens, ihnen hinhielt, nahm Rans rechte Hand, schaute ihr in die Augen und schluckte, als er ihr mit kalten Fingern den Ring über ihren Finger streifte. Sie lächelte ihn an, griff nach dem zweiten, schob ihm den Ring auf den Finger. Der Priester fuhr fort, beobachtete die beiden vor sich. Selten hatte er ein Paar gesehen, dass so liebevoll miteinander umging, so entschlossen, ihr Leben zu teilen. „Nun reichen Sie einander bitte die rechte Hand.“ Ran und Shinichi taten wie geheißen. Der Geistliche umwand die beiden ineinander gelegten Hände mit einem Band. „Hiermit erkläre ich Sie beide zu Mann und Frau.“ Dann lächelte er Shinichi zu. „Darf ich bitten…?“ Shinichi grinste belustigt, dann wandte er sich seiner frisch Angetrauten zu. Langsam hob er ihren Schleier, legte ihn über ihr Haar, schob eine Hand unter ihr Kinn - und dann küsste er sie. Ran verschränkte ihre Arme in seinem Nacken, schmiegte sich an ihn. Und so standen sie am Traualtar, hielten sich fest; das Gefühl, das sie beide verband, war nur allzu deutlich zu spüren, für alle Gäste sichtbar. Sonoko stand neben Heiji und Kazuha an der Seite und lachte übers ganze Gesicht. Kazuha tupfte sich mit einer Ecke ihres Ärmels eine Träne aus dem Augenwinkel, lächelte aber, lehnte sich an Heiji, der die Szene zufrieden beobachtete. Yukiko begann leise zu weinen, lehnte sich an Yusaku. Sie freute sich und trauerte zugleich. Sie war so froh für ihren Sohn, der heute die Liebe seines Lebens heiratete, und doch versetzte ihr dieses Bild einen schmerzhaften Stich. Sie wusste um die Tragik, die dieses Versprechen mit sich brachte. Sie wusste, dass dieses Paar seinen ersten Hochzeitstag nie erleben würde. Aber dennoch... dennoch bewunderte sie sie. Vor allem Ran, die so bedingungslos zu ihm stand. Ihn ohne wenn und aber annahm, um mit ihm zu leben. Als seine Frau. Und sie wusste, wie viel Shinichi das bedeutete. Eri neben ihr sah sie an. Auch sie hatte Tränen in den Augen, tupfte immer wieder mit Papiertaschentüchern, die ihr Kogorô reichte, die salzigen Tropfen weg. „Das ist nicht fair. Das ist einfach nicht fair…“, flüsterte sie. Kogorô seufzte, schaute zu Yusaku, der nur Augen für das Brautpaar hatte. Sein Gesicht war ernst - doch als er sah, wie Shinichi und Ran lachten, sich umarmten und sich schließlich als frisch vermähltes Paar ihren Gästen zuwandten, vor Glück geradezu strahlten, schlich sich auch auf seine Lippen ein Lächeln. Kogorô tat es ihm gleich. „Du hast Recht, das Leben ist nicht fair. Aber heute mal ausnahmsweise schon.“ Eri starrte ihn fragend an. Er nickte nur nach vorn, wo Shinichi und Ran, Hand in Hand die Treppe herunter stiegen und sich feiern ließen. Die Anwesenden begannen zu applaudieren und jubeln. Und Eri verstand. Für heute, für diesen Tag - war er vergessen, der dunkle Schatten, der hinter ihnen lauerte. Heute erstrahlte die Sonne. Shinichi seufzte leise, griff sich ein Stück Kuchen vom Kuchenbuffet und ging durch das Wohnzimmer nach oben, auf der Suche nach seiner Braut. Sie hatten gerade die letzten Gäste, ihre Eltern, rausgeschmissen – schließlich war es mittlerweile weit nach Mitternacht – und bis gerade eben war sie noch hinter ihm gestanden. Jetzt war sie weg. Er biss ein Stück vom Kuchen ab, griff nach einer unbenutzten Serviette in der Küche. „Ran?“ Er stieg die Treppe nach oben, mit der Absicht, im Schlafzimmer nachzusehen. Und dort fand er sie auch; das hieß, fast. Sie stand draußen auf dem Balkon, betrachtete die Sterne, summte leise vor sich hin. Auf ihrem Gesicht lag ein glückliches Lächeln, ihre Augen funkelten im Glanz des Mondes, in dessen fahlem Licht ihr Kleid noch weißer zu schimmern schien. Wie sie so da stand… sie war einfach wunderschön. Fast wie nicht von dieser Welt. Man sah ihr an, woran sie dachte – an den heutigen Tag. Sie hatte ihn genossen, wirklich genossen – er hatte sie genau beobachtet, und es war ihm nicht entgangen. Der Schatten in ihren Augen war für heute vergessen gewesen… Er hatte es zwar nicht ganz verdrängen können… allerdings hatte auch für ihn dieser Gedanke heute eine sehr untergeordnete Rolle gespielt. Er trat neben sie, seufzte leise, legte seine Hände auf die Brüstung. Ran ließ ihren Kopf gegen seine Schulter sinken. „Kuchen?“ Sie lachte leise, nahm das Stück an, dass er ihr reichte. „Das wievielte ist das heut schon?“ Shinichi seufzte. „Frag nicht. Ich hab’s nicht gezählt. Aber ich kann’s vertragen.“ Er grinste, stopfte sich den Rest in den Mund. Sie lächelte, aß ihres auf. Danach standen sie lange in einträchtigem Schweigen nebeneinander. „Es kommt mir so irreal vor…“ Ihre geflüsterten Worte durchbrachen die Stille. „Es kommt mir so unwirklich vor, dass du… ich kann es mir gar nicht vorstellen, dass sich an diesem Zustand jemals etwas ändern soll. Ich will es auch nicht. Ich will nicht… es ist so schön… so wie es ist. Es war so herrlich heute…“ Shinichi seufzte leise, nahm sie bei den Schultern, drehte sie zu sich. Dann wandte er den Kopf ab, schaute auf zu den Sternen, die hell wie silbrige Perlen auf einem blauschwarzen Samttuch glänzten, am Himmel verstreut waren. Ran tat es ihm gleich, schlang ihre Arme um seinen Oberkörper, lehnte ihre Wange an seine Brust. „Ran…“, murmelte er sanft. „Wir wissen beide, wie es kommen wird. Aber ich will, dass du dir eines merkst - auch wenn ich einmal nicht mehr hier an deiner Seite stehe, schwöre ich dir, bin ich dennoch nicht fort. Ich werde dich nie ganz verlassen, dazu hänge ich zu sehr an dir…“ Er lächelte sie an, drehte gedankenverloren an seinem Ehering, als er versuchte in Worte zu fassen, was er ihr sagen wollte. „Weißt du…“, begann er dann mit ruhiger Stimme, „weißt du, was ich denke? Ich glaube, wirklich… wirklich sterben wir erst, wenn jede Erinnerung an uns verblasst, wenn unser Name nicht einmal mehr Schall und Rauch ist - erst dann sind wir gegangen - denn dann haben wir nie existiert. Aber solange noch ein Mensch an uns denkt, Ran - solange es nur eine Menschenseele gibt, die sich daran erinnert, wer wir gewesen sind - solange leben wir fort, in den Herzen unserer Lieben, in den Herzen derer, die unseren Namen nicht vergessen haben.“ Er wandte sich ihr zu. Sie hob den Kopf, schaute in seine Augen. Sein Blick ließ sie nicht los. „Ich werde immer bei dir sein, solange du an mich denkst… solange… solange du nur an mich denkst…“ Seine Stimme verlor sich zu einem Flüstern. Sanft streichelte er ihr über die Wange, lächelte sie zärtlich an. „Glaubst du mir das?“ „Ja…“, hauchte sie. Seine Worte gaben ihr Mut. Ließen sie Kraft schöpfen. „Und glaub mir, ich werde dich nie, niemals vergessen… niemals…“ Sie schluckte, dann lächelte sie zurück. „Danke…“, wisperte sie. „Nichts zu danken, Frau Kudô.“ Ran lachte hell auf. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, berührte mit ihren Lippen zart die seinen. Und er ließ sich nicht zweimal bitten. „Und jetzt?“, murmelte Ran leise, als sie sich voneinander lösen. „Na, jetzt trag ich dich über sie Schwelle. Nachdem man mir vorhin aus mir unerklärlichen Gründen so vehement verboten hat, dich über die Türschwelle zu tragen, muss eben die Balkontür herhalten.“ Er grinste sie unverschämt an. „Shinichi!“ Erschrocken schrie sie kurz auf, als sie den Boden unter den Füßen verlor. Dann hing sie über seiner Schulter und kicherte. „Solltest du mich nicht eigentlich in deinen starken Armen gentlemanlike über die Schwelle heben?“ Er lachte ebenfalls. „Was hast du gegen meine Schulter? Außerdem bin ich kein Gentleman. Das weißt du doch… das wusstest du, bevor du mich geheiratet hast.“ Sie grinste. „Ich hab vorhin nicht die Haustür gekriegt, also musst du dich jetzt auch mit der Schulter begnügen, meine Teure.“ „Das erscheint mir nur fair.“, bemerkte sie schmunzelnd, hielt sich an ihm fest, als er sie ins Schlafzimmer trug. Kostete den Augenblick aus, in vollen Zügen. Sie waren glücklich, sie beide, und allein das zählte. Ich liebe dich... Die bittere Realität ihres Lebens würde sie bald genug eingeholt haben. Aber noch nicht jetzt. Theater ------- Hallo, liebe Leserinnen und Leser! Ich möchte mich bei euch sehr herzlich für eure Kommentare zum letzten Kapitel danken! Es freut mich, dass euch das Kapitel gefallen hat! :) Nun geht's also weiter im Alltag von Herr und Frau Kudô - ich wünsche gute Unterhaltung, bis zur nächsten Woche! MfG, eure Leira :D __________________________________________________________________________ Kapitel 7: Theater Und so vergingen die nächsten Tage, bis schließlich fast zwei Wochen verstrichen waren. Zuerst schien es Ran, als hätte sich nichts geändert. Sie fragte sich nicht, ob es an ihm lag - ob er es einfach so gut verstecken konnte, wenn es ihm schlecht ging. Mittlerweile waren sie auch standesamtlich getraut, damit alles seine rechtliche Richtigkeit hatte; er ging zur Arbeit, bearbeitete seinen Fall mit dem gleichen Elan, der gleichen Brillanz wie eh und je, das hieß, er versuchte es. Der Serienmörder hatte sich seit dem vierten Mord kein neues Opfer gesucht, und so traten die Ermittlungen mehr oder weniger auf der Stelle. Alle fragten sich warum… keiner kannte die Antwort; außer wohl dem Mörder selbst. Keiner von den anderen ahnte etwas von Shinichis Schicksal. Weder Meguré, Takagi oder Sato, noch irgendeiner der anderen Polizisten. Selbst wenn sie den Hauch eines Verdachtes hätten, dass mit ihm etwas nicht stimmen könnte – so zogen sie wohl eher jede andere Ursache in Betracht, als die tatsächliche. Er hatte es ihnen immer noch nicht gesagt, und sie hütete sich, ein Wort darüber zu verlieren. Wenigstens bei der Arbeit wollte er nicht mit diesen nervösen Blicken bedacht werden, von Menschen beobachtet werden, die nur darauf warteten, dass er schreiend zusammenbrach. Ran verstand das. Sie, und auch all die anderen, die es wussten, hielten dicht. Kein Wort gelangte in die Medien. Kein Buchstabe in der Presse, kein Laut im Fernsehen. Fast war es so, als wäre all das nicht real. Als gäbe es die Diagnose nicht. Als wäre das alles nie geschehen. Mit der Zeit kam es ihr wirklich nur noch vor wie ein böser Alptraum. Je länger es ging, mit jedem weiteren Tag, der normal verstrich, rückte der Schatten weiter weg von ihr. Wer wusste schon, was alles passierte? Wie das Gift wirklich wirkte? Vielleicht hatte es sich wieder geändert, vielleicht hatte es sich doch abgebaut…? Langsam begann sie, sich an diesen Strohhalm zu klammern, mit beiden Händen, wie eine Ertrinkende. Sie wollte es so gerne glauben. Und so kam es, dass ihre Welt zusammenbrach, knappe zwei Wochen nach ihrer Hochzeit. Sie fand ihn im Wohnzimmer auf dem Sofa, aschfahl im Gesicht. Sein Atem ging schwer und flach. Sie war gerade beim Einkaufen gewesen, hatte gutgelaunt die Tür aufgesperrt – und nun stand sie in der Wohnzimmertür, starr wie eine Salzsäule. Die Einkaufstüten glitten ihr aus den Händen, ihr Inhalt verteilte sich auf dem Wohnzimmerfußboden. Ein leises Geräusch hatte sie hergeführt - schon an der Haustür hatte sie ein ungutes Gefühl beschlichen. Sie eilte zu ihm, fühlte seine Stirn. Sie glühte. Ihre Hände fingen zu zittern an, ihr Kreislauf sackte ab als Verzweiflung und Angst, wahnsinnige, schier unerträgliche Angst, sich in ihr breitmachten. Hilflos sank sie auf die Kante des Sofas, strich ihm über die Stirn. Bei ihrer Berührung öffnete er matt die Augen. „Shinichi…?“ Ihre Stimme klang wie ein Wimmern. „Shinichi, was… was ist mit dir…?“ Sie wusste, die Frage war absurd; sie wusste ganz genau, was es war. Sie hatte es nur noch nie gesehen… und es jagte ihr Angst ein. Sie fürchtete sich. Fürchtete um sein Leben. „Es… es geht gleich wieder.“, murmelte er erschöpft. Mehr sagte er nicht. Ran kniff die Lippen zusammen, schaute ihn besorgt an, strich ihm über die Stirn, immer und immer wieder. Ihr Magen verkrampfte sich, ihr wurde regelrecht schlecht, als sie merkte, wie er leiden musste - und sie nichts tun konnte, um ihm zu helfen. „Shinichi, was ist mit dir? Helfen die Medikamente… nicht mehr… Shinichi? Shinichi!“ Ihre Lippen zitterten, erste Tränen rollten ihr aus dem Augenwinkel über ihre Wange. Diese Machtlosigkeit brachte sie an die Grenze dessen, was sie ertrug. Und er sah ihr das an. Er zog an ihrem Arm, sachte. Sie schaute ihn fragend an. „Bitte… bitte geh solange raus… ja? Bitte…“ Seine Stimme klang heiser. Rans Herz schlug ihr bis zum Hals. „Aber…!“ „Bitte, Ran…“ Er schluckte schwer. „Bitte… tu dir das nicht an. Tu mir das nicht an. Glaub mir doch, noch ist es nicht soweit - also bitte - warte draußen…“ „Nein! Das… das kann ich nicht… das darfst du nicht von mir…“ Shinichi krallte seine Hand um ihren Arm, schnappte nach Luft, unterdrückte einen Aufschrei, stöhnte schmerzerfüllt auf. Ran fing an zu schluchzen. „Ran…“, fing er wieder an. Mehr als ein Flüstern brachte er nicht zustande. „Ran ich bitte dich… Bitte… geh doch. Geh!“ Ran schaute auf, als sie den leisen Befehl in seiner Stimme hörte. Er starrte sie an, sie sah ihm an, dass er sich sehr zusammennahm. Und sie sah, dass genau das ihn zusätzlich anstrengte. Er wollte vor ihr nicht leiden. Sie schluckte schwer, dann nickte sie zögernd. Es widerstrebte ihr zwar, aber sie wollte auch nicht, dass er sich noch mehr quälte für sie. Sie beugte sich vor, drückte ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Okay.“, wisperte sie leise. „Okay…“ „Da- danke…“ Sie warf ihm einen besorgten Blick zu - doch dann stand sie auf, mit Bewegungen die der einer Marionette gleichkamen, und ging. Machte die Wohnzimmertür hinter sich zu und wartete auf dem Gang, voller Bangen. Lehnte an der Wand, die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, sich fragend, warum sie tat, was er von ihr verlangte. Sie wollte bei ihm sein. Sie wollte, dass es aufhörte. Sie ertrug das nicht. Diese Qual in seinen Augen… Stumme Tränen rannen ihr übers Gesicht, sie litt mit ihm, spürte seine Schmerzen fast körperlich. Als er dann, immer noch bleich im Gesicht, heraustrat, nach einer Zeit, die ihr lang vorkam wie die Ewigkeit, warf sie sich aufschluchzend in seine Arme, krallte sich an ihm fest. Er legte seine Arme um sie, drückte sie an sich. Und erst da kapierte sie es wirklich. Erst da wurde es real für sie, erst jetzt verstand sie, dass ihr Strohhalm nichts weiter als ein Trugbild gewesen war, eine Fata Morgana. Erst jetzt, wo sie es gesehen hatte. Zeugin dessen geworden war, was das Gift mit ihm machte. Erst jetzt wurde ihr klar, was er veranstaltete - wohin er ging, wenn er sagte, er müsse etwas nachlesen, nachschauen, einkaufen, was auch immer. Was dann los war. Shinichi ging, wenn sich die Anfälle ankündigten, damit sie es nicht sah. Er spielte Theater. Und sie hatte sich wieder einmal täuschen lassen von ihm. Sie hatte sich täuschen lassen wollen. Sie hatte ihm alles geglaubt, jede Ausrede, nur um nicht sehen zu müssen, was los war. Um verdrängen zu können, was geschehen würde. In all den Jahren mit Conan hatte sie anscheinend nichts gelernt. Bittere Tränen rannen über ihr Gesicht. Es war wahr. Das hier war die Realität. Er würde sie verlassen. Er würde wirklich gehen. Gehen, an einen Ort, von dem es keine Rückkehr gab. Gehen, an einen Ort, an den sie ihm nicht folgen konnte. Sie ließ sich ein wenig nach unten sinken, damit ihr Kopf auf seiner Brust zu liegen kam, lauschte seinem Herzen, hörte es pochen - und große Beklemmung machte sich ihn ihr breit. Unwillkürlich begann sie zu rechnen. Zählte die Tage. Die Tage, die sie ihn noch hatte. Kalkulierte das Datum… den Tag… an dem… Irgendwoher wusste er es. Sie fragte sich noch lange danach, woher er es hatte wissen können, was sie in diesen Sekunden dachte. Er sagte nur zwei Wörter. „Tu’s nicht.“ Sie biss sich auf die Lippen, sah auf. Sah in seine blauen Augen, die so voller Trauer waren. Voller Schmerz. Und voller Verzweiflung. Dann räusperte er sich, in seinen Augen trat etwas Entschlossenes, seine Stimme war leise, doch fest, als er seine Bitte, sein Verlangen aussprach. „Versuch nicht, es auszurechnen… glaub mir, ich war auch schon soweit, aber es bringt nichts… es macht es nur schlimmer… lass es… bitte…“ Sie schluckte, dann nickte sie - zog sich wieder hoch, fasste seinen Kopf mit beiden Händen und küsste ihn. „Ich versprech’s...“, wisperte sie leise. Sie schluckte schwer. „Ich versprech’s, ich mach’s nicht wieder…“ Sie lehnte an ihm, ihre Hände auf seiner Brust und schaute ihm in die Augen; dann stupste sie mit der Nase an sein Kinn. „Mach dir keine Gedanken, ich werd’s nie wieder versuchen, ich schwör es…“ Sie seufzte leise. Er nickte, lächelte dankbar, gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Langsam löste sie sich von ihm, ließ ihn los, versuchte ebenfalls zu lächeln, ihn aufzumuntern. „Los, ruf den Arzt an… da muss doch etwas zu tun sein. Es kann doch nicht sein, dass du…“, murmelte sie dann leise. Shinichi ließ sie los, nickte gedankenverloren. „Ja, da hast du wahrscheinlich Recht.“ Er seufzte, griff sich das Telefon und verschwand. Sie sah ihm hinterher, in ihren Augen ein Hauch von Schwermut. Dann verschwand sie in der Küche, um das Mittagessen vorzubereiten. Kurz darauf, mit der Anweisung, die Dosierung seiner Schmerzmittel zu erhöhen, trat er auf den Weg in sein Büro in die Eingangshalle, immer noch sein Schicksal verfluchend, als er im Briefschlitz an der Haustür etwas Weißes bemerkte. Er runzelte die Stirn, in seinem Mangen begann es unangenehm zu kribbeln. Shinichi ging hin, zog an der Papierecke, fischte einen Brief aus dem Postschlitz. Kein Absender. Keine Briefmarke, kein Poststempel. Nur eine Adresszeile. An den lieben Herrn Detektiv Shinichi erstarrte. Allein Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Er ist zurück… „Nein!“, hauchte er tonlos, begann ohne nachzudenken das Schreiben aufzumachen, riss den Umschlag auf und zog eine Karte sowie einen weißen Bogen Papier heraus. Es war eine Glückwunschkarte. Zur Hochzeit die besten Wünsche Er klappte sie langsam auf, schluckte schwer. Lieber Herr Detektiv – Lassen Sie mich doch diese Stelle nutzen, um Ihnen meine zutiefst empfundenen Glückwünsche zu Ihrer Eheschließung Ausdruck zu mitzuteilen! Was gibt es denn Stärkeres als das Band der Liebe, das zwei Menschen miteinander vereint…? Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau nur das Beste für Ihre gemeinsame Zukunft! Eine auffallend hübsche Frau haben Sie da übrigens, ich gratuliere. Shinichi presste seine Kiefer zusammen, so fest, dass es schmerzte. Woher wusste der Kerl…?! Beobachtete er ihn? Wenn ja, dann war ihm wohl ein Detail aus seinem Leben bisher entgangen… Ihm war übel. Er ließ die Karte fallen, faltete den Brief auseinander und las weiter. Lieber Herr Detektiv, ich teile Ihnen hiermit mit, Ihre Ferien sind nun vorbei. War es nicht äußerst zuvorkommend von mir, Ihnen eine kleine Ruhephase einzuräumen? Nun, wie dem auch sei; ich möchte hiermit meiner zutiefst empfundenen Zufriedenheit über Ihre letzten Ermittlungen und kleinen Erfolge Ausdruck verleihen! Bravo! Hervorragend! Nur immer weiter so! Sie scheinen doch noch nicht zum alten Eisen gehören, wie ich schon befürchtet hatte. Also könnte das hier doch noch interessant werden. Wir werden sicher bald wieder voneinander hören, lieber Herr Detektiv… In diesem Sinne… Ein Optimist ist ein Mensch, der ein Dutzend Austern bestellt, in der Hoffnung, sie mit der Perle, die er darin findet, bezahlen zu können. Hochachtungsvoll, Ihr Kontrahent, der Perlenmörder Ran trat in die Eingangshalle. „Was sagt der Arzt?“, fragte sie vorsichtig. „Dosierung erhöhen.“, murmelte er abwesend. Immer und immer wieder überflog er die Zeilen, las er den Brief des Serienmörders. Er biss sich auf die Lippen, zerzauste mit seinen Finger seine Haare, fuhr sich müde über die Augen Das darf nicht wahr sein! Wie dreist kann man eigentlich sein? Selbst für einen Mörder... Ran zog die Augenbrauen hoch. „Shinichi? Was… was hast du da?“ Sie trat näher. Er fuhr zusammen, versteckte den Brief hinter seinem Rücken. „Nichts!“ „Lüg mich nicht an.“ Ihr schwante Schlimmes. Sie war sich fast sicher, dass der Brief von diesem Verbrecher stammte… seine Reaktion war eindeutig gewesen. Seine ganze Körperhaltung hatte von Anspannung und Nervosität gesprochen, ja, ein Stück weit sogar von Angriffslust. Shinichi war wieder drin, im Netz dieser Spinne. Gefangen in den klebrigen Fäden, unfähig, sich zu befreien. Ran ging zu ihm, griff hinter seinem Rücken. Er wehrte sich, wollte sie fast wegdrücken, erstarrte, als er merkte, dass sie einen Teil des Briefs zu fassen gekriegt hatte. So standen sie da, er mit beiden Händen hinter dem Rücken, sie, ihn umklammernd. „Ran, bitte, du willst das nicht lesen…!“ Er sah sie bittend an. Sie hielt seinem Blick stand. „Shinichi, war er es? Ist der Brief von ihm? Von diesem Mörder?!“ Ihre Stimme klang leise. Er schluckte, wandte den Kopf ab. „Shinichi, verdammt… verstehst du denn nicht?“ Sie ließ ihn los, griff ihn am Kragen, starrte ihn flehend an. „Shinichi kapierst du es nicht…?“ Er schwieg immer noch. „Er will dich kaputtmachen…“ Sie flüsterte es nur. Er fing an seinen Kopf zu schütteln. Ran hielt ihn fest. „Er will dich in den Wahnsinn treiben, Shinichi, er spielt mit dir, er sieht dir zu, wie du zugrunde gehst an diesem Fall, du musst aufhören!“ „Ran, nein, das… das geht nicht.“ „Verdammt noch mal sieh dich doch an!“ Sie schrie jetzt. „Du machst uns allen was vor! Du liegst im… im Sterben…“ Ihre Stimme verlor sich in einem Wimmern, die ersten Tränen rollten über ihre Wange. „Ich versteh ja, dass du es brauchtest… um dich gebraucht zu fühlen. Ich weiß, dass das Detektivsein ein Teil deines Lebens ist… aber es geht so nicht mehr weiter, verstehst du das nicht? Sie dich doch an, Herrgottnochmal!“ Sie atmete schwer, hatte ihn losgelassen. Er stand da, schaute sie verbittert an. „Das sagst du nur, weil du… weil du vorhin… weil du’s jetzt mal gesehen hast, wie es ist… Aber als du es nicht wusstest, hat es dich doch auch nicht gestört. Und im Ernst Ran; du kannst doch nicht wirklich von mir verlangen, ihn damit durchkommen zu lassen, jetzt wo ich mal wieder Herr über mich bin, kannst du doch nicht-“ Ran starrte ihn fassungslos an. „Weil du mir etwas vorgespielt hast, mein Lieber! Wie damals schon! Ich habs nicht gesehen, es tut mir Leid, aber ich brauch dir wohl nicht sagen, was für ein brillanter Schauspieler du bist!“ Er wandte den Kopf ab. Das hatte gesessen. Ran schluckte, versuchte sich wieder unter Kontrolle zu kriegen. „Und egal ob... du dich jetzt dem Fall wieder zuwenden kannst, oder willst, oder nicht... Shinichi, du musst doch zugeben, dass dieser Fall dich zu sehr strapaziert… ich will nicht, dass du daran zerbrichst. Ich will dich doch so lange wie möglich noch haben… also bitte, lass diesen Fall bleiben, halt dich fern von diesem Psychopathen und versuche, für mich, noch…“ „… am Leben zu bleiben?“ Er schluckte, schüttelte bedauernd den Kopf. „Ran, du weißt wie es kommen wird. Der Fall…“ „… beschleunigt es aber…!“ „Ich kann ihn nicht abgeben. Bitte versteh doch…“ Sie schaute ihn entsetzt an. „Nein. Ich schau mir nicht an, wie du vergehst in dem Versuch, diesen Menschen zu stoppen. Ich liebe dich. Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich zusehe, wie du dir das Messer selber zwischen die Rippen stößt.“ Ran schüttelte den Kopf. „Also entweder rufst du jetzt Meguré an und sagst ihm, dass du raus bist aus dem Fall oder ich tu’s. Und dann erzähl ich ihm von den Briefen.“ Sie schaute ihn fest an. Sie zitterte am ganzen Körper, aber ihre Stimme war klar und entschlossen. Er wankte taumelnd einen Schritt zurück. Sie blickte ihn bedauernd an. „Es tut mir Leid…“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Das kannst du nicht. Das darfst du nicht!“ „Ich muss.“ „Nein!“ Er schrie sie an. Ran zuckte zurück, erschrak bei dem Blick in seine Augen. „Shinichi…!“ „Du darfst das nicht tun! Das darfst du nicht! Das ist mein Fall, du hast nicht das Recht, ihn mir wegzunehmen… ich muss ihn noch kriegen, ich kann doch nicht zulassen, dass er noch ewig weitermordet, du hast den ersten Brief gelesen…“ „Ja, aber du anscheinend nicht! Er fordert dich heraus! Er spielt mit dir, Herrgott noch mal, Shinichi, kapierst du das denn nicht? Er spielt mit dir…!“ „Aber nicht mehr lange.“ Ran starrte ihn verzweifelt an. „Gut, du lässt mir keine Wahl.“ Sie drehte sich um, griff zum Telefon. Er rannte ihr nach, umklammerte mit beiden Händen ihre Finger, die den Hörer hielten. „Ran, bitte…! Bitte…! Diesen einen Fall noch… Ich hab doch gesagt, danach hör ich auf, aber diesen einen Fall musst du mir noch lassen!“ Er bettelte - und das schockierte sie zutiefst. Sie blickte ihn an. Ins Gesicht, in die Augen. Sie glänzten, schienen fast ein wenig fiebrig. Sein Teint war immer noch blass, seine Lippen blutleer. Der Anfall hatte ihn sichtlich mitgenommen. Ihn dem Tod wieder ein Stückchen näher gebracht. „Du bringst dich um damit…“ Erneut begannen Tränen ihre Augenwinkel zu verlassen. „Shinichi, ich meine es doch nur gut mit dir… ich mein es doch nur gut… ich will dich einfach so lange wie möglich bei mir haben, und wenn ich dich dann sehe… diese Qualen, die du…“ Sie strich ihrem Mann mit einer Hand über die Wange, ließ sie an seinem Hals liegen, lehnte ihre Stirn an seine. „Verdammt, ich will dich nicht verlieren, verstehst du! Gegen das Gift kann ich nichts tun, aber ich will nicht mit ansehen, wie du jedes Mal nach Hause kommst, mit den Gedanken bei der Leiche, gepeinigt von Selbstvorwürfen, erschöpft von der Suche nach Spuren und Beweisen… du kannst kaum essen, kaum schlafen, in dir herrschen Aufruhr und Hektik und Chaos, fast ständig, und das ist nicht gut für dich… und dann noch diese Briefe, die dich noch weiter in dieses…“ Sie schluchzte auf. „… Loch stürzen, und ich will das nicht… ich kann dich nicht so sehen… ich will dass du zur Ruhe kommst. Ich will, dass du dein Leben noch genießt… ich will dich nicht so sehen, wie du dich quälst, mental und körperlich, Shinichi, begreifst du das…?!“ Shinichi schluckte schwer, nahm ihr das Telefon aus der Hand, legte es auf die Gabel zurück. Dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände. „Ja, das verstehe ich…“ „Es geht dir doch gar nicht nur um den Fall...“ Er schloss die Augen, atmete tief aus. „Du hast Recht. Du musst mich auch verstehen, ich brauche diesen Fall. Das war es, was ich immer getan hab... das ist nicht mein Beruf, sondern meine Berufung, und meinen letzten Fall will ich so nicht enden lassen. Ich brauche ihn… und ich will ihn auch. So darf er nicht davonkommen...“ Sie wimmerte auf, wandte ruckartig den Kopf ab. Er seufzte leise, in seinen Zügen lag Bedauern. „Ran, du verstehst das nicht… ich brauche ihn, um mich nicht jetzt schon so nutzlos zu fühlen. Diese Arbeit war immer Teil meines Lebens, ich kann sie nicht so unfertig liegen lassen… Und ich brauche dieses Gefühl… ich muss diesen Verbrecher finden… ich kann nicht zulassen, dass er gewinnt. Ich kann diese Herausforderung nicht mehr ausschlagen, ich hab sie doch schon längst angenommen. Ich brauche dieses Gefühl von Achtung, von Bewunderung, das man mir entgegen bringt. Ran, kannst du das denn nicht begreifen…? Nimm mir den Fall jetzt, und…“ Sie vergrub ihren Kopf an seinem Hals, weinte hemmungslos. „Ich... ich versprech dir, ich höre auf nach diesem Fall, aber diesen einen brauch ich einfach noch, um loszukommen… bitte… nimm ihn mir nicht weg… nimm mir dieses Gefühl nicht weg… noch zu etwas zu gebrauchen zu sein…“ Seine Stimme klang flehend. „Ran, ich kann doch nicht zusehen, wie er junge Frauen umbringt… du kannst doch nicht wirklich von mir verlangen wollen, dass ich nichts tue… dagegen? Dass ich nicht helfe, wo ich doch helfen kann? Ran…? Was meinst du, wie sich das anfühlen würde für mich… schlimm genug, dass ich es jetzt erst begreife... ich hab mich zu lange gehen lassen... wenn ich nicht so... egoistisch... gewesen wäre, ein wenig weniger an mich selber und ein wenig mehr an den Fall gedacht hätte, dann...“ Spätestens jetzt wusste sie, dass sie wieder verloren hatte. Sie würde ihm diesen Wunsch nicht abschlagen können. Sie klammerte sich an ihm fest, schluchzte auf. Er schob sie vorsichtig von sich, schaute sie bestürzt an. „Ran… es… es tut mir Leid, Ran… bitte…“ Sie hob den Blick, versuchte ein Lächeln. Verzweiflung lag in ihren Augen. „Nur noch dieser eine…?“ „Das hab ich dir doch schon vor der Hochzeit…“ „Dann hörst du auf?“ Er nickte schwer. „Ja.“ „Schwöre!“ Shinichi blinzelte. „Huh?“ „Du sollst schwören, dass dann wirklich Schluss ist!“ Langsam hob er seine Hand. „Ich schwör’s. Dieser eine noch, und dann ist Schluss. End… endgültig.“ Sie schniefte. „Also schön…“ Ran wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Aber du wirst besser auf dich aufpassen. Du musst essen, trinken und dich auch mal ausruhen. Du weißt, dass dir dein Körper Missachtung nicht mehr verzeihen wird… bitte… denk zumindest ein wenig an mich…“ Shinichi schluckte, nickte dann. „Ja, ich mach’s. Ist gut…“ Dann drückte er sie an sich. „Aber bitte hör auf zu weinen, ja? Ich kann dich nicht so traurig sehen, Ran… bitte hör auf…“ Sie schmiegte sich an ihn, seufzte leise. Wenig später sah sie ihm hinterher, als er mit dem Wagen zu Heiji fuhr. Leise schüttelte sie den Kopf. „Wow. Das is heftig.“ Heiji schaute von dem Brief auf, starrte Shinichi an, der auf seinem Bett saß und aus einem Pappbecher heißen Kaffee trank. „Ja, nicht wahr? Wir haben alle umsonst gehofft… er ist noch da draußen, und er ist lange noch nicht fertig, wie’s aussieht. Und noch dazu ist heute Samstag… das heißt, wenn er seinem Muster treu bleibt, gibt’s morgen wieder…“ Heiji stöhnte auf, legte den Kopf in den Nacken. „Scheiße.“ „Du sagst es. Bestimmt passiert morgen was… aber wo? Wo??? Wir können nicht in ganz Tokio Polizisten in die Bars schleusen, um auf einen Mord zu warten, an einem Opfer, das wir nicht kennen, von einem Mörder, der uns genauso unbekannt ist!“ Er war aufgestanden, tigerte durch den Raum. „Ganz davon zu schweigen, dass wir dann Meguré von den Briefen erzählen müssten und dann entzieht der mir den Fall… um mich nicht zu gefährden, und wegen persönlicher Befangenheit oder wie man das nennt.“ Er pfefferte den leeren Pappbecher in den Mülleimer. „Shinichi!“ Heiji starrte ihn an. „So kannst du doch nicht ernsthaft denken…? Du musst doch im Sinne…“ „… der Opfer handeln, nicht um mein Selbstwertgefühl aufzupolieren, meinst du?“ Shinichi schaute ihn spöttisch an. Dann wurde seine Miene schlagartig ernst, fast beschämt blickte er zu Boden. „Und du hast da auch ganz Recht… das ist aber genau das Problem…“ Er ließ sich wieder aufs Bett sinken, vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Heiji starrte ihn bestürzt an. Dein Selbstwertgefühl aufpolieren…? Das hattestde doch noch nie nötig… „Heiji?“ Shinichis Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Sein Freund streckte ihm sein Handy entgegen. „Ruf du ihn an und sag’s ihm. Die Nummer ist eingespeichert. Ich kanns nicht…“ Heiji nahm ihm das Handy aus der Hand, schaute die zusammengesunkene Gestalt auf seiner Bettkante an. „Ich hätte es Ran heut mittag schon machen lassen sollen... dann hätte ich mich mit ihr nicht so streiten zu brauchen...“ Er seufzte schwer. Was macht das Leben nur aus dir, Kudô… für was hast du das verdient? Soviel Leid, so viele Schicksalsschläge in so kurzer Zeit… Eigentlich hätte man meinen können, Conan allein wäre schon Strafe genug für was auch immer für Verfehlungen, die du verbrochen hast… In ihm wühlte es. Er konnte verstehen, warum Shinichi den Fall nicht aufgeben wollte. Er wollte sich noch nützlich fühlen. Gebraucht werden. Er würde bald genug nicht mehr können, deshalb wollte er etwas bewegen, solange er noch konnte. Warum trifft’s immer dich?! Warum zur Hölle trifft es dich?? Kraftlos sank er neben ihm aufs Hotelbett. Shinichi warf ihm einen deprimierten Blick zu. „Nun mach schon. Ich werd’s überleben…“ Dann biss er sich auf die Lippen, verstand erst jetzt, was er gerade von sich gegeben hatte. Er lachte bitter auf, wandte den Kopf ab, in seinen Augen stumme Verzweiflung. „Heiji, nun ruf endlich an…!“ „Aber…“ „Kein aber. Du hast es gerade selbst gesagt, es ist das einzig Richtige. Um mein Ego kann es hier nicht gehen. Die sollen zusehen, dass sie es irgendwie gebacken kriegen, ihn morgen Nacht zu schnappen.“ „Glaubst du daran?“ Shinichi schaute ihn überrascht an. „Nein.“ Er seufzte. „Nein, nicht wirklich… ich weiß nicht… aber ich glaub nicht… Du?“ „Nein.“ Heiji atmete tief aus. „Nein, ich glaub’s auch nicht. Aber andererseits…“ „Du sagst es. Andererseits.“ Heiji stand auf, fing nun seinerseits an, im Kreis zu laufen. Immer wieder fiel sein Blick auf Shinichi. Er sah sehr blass aus, wirkte unnatürlich erschöpft. Er blieb stehen, musterte ihn von oben herab eindringlich. Shinichi sah verwirrt auf. „Ist was?“ „Du… du siehst schlecht aus.“, murmelte Heiji zögernd. Er biss sich auf die Lippen. „Kudô… hattest du…?“ Der junge Detektiv seufzte leise, starrte kurz an die Zimmerdecke. „Heiji, mein Freund, willst du das denn wirklich wissen?“ Shinichi schaute ihn schon fast mitleidig an. Heiji schüttelte stumm den Kopf. „Nein… Eigentlich nich’…“ „Dann tu uns beiden den Gefallen und frag nicht.“ Er ließ sich nach hinten sinken, verschränkte gedankenverloren die Arme hinter dem Kopf. „Ruf ihn lieber endlich an, Hattori. So eine Großaktion organisiert sich nicht in fünf Minuten.“ Heiji nickte langsam, suchte die Nummer aus dem Verzeichnis und wählte. Dann wartete er. „Kommissar Meguré?“ Er lauschte kurz. „Ja, ich bin’s, Heiji. Ich… ich muss ihnen etwas mitteilen…“ Er biss sich auf die Lippen, warf einen Blick auf die Gestalt seines Freundes, der immer noch auf dem Bett lag und ihn nicht anschaute. „Ich habe einen Tipp bezüglich unseres Serienmörders bekommen. So wie es aussieht, schlägt er morgen Abend wieder zu…“ Er lauschte in den Hörer. „Wo… woher ich diese Information habe…?“ Der junge Mann aus Osaka biss sich auf die Lippen. Kudô… „Der Mörder hat sich bei… bei… mir gemeldet.“ Es raschelte laut, als Shinichi hochfuhr. Heiji schluckte, starrte auf den Teppichboden. „Ja, genau. Ein Brief. Lag hinter meiner Tür, jemand muss ihn unterm Türschlitz durchgeschoben haben. Ja, Kudô hat ihn auch schon gesehen. Ja, das ist der erste seiner Art.“ Shinichi war aufgestanden, starrte ihn an, mit einem Ausdruck auf dem Gesicht, der Heiji sagte, dass sein Freund ihn jetzt für komplett durchgedreht hielt. „Ja, ich pack ihn ein und komm aufs Revier.“ Er räusperte sich. „Ja, den Brief nehm’ ich auch mit, keine Sorge.“ Er legte auf, gab Shinichi sein Handy zurück. „Hast du den Verstand verloren!?“, wisperte er fassungslos. Der schaute ihn immer noch mit einem Ausdruck höchsten Unverständnisses auf dem Gesicht an. Heiji seufzte leise. „Kudô… der Täter redet dich nicht spezifisch an, also dachte ich mir, wir können uns das leisten. Wir zeigen nur dieses Papier her, nicht den ersten Brief, nicht die Karte. Beides hilft ja ohnehin nichts. Außerdem ist es dein Fall… du solltest ihn beenden dürfen.“ Er seufzte, nahm ihm den Brief wieder aus der Hand, faltete ihn und ließ ihn in seiner Sakkotasche verschwinden. „Und bevor du noch was sagst… du… du bist für die Ermittlungen viel wichtiger als ich. Gegen dich konnt’ ich sowieso noch nie anstinken. Also isses für alle Beteiligten so das Beste, glaub mir.“ Er grinste schief. Shinichi schüttelte den Kopf. Zuerst langsam, dann immer heftiger. „Ich kann nicht glauben, dass du das getan hast… du hast ihn angelogen. Du hast ihn wegen mir angelogen?“ Heiji lächelte schief. „Stimmt nur teilweise. Ja, ich hab ihn angelogen; aber nicht wegen dir, sondern weil ich finde, dass lieber ich geh’ als du, wenn einer geh’n muss, weil du der schlauere von uns beiden bist. Das ist wirtschaftliches Denken.“ Shinichi blickte ihn undurchdringlich an. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll…“ „Du musst nichts sagen. Ich weiß, was es dir bedeutet. Und ich will nicht schuld sein, dass du dich nutzlos fühlst…“, murmelte Heiji leise. „Denn das bist du nicht. Das wirst du nie sein.“ Shinichi schluckte. „Danke… Hattori.“ „Schon gut.“ Sie traten aus der Tür. Heiji hielt inne. „Ach, Shinichi…“ Der Angesprochene wandte ihm den Kopf zu, schaute ihn fragend an. „Hm…?“ „Merk dir aber, verdammt noch mal, dass du nich’ nur Detektiv bist. Ran hat nich’ den Detektiven geheiratet. Und du bist nich’ nur deshalb mein Freund, weil du Detektiv bist. Für uns beide bist du als Mensch wichtig! Hör jetzt endlich auf, dich nur über deinen Beruf zu definieren, ich bitte dich…! Seit wann hast du solche Anwandlungen? So warste doch früher nich’...!“ Er klang erregt. Shinichi schluckte, schaute ihn betroffen an. „Heiji…“ „Das is’ mein Ernst.“ Der Osakaer Detektiv schaute ihn nur kurz an. Dann ging er los; Shinichi folgte ihm gedankenverloren. Draußen vor dem Hotel kam ihm ein anderer Gedanke. Zögernd hielt er Heiji erneut sein Handy hin. „Bevor wir aufs Revier fahren… du darfst Ran sagen, was du angestellt hast – schließlich kennt sie die Briefe. Sie muss informiert sein.“ Heiji verdrehte die Augen. „Warum ich?“ „Weil ich mich mit ihr heut schon wegen genau derselben Sache gestritten habe…“ Der Polizeichef aus Osaka seufzte, dann nahm er das Handy entgegen, erklärte einer einigermaßen aufgebrachten Ran den neuen Sachverhalt, während sie nach draußen gingen. Ran erwartete ihn an diesem Abend bereits an der Haustür. „Und ich soll glauben, dass du Heiji nicht dazu inspiriert hast?“ Sie starrte ihn verärgert an, als er neben ihr ins Haus trat. „Ja, bitte. Denn es ist tatsächlich nicht auf meinem Mist gewachsen. Oder willst du mich als Lügner hinstellen? Oder als jemanden, der seinen besten Freund bewusst zum Lügen anstiftet?!“ Ein bedrückter Ausdruck trat in ihre Augen. „Nein… natürlich nicht…“ Dann wurde ihre Mimik wieder etwas verärgerter. „Du hast aber Meguré auch nicht vom Gegenteil überzeugen wollen, oder?“ Sie schnaubte. Er drehte sich um, schaute sie konsterniert an. „Dann hätte ich Heiji als Lügner hingestellt. Wie hätte er denn dann dagestanden? Ein lügender angehender Polizeichef?“ Er schlüpfte aus seinen Schuhen. „Trotzdem. Du hättest…“ Er sah auf. Leichte Ungeduld spiegelte sich in seinen Zügen wieder. „Ran, das hatten wir doch heute Vormittag schon. Dieser Fall noch, und dann ist Schluss. Was wir mit dem Rest unserer Zeit anfangen, bestimmst dann du ganz allein. Okay?“ Er schaute sie schuldbewusst an. „Ich bin momentan wohl schwer auszuhalten, oder…?“ Langsam schlüpfte er in seine Pantoffel, blickte betrübt auf den Boden. „Ran hör zu… es… es tut mir Leid, ich sollte nicht so in die Luft gehen… Ich will mich doch auch gar nicht mit dir streiten… ich liebe dich, und ich kann dich ja verstehen, so ist es nicht… aber… aber…“ Der Ausdruck in ihren Augen wurde milder. Sie wusste ja, sie hatte heute Morgen schon verloren. Aber als sie von Heiji erfahren hatte, dass er nun möglicherweise an Shinichis statt aus den Ermittlungen ausgeschlossen wurde, da war ihr ihre verpasste Chance klar geworden. Andererseits… Shinichi brauchte diesen Fall. Diesen einen noch. Einen weiteren - würde sie auch gar nicht zulassen. „Nur noch diesen einen, Ran…“ Sie seufzte geschlagen, ließ ihren Blick über sein Gesicht gleiten, presste die Lippen zusammen. „Hab ich eigentlich eine Wahl?“ Er lächelte sanft. „Nein, hast du nicht…“ Langsam ging er auf sie zu, zog sie in seine Arme, atmete erleichtert auf, als er merkte, wie sie sich an ihn schmiegte. Er gab ihr einen Kuss auf die Schläfe, strich ihr sanft über den Rücken. „Ich versprech’s dir, Ran… wenn der Fall vorbei ist, gehör ich ganz und gar dir.“ Seine Stimme verlor sich zu einem Flüstern. Ran schloss die Augen, genoss den Klang seiner Stimme, den Hauch seines Atems in ihrem Gesicht. Sie vergrub ihren Kopf an seiner Schulter, atmete tief ein, schlang ihre Arme um ihn und drückte sich an ihn. Ja, aber… hoffentlich ist das bald vorbei… sonst hab ich nicht mehr viel von dir… Wunsch ------ Guten Tag liebe Leserinnen und Leser! Vielen, vielen Dank für eure Kommentare zum letzten Kapitel! *freu* Ehrlich, ich kanns wohl nicht oft genug sagen, wie sehr ich mich darüber freue. Nun- also weiter geht's im Text; und im Fall. Ich wünsche schönes Lesen, bis nächste Woche, Eure Leira :) __________________________________________________________________________ Shinichi saß am Küchentisch, schlürfte lautstark seinen heißen Kaffee und blätterte eine Seite um. Es war ein Morgen wie jeder andere – der erste Gang seines Frühstücks war wie meistens eine Tasse sehr starken Kaffees, und vor ihm lag wie immer die Tageszeitung. Wenn Ran dann kam und Frühstück machte, hatte er meistens den ersten Teil schon durchgelesen und die erste Tasse schon intus. Ran stand an der Tür und schaute ihn an. Beobachtete, wie seine Augen über die Zeilen glitten, wie er mit drei Fingern die Ecke der nächsten Seite schon festhielt, sie gedankenverloren knetete. Wie er immer wieder die Kaffeetasse an seine Lippen setzte, sich manchmal über die Haare oder die Augen strich. Wie die Sonne in seinem Rücken aufging, seinen Schatten auf den Tisch vor ihm warf. Lauter frische Gerüche strömten in ihre Nase… frisch zu bereiteter Kaffee, der leicht herbe Geruch des Aftershaves, sein Shampoo; die Luft, die den Duft von Nadelbäumen aus dem Garten hereintrug, ja selbst die Zeitung roch frisch nach Druckerschwärze. Sie lächelte. Aber dann fiel ihr das Lächeln fast von den Lippen, nur ein Blick hatte gereicht, um sie in die Realität zurückzuholen. Der Kalender. Er sah sie aus dem Augenwinkel, bemerkte, wie erschrocken sie dreinblickte. „Guten Morgen, Ran.“ „Guten Morgen…“, wisperte sie, rührte sich nicht von der Stelle. Das Lächeln, das sie sich jetzt aufsetzte, sah gezwungen aus. Shinichi seufzte, schaute sie traurig an. „Warum tust du dir das an…? Warum denkst du immer… daran? Sollte es nicht langsam… Gewohnheit sein...?“ „Shinichi, ich…“ „Sag’s mir. Warum?“ Ran schluckte, schloss kurz die Augen. Er schlug die Zeitung zu, schaute sie abwartend an. „Ich kann nicht anders…“ „Ran.“ Er schaute sie durchdringend an. Ran ließ ihre Augen über ihn gleiten, schluckte, räusperte sich, ehe sie zu sprechen begann. „Der Tag, an dem du morgens nicht mehr da sitzt…“, begann sie dann leise, „wie soll ich ihn anfangen…? Was soll ich tun, wenn ich morgens reinkomme, und dann der Kaffee nicht gekocht ist, die Zeitung nicht geholt ist, wenn keiner hier sitzt und sagt: Guten Morgen, Ran…; und dabei lächelt?“ Sie schluckte, presste ihre Lippen zusammen. Sie wollte nicht weinen, nicht schon wieder. „Was soll ich tun, wenn es morgens hier unten nicht mehr nach Frische riecht… nach frischem Kaffee, nach Bäumen und Druckerschwärze, nach deinem Aftershave… nach dir? Was soll ich morgens tun, wenn du nicht mehr da bist?“ Sie flüsterte diese Worte nur, aber er hörte ihre Verzweiflung, die aus ihr sprach. „Was nur? Was...?“ Sie stand da, hauchte dieses Wort. Es brach ihm fast das Herz. Langsam stand er auf, ging um den Tisch herum, nahm sie in die Arme. Lange Zeit sagte er nichts; das Ticken der Uhr und das gelegentliche Brodeln der Kaffeemaschine waren die einzigen Laute, die die Stille durchbrachen. Schließlich räusperte er sich, begann zu reden, flüsterte leise in ihr Ohr, während er sie immer noch festhielt. „Dann wirst du hereinkommen und das Fenster aufmachen, um die frische Morgenluft herein zu lassen; danach setzt du den Kaffee auf. Als nächstes holst du die Morgenzeitung aus dem Postkasten, und wenn du zurückkommst, ist die erste Tasse durchgelaufen. Und dann setzt du dich hier hin…“ Er drückte sie auf seinen Platz. „Und wirst dein Brötchen essen, deinen Kaffee trinken, und es wird frisch duften, nach Druckerschwärze, nach Himbeermarmelade, nach Kaffee und Morgengrauen… und nach Lilien und Lavendel, Ran. Deinem Parfum. Nach dir. Dann gebührt dir der erste Auftritt am Morgen… der Herrin des Hauses.“ Er lächelte sie liebevoll an, strich ihr über die Haare, übers Gesicht. Sie schloss die Augen, schmiegte ihre Wange in seine Handfläche. „Ich werde das nicht ertragen können, Shinichi…“ „Doch, das wirst du.“ Seine Stimme klang ernst. „Du wirst weiterleben und glücklich sein. Vielleicht nicht gleich, aber irgendwann...“ Sie schlug die Augen auf, schaute ihn an. „Das geht nicht.“ „Doch.“ „Glaub mir, das geht nicht…“ „Ran!“ Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. Seine Stimme klang bestimmt. „Versprich es.“ „Warum sollte ich das tun...?“ Ihre Stimme war leise. Anklagend und fragend zugleich schaute sie ihn an. Er schluckte, seufzte tief. Ließ die Hände sinken. „Weil ich sonst nicht in Frieden gehen kann… Ran.“ Sie blickte ihn an, nahm dann sein Gesicht in ihre Hände. „Es ist dir wichtig oder…?“ „Was soll die Frage? Natürlich ist es das.“ Sie schluckte. Sah dieses drängende Flehen in seinen Augen. Tief atmete sie ein und wieder aus, musste sich zu diesen Worten zwingen, und doch sagte sie sie; sprach sie aus. „Also schön… ich versprechs…“ Er lächelte, gab ihr einen sanften Kuss auf die Lippen, ganz kurz. „Danke…“, wisperte er, zog sie an sich. Sie legte ihre Arme um ihn. „Aber es wird mir so schwer fallen, so schwer, Shinichi…“ Er kniff die Augen zusammen, presste sie fest an sich. „Ich weiß…“ Sie atmete tief durch, schaute an die Decke. Die Gelegenheit schien zweifelsohne günstig, um ein bestimmtes Thema anzuschneiden. „Shinichi?“ Er horchte bei dem fragenden Ton in ihrer Stimme auf. „Ja?“ Irgendwie gefiel ihm der Blick in ihren Augen nicht. Sie drückte ihn ein wenig weg von sich, schaute lange auf den Boden, bevor sie sich schließlich wieder traute, ihm ins Gesicht zu sehen. „Hast du schon mal daran gedacht…?“ „Woran?“ „An… an… nunja…“ Sie druckste herum. Er seufzte. „Ran, raus mit der Sprache. Ich kann nicht Gedankenlesen…“ Ran starrte ihn an, in ihren Augen brannte es. „An ein Baby...“ Sie biss sich auf die Lippen. Die Worte waren leise, zögernd über ihre Lippen gekommen, allerdings meinte sie sie ernst. Jedes einzelne von ihnen. Zuerst war er einfach nur sprachlos. Er starrte sie fassungslos an, sein Mund klappte auf, in seinen Augen spiegelte sich Entsetzen. Dann schüttelte er den Kopf. Erst langsam, dann immer heftiger. „Bitte!“ Ran starrte ihn mit flehenden Augen an. „Nein!“ Sie hielt ihn an beiden Handgelenken fest, als er gehen wollte. „Shinichi!“ „NEIN!“ Shinichi schluckte, atmete heftig, versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. „Das kann nicht dein Ernst sein, Ran.“, murmelte er dann langsam. „Doch.“ Sie nickte bestimmt. „Ich will... ich will ein Kind mit dir. Wenn wir… wenn du… nicht… dann würden wir doch sicher auch eine Familie gründen!“ Sie schaute ihn fest an, fast vorwurfsvoll, begann zu zittern. Er zögerte. „Ja… sicher… aber jetzt ist die Sachlage doch ganz anders. Wahrscheinlich würde ich nicht mal die Geburt mehr miterleben, Ran. Du musst das verstehen. Ich will keine Kinder in die Welt setzen, um die ich mich nicht kümmern kann… ich will dich nicht als allein erziehende Mutter zurücklassen, ich will das nicht…“ „Das macht mir nichts aus!“ Ran schaute ihn bettelnd an. „Bitte! Ich will, dass etwas von dir zurückbleibt…“ Er schüttelte vehement den Kopf. „Deswegen kriegt man keine Kinder, Ran. Es wird mir ähnlich sein, aber es wird nicht ich sein. Es wird mich nicht ersetzen können. Und das wäre nicht fair… ihm gegenüber… Es hat ein Recht auf seine eigene Persönlichkeit, als das geliebt zu werden, was es ist, nicht als das, was es sein soll.“ „Aber ich hätte mit dir so oder so eine Familie gründen wollen…! Das musst du doch wissen… ich liebe dich… ich… wir sind verheiratet…“ Er schaute sie traurig an. „Das weiß ich doch… aber… Ich will keine Verzweiflungstaten wagen, die so folgenschwer sind… du musst das verstehen, es wäre nicht richtig. Unter normalen Umständen hätten wir das geplant, und ich wäre bei dir, um mit dir unser Kind großzuziehen. Wenn ich… du wirst noch so jung sein, Ran. Du wirst dein ganzes Leben noch vor dir haben, einen anderen finden… was willst du da mit einem Kind…“ Sie starrte ihn wortlos an. „Wie kannst du nur so reden…?“ Shinichi schluckte. „Sowas nennt man logisches Denken. Auch wenn du jetzt sagst, du willst nie einen anderen haben, woher willst du das wissen, Ran? Woher willst du das wissen… vielleicht läuft dir eines Tages jemand über den Weg...“ Ran hob ihre Hand strich ihm übers Haar. „Ich würde nie einen anderen wollen, ich weiß es einfach. Und ich will, dass du der Vater meines Kindes bist…“ Er sah sie traurig an, schüttelte ein letztes Mal sacht, aber bestimmt den Kopf. „Nein, Ran. Das ist mein letztes Wort. Ich gehe jetzt. Wir wollen den Täter heute schnappen, du brauchst nicht auf mich warten.“ Shinichi befreite sich aus ihrem Griff und verließ das Zimmer. Sie stand noch lange da und schaute ihm nach. Shinichi… Er ahnte nicht, dass diese Frage schon lange keine rhetorische Frage mehr war. Sie suchte nicht seine Zustimmung, sie hatte sein Verständnis gesucht. Sie hatte seine Unterstützung haben wollen… eine Voraussetzung, für das Geständnis, das sie ihm machen musste. Nur leider… Leider war seine Reaktion nicht so ausgefallen, wie sie gehofft hatte. Und so stand sie da, strich langsam mit ihrer Hand über ihren glatten Bauch. Sie war schwanger. Sie wusste es seit drei Tagen. Und seit drei Tagen überlegte sie, wie seine Reaktion ausfallen könnte… sie wollte nicht mit der Tür uns Haus fallen. Und offensichtlich waren ihre Bedenken diesbezüglich nicht unbegründet gewesen. Sie war schwanger… sie erwartete sein Kind, das war Fakt. Aber sagen… sagen konnte sie es ihm nicht. Nicht so. Er saß im Auto auf dem Weg zum Hotel, in ihm herrschte Chaos. Rans Kinderwunsch ging ihm nicht aus dem Kopf. Er war sich sicher, dass das nur ein Akt der Verzweiflung war. Sie wollte ihn nicht gehen lassen - aber da sie gegen Dämonen kämpfte, gegen die sie machtlos war, versuchte sie irgendwie, wenigstens ein paar Zugeständnisse vom Schicksal zu bekommen. Aber so lief das nicht. Ja, es stimmte - er hätte mit Ran gern eine Familie gegründet. Aber nicht so, nicht unter diesen Umständen. Er wollte nicht der Vater von Kindern sein, die ihn nie kennen lernen würden. Er wollte Ran nicht allein lassen mit seinem Sohn oder seiner Tochter. Er wollte ihr nicht die Zukunft mit jemand anderem verbauen - oder wenn schon nicht verbauen, dann wenigstens nicht schwieriger gestalten als unbedingt nötig. Wer wollte schon eine Frau mit einem Kind, das nicht sein eigenes war…? Shinichi seufzte. Wie sollte es jetzt weitergehen? Er war sich nicht sicher, inwieweit er ihr etwas unterstellen durfte, aber er war skeptisch. Shinichi seufzte, fuhr sich müde mit einer Hand über sein Gesicht. Das Leben war nicht fair. Nicht nur, dass sein Schicksal grausam war - nein; Fortuna hatte auch noch einen sehr makaberen Sinn für Humor. Er hielt vor dem Hotel, schaltete den Motor aus. Heiji, der wie immer bereits wartete, stieg ein. „Du weißt schon, dass ich eigentlich mehr oder weniger raus bin aus den Ermittlungen?“ Der Osakaer Detektiv zwinkerte ihm schalkhaft zu und stutzte dann. „Kudô? Is was?“ Shinichi biss sich auf die Lippen. Einerseits würde es gut tun, mit jemandem darüber zu reden, über Ran und ihre Bitte, und Heiji wäre hierfür wohl wirklich nicht die schlechteste Wahl… andererseits wollte er auch niemanden damit belasten. Und irgendwie hatte er auch das Gefühl, dass das keinen was anging. „Kudô?“ Shinichi blinzelte, wandte den Kopf. „Fährst’de dann los oder wartestde, bis das Auto von selber anspringt und uns ins Revier kutschiert?“ „Entschuldige.“ Shinichi ließ den Wagen an, fädelte in den Verkehr ein. „Was is los?“ „Nichts.“ Heiji runzelte die Stirn. „Ach komm schon, das glaubste dir doch selber nich’. Ich dachte, ich bin dein Freund, ich hab immerhin für dich gelogen…“ „Wozu ich dich nicht gezwungen hab!!“, brauste Shinichi auf. Heiji fuhr zusammen. „Okay… was is los…?“ Shinichi verdrehte die Augen. „Auch gut. Du willst, dass ich rate, schön, dann rate ich.“ Er betrachtete den Ehering an der rechten Hand seines Freundes. „Da wir im Fall Fortschritte machen, tippe ich auf Stress mit Ran.“ Shinichi hielt vor einer roten Ampel, seufzte tief. Unruhig umklammerte er mit den Händen das Lenkrad. „Heiji, wenn ich dir das sage… das verstehst du doch nicht… man muss in der gleichen Situation sein, um es zu kapieren…“ „Zweifelst du etwa an meinem Einfühlungsvermögen?“ Heiji warf seinem Freund aus zusammengekniffenen Augen einen schrägen Blick zu. Der junge Detektiv seufzte leise. „Shinichi… wenn du es keinem sagst, wirstde nich’ herausfinden können, ob er dir bei der Entscheidung helfen kann. Und oft hilft’s ja auch, einfach drüber zu reden, und die Lösung kommt dann von ganz allein.“ Heiji schaute ihn aufmunternd an. „Diesmal nicht.“, murmelte Shinichi leise, gab Gas und fuhr an, als die Ampel auf Grün schaltete. Er warf einen Blick in Heijis Gesicht. Und er wusste, wenn er nichts sagte... würde es ihn innerlich auffressen. Außerdem... Heiji war sein bester Freund. Also warf er seine Bedenken über Bord, holte tief Luft. „Also schön...“ Heiji nickte, setzte sich auf, schaute ihn aufmerksam an. Shinichi starrte auf die Straße, als er endlich sprach. „Ran… Ran will ein Baby.“ Seine Worte gingen im Gedudel des Radios fast unter. Er presste die Lippen aufeinander. Heiji, ganz im Gegenteil, stand der Mund jetzt offen. Er schaltete das Radio aus. „Sie will ein… ein Kind? Von dir?“ Shinichi warf ihm einen genervten Blick zu. „Ja, von wem denn sonst, Hattori?!“ „Entschuldige… war ne blöde… Frage.“, murmelte Heiji leise, lehnte sich zurück. „Hm.“ Heiji verschränkte die Arme vor der Brust. „Aus der Tatsache, dass du mit Ran da wohl gestritten hast, schließe ich, du willst keins?“ „Ja. Das heißt, Nein, das stimmt so auch nicht ganz.“ Shinichi schluckte. Er merkte, wie ihm bei den Gedanken daran Verzweiflung zu übermannen drohte. Heiji sah ihm das an. „Hey… hey, Kudô…“ Er schluckte. „Entschuldige, die Frage war…“ „Nein.“ Shinichi fuhr sich über die Augen. „Nein, das war eine ganz normale Frage, Heiji. Du brauchst mich nicht wie ein rohes Ei behandeln…“ Er seufzte tief. „Die Wahrheit ist, ich hätte gern mit Ran eine Familie gegründet. Wirklich gern. Aber so…“ Er setzte den Blinker und lenkte das Auto um die Kurve. „Nicht so, Heiji. Ran ist dreiundzwanzig. Sie wird kaum älter sein, wenn ich… wenn ich…“ Er brach ab. „Sie wird ihr Leben noch vor sich haben, darauf will ich hinaus. Sie kann sich neu verlieben, vielleicht heiraten, mit einem anderen dann eine Familie gründen. Sie will davon nichts hören, sie sagt, sie liebt… liebt nur mich, und daran würde sich nichts ändern, aber wer… wer kann schon in die Zukunft sehen? Und ich will ihr ihre Chancen nicht verringern… und ein Kind würde das wohl. Und außerdem… will ich… will ich eigentlich keine Kinder in die Welt setzen, um die ich mich nicht kümmern kann, verstehst du? Ich will sie mit der Aufgabe nicht allein lassen… ich… ich… weiß es auch nicht so Recht. Es ist… es ist so… es ist einfach nicht…“ Er atmete aus und schwieg. Bis sie das Revier erreicht hatten, verließ kein Wort mehr seine Lippen. Heiji sah ihm an, wie er um seine Fassung kämpfte, nur mühsam die Oberhand behielt. Was ihm alles vorenthalten und genommen wurde, war unerträglich. Es is’ nicht fair, Kudô. Was dir widerfährt, das is’ nicht fair… Gerechtigkeit kann es nicht geben, wenn es solche Schicksale gibt wie deins. Heiji schluckte, dann hob er den Arm, drückte ihm kurz die Schulter. Er konnte sich nur denken, wie es in Shinichi momentan aussehen musste. Schweigend stiegen sie die Treppen zum Büro des Kommissars empor. Meguré erwartete sie bereits. Heiji warf er einen eher skeptischen Blick zu. „Du weißt schon…“ „Jaja. Ich bin nur dabei, um auf den Kleinen aufzupassen.“ Er tätschelte Shinichi den Kopf. Der dankte es ihm mit einem finsteren Blick. Meguré seufzte. „Also schön, es ist ja eh egal, was ich sage, oder? Aber keine Wortmeldung von deiner Stelle bitte. Du kriegst keine Infos mehr. Du gibst ihm auch keine.“ Er blickte Shinichi scharf an. „Ja...“ Der Kommissar verdrehte die Augen. „Ich meine das ernst. Das ist eine heikle Angelegenheit. Es könnte sein, dass er Heiji angreift, ich will das gern vermeiden. Wir haben es mit einem Psychopathen zu tun.“ „In der Tat…“, murmelte Shinichi leise. Sie ahnen gar nicht, wie Recht sie damit haben. Meguré starrte ihn an. Er konnte die Last auf seinen Schultern förmlich sehen. Irgendetwas beschäftigte Shinichi, irgendetwas machte ihm das Leben gehörig schwer. Aber wusste nicht, was. Er räusperte sich. „Nun, der Plan für heute Nacht ist Folgender... Wir teilen uns auf.“ Er zog einen Plan auf den Tisch, auf dem viele rote Punkte zu sehen waren; jeder einzelne von ihnen markierte eine Disco, eine Bar oder einen Club. „Da wir leider nicht alle Bars besetzen können, müssen wir uns mit den beliebtesten zufrieden geben.“ Und so kam es, dass sich Heiji und Shinichi wenig später im ‚Courtyard’ wieder fanden. Shinichi seufzte, schaute frustriert in seine Cola. Heiji saß vor seinem Bier. Der Tokioter Detektiv warf ihm einen leicht angesäuerten Blick zu. „Bist du nicht im Dienst?“ „Nein, nicht offiziell, das weißte doch, Kudô“. Er grinste. „Ich bin heut nur schmückendes Beiwerk.“ Er fuhr sich durch die Haare, warf einen Blick auf einen der drei Polizisten in Zivil, die sie begleiteten. „Aber der Kerl is’ ja auch nicht übel, oder? So ein schöööner Mann.“ Heijis Stimme troff vor Sarkasmus. Shinichi warf ihm einen Blick zu. Tatsache war wohl, dass der Typ Model werden hätte können, ja. Allerdings war ihm das im Moment reichlich egal. „Saijo, ja. Aber… also wenn du nach Männern Ausschau halten willst, sind wir hier im falschen Etablissement.“, murmelte Shinichi stichelnd. Ein amüsiertes Lächeln glitt über seine Lippen. „Haha.“, bemerkte Heiji trocken. „Sag du mir lieber, obste schon ein potentielles Opfer gefunden hast.“ „Ja, in der Tat, das hab ich.“ Er grinste, als Heiji sich fast verschluckte. „Echt jetzt?“ „Aber sicher.“ Shinichi nickte in Richtung Bar. „Die Bardame selbst.“ Heiji unterzog sie einer eingehenden Begutachtung. „Ja, doch, die könnt ins Schema passen.“ Er seufzte. „Ran brauch ich das aber nicht sagen, dass du in Bars in Null komma nix die heißesten…“ „Heiji, Klappe. Sei so gut.“ Shinichi warf ihm einen gereizten Blick zu, nippte an seiner Cola. „Meine Herren, du stehst aber unter Strom.“ Heiji nahm einen großen Schluck Bier. „Tja, du nicht? Ich weiß nicht…“, murmelte Shinichi, zog mit seinem Daumen Spuren in das kondensierte Wasser an seinem Colaglas. „Irgendwie hab ich ein ungutes Gefühl…“ Er zerfurchte sich die Stirn. Heiji schaute ihn fragend an. „Inwiefern?“ „Naja…“, begann Shinichi leise, schaute sich um. „Überleg mal. Der Mörder weiß erstaunlich gut über mich Bescheid, findest du nicht? Er merkte, dass ich einen Hänger hatte… er weiß von meiner Hochzeit… wir haben extra einen falschen Termin angegeben! Die Presse war gar nicht da… eigentlich dürfte keiner wissen, dass wir jetzt verheiratet sind…“ Heijis Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er aus den Gedankengängen seines Freundes seine Schlüsse zog. „Dann wirste entweder beschattet, oder…“ „… oder der Täter ist irgendeiner aus meinem Bekanntenkreis. Es könnte fast jeder vom Revier sein… ich glaube jetzt mal weniger, dass man meine Freunde dazu zählen kann…“ Heiji grinste ihn zynisch an. „Danke für die Blumen.“ „Bitteschön.“ Shinichi holte Luft, lehnte sich langsam zurück. „Aber potentiell ist eigentlich jeder Hochzeitsgast und jeder aus dem Polizeirevier der Täter, denn im Revier wusste man, wann ich und Ran heiraten. Es war auch leicht zu erraten; dann, wenn alle hohen Tiere außer Haus sind.“ Shinichi seufzte tief. „Herr Kudô?“ Shinichi sah auf, als die zwei anderen Polizisten, Itakura und Kano mit Namen, sich an ihren Tisch setzten. „Was gibt’s, meine Herren?“, meinte er gelassen. „Keinerlei Auffälligkeiten, bis jetzt.“, meinte Itakura. Er war groß und sehr hager mit einer Nase, die an einen Geierschnabel erinnerte. Kano neben ihm war ein eher fülliger kleiner Mann mit Brille. „Kommissar Meguré hat nur gerade durchgegeben, dass alle auf Stellung sind. Er selbst befindet sich nur wenige Häuser weiter.“ Shinichi nickte als Zeichen, dass er gehört hatte, warf einen kurzen Blick zur Frau an der Bar. Die beiden verabschiedeten sich und bezogen wieder ihre Posten. Shinichi wandte langsam den Kopf, schaute Heiji gedankenverloren an. „Was mach ich, wenn es wirklich ein Polizist ist?“ Heiji nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. „Du meinst, wegen Meguré und unserem kleinen Theater?“ Shinichi seufzte. „Ja, genau. Ich meine… wegen mir brauchen wir uns ja… keine Sorgen machen.“ Er schluckte. „Aber dein Ruf wär’ ruiniert Heiji. Wir können ihm nicht die Wahrheit sagen.“ Heiji klopfte ihm auf die Schulter. „Mal mal nicht den Teufel an die Wand, Kudô. Noch wissen wir ja leider nur recht wenig über unseren Täter, außer…“ „… dass er ein Psychopath ist.“, vollendete Shinichi seinen Satz, trank seine Cola aus und ging zur Bar, um sich eine neue zu holen. „Genau.“, murmelte Heiji leise, beobachtete ihn, wie er an der Theke auf sein neues Glas wartete. „Ein Psychopath…“ Und so verrannen die Stunden. Niemand bemerkte etwas Auffälliges, keinem der drei Polizisten fiel etwas Verdächtiges ins Auge und auch Shinichi und Heiji saßen mehr oder weniger gelangweilt an ihrem Tisch. Heiji hatte mittlerweile ein Glas Wasser vor sich stehen, er wollte sich ja schließlich nicht betrinken. Etwas angewidert schaute er auf Shinichis viertes Glas Cola. „Herrgott, wie kannst du das Zeug nur trinken, Kudô?“ „Koffeinersatz. Ich blende den Geschmack aus.“, erwiderte der Angesprochene ruhig. Er wandte sich um, schaute nach seinem Team. Er sah nur Kano, also piepte er die anderen beiden kurz an, die sich sofort pflichtgemäß meldeten. „Alle auf Position.“, murmelte er. Heiji stöhnte leise auf, wischte sich den Schweiß von der Stirn, warf einen Blick zur Bar. Die Frau stand immer noch an der Theke, lächelte und mixte Cocktails. „Ist auch gut so, es wird langsam richtig voll hier…“ Shinichi zog die Augenbrauen hoch. „Wundert dich das? Es ist Happy Hour. Gar keine schlechte Masche von dem Besitzer, die auf Sonntag zu legen… am Freitag und am Samstag kriegt er bestimmt auch ohne billigen Alkohol genug Besucher.“ Heiji nickte zustimmend. „Da haste Recht.“ Es war kurz vor Mitternacht, als die zwei Detektive bemerkten, wie die Bardame mit einem ihrer Kollegen kurz redete und dann verschwand. Shinichi stand ruckartig auf. Heiji schaute ihn an. „Kudô, nicht aufregen. Sie kann auch nur kurz auf die Toilette gegangen sein…“ „Aber was ist…?!“ „Ja, schon gut. Gehen wir sie suchen.“ Shinichi nickte, begann, sich durch die voll gepfropfte Tanzfläche zu schieben. Ungeduldig warf er immer wieder einen Blick auf die Uhr. Mitternacht kam und ging. Es war bereits drei Minuten nach 0 Uhr, als er es endlich schaffte, zur Bar zu kommen, und wollte gerade der Bardame hinterher, die durch einen Gang hinter der Bar verschwunden war, als sich ihm ihr Kollege in den Weg stellte. „Es tut mir Leid, aber du darfst da nicht weiter.“ Shinichi wurde langsam wirklich nervös. Er merkte, wie es anfing… dieses flaue Gefühl im Magen, sein Herz, das bis zum Hals schlug. „Wo ist ihre Kollegin?“, fragte er drängend. „Sie wollte kurz eine rauchen. Warum… hey!“ Shinichi schob sich an ihm vorbei, fing an zu laufen. Bitte, bitte… Heiji, der sich ebenfalls aus der Masse der tanzwütigen Tokioter Jugend herausgewühlt hatte, zeigte nur seine Polizeimarke, rannte seinem Freund hinterher. Shinichi rannte an den Toiletten für die Mitarbeiter und an der Küche vorbei, auf der Suche nach dem Hinterausgang. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, er keuchte. Ihn ihm keimte Angst - und ein furchtbarer Verdacht. Bitte… lass sie leben… Gehetzt rannte er weiter, um die Ecke, den nächsten Gang entlang.. Dann fand er den Hinterausgang, stieß außer Atem die Tür auf und- „Nein...“ Er hauchte das Wort, der Wind trug es von seinen Lippen. Kurz schien die Zeit still zu stehen. Dann brach unter ihm der Boden weg, sein Herz setzte für einen Schlag aus. Er taumelte, wankte gegen die Hausmauer, atmete stoßweise. Langsam ging er in die Knie, starrte hinauf in den Himmel, in das bleiche Gesicht des Mondes, der wohl wieder einmal der einzige Zeuge dieses Verbrechens gewesen war. „Nein…!“ Er hielt sich die Hand vor seinen Mund, in seinen Augen ein Ausdruck puren Entsetzens. Verzweiflung stieg in ihm hoch, mischte sich mit einer unbändigen Wut, eine Mischung, die toxisch sein konnte. Sie lag da, blass wie das Mondlicht, ihre schwarzen, seidigen Haare um ihren Kopf ausgebreitet, ihre Lippen leicht geöffnet, ihre Augen aufgerissen. Sie war tot. Die Bardame war tot. „Nein. Nein. Nein.“ Der Geruch von Blut stieg ihm in die Nase. Er würgte, ihm wurde fast übel. „Nein…“ Er starrte ununterbrochen die Frau an, die vor ihm auf dem Boden lag. „Bitte… das… das darf nicht wahr sein… das kann einfach nicht wahr sein…!“ Er merkte, wie sein Puls zu rasen begann, sein Atem immer schneller, immer flacher wurde. „Kudô!“ Heiji bog um die Ecke, lief hinter ihm in die Gasse, sah die junge Frau auf dem Boden liegen, erstarrte kurzzeitig. Dann sah er seinen Freund am Boden knien, starrte ihn besorgt an, packte in an den Schultern, zog ihn hoch, schüttelte ihn sacht. „Shinichi, beruhig dich… ich bitte dich…“ „Nein… nein…“ Der Angesprochene war immer noch kreidebleich im Gesicht. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. „Heiji…“, flüsterte er dann leise. „Heiji, höchstens vier Minuten… er kann höchstens vier Minuten weg sein…! Wir waren so nah dran! Und wir konnten es wieder nicht verhindern…!“ Er sackte kraftlos gegen die Wand, hielt sich den Kopf. „Wir konnten wieder nichts tun…“ Heiji starrte ihn lange wortlos an. Die Qual in seinen Augen war unübersehbar. „Wieder… wieder nichts tun…“ Shinichis Augen schauten blicklos ins Leere. Heiji erschrak bei dem Anblick. Zusammen mit dem fahlen Mondlicht, dass seine Gesichtsfarbe gespenstisch blass aussehen ließ, wirkte er mit diesen Augen fast… Er schluckte. „Ran hat Recht. Es macht dich kaputt.“ Shinichi schaute ihn kurz aus dem Augenwinkel an. „Und wenn schon.“ Seine Stimme klang emotionslos. Er wandte seinen Blick wieder auf die Leiche der jungen Frau zu seinen Füßen, die mit gebrochenen, leeren Augen in den Himmel blickte. In ihren Haaren hingen die Perlen. Eine Einzige rollte noch… kullerte ihm vor die Füße. „Und wenn schon…“, wiederholte er leise. Heiji starrte ihn an, dann griff er ihm in die Sakkotaschen, zog sein Handy heraus, rief Meguré an, schilderte ihm die Lage. Hinter ihnen stürmten die ersten Leute auf die Straße, Schreie des Entsetzens wurden laut. Heiji legte auf, verschaffte sich brüllend Gehör, drängte die Schaulustigen zurück, wobei ihm die drei Polizisten, als sie ebenfalls am Tatort auftauchten, Hilfe leisteten. Shinichi schluckte, fing sich langsam wieder. Sein Kopf begann wieder zu arbeiten. Fast schon mechanisch holte er seine Handschuhe aus der Sakkotasche, kniete sich neben die Tote, öffnete ihre Hände, und fand, was er suchte. In der einen Hand einen Zettel; in der anderen zwei Perlen. Die Perlen ließ er in eine Tüte gleiten. Es war offensichtlich, dass sie zu den anderen in ihren Haaren gehört hatten. Offensichtlich hatte er diesmal eine Kette aufgetrennt, und die Perlen über ihre Haare regnen lassen. Warum? Hat er geahnt, dass es diesmal zeitlich enger werden könnte? Dass er keine Zeit haben würde, sie ihr so sorgfältig in die Haare zu stecken? Warum? War es wirklich… jemand den er kannte? Er schluckte entfaltete den Zettel. Sie lachten über mich und sagten, ich sei nicht gerade schön; ich gab ihnen zurück, in den Austern, die auch nicht schön wären, steckten Perlen. Shinichi starrte den Zettel in seiner Hand an. „Kudô.“ Heiji, der hinter ihn getreten war, hielt ihm eine Tüte hin. „Kudô…“ Er wedelte leicht mit der Hand. Shinichi reagierte nicht, schaute immer noch wie hypnotisiert auf den Zettel. Dann wanderten seine Augen wieder zu ihr, in ihr Gesicht. Die Blutlache, in der ihr Kopf lag, breitete sich immer weiter aus. Ein purpurner See, der im Mondlicht fast schwarz schien. Und in ihm lagen die Perlen. Gerade hatte er sie noch lachen sehen. Es war keine zehn Minuten her, da hatte sie noch gelebt. Gelebt. Er fing an zu zittern, konnte es nicht kontrollieren. „Ich bin ein Versager…“, flüsterte er. „Kudô!“ Heiji trat vor ihn, packte ihn an der Schulter. Dann stutzte er. Shinichi hob den Kopf, blinzelte. Es schien, als würde er erwachen, aus einem Traum - einem Alptraum. Und er sah, dass ihn dieser Nachtmahr immer noch nicht ganz losließ. Heiji hielt ihm noch mal die Tüte hin. Shinichi hob langsam den Arm und ließ den Zettel hineinfallen. Heiji schluckte, nickte, verschloss die Tüte und gab sie, zusammen mit der, in der die Perlen lagen, nach einer kurzen Erläuterung der Spurensicherung, die aus einem nahe gelegenen Lokal herangeeilt war. Man hatte jeden heute abkommandiert, egal welchen Rang er bekleidete. Umsonst. Dann wandte er sich wieder seinem Freund zu. „Kudô, komm. Ich fahr dich nach Hause. Komm schon.“ Er zog ihn von der Mauer weg. Shinichi hielt sich den Kopf, bemerkte, dass er die Handschuhe noch anhatte, streifte sie achtlos ab, ließ sie zu Boden fallen. „Ich bin ein Versager… schon wieder konnte ich sie nicht retten, Heiji…“ Seine Augen waren leer. Heiji schluckte, dann griff er ihn am Oberarm, zerrte ihn mit sich. Er wusste, Widerrede war zwecklos. Aber irgendetwas musste passieren. Etwas, was ihn von dem Fall ein wenig löste, der ihn zu verschlingen drohte, ganz; mit Körper und Seele, Haut und Haar. Kommissar Meguré stellte sich ihnen in den Weg. „Was ist los mit ihm?“ Heiji starrte ihn an. „Wir kamen wohl drei, vier Minuten zu spät. Deswegen ist er ein wenig down… ich fahr ihn nach Hause.“ „Aber…“ „Herr Kommissar.“ Heiji fixierte den alten Mann streng. „Sehen Sie ihn sich doch an. Sie wissen, was er für’n Moralapostel ist. Er kann Ihnen jetzt ohnehin keine Hilfe sein, also bring ich ihn jetzt heim. Ich bin mir sicher, morgen wird er zum Rapport kommen. Aber nich’ jetzt. Gute Nacht.“ Er drehte sich um, ging ein paar Schritte, dann wandte er sich noch mal um. „Ich nehme an, Sie lassen alle Besucher des Lokals sowie die Angestellten untersuchen? Wegen der Tatwaffe?“ Meguré nickte. „Ja, natürlich. Warum fragst du?“ Heiji schluckte. „Befragen sie die drei Polizisten auch, die mit uns Dienst hatten.“ Der Kommissar starrte ihn an. „Warum?“ Heiji schaute ihn ernst an. „Ich will wissen, wo sie waren. Wir haben sie nicht gesehen...“ Und weil ich Ihnen nicht sagen kann, warum sie verdächtig sein könnten. Deswegen kann ich Sie auch nicht darum bitten, eine Durchsuchung zu machen… das ist der einzige Hinweis, den wir einsammeln können, ohne unser Blatt aufzudecken. Denn wenn wir eine Untersuchung anberaumen… dann werden nicht nur Sie fragen, warum sie verdächtig sind, und diesen Grund können wir Ihnen noch nicht nennen… nein. Sollte es einer von den dreien sein, dann wird er merken, dass wir ihm auf der Spur sind. Und das soll er nicht. Er stierte auf den Boden. Shinichi neben ihm schwieg. Der Kommissar nickte zögernd. „Gut.“ „Danke.“ Damit wandte er sich um und ging energischen Schrittes von dannen, Shinichi immer noch im Schlepptau. Meguré sah ihnen hinterher. Das ist doch nicht das erste Mal, dass dir ein Täter knapp davonkommt, Kudô… aber noch nie hast du dich hinterher derart gehen lassen. Noch nie hat es dich so getroffen… was ist los mit dir? Heiji klingelte an der Haustür. Shinichi lehnte am Türstock, biss sich die Lippen blutig. Der Polizeichef aus Osaka schüttelte sorgenvoll den Kopf. „Ich hätte Meguré nicht anlügen sollen. Es wär besser gewesen für dich. Du…“ „Hör doch auf…“ Shinichi schluckte, starrte auf seine Hände. Ihm war, als klebte Blut daran. „Shinichi, es bringt dich um. Das is doch kein Leben mehr, verdammt. Hör auf damit. Gib ihn ab…“ „Halt die Klappe, Hattori!“ Shinichi starrte ihn wutentbrannt an. „Verdammt, ich sterbe doch ohnehin! Hört auf, mir ständig mit diesem Argument zu kommen! Zuerst Ran, jetzt auch noch du!“ Er atmete schwer. Dann ging die Tür auf. Ran stand da, ihr Blick wanderte von einem zum anderen. Die beiden Männer starrten sich an. Anspannung lag in der Luft. An Shinichis Gesicht blieb sie etwas länger haften; er war auffallend blass. Irgendetwas musste passiert sein. Dann huschten ihre Augen zu Heiji, schauten ihn fragend an. Er blickte sie nur ernst an, senkte den Kopf. Shinichi drückte sich wortlos neben Ran vorbei in die Eingangshalle. Heiji schluckte, nickte ihr zu und folgte ihm. Er war wütend, das merkte man. Sie waren es beide. Und das war… war nicht gut. Heiji und Shinichi… stritten sich eigentlich so gut wie nie. Der Osakaer Polizist holte tief Luft; er konnte sich einfach nicht mehr beherrschen, konnte sich nicht mehr zurückhalten. Einen Fall unbedingt lösen wollen war das eine; sich derart zu quälen, sich die Schuld am Tod der Opfer geben, so derart rücksichtslos sich selbst gegenüber zu sein… das war etwas ganz anders. Und so konnte es nicht weitergehen. „Verdammt noch mal, Kudô! Wie kann man nur so stur sein! Du hast dich nicht gesehen grad eben... Du verhältst dich nich’, wie du dich sonst immer verhalten hast. Du…“ „Was geht es dich an!?“ Shinichi drehte sich um. „Du bist nicht mehr objektiv!“ Shinichi stand da, wie zur Salzsäule erstarrt. Er holte tief Luft, dann wandte er sich um, verschränkte seine Hände hinter seinem Hinterkopf, beugte sich nach vorn, schien seinen Kopf mit beiden Händen zu Boden drücken zu wollen. Heiji biss sich auf die Lippen. Er wusste, das hatte gesessen. Er sah… so gebrochen aus. Er wusste wohl… wusste wohl, dass er Recht hatte. Aber zugeben konnte er es nicht. Noch nicht. Ran schluckte, ging langsam zu ihm. Sie ahnte, was passiert war. Er war ihm wieder entkommen. Eine weitere Frau hatte heut Nacht ihr Leben gelassen… Sie beugte sich nach unten, um ihm ins Gesicht blicken zu können, und es war, wie sie vermutet hatte. Schmerz. Er hatte die Augen zusammengekniffen, in seinen Zügen lagen Schuld und Selbstvorwurf. „Shinichi…“, seufzte sie sanft. Langsam, vorsichtig, umschlang sie seinen Körper mit ihren Armen, drückte ihn an sich. Sein Kopf ruhte auf ihrer Schulter, aber er erwiderte ihre Umarmung nicht. Heiji schluckte schwer. Das hier wuchs sich zu einer Katastrophe aus. Sie konnten ihm den Fall nicht wegnehmen. Er würde sich nutzlos vorkommen, überflüssig… die Ohmacht, die Schuldgefühle würden ihn zerfressen, die Gefahr, dass er sich gehen ließ, wenn man ih zwang, diesen Fall ungelöst aufzugeben - diesen Fall, der ihn so mitnahm - war zu groß. Außerdem schien es der Täter auf ihn persönlich abgesehen zu haben. Wer auch immer dahinter steckte, wollte das Kudô litt, und das gründlich. Und er würde ihn nicht in Ruhe lassen, nur weil er den Fall nicht mehr bearbeitete. Nahm man ihm den Fall nicht weg, drohte er daran zu zerbrechen. Irgendetwas musste passieren, oder er kam unter die Räder. Elterlicher Rat --------------- Guten Tag, verehrte Leserinnen und Leser! Ich danke euch vielmals für eure Kommentare zum letzten Kapitel! Ich kanns wohl gar nicht oft genug sagen, und leider fehlt mir wohl auch ein wenig die Zeit, um mich bei jedem Einzelnen zu bedanken; aber ich danke euch wirklich, euer Feedback und eure Meinung hilft mir sehr! *verbeug* So; und nun geht’s also da weiter, wo das letzte Kapitel aufgehört hat. Eigentlich... eigentlich sollte in diesem Kapitel noch etwas anderes passieren. Als ich jedoch dann noch mal die Wortzählung gemacht hab, und es über 8000 Wörter für das Kap waren... hab ich gesplittet ^^; Den Rest gibt’s nächsten Mittwoch :D Bis dahin, viel Vergnügen beim Lesen, die allerfreundlichsten Grüße, Eure Leira ;D _______________________________________________________________________ Kapitel 9: Elterlicher Rat Ran wachte auf, als die Sonne sie kitzelte, ihre Umgebung zu hell wurde, als dass sie noch weiter schlafen konnte. Träge blinzelte sie, schaute auf ihre Bettdecke, die übersät war von goldgelben Mustern, die das Sonnenlicht mit Hilfe der Gardine malte. Sie gähnte leise, streckte sich ein wenig, wandte sich um, langsam, erwartete wie jeden Morgen, ihn dort liegend zu finden- Aber sein Bett war leer. Sie fuhr hoch. Der Zustand wohligen Halbschlafes war schlagartig verschwunden. „Shinichi?“ Sie wisperte den Namen. Unruhe erfasste sie. Sie konnte sich denken, was ihm so früh am Morgen schon den Schlaf raubte. Irgendetwas musste endlich passieren. Langsam stand sie auf, dann griff sie nach ihrem Morgenmantel, warf ihn sich über. Sie fand ihn, wo sie ihn vermutet hatte. Er saß in seinem Stuhl im Büro, die Zeitung lag über ihn, den Tisch und den Boden verteilt. Eine Seite hielt er noch in der Hand. Shinichis Augen waren geschlossen, seine Atemzüge waren langsam und gleichmäßig, sein Mund leicht geöffnet. Er war eingeschlafen. Einer der wenigen Zustände, in denen sich nicht dieser Ausdruck von Sorge auf seinem Gesicht abzeichnete. Er sah rundum friedlich aus. Ran schlang ihre Arme um ihren Oberkörper, legte den Kopf schief, seufzte leise. „Wäre das hier nicht so traurig, würde ich es wirklich niedlich finden…“, murmelte sie betrübt, tappte leise näher. Offensichtlich war er vor vier Uhr schon wieder wach gewesen und hatte die Zeitung geholt; sich die Berichterstattung über den Mord angesehen. Oder in seinem Fall: Sich sein Versagen am gestrigen Abend noch einmal vor Augen geführt. Dabei konnte er nichts dafür. Er konnte nichts dafür. Und doch quälte er sich damit. Sie setzte sich auf den Tisch vor ihn, nahm ihm die Zeitung aus der Hand. „Was tust du dir nur an…“, flüsterte sie. Er blinzelte, wurde langsam wach. „Guten Morgen…“, wisperte sie leise, lächelte ihn an, streckte eine Hand vor und strich ihm mit dem Zeigefinger über die Nase. Er schloss kurz die Augen, dann griff er ihre Hand, küsste ihre Fingerspitze. „Guten Morgen…“, entgegnete er sachte. Er schien noch halb zu schlafen. „Wie geht’s dir?“ Sie rückte ein wenig näher, ließ sich vom Tisch gleiten, setzte sich auf seine Knie, merkte erleichtert, wie er seine Arme um sie schlang und an sich drückte. Sie schmiegte sich an ihn, legte einen Arm um seinen Hals. Er spürte ihren Atem, der sanft über sein Gesicht strich. „Frag mich… frag mich was Leichteres Ran... ich kanns nicht sagen. Ich weiß auch nicht, was gestern los war. Ich… ich war völlig neben mir.“ „Du standst unter Schock, Shinichi.“ Sie strich mit ihren Finger über seinen Nacken. „Wohl wahr… aber… ich… Herrgott, so bin ich doch eigentlich gar nicht. Das war doch... war ich das überhaupt noch. Was ist nur los... nur los mit mir...“ Er seufzte. „Weißt du, ich sah sie noch lachen, Minuten vorher… Minuten…“ Dann fiel ihm sein gestriger Verdacht wieder ein. „Ran?“ Sie hörte die Besorgnis in seiner Stimme. „Was ist denn?“ „Ran… ich…“ Dann brach er ab, verwarf den Gedanken, ihr zu erzählen, dass er einen Polizisten verdächtigte, ein Serienmörder zu sein. Dass der Fall sich zu einem Need not to know ausweitete… aber nie eins werden würde, weil Meguré es nicht wusste. Nicht wissen durfte. Sie schaute ihn fragend und abwartend an. Shinichi schüttelte den Kopf. „Nicht so wichtig.“ Sie biss sich auf die Lippen, schaute auf die Zeigungsblätter, die am Boden lagen. „Shinichi… du nimmst selbstzerstörerische Züge an…“ Er wandte den Kopf, blickte sie betrübt an. „Denkst du, das weiß ich nicht?“ Sie erstarrte. „Aber…“ „Du hast schon richtig gehört.“ Er fuhr sich über die Augen. „Ich weiß es. Aber dieses Wissen macht es nicht einfacher. Ich weiß, dass du Recht hast. Ich weiß, das Heiji Recht hat. Aber ich kann nichts dagegen tun. Solange er immer noch mordet, um sich mir zu beweisen… solange werde ich mich fühlen, als hätte ich sie selber umgebracht. Weil ich Schuld bin… an ihrem T…“ Sie hielt ihm den Mund zu. „Nein, das bist du nicht…!“, zischte sie leise. Ihre Augen funkelten. Mit beiden Händen hielt sie sein Gesicht, starrte ihn ohne zu blinzeln an. „Du kannst nichts dafür, dass irgendsoein Psychopath da draußen Menschen umbringt. Das kannst du nicht. Du kannst dir nicht die Schuld an allem geben, verdammt noch mal…!“ Sie schluckte. Er starrte sie an. Selten hatte er sie fluchen gehört. „Reg dich nicht auf, bitte…“ Sanft strich er mit den Fingerkuppen über ihren Rücken. „Bitte…“ Sie nickte widerwillig. Sie konnte… konnte ihm einfach fast nichts abschlagen. Er war die Quelle, aus der sie ihre Kraft zog; und gleichzeitig war er ihre größte Schwäche. Sie seufzte, kuschelte sich an ihn. Vorsichtig strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich war unfair zu Heiji…“ Ran nickte langsam. „Ja… aber er hat es verstanden, denke ich… ruf ihn später mal an…am besten.“ Shinichi nickte müde. „Ran… es war so knapp… ich hätte sie retten müssen… es war so…“ „Shhht.“ Sie legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen. „Was gestern war, kannst du heute nicht mehr ändern. Du musst versuchen, daraus was zu lernen… Schlüsse zu ziehen… damit ihr ihn kriegt, damit sie nicht… umsonst ihr Leben lassen musste.“ Er seufzte betrübt. „Ja, du hast ja Recht…“ Sie streichelte ihm über die Schläfe. Es ist nur so unendlich schwer… Ran genoss es, so an ihn gekuschelt da zu sitzen. Und diese Einträchtigkeit, dieses Wohlgefühl, rief ihr auch wieder etwas anderes in Erinnerung. Sie konnte nicht mehr schweigen. Sie wollte nicht mehr schweigen. Es wurde ihr zuviel. Sie drehte sich wieder auf die Seite, starrte ihn an. „Shinichi, wegen… wegen…“ Er stöhnte leise auf, wandte sich ab. Er wusste, worauf sie hinauswollte. „Ran… meine Meinung hat sich nicht geändert.“ Er schluckte schwer, strich sich über die Augen. Dann wandte er sich ihr wieder zu, gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Bitte sieh doch ein, dass es so einfacher ist… für uns beide…“ „Aber…?“ „Kein Aber…“ Er seufzte, schüttelte den Kopf, dann schob er sie langsam von seinen Beinen, stand auf. Sie sah ihm zu, wie er das Büro verließ, verschlafen, schleppenden Schrittes, sich den Schlummer aus den Augen reibend. Als er draußen war, schluchzte sie leise auf. Nur einmal, nur ganz leise. Dann folgte sie ihm, schloss die Tür des Büros hinter sich, hörte die Badezimmertür zuschlagen. Sie wusste nicht weiter. Sie wollte so gerne, dass er es wusste, aber so abweisend wie er immer reagierte… konnte sie es ihm nicht einfach so sagen. Sie wollte in die Küche gehen, um Kaffee aufzusetzen, als sie es sich anders überlegte. Auf halbem Wege drehte sie um, griff sich das Telefon, verschwand in der Bibliothek. Ran versteckte sich hinter einem der Regale, wählte eine Nummer, wartete. „Mama? Kann ich… kann ich kommen? Ich… ich muss dir und Paps etwas… etwas sagen…“ Beim Frühstück sprachen sie weder über den Fall noch über das Andere; und so kam es, dass er sich recht wortkarg mit einem kurzen Abschiedskuss von ihr verabschiedete und aufs Revier fuhr. Ran sah ihm an, wie sehr ihn der neueste Mord des Serienkillers immer noch belastete, als er ging. Sie selber fuhr in die Wohnung ihres Vaters, wo sie auf ihn und ihre Mutter traf, wie verabredet. Ran konnte weder der einen noch dem anderen in die Augen sehen, als sie eintrat, sich auf einen Stuhl in der Küche setzte. Ihre Eltern setzten sich ihr gegenüber. „Also, Mausebein… was ist los?“ Kogorô beugte sich in väterlicher Fürsorge nach vorn, griff ihre Hand, drückte ihre Finger. Sie schaute kurz auf. Tränen stiegen ihr in die Augen, sie schniefte leise, wischte sich mit der anderen Hand fahrig eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre Unterlippe zitterte, als sie ansetzte; aber sie kam nicht weit. Eri unterbrach sie leise. „Du bist schwanger.“ Kogorô fuhr hoch. Ran brach in Tränen aus. „Was?“ Er sah von seiner Tochter zu seiner Frau. „Du bist was???“ Ihr Vater schaute sie einigermaßen fassungslos an. „Mausebein…?“ Ran nickte langsam. Eri seufzte leise. „Seit wann?“ „Seit… seit drei Wochen…“ „Weiß Shinichi es schon?“ Ihre Mutter begann ihr über ihren Unterarm zu streicheln, während Kogorô immer noch ihre Finger drückte. Ihm war die Spucke weggeblieben. Ran schüttelte betrübt den Kopf. „Wann willst du es ihm denn sagen, Ran? Auch wenn er die Geburt wahrscheinlich…“ Die Rechtsanwältin brach ab. „Ran?“, murmelte sie stattdessen fragend. Ran entzog ihren Eltern ihre Hand, zog ein Taschentuch aus ihrer Westentasche, blies sich die Nase. „Ich… ich hab… hab ihn mal gefragt. Was… was er davon hält, wenn wir… ein Kind kriegen würden. Ich wollt’s ihm nicht gleich an den Kopf knallen, dass alles längst zu spät ist, versteht ihr? Ich dachte… dachte, dass er so reagieren würde und… deswegen hab ich… ziemlich bald als er mir gesagt hat, dass er… nun ich hab…“ „Schon gut, Kleines…“ Eri griff mit ihrer Hand wieder nach den Fingern ihrer Tochter, schaute ihre Tochter mitfühlend an. Sie konnte verstehen, warum Ran das gemacht hatte… angesichts ihres traurigen Schicksals… konnte sie es nur zu gut verstehen. Ran schluckte, riss sich zusammen. „Ich wollte es so… aussehen lassen, als hätten wir diese Entscheidung zusammen getroffen. Nur… nur…“ Kogorô lehnte sich zurück. „Er will keine Kinder?“ Ran nickte. „Genau. Er… er will keins. Nicht prinzipiell, das ist ja das Schlimme. Er würde schon gern eine Familie mit mir gründen nur… nur… wissen wir beide ja… dass er… dass er… und da will er…“ „Dich nicht als allein erziehende Mutter mit seinem Sohn oder seiner Tochter zurücklassen.“, vollendete Eri ihren Satz, seufzte schwer. „Was ja auch verständlich ist… gerade für jemanden wie ihn.“ Kogorô stand auf, begann hin - und herzugehen. Er konnte sich wohl nur ansatzweise vorstellen, was dieser junge Mann im Moment mitmachte. „Er will nicht, dass du ewig an ihn gebunden bleibst.“, murmelte er leise. Ran nickte unglücklich. „Ja… da kann ich ihm sagen, was ich will. Er wills nicht verstehen, nicht hören, nicht wissen. Er hätte sogar die Hochzeit abgesagt. Ich kann ihm noch so oft versichern, dass es für mich nie jemand anderen geben wird…“ „Bist du dir da so sicher…?“, wisperte Eri fragend. Ran fuhr auf, warf ihrer Mutter einen zornigen Blick aus ihren geröteten Augen zu. „Ja! Ich liebe… liebe nur ihn… werde nur immer ihn lieben… das war schon immer so, ich kann es mir nicht anders vorstellen. Ich kenne ihn nun schon so lange, und er… er vermittelt mir jeden Tag aufs Neue ein Gefühl, das nur er mir geben kann… er macht mich besser. Er… er ist meine andere Hälfte. Sowas kann man nicht ersetzen… das geht nicht… und ich weiß immer noch nicht, was ich tun soll, wenn er weg ist und deswegen hab ich beschlossen, ich will ein Baby… ich will sie haben. Die Familie, die wir gegründet hätten, ich will sie haben…!“ Sie fing wieder an zu schluchzen. „Aber er war so ablehnend! Er war richtig entsetzt… er hat ja zugegeben, dass er gern… mit mir ein Kind gehabt hätte, aber… aber… nicht so, hat er gemeint. Er will mich mit der Verantwortung nicht zurücklassen, dabei ist es nicht allein seine Entscheidung…!“ „Nun, die hast du ihm ja abgenommen.“, bemerkte Kogorô trocken. Ran schluckte. „Ja.“ „Die feine Englische Art war das nicht.“ „Mir egal.“ Ihre Stimme klang fast trotzig. „Ran.“ Kogorô blieb stehen, schaute seine Tochter an. „Denk mal bitte daran… denk mal nur einen Moment daran… dass nicht nur du bei diesem Spiel verlierst. Denk mal dran, was er verliert. Er verliert nicht nur sein Leben. Nein. Er verliert dich. Er verliert seine Eltern. Er verliert einfach alles. Und das in absehbarer Zeit und für immer. Wenn er nun ein Kind auch noch verlieren muss… versuch’s doch einmal so zu sehen!…“ Er seufzte, trat näher, strich seiner Tochter über die Wange, setzte sich wieder neben seine Frau. Eri schaute Ran mitleidig an. „Ich weiß nicht, ob das was du getan hast, eine gute Idee war, Ran.“ Ran schaute überrascht auf. „Aber ich dachte…?“ „Dass ich dich verstehe? Ja, das tue ich. Aber Ran… du hättest mit ihm reden müssen. Lange und immer wieder. Irgendwann hätte er wohl noch eingelenkt… aber so… hast du dein Versprechen gebrochen. Du hast versprochen, als du ihn geheiratet hast, ihn als deinen Mann zu nehmen. Deinen gleichberechtigten Partner. Das was du getan hast, so verständlich deine Gründe auch immer gewesen sein können… war Betrug an ihm. Du hast sein Vertrauen missbraucht, ich hoffe, das ist dir klar. Und ich hoffe für dich, er kann dir das verzeihen.“ Ran war blass geworden. Selten hatte sie ihre Eltern so reden gehört; und jetzt hatte sie Angst. „Ich weiß. Glaubt mir, ich hab mich mies gefühlt… ich fühl mich mies… aber ich will nicht auf alles verzichten… was das Leben mir nimmt, ist doch schon genug… ich will etwas behalten…“ Eine Träne rollte ihr aus dem Augenwinkel. „Ich will etwas von ihm behalten…“ Ran schluckte schwer, wischte sie sich unwillig weg, stand auf. „Ich denke, ich geh jetzt besser...“ Eri erhob sich ebenfalls, hielt sie am Arm fest. „Halt, Ran…“ Sie zog sie an sich. „Ran… du weißt, dein Vater und ich werden immer für dich und dein Baby da sein…“ Sie ließ ihre Tochter los, warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu. Kogorô stellte sich neben seine Frau, nickte fest. „Wir werden dich nicht im Stich lassen, Ran. Dich nicht, und unser Enkelchen erst Recht nicht…“ Er schaute sie leicht bedröppelt an. „Ich fass es nicht… mein Mausebein bekommt ein Mausebeinchen…“ Der Mann lächelte zaghaft, strich sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Rührung hatte ihn ergriffen. „Meine Güte, ich werde Opa… Eri, wir werden alt.“ Kogorô strich seiner Tochter über den Kopf, seufzte. „Aber Ran… Ran, du musst es ihm sagen. Er hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Und… es wäre doch schade, wenn er nicht wenigstens miterleben darf, wie sein Kind in dir wächst… du willst ihm und dir doch nicht antun, die ganze Schwangerschaft geheim zu halten, nur weil er keine Luftsprünge ob deiner Idee macht…?“ Ran schüttelte den Kopf. „Nein, will ich nicht. Aber ich… ich weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll… wie ihr schon sagt… ich hab sein Vertrauen missbraucht… leicht wird das nicht werden…ich hab ein wenig Angst.“ „Vor ihm?“ Ran starrte sie erschrocken an. „Vor ihm?! Nein, nein, um Himmels Willen. Shinichi… er würde nicht ausrasten und mich anbrüllen oder so… nein. Naja, vielleicht ein wenig schreien… schließlich hab ich ihn angelogen… damit wären wir aber jetzt quitt, und das weiß er auch, auch wenn ich an sein schlechtes Gewissen appellieren muss und mir das eigentlich zuwider ist. Ich hab Angst davor, was ich ihm antue damit. Der Fall ist momentan eigentlich schon genug für ihn.“ Sie wandte sich ihrem Vater zu. „Paps... könntest du ein wenig ein Auge auf ihn haben, ja? Damit er sich nicht übernimmt... Der gestrige Vorfall hat ihn ziemlich aus der Bahn geworfen… aber ich bitte euch… sagt ihm nichts. Bitte.“ Damit wollte sie sich umdrehen. „Ach ja… vielen… vielen Dank fürs Zuhören, und für eure Unterstützung…“ Sie lächelte sie zaghaft an, dann verließ sie die Wohnung. Eri und Kogorô schauten sich lange an. „Warum ist das Leben so grausam…?“, murmelte Eri. Sie seufzte leise. „Ich denke, er hätte seine Sache als Papa nicht schlecht gemacht… wenn man ihn nur ließe…“ Sie wischte sich über die Augen, gab ihrem Mann einen Kuss auf die Wange und ging. Er stand da, fasste sich unwillkürlich an die Stelle, die ihre Lippen berührt hatten. Dann verließ auch er die Wohnung. Als er auf dem Revier eintraf, war er schon da. Musternd betrachtete er den Mann, der der Vater seines Enkelkindes war; bis dieser es zu merken schien, dass er beobachtet wurde, von den Fotos aufsah, die vor ihm auf einem Tisch ausgebreitet lagen. „Hallo Kogorô… ist was?“ Der Angesprochene blinzelte. „Ich hab gehört, der Mord gestern war bei euch im Lokal…“, begann er dann. … und dass du Vater wirst. Shinichis Blick umwölkte sich. „Ja, war er.“ Er senkte den Blick wieder auf die Fotos, nahm eins heraus. Kogorô kam näher. Er wusste nicht, wie er mit seinem Wissen umgehen sollte, und mit seinem Schwiegersohn vor ihm, den dieses Wissen doch so eklatant betraf. Als er die Hände auf dem Schreibtisch aufstützte, sah Shinichi wieder auf. „Kogorô?“ „Du siehst schlecht aus.“ Shinichi zog die Augenbrauen zusammen. „Oh, Danke… das ist echt nett von dir.“ Er schaute ihn mit Halbmondaugen an. Man sah seinem Schwiegervater einfach immer an, wenn etwas im Busch war. „Kogorô, was hat Ran dir erzählt?“, fragte er also geradeheraus. „Ran?!“ Kogorô schaute ihn ertappt an. „Gar- gar nichts. Wie kommst du darauf. Ich hab nur gehört… dass es… nun… Es muss wohl wirklich schlimm gewesen sein…“, murmelte Kogorô unbeholfen. Er wusste nicht, was er sagen sollte, aber gehen konnte er auch nicht. Shinichi musterte ihn eindringlich. „Kogorô - was ist los?“ „Gar nichts.“ Shinichi schaute ihn skeptisch an. „Na, wenn du meinst. Falls es wirklich der der Fall gestern ist, der dich interessiert, da ist der Bericht.“ Er zog ein Blatt hervor, reichte es ihm. „Viel Spaß damit. Und wenn du jetzt nichts dagegen hättest…“ Er seufzte, schaute leicht genervt auf. „Ich kann mich irgendwie nicht konzentrieren, wenn du so unschlüssig vor mir stehst, und da du offensichtlich nicht sagen willst, warum du mich so anstierst, könntest du dann bitte…-?“ Kogorô blinzelte ihn an. „Klar.“ Damit drehte er sich um und ging zu seinem Arbeitsplatz. Shinichi schaute ihm hinterher. „Ran hat mit euch geredet… da trau ich mich wetten…“, murmelte er leise, und Bedauern schwang in seiner Stimme. Er griff nach seiner Kaffeetasse, trank einen Schluck. Dann begann er die Kopien der Zettel und die Photos der Opfer und der Perlen weiter zu studieren. Er hatte den starken Verdacht, dass einer der drei Polizisten der Mörder war. Einer der drei Beamten, die gestern mit ihm das Lokal überwacht hatten. Aber er konnte es ihnen nicht beweisen. Er konnte keinem von ihm bis jetzt ein Motiv unterstellen, oder etwas anderes an ihnen hervorheben, dass ihn als Täter anbieten würde. Noch dazu wäre es ein wahnsinniger Zufall, dass er ausgerechnet bei ihm im Lokal gewesen war. Oder aber geplant, aber auch das konnte er noch nicht beweisen. Von Heiji hatte er am Telefon vor einer Stunde erfahren, dass die Überprüfung der Polizisten ergeben hatte, dass sie sich laut eigener Aussage auf den besprochenen Posten befunden hatten; bis kurz vor zwölf. Um Mitternacht herum hatten sie nacheinander die Toilette besucht, damit die Bar nicht fast unbeaufsichtigt blieb. Also konnten sie einander keine Alibis geben; jeder war für ein paar Minuten unbeaufsichtigt fern gewesen. Er wusste, die Herrentoilette hatte ein Fenster gehabt. Jeder hätte raus steigen können. Das hatte auch Hattori erkannt und war heute Morgen hingefahren, um nach Abdrücken und Fasern zu fahnden, erfolglos. Was sie beide noch stutzig werden ließ, war die Sache mit der Tatwaffe. So ein großes Messer, wie es laut Pathologen verwendet worden war, konnte man vielleicht vor der Tat gerade noch im Ärmel oder Hosenbein verstecken – aber nicht danach, wenn es voller Blut war... und es auf die Schnelle noch so saubermachen, dass sich in keinem Waschbecken des ganzen Lokals mit Luminol Blutspuren nachweisen ließen, war eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Also war wohl das Messer mit dem Täter zwar angekommen, aber nicht mit ihm gegangen. Nur wo war es dann...? Heiji hatte gestern vom Telefon aus noch ganze Arbeit geleistet, was das Beschäftigen der Spurensicherung betraf. Und er hatte sich Shinichis Entschuldigung angehört und angenommen. Shinichi war wirklich erleichtert gewesen; trotzdem hatte er den resignierten Ton in der Stimme seines Freundes nicht überhören können… Er und Ran hatten ja Recht… sie hatten ja Recht… Aber er brauchte etwas, worauf er sich konzentrieren konnte. Und momentan gab es sonst nichts… was ihn so in Anspruch nahm wie dieser Fall. Noch dazu hatte er mit dem Täter einen persönlichen Krieg. Allerdings sollte er sich wohl wirklich etwas zusammenreißen und auch das tun, was er tun sollte; den Fall lösen und seine Privatangelegenheiten dabei mal zuhause lassen. Er massierte sich die Schläfen, seufzte leise. Sein Blick fiel auf die Akten vor ihm. Shinichi hatte sich nach dem Telefonat die Personalakten der drei ‚ausgeliehen’, um in ihrer Vergangenheit zu buddeln und gegebenenfalls ein Motiv auszugraben; und genau dem würde er sich jetzt auch wieder widmen. Stunden später schienen sie immer noch nicht weiter zu sein als am Morgen. Mittlerweile war es halb sieben Uhr abends, und sie hatten den ganzen Tag Fotos gewälzt, Bilder verglichen, Täterprofile entworfen… aber etwas fehlte noch… etwas übersahen sie. Und so ging er, als sie den Punkt erreicht hatten, nichts mehr tun zu können, zum Auto, einigermaßen frustriert – neben ihm lief Kogorô und redete auf ihn ein. Er hatte jetzt doch noch den Mut gefunden, etwas zu sagen. Shinichi schien es fast so, als habe er den ganzen Tag seine Courage zusammengekratzt, und jetzt ließ er sich fast nicht mehr aufhalten. Er verdrehte die Augen. Reichte es nicht, wenn er deswegen mit Ran debattierte? Mussten sich immer alle anderen in sein Leben einmischen? „...sie wünscht sich ein Kind… warum bist du so dagegen? Sie wird nicht allein sein, sie hat mich, Eri – und mit Sicherheit werden auch deine Eltern…“ „Nein, Kogorô.“ Shinichi stöhnte leise frustriert auf. „Ich hab’s Ran an die hundert Mal erklärt. Was sie da vorhat… ist doch nichts weiter als eine Verzweiflungstat. Eine Kurzschlussreaktion. Sie… sie ist doch nicht zurechnungsfähig was das betrifft….“ „Aber…“ „Nein. Ich will kein Kind. Ich will… ich werde mich nie drum kümmern können. Ich will sie nicht mit etwas zurücklassen, das ihr die Zukunft schwer macht…“ „Aber wenn ein Kind ihre Zukunft für sie leichter machen könnte?“ „Wird es nicht.“ „Woher willst du das wissen…?“ „Ich weiß es einfach. Das weiß ich. Und ich sage nein. Das ist mein letztes Wort. Ich hab mit Ran darüber geredet und im Übrigen ist das auch allein unsere Sache, also bitte…“ „Einen Grund, Shinichi!“ Kogorô blieb stehen, packte ihn am Ärmel. Shinichi schüttelte seine Hand ab, schaute ihn finster an, kniff die Lippen zusammen. „Das Kind wird sie ein Leben lang an mich erinnern. Wie soll der Schmerz, den sie fühlen wird, jemals weichen, wenn jeden Tag die Erinnerung an mich vor ihrer Nase herumtanzt? Sie soll neu anfangen können, verdammt! Ich will, dass sie glücklich ist!“ „Und das ist sie mit dir!“ Kogorô packte ihn am Kragen. „Das ist sie mit dir.“ Seine Stimme wurde leise, er ließ ihn wieder los. „Du weißt, ich war dir gegenüber nicht immer wohl gesonnen. Aber Ran… meine Ran… sie liebt dich. Und ich weiß - ich weiß… wenn ich dich ansehe, beobachte, wie du mit ihr umgehst… ich hab euch bei der Hochzeit gesehen… dann weiß ich… du liebst sie auch. Und sie ist… sie ist sich sicher, dass sie… ein Kind von dir glücklich machen würde. Bitte… überleg dir deine Meinung noch mal. Ich kann deine Vorbehalte verstehen - aber versuch doch auch du über deinen Schatten zu springen, so wie ich über meinen sprang, als ich dich als Schwiegersohn akzeptierte.“ Seine Stimme brach. „Tu’s für Ran.“ Shinichi schluckte, war zu keiner Reaktion mehr fähig. Kogorô wandte den Blick ab, schaute auf den Boden neben sich, betrachtete einen Riss im Asphalt, eher noch einmal sprach. „Ich gehe jetzt. Bitte… bitte denk drüber nach.“ „Also gut, Kogorô.“ Shinichi seufzte geschlagen. Er öffnete die Wagentür. „Aber versprechen kann ich nichts.“ Als Kogorô zu seinem Auto ging, holten ihn seine Gedanken ein. Nach dem Gespräch heute Morgen hatte er eigentlich vorgehabt, sich als Kanonenfutter für Shinichi herzugeben. Ihm zu stecken, was er wusste, was Fakt war… aber er schaffte es nicht, als er in die schmerzerfüllten Augen seines Gegenübers sah. Schmerz. Wut. Verzweiflung. Hass… Hass auf sein Schicksal. Er schluckte, bereute es fast, ihn zu einer Antwort gezwungen zu haben. Er konnte ihn ja verstehen. Aber er wollte, dass auch er verstand. Fünf Minuten nach ihm kam Ran nach Hause. Sie fand ihn ihm Wohnzimmer, in Gedanken versunken. Als sie reinkam, sah er auf. „Dass du dir Unterstützung holst ist unfair. Ich hab keinen, der meine Seite vertritt.“ Ran schluckte. „Paps hat… Paps hat mit dir…? „Wer sonst.“ Seine Stimme klang düster. „Was hat er… was hat er denn gesagt?“ In ihr machte sich ein flaues Gefühl breit. Paps, bitte… du hast es ihm doch nicht gesagt? „Er hat mich gebeten, deinen Wunsch noch einmal zu prüfen. Darüber nachzudenken…“ Ran schluckte. „Und… zu welchem Schluss bist du gekommen… Shinichi…?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich will kein Kind…“ Mehr sagte er nicht, dann stand er auf, vergrub er seine Hände in seinen Hosentaschen und wanderte in die Küche. Ran folgte ihm, schaute ihn starr an. Etwas Verzweifeltes lag in ihrem Blick. Er wandte sich noch mal um, schaute sie an. Die Qual in seinen Augen war offensichtlich. Sie sah ihm an, wie sehr er es sich eigentlich wünschte - eine Familie, ein schönes Leben. Aber er stand hier, und all seine Wünsche zerrannen vor seinen Augen, genauso wie die Zeit, die ihm wie Wasser durch die Finger tropfte - unwiederbringlich vergangen. Und deshalb weigerte sich sein Verstand, wehrte sich gegen sein Gefühl. Unterdrückte die Stimme seines Herzens, machten ihn taub für dessen Worte. „Fang bitte nicht schon wieder an. Ich hab’s dir gesagt, und deinen Eltern - nein. Das ist und bleibt meine Meinung zu dem Thema.“ Sie starrte ihn an, mit Tränen in den Augen. „Aber…!“ „Nein.“ Er wandte sich ab. Seine Stimme klang ungewohnt kalt. Sie schluckte. Eine Träne rollte ihr über die Wange. „Warum verstehst du mich nicht…?“ Sie wisperte es nur, aber er verstand jedes Wort. Langsam drehte er sie um. „Glaub mir, ich versteh dich. Wirklich…“ Er schloss kurz die Augen, dann schaute er sie wieder an. Sein Blick war voller Trauer. Er presste die Lippen aufeinander. „Aber du musst mich auch verstehen…“ Er drehte sich um und ging. Langsam wanderte ihre Hand über ihren Bauch, blieb dort liegen. „Es tut mir Leid… aber alles was du sagst und tust ist längst zu spät…“ Ihre Worte verhallten ungehört, ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit. Jeder Tag, jede Stunde, jede Sekunde, die sie dieses Wissen nicht teilen konnte… schmerzte sie. Seine Ablehnung, so sehr sie sie auch nachvollziehen konnte… traf sie hart. Und in ihr wuchs die Angst vor seiner Reaktion, sollte er es erfahren. Confessions on a bathroom floor ------------------------------- Guten Abend! So... hier kommt nun der zweite Teil des letzten Kapitels; ich denke, ihr könnt euch vorstellen, um was es geht. Nun... dieses Kapitel bezeichnet einen Wendepunkt in der Geschichte; ab nächstem Kapitel wird auch wieder Sayuri, bzw. die Gegenwart, ihren Auftritt haben; ab da wechselt dann ein Kapitel der Gegenwart und eines der Vergangenheit miteinander ab... damit auch klar wird, warum diese Fic ihren Titel hat :D Ich wünsche viel Spaß beim Lesen! Und vielen, vielen, viiiieeeelen Dank euch allen für eure Kommentare!!! MfG, eure Leira :D _________________________________________________________________________________ Kapitel 10: Confessions on a bathroom floor Fast die ganze Nacht lag sie neben ihm, wach… lauschte seinem Atem, eine Hand auf ihrem Bauch und überlegte… Sie wusste, ewig konnte sie es ihm nicht verschweigen. Irgendwann würde es augenscheinlich werden, und dann… dann… Nein. Sie schluckte. Sie wollte es ihm vorher sagen. Er sollte es nicht so erfahren… Ran seufzte. Sie war es ihm schuldig, es ihm ordentlich beizubringen, das war ihr klar. Wo sie ihn ohnehin schon hintergangen hatte, sollte sie wenigstens soviel Mut aufbringen, ein Geständnis abzulegen. Er hatte es damals ja auch getan; er hatte auch all seine Courage zusammengekratzt und ihr alles über Conan erzählt, auch obwohl er gewusst hatte, was auf dem Spiel stand. Dass er sie für immer hätte verlieren können. Diesen Ausdruck in seinen Augen, als er ihr alles dargelegt hatte, diese Unsicherheit in seinem Gesicht... sie würde es nie mehr vergessen. Nie hatte sie gedacht, sie käme irgendwann in die gleiche Situation wie er. Sie setzte sich auf, als der Morgen graute, schaute aus dem nicht ganz verhängten Fenster, sah die Sonne aufgehen, sah sie den Himmel in Rosa und Gold tauchen. Es versprach, ein schöner Tag zu werden. Dann wandte sie den Kopf, blickte ihn an. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie ihn so friedlich schlafen sah. Seine Haare standen noch wirrer ab als sonst, wenn das noch ging; sein Mund war leicht geöffnet, er lag auf der Seite… und atmete leise. Sie seufzte, schwang ihre Beine aus dem Bett. Sie wollte Frühstück machen, Shinichi wachte bestimmt auch bald auf. Schwungvoll stand sie auf - und merkte sofort, dass das eine schlechte Idee gewesen war. Hastig eilte sie ins Badezimmer, hielt sich die Hand vor den Mund. Shinichi blinzelte, öffnete die Augen und starrte ihr verschlafen nach. Das Poltern, das Ran verursacht hatte, als sie ins Badezimmer stürzte, hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Was geht denn hier ab? Langsam setzte er sich auf, tappte ihr hinterher. Als er relativ eindeutige Geräusche aus dem Badezimmer hörte, brauchte es nicht viel, und ihm hätte sich ebenfalls der Magen umgedreht. Er stieß die Tür leise auf, sah seine Frau am Boden kauern. Sie war leicht grün im Gesicht. Der erste Gedanke, der ihm absurderweise durch den Kopf ging, war der, dass sie wohl keine Magendarmverstimmung haben konnte, so früh am Morgen. Eine Grippe ging auch nicht um. Langsam krallten sich seine Hände um das Holz des Türstocks, als ihn die Erkenntnis traf. Stockend atmete er aus. Das kann nicht wahr sein! Ran hörte das leise Keuchen hinter ihr, wandte sich wie in Zeitlupe um. Sie wusste, noch bevor sie in sein Gesicht blickte, jetzt war es gelaufen. Der Fall, den sie hatte vermeiden wollen, war eingetreten. Er stand nur da, an den Türrahmen gelehnt und starrte sie an. Sie klammerte sich an die Klobrille, drehte sich dann langsam ganz um, versuchte, auf die Beine zu kommen. Sie sah ihn stehen, noch bleicher als sonst, einen Ausdruck von Fassungslosigkeit und Entsetzen im Gesicht. „Du hast mich betrogen.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber dennoch hallte sie vernichtend in ihren Ohren. Er fiel mit der Tür ins Haus, das war zu erwarten gewesen. „Du hast mich angelogen. Was denkst du, wie lange du mir das noch hättest verheimlichen können? Du bist schwanger, streit’s bitte nicht ab…“ Es hörte sich an wie eine Anklage. Sie würgte, unterdrückte den Brechreiz. Er sank gegen das Holz, ließ sich langsam zu Boden gleiten. „Warum…?“ Sein Gesicht verzog sich schmerzerfüllt. „Das weißt du…“ Rans Stimme war leise wie ein Wispern, klang verzweifelt. „Shinichi, das weißt du doch…“ „Aber ich versteh’s nicht!“ Er drehte den Kopf. Seine Stimme hatte harsch geklungen, aber dieses kurze Aufflackern von Wut war umgehend einem Ausdruck von seelischer Qual in seinen Augen gewichen, der ihr einen Stich versetzte. Ihn so zu sehen, schmerzte sie. Shinichi wandte den Blick ab. „Und… wie? Wie konnte… überhaupt?“ Mehr sagte er nicht mehr. Ran schluckte. Trotz machte sich in ihr breit. „Ja, ich bin schwanger. Der Wunsch, ein Baby, dein Baby zu bekommen… kam mir noch an dem Tag als du… als du’s mir gesagt hast. Ich hab… ich hab… Muss ich… muss ich dir erklären, wie es geklappt hat? Du bist Detektiv, kannst du dir das nicht denken!?“ Sie schaute ihn an. Er sah immer noch auf den Boden vor ihm, biss sich auf die Lippen, er war kreideweiß im Gesicht. Ran schluckte. Er schien wohl wirklich… geschockt zu sein. Dieses Geständnis war in der Tat mehr als nur unglücklich verlaufen. Sie hätte es ihm wirklich gern anders beigebracht. Ihn gern anders von der Tatsache, dass er Vater werden würde, in Kenntnis gesetzt. Sie schluckte schwer, holte Luft. „Shinichi… versteh doch. Du hast mir keine andere Wahl gelassen.“ Dann stand Ran auf, ging zum Waschbecken, wusch sich gründlich Hände und Gesicht, spülte sich den Mund aus. Er drehte den Kopf weg. „Es tut mir Leid, aber ich wollte es so. Es nicht allein deine Entscheidung…“, wisperte sie. Ran ließ sich vor ihm zu Boden sinken, wollte sein Gesicht mit ihren Fingern berühren, aber er schlug ihre Hand beiseite. Sturheit stand in seinem Gesicht zu lesen, verhaltene Wut glitzerte in seinen Augen. „Aber auch nicht allein deine! Warum konntest du meine Entscheidung nicht akzeptieren? Mich überhaupt mal früher fragen?! Dich hat meine Meinung doch nie interessiert... du wolltest doch nur noch dein Gewissen beruhigen, so ist es doch? Warum tust du mir das an? Was meinst du, wie das für mich ist?!“, fuhr er sie an. „Es geht immer nur um dich! In letzter Zeit...“ Ran biss sich auf die Zunge; der Satz war ihr rausgerutscht, ohne dass sie es hätte kontrollieren können. Die letzten Wochen hatten zunehmend an ihren Nerven gezehrt, ihn so zu sehen, so mitgenommen, so kaputt... so war er früher nie gewesen. So kannte sie ihn nicht. Aber sie liebte ihn. Sie wollte ihm helfen... so gut es eben in ihrer Macht stand. Er starrte sie an, ein Gefühl großer Ohnmacht hatte sich seiner bemächtigt. „Glaubst du, du bist die einzige, die bei diesem Spiel verliert? Ran? Ich kann verstehen, wenn dich mein Verhalten belastet... wenn dich die Situation belastet... was meinst du, warum ich dich gebeten habe, zu gehen?“ Er schluckte schwer, versuchte, sich einigermaßen zu fassen, bevor er fort fuhr. „Verdammt noch mal Ran, überleg doch mal! Was meinst du denn, warum ich mich in den Fall so unmöglich, so… so… selbstzerstörerisch… reinsteigere? Damit ich nicht darüber nachdenken muss, Ran! Damit ich nicht darüber nachdenken kann, was ich alles verliere! Mein Leben, verdammt… zählt das nichts? Ich bin der, der sterben wird! Und ich hab Angst davor… ich seh die Zeit in meinen Händen zerrinnen, sie fließt wie Wasser durch meine Finger, und ich kann nichts dagegen tun... Und dabei… und immer wieder… denke ich daran, wie’s für dich sein muss. Ich will, dass es einfach für dich ist. Aber du machst es dir und mir immer schwerer! Weil du unbedingt mit dem Kopf durch die Wand musst! Und jetzt hintergehst du mich dafür auch noch! Warum… Warum tust du das…?“ Sie starrte ihn an. Sie hatte geahnt, er würde nicht begeistert sein, aber dass er dermaßen am Boden zerstört sein würde, dass es ihn so treffen und niederschmettern würde… das hatte sie nicht geahnt. „Shinichi…“, begann sie leise, wollte sich erklären. Ihn besänftigen. Ermutigen. „Hör auf damit!“, fauchte er sie an, schob sich hoch, blickte sie kalt an. Stand auf, ging auf den Flur hinaus. Er wollte weg hier. „Shinichi…!“ Ihre Stimme klang flehend. Es interessierte ihn nicht. Langsam drehte er sich um. „Ich wollte kein Kind! Verdammt, Ran, ich wollte keins! Nicht so, nicht… wenn ich… wo ich doch… warum konntest du das nicht verstehen?! Warum musst du immer deinen Kopf durchsetzen, warum kannst du nicht einmal, warum können wir nicht einmal das tun, was ich für richtig halte, warum?!“ Er schüttelte konfus den Kopf, ging ins Badezimmer zurück, zog sich um. Shinichi wollte jetzt weg hier, erst einmal weg hier, egal wohin… er musste nachdenken. Überlegen, wie das hier weitergehen konnte, sollte... Sie starrte ihn an. So hatte sie ihn, seit sie ihn kannte, noch nie erlebt. Angst ergriff sie. Unglaubliche Angst, ihn für immer verloren zu haben. Shinichi trat wieder aus dem Badezimmer heraus, zog sich seine Schuhe an. In ihm tobte es, er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Bliebe er jetzt hier… würde das weder für ihn noch für Ran hilfreich sein. Er musste den Kopf frei kriegen. „Shinichi… Shinichi, bitte…!?“ Er hörte sie nicht. Sie brach in Tränen aus, ihre Stimme zitterte. „Wohin… wohin gehst du denn jetzt…?“ Er griff nach seiner Jacke. „Weg.“ Er schaute sie verletzt an. Es tat ihm weh, sie so zu sehen, aber er konnte nicht… nicht bleiben, jetzt, in diesem Moment. Ran wagte nicht, sich ihm zu nähern. Die Furcht fraß sie von innen auf. Langsam wurde ihr klar, was für einen entsetzlichen Fehler sie gemacht hatte. „Was… was verlangst du denn jetzt von mir…? Was… was soll ich tun…?“ Ran war auch aufgestanden, stand mitten am Gang, am ganzen Körper bebend wie eine Pappel im Wind, schaute ihn an. Er blieb in der Bewegung stehen, wie erstarrt. Dann wandte er sich um, langsam, starrte sie an wie vom Donner gerührt. „Ran…“ Seine Stimme klang rau und war sehr, sehr leise. „Von dir verlange ich gar nichts. Es gibt nichts, dass du jetzt noch tun kannst. Aber ich… Ich muss jetzt nachdenken…“ Damit ging er. Sie sank zu Boden, schluchzte hemmungslos. Shiho schaute aus dem Fenster, als er, mit hängenden Schultern und tief in den Taschen vergrabenen Fäusten an ihrem Haus vorbei ging. Der Ausdruck auf seinem Gesicht gefiel ihr nicht. Er schien so verzweifelt. Besorgt. Grübelnd. Gedankenverloren schaute sie rüber zum Haus der Kudôs. Irgendetwas war passiert, soviel war klar. Aber war es gut, oder schlecht…? Sie konnte es nicht sagen. Und sie wagte nicht, hinüberzugehen. Irgendetwas sagte ihr, dass sie sich da nicht einmischen durfte. Also verharrte sie am Fenster; und wartete geduldig. Shinichi hatte der Richtung seiner Schritte keine Beachtung geschenkt. Irgendwann hatte er festgestellt, dass sie ihn in den Park gelenkt hatten. Kurz sah er sich um, fand eine Bank, setzte sich hin, ließ den Kopf nach hinten sinken. Er wurde Vater. Der Gedanke ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Nun… irgendwie… er war biologischer Vater. Zu etwas anderem würde er wohl nie kommen. Shinichi schluckte, Bitterkeit stieg in ihm hoch. All die Gespräche, die sie geführt hatten, waren umsonst. Sie war schon lange schwanger gewesen, bevor sie ihn gefragt hatte, ob er überhaupt Kinder wollte. Sie hatte ihn hereingelegt, noch bevor er ahnte, dass sie ihn austricksen könnte. Er konnte sie ja verstehen. Er konnte ihre Gründe nachvollziehen. Wirklich. Er konnte verstehen, dass sie etwas behalten wollte. Dass sie eine Familie haben wollte. Dass sie mit dem Mann, den sie liebte, den sie geheiratet hatte, ein Kind haben wollte, war eigentlich ganz natürlich. Aber die Umstände machten die Situation so prekär. Es tat ihm ja Leid, dass er so ausgerastet war. Aber… er… er stand vor den Trümmern seiner Existenz. Das wusste er. Alles was er sich aufgebaut hatte, zerfiel vor seinen Augen, bis nicht einmal mehr die Ruinen übrig waren. Er würde alles… alles verlieren, was ihm lieb und teuer war. Gut, sterben musste jeder. Aber für seinen Geschmack kam sein Tod… viel zu früh. Er war noch nicht soweit. Und doch… In etwa fünf Monaten würde er sterben. Er würde das Baby nie sehen. Nie, nie sehen… Ein Kloß machte sich in Shinichis Hals breit, machte ihm das Atmen schwer. Ran würde es allein auf die Welt bringen müssen, ihr Kind… er würde nicht bei ihr sein und ihre Hand halten, würde es nicht sehen… nicht erleben, wie es ihn anschaute. Ran würde es allein großziehen müssen, sein Sohn oder seine Tochter würde keinen leiblichen Vater mehr haben… nie einen kennen. Er würde nicht da sein. Er würde nicht da sein, um ihr oder ihm etwas beizubringen. Ihm beizustehen, bei was auch immer. Er würde nie ein Vater sein. Er würde weder Ran noch dem Kind helfen können. Er würde nicht da sein können für sie… Nie, zu keiner Zeit, in keiner Situation. Er ballte frustriert die Fäuste, musste an sich halten, um nicht laut zu schreien. Es war ungerecht. Ungerecht... Was hatte er der Welt getan… dass er und Ran das verdienten…? Ran… Ran würde ein Kind haben, dass sie tagtäglich an ihn erinnern würde. Eine Erinnerung, die, da musste er sich nichts vormachen, schmerzvoll für sie sein würde. Dieses Vermächtnis… diese ewige Erinnerung… diese lebendige Erinnerung… würde ihr das Leben ohne ihn nicht unbedingt nur erleichtern. Shinichi seufzte. Der Wind strich ihm übers Gesicht, zerzauste sein Haar, griff mit seinen kühlen Fingern in die Blätter, rüttelte an den Ästen. Shinichi legte den Kopf in den Nacken, schaute ins Laub des Baumes über ihm. Minutenlang saß er da, starrte in den Himmel, beobachtete die Wolken, die der Wind vor sich hertrieb, wie ein Hirte seine Schäfchen. Langsam atmete er aus, merkte, wie er sich langsam wieder fing, er sich entspannte, sein Zorn verrauchte. Er war immer noch sauer, ohne Zweifel. Sie hatte in hintergangen, und es wohl dann so hinstellen wollen, als hätten sie die Entscheidung gemeinsam getroffen, und das, so musste er zugeben, hatte er ihr nicht zugetraut. Aber nun war es passiert. Und er musste der Wahrheit ins Auge sehen… gerade er, der doch immer nach ihr suchte. Sie hatte ihn wohl selber gefunden, heute Morgen. Wie hatte er eigentlich so blind sein können? Er seufzte leise, schüttelte sacht den Kopf. Seine Frau bekam ein Kind von ihm, und er reagierte darauf mit purer Panik und Vorwürfen. Was hatte ihn da geritten? Er hätte sich nicht so gehen lassen dürfen… wie musste sie sich denn jetzt fühlen? Leises Stöhnen verließ seine Lippen. Sie hatte es unbedingt gewollt. So sehr gewollt, dass sie keinen anderen Weg gesehen hatte, als ihn zu hintergehen. Sollte ihm das nicht auch etwas sagen? Wie blind hatte ihn der Fall die letzten Wochen über eigentlich gemacht? Wie blind hatte ihn sein Schicksal für seine Umwelt gemacht...? Shinichis Fäuste lockerten sich langsam. Etwas erschöpft fuhr er sich durchs Haar. Das, was passiert war, war nicht rückgängig zu machen. Er hatte eigentlich eine Entscheidung getroffen, für sich, hatte sich gegen ein Kind entschieden; aber diese Entscheidung galt jetzt nichts mehr. Ja… deswegen war er schon noch… ein wenig verärgert. Aber er wollte nicht wütend auf Ran sein. Nicht zornig. Er wollte sich nicht mit ihr streiten, sein Leben war ohnehin schon zu kurz… und sie hatte nicht verdient, dass er sie so behandelte. Sie hatte eigentlich ein schönes Leben verdient... und wollte auch, dass sie das bekam. Unbedingt. Sie würde in ihrem Leben ab jetzt noch oft genug in den saueren Apfel beißen müssen; aber genau davor hatte er Angst. Er hatte gehofft, ihr die meisten bitteren Seiten des Lebens ersparen zu können, indem er ihr den Kinderwunsch hatte ausreden wollen. Stattdessen hatte er ihr wohl auch die letzten Wochen zur Qual gemacht. Und zusätzlich war er ja auch nicht ganz pflegeleicht gewesen… der Fall hatte aus ihm zwischenzeitlich einen anderen Menschen gemacht; er wollte diesen Mörder schnappen, ja, auf jeden Fall; und er fühlte sich für die Morde schuldig… er kam da aus seiner Haut einfach nicht raus. Aber er hatte noch ein Leben… Er war nicht nur Detektiv. Er war auch noch Ehemann, Freund, Sohn, Schwiegersohn… und… werdender Vater. Er liebte sie ja… und ob er wollte oder nicht, auch dieses kleine Wesen, das in ihr heranwuchs, liebte er. Jetzt schon… jetzt schon. Ein warmes Gefühl durchströmte ihn. Es war ja… trotz allem… sein Kind. Ein Kind, das es gab, weil sich zwei Menschen liebten. Er würde es nie zu Gesicht kriegen, wahrscheinlich. Sich diesen Gedanken vor Augen zu führen war unglaublich bitter, und dämpfte dieses zarte Gefühl aufkeimenden Glücks gewaltig. Das Kind würde ihn nicht kennen, also sollte er sich nicht allzu sehr hineinsteigern… Er sollte es sich selber wohl nicht schwerer machen, als er es ohnehin schon hatte, haben würde... Was Ran betraf… keiner konnte sagen, wie gut oder schlecht sie es verkraften würde, allein erziehende Mutter zu sein; eine Mutter, der das Schicksal auch noch so übel mitgespielt hatte. Aber es konnte auch keiner sagen… wie es ihr ohne ein Kind ergangen wäre. Man würde es abwarten müssen. Die Zeit würde es zeigen. Etwas anderes blieb ihnen nicht. Shinichi schluckte schwer. Jetzt war es passiert; er würde Vater werden, und es war nicht rückgängig zu machen. Also warum sollte er jetzt lange verärgert sein… es brachte nichts. Und sie hatte das nicht verdient… sie… sie hatte ja nicht aus böser Absicht gehandelt. Und außerdem gab es jetzt wichtigere Dinge. Viel wichtigere Dinge… Er seufzte leise, dann stand er auf. Er hatte sie wohl genug bezahlen lassen für ihre Sturheit, es wurde Zeit, dass er heimkam. Ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht. Shiho stand immer noch am Fenster, als er etwa eine halbe Stunde später wieder am Haus des Professors vorbeiging. „Er kommt zurück.“, murmelte sie leise. Agasa schaute sie fragend an. Sie blieb ihm die Antwort schuldig. Als er die Tür aufmachte, war es gespenstisch still im Haus. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Das Gefühl, vielleicht doch zu weit gegangen zu sein… aber er hatte einfach keinen anderen Weg gesehen. Dann hörte er es. Leises Schluchzen. Es kam aus der Bibliothek. Sie kauerte, immer noch in Tränen aufgelöst, in einem Sessel, schaute ihn aus verheulten Augen an. Sie zitterte, und es war offensichtlich, dass sie nicht nur der Heulkrampf schüttelte. Sie fror. Er blieb stehen. Schuldgefühle machten sich in ihm breit. „Ran…“, murmelte er leise. „Ran, es tut mir…“ Sie starrte ihn an, musterte zaghaft sein Gesicht. Er war bleich, aber er schien nicht mehr wütend zu sein. Im Gegenteil. Er schien sich schlecht zu fühlen. Ran schluckte, stand langsam auf, wankte ein wenig. Shinichi wusste nicht genau, was er tun oder sagen sollte; er wusste, er hatte ihr wehgetan mit seiner Reaktion. „Es… es… es tut mir Leid, Ran… ich hätte nicht…“ Sie blickte ihn immer noch an. Dann rollte eine Träne aus ihrem Augenwinkel. „Es muss dir nicht Leid tun… ich kanns verstehen… ich… bin nur froh, dass du wieder da bist, denn ich… du hast ganz Recht, ich hätte nicht… ich war so dumm…“ Er ging auf sie zu, sie streckte die Arme aus, drückte sich an ihn. Vergrub ihren Kopf an seinem Hals und atmete tief ein. Er war wieder da… Shinichi schluckte, strich ihr über den Rücken, bereute, vorhin einfach gegangen zu sein. Aber er hatte sich nicht anders zu helfen gewusst. „Ich dachte du… es tut… tut mir so Leid… ich hätte dich fragen müssen, es ist ja auch deine Entscheidung, du hast ganz Recht, ich…“ Rans Stimme war kaum zu hören, als sie sprach. Er nahm ihren Kopf in beide Hände, schaute sie bittend an. „Es tut mir Leid… es tut mir so Leid… dass ich so heftig reagiert hab…“ Shinichi suchte nach Worten. „Ich dachte du kommst nicht wieder…“, stammelte sie leise. Er starrte sie wie vom Donner gerührt an, schüttelte den Kopf. „Wie kommst du darauf…? Ich… ich liebe dich doch… wir sind verheiratet… ich… es tut mir Leid, wenn du… ich musste…“ Er schluckte. Offensichtlich war seine Reaktion tatsächlich heftiger ausgefallen, als ihm wirklich bewusst geworden war. „Ich musste mir… klar werden über einige Dinge… es war nun doch ein ziemlicher Schlag ins Gesicht heut morgen… so auf nüchternen Magen…“ Sie hielt inne, schaute ihn an. „Du bist… nicht mehr sauer?“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Oh doch, meine Liebe. Sauer schon noch. Aber nicht… wütend, nicht auf… die Tatsache, dass du schwanger bist… nur darauf, dass du mich so hintergangen hast. Ich konnte nicht klar denken ich war so aufgebracht, verstehst du...? Aber mach dir keine Sorgen… wir stehen das durch… solange ich…“ Shinichi brach ab, biss sich auf die Lippen, rang um Fassung. Ran starrte ihn traurig und erleichtert zugleich an. Er hob den Kopf, schaute sie reuevoll an. „Verzeihst du mir?“ Sie schlang ihre Arme um ihn, lehnte ihre Stirn an seine, brach erneut in Tränen aus. „Wenn ich gewusst hätte, dass du solche Gedanken hast… dann wär ich nicht… aber ich musste nachdenken, und das konnte ich hier nicht…“ Ihre Finger krallten sich in seine Jacke. „Natürlich… es ist schon gut… schon gut… ich weiß auch nicht, wie ich… ich hätte wirklich… ich hätte das nicht so im Alleingang entscheiden dürfen… ich wollte dich nicht anlügen, und auch nicht betrügen, ich hab mich so mies gefühlt die letzten Wochen…“ Sie lächelte schüchtern. „Jetzt weiß ich wohl ansatzweise, wie’s dir damals ging…“ Shinichi schaute sie betrübt an, streichelte ihr über den Rücken. Er seufzte, gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Verzeih, wenn ich ein wenig… ein wenig sehr… harsch war… aber…“ Er schluckte schwer. „Was mich so fertig macht, ist nur die Tatsache, dass ich mich nie drum kümmern werden kann. Es wahrscheinlich nicht mal sehen werde… du wirst allein sein damit, ich kann dir nicht helfen… und ich muss noch einen weiteren Menschen verlassen...“ ...den ich so sehr lieben werde… Er seufzte tief. „Ich werde gar keine Beziehung zu meinem Kind haben… keine, an die es sich erinnern wird…“ Ran schloss die Augen, sie ertrug die Traurigkeit in seiner Stimme kaum. Schlang ihre Arme um ihn, legte ihren Kopf an seine Brust, hielt ihn lange einfach nur fest. Dann schob sie ihn sanft ein wenig von sich, nahm sein Gesicht in beide Hände. „Doch das wirst du. Glaub mir, das wirst du, irgendwie wird es schon klappen. Und ich werde dein Andenken als Vater hochhalten, ich versprech’s.“ Eine Träne rollte ihr über Wange. Er beugte sich vor und küsste sie weg, berührte dann mit seinen Lippen sanft die ihren. Als sie sich voneinander lösten, schaute er sie nachdenklich an. „Hast du’s meinen und deinen Eltern schon gesagt? Dass wir Eltern werden- also dass sie Großeltern werden?“ „Meinen schon… deinen noch nicht...“ Er zog die Augen hoch. „Aaahhh… Kogorô… ja, jetzt wird mir einiges klar…“ Ran seufzte, zuckte bedauernd mit den Schultern. „Ich hab ihn nicht angestiftet… ehrlich nicht.“ Er schaute an die Decke als er nachdachte. „Ist ja jetzt auch egal. Aber du, meine liebe Gattin, darfst jetzt auch noch meine Eltern informieren, und wenn du mit dem Telefonieren fertig bist, frühstücken wir, und dann… dann sehen wir mal weiter…“ Er lächelte verhalten; in seinen Augen blitzte es, ein leichter Rotschimmer hatte sich auf seine Wangen geschlichen. Er freute sich. Zwar versuchte er, es nicht zu zeigen, aber doch... es war augenscheinlich. Ran schaute ihn an. Selten hatte sie ihn in letzter Zeit so gesehen, und es erleichterte sie, dass er trotz aller Bitterkeit sich doch noch freuen konnte. Die schönen Seiten noch sehen konnte. Und endlich, endlich lächelte er wieder. „Bis gleich dann!“ Er tippte ihr auf die Nase, drehte er sich um und machte sich auf den Weg in sein Büro. Sie schaute ihm nach, ein Gefühl von Vorfreude und großer Beklemmung machte sich in ihrer Brust breit. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich… ich liebe dich… Dann drehte sie sich um und griff sich das Telefon. Wie zu erwarten war, standen nicht weniger als eine halbe Stunde später seine Eltern auf der Matte. Sie waren mit dem Frühstück noch gar nicht fertig, als die Klingel durchs Haus hallte. Shinichi bedeckte sein Gesicht mit der Zeitung. „Neeeiiin… nicht jetzt schon…“ Ran streckte eine Hand vor, zog die Zeitung runter. „Machst du auf, oder soll ich?“ „Mach du. Ich geh mich verstecken.“ Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Wenigstens fertig frühstücken hätten sie uns noch lassen können.“, seufzte er gequält; dann stand er doch selber auf, unterm Arm die Zeitung, in der Hand ein Stück Toast, dass er noch in sich reinstopfte, und ging zur Haustür. Ran lächelte, als sie ihn aus dem Zimmer schlurfen sah. Dann machte sie ein wenig Ordnung, setzte neuen Kaffee auf. Shinichi holte Luft, drückte die Klinke runter. Draußen standen, wie erwartet, seine Eltern. Yukiko strahlte ihn an wie die aufgehende Sonne, Yusaku schaute etwas ernster. Er hatte während der Fahrt hierher die Sachlage aus einem anderen Blickwinkel betrachtet als seine Frau, soviel war offensichtlich. „Ran ist in der Küche.“, sagte Shinichi nur. Yukiko umarmte ihn, drückte ihm einen Kuss auf die Wange, eilte dann in die Küche, von wo aus bald ihre Begeisterungsrufe zu hören waren. Shinichi schaute ihr hinterher. Yusaku trat neben ihn. „Shinichi…“ Sein Sohn schluckte, dann wandte er den Kopf. „Du denkst ganz richtig. Ich wollte… wollte keines.“ Er legte die Zeitung langsam, sorgfältig neben das Telefon auf die kleine Kommode, schloss die Haustür. „Versteh mich nicht falsch, bitte… ich… hätte grundsätzlich gern eine Familie mit ihr gehabt, aber unter diesen Umständen wollte ich sie einfach nicht… mit einer so großen Verantwortung allein zurücklassen. Nun…“ Er fuhr sich durch die Haare am Hinterkopf, schaute zu Boden, in seinem Blick lag Bedauern. „Sie hat… hat… nun, offensichtlich war es ihr egal. Aber ich… ich weiß nicht…“ Er seufzte schwer. „Ich werde meinen Sohn oder meine Tochter nie kennen lernen, ich werde mich nicht darum kümmern können, ich…“ Yusaku starrte ihn an. Genau das… genau das hatte er sich gedacht. „Sie oder er wird nie wissen, wer ich war… und ich werde nie sehen… was aus meinem Kind wird… was für ein Mensch aus ihm werden wird…“ Shinichis Stimme verlor sich. Ran zuliebe hatte er all diese Gedanken für den Moment nicht mehr angesprochen, aber nun brach es einfach aus ihm heraus. Yusaku kniff die Lippen zusammen. Es tat ihm weh, ihn so zu sehen, seinen Sohn… und noch mehr schmerzte ihn die Tatsache, dass Shinichi Recht hatte, mit dem, was er sagte. Und keiner von ihnen würde etwas dagegen tun können. Bitterkeit stieg in ihm hoch. So hatte er sich das für seinen Sohn nicht vorgestellt… nein, ein solches Leben hatte er sich für Shinichi nicht gewünscht. Er zögerte ein paar Sekunden, als er ihn so verloren stehen sah; und dann tat er etwas, was er schon lange nicht mehr getan hatte; er zog seinen Sohn an sich, umarmte ihn kurz. Shinichi starrte ihn einigermaßen überrascht an. Yusaku hob die Hand, verhinderte somit, dass er etwas sagen konnte, begann dann selber, mit leiser, ernster Stimme zu sprechen. „Shinichi…“ Er räusperte sich, als er merkte, dass seine Stimme etwas heiser klang. „Ich kann leider nicht… nicht ändern, was passieren wird. Ich würde mit dir tauschen, wenn es nur möglich wäre, sofort… Es ist unfassbar ungerecht, dass dir das verwehrt bleiben wird, Shinichi… das Vatersein, denn ich denke, du hättest es gut gemacht… besser als ich.“ Yusaku versuchte zu lächeln, aber es misslang ihm. „Es tut mir weh, zu wissen, dass du deine Chance nicht kriegen wirst…“ Seine Stimme verlor sich. Shinichi starrte ihn betrübt an. „Vater….“ Yusaku schüttelte den Kopf, räusperte sich. „Ich will nur, dass du eins weißt. Wir werden da sein. Jetzt, und solange man uns braucht. Glaub mir… sei dir versichert, wir, deine Mutter und ich, werden dafür sorgen, dass es weder Ran noch unserem Enkel an irgendetwas fehlt. Wir werden uns um sie kümmern, du brauchst dir darüber keine Sorgen zu machen, hörst du? Das verspreche ich dir… wir werden da sein… wenn du es nicht mehr sein kannst…“ Shinichi schluckte. „Danke.“ Er atmete stockend aus, schaute zu Boden. „Warum passiert mir das…?“, flüsterte er dann leise. Yusaku legte seine Hand auf seine Schulter, drückte sie kurz. „Weil das Leben nicht gerecht ist.“ Dann ging die Tür auf, Yukiko, die sich gewundert hatte, wo ihr Sohn und ihr Ehemann abgeblieben waren, streckte ihren Kopf heraus. Und dann traf es auch sie wie ein Schlag ins Gesicht. Diese Sache hatte nicht nur gute Seiten; und das sie das nicht vorher bedacht hatte, beschämte sie. Sie trat heraus, zog die Tür hinter sich zu. „Shinichi…“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf, versuchte ein mehr oder weniger tapferes Lächeln, ging ihr entgegen, dann an ihr vorbei und in die Küche. Yusaku folgte ihm mit einigem Abstand. Seine Frau war aschfahl im Gesicht geworden. „Yusaku…“ Eine Träne rollte ihr über die Wange. „Schhh… Yukiko. Denk jetzt nicht darüber nach...“ Er wischte ihr den salzigen Tropfen von der Wange, drückte sie kurz, und folgte dann seinem Sohn in die Küche, wo er seine Schwiegertochter begrüßte. Sie hatten den ganzen Tag gemeinsam verbracht, in einer irgendwie doch fröhlichen Atmosphäre. Als der Abend dämmerte, entschuldigte sich Shinichi kurz, ging auf die Terrasse, setzte sich in einen Stuhl. Kühle Luft umfing ihn, ließ ihn leicht frösteln. Yusaku sah ihn gehen, folgte ihm. Seine Worte hatten ihn heut den ganzen Tag über nicht in Ruhe gelassen. Draußen angekommen, zündete er sich eine Zigarette an, an der er ein paar Mal zog, bevor er sich seinem Sohn zuwandte. „Kommst du klar soweit?“ Shinichi sah ihn nicht an, als er antwortete. „Muss ich wohl…“ „Shinichi…“, murmelte Yusaku dann leise. „Hör zu… ich weiß, es ist grausam, aber du hast Recht. Dein Kind wird dich nicht kennen lernen…“ Shinichi wandte den Kopf ab, schluckte. Yusaku setzte sich in den Stuhl neben ihn. „Aber das heißt nicht, dass es nicht wissen kann, wer du warst.“ Shinichi schaute ihn an, räusperte sich. „Na, ich nehme an, Ran wird ihr oder ihm mal erzählen, wer ich war. Oder ihr. Oder Kogorô und Eri… und es existieren ja auch Bilder, aber…“ Yusaku seufzte leise. „Etwas anderes ist dir noch nicht eingefallen? Willst du es wirklich komplett allen anderen überlassen, was dein Kind mal von dir denken soll…?“ Sein Sohn blinzelte, dann räusperte er sich leise. „Nein. Aber… ich weiß nicht, ob die Idee… die ich da kurz hatte… eine gute ist.“ „Deine Geschichte aufschreiben?“ „Ja.“ Er knetete nervös seine Hände. Yusaku lächelte. Genau den Vorschlag hätte er ihm machen wollen, wäre er selber nicht drauf gekommen. „Und warum glaubst du nicht, dass das eine gute Idee ist?“ „Weil ich nicht weiß, wie… du bist der Schriftsteller, nicht ich.“ Yusaku beugte sich nach vorn, schaute ihm ins Gesicht. „Aber du bist mein Sohn. Warum sollst du das nicht können? Außerdem sollst du keinen Bestseller schreiben… du sollst… nur erklären, wer du bist. Mit allem, was dazugehört.“ Shinichi blickte ihn lange an. Dann nickte er. „Wahrscheinlich hast du Recht… etwas… etwas Direkteres kann er oder sie eigentlich nicht kriegen…“ Yusaku nickte schwer. „Gehen wir wieder rein?“ Sein Hals fühlte sich trocken an. Shinichi starrte ihn an. „Vater…?“ Yusaku zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, dann drückte er sie aus. „Ja…?“ „Versuch… nicht ständig daran zu denken… ja? Du kannst nichts dafür…“ Yusaku blickte ihn an, Bitterkeit machte sich in ihm breit. Aber wie könnte ich nicht, sag mir das… manchmal denke ich… ich habe versagt… Vor etwa einer Stunde waren seine Eltern gegangen. Ran schlief auf dem Sofa, als er ins Wohnzimmer kam. Unter seinem Arm klemmte ein Buch, in der einen Hand hielt er einen Füller, in der anderen Hand eine Tasse Kaffee. Er setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel, bedachte sie mit einem leisen Lächeln. Dann stellte er seinen Kaffee auf den Tisch, zog die Kappe vom Füllfederhalter und schlug das leere Notizbuch auf. Er setzte die Spitze des Füllers unschlüssig auf die erste leere Seite, überlegte. Lies sich das Gespräch mit seinem Vater durch den Kopf gehen, versuchte sich klar zu werden darüber, was er seinem Kind unbedingt selber sagen wollte… Eine Weile saß er so da, in völliger Ruhe, nur das Ticken der Wanduhr durchbrach die Stille; dann begann er zu schreiben. 14.07.2002 Hallo… Heute fange ich also an, diese Aufzeichnungen für dich zu schreiben. Teil II: Tagebücher - Die Geschichte von Conan Edogawa ------------------------------------------------------ Hallo! Zuerst einmal möchte ich mich ganz, ganz herzlich für eure Kommentare zum letzten Kapitel bedanken! *freu* Die 100 wurden überschritten... *staun* Ganz ehrlich, damit hatte ich nicht gerechnet. *Kuchenverteil* Dankesehr!!! *verneig* Ehrlich, ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr mich das freut...! Nun zu einer kleinen Erklärung des weiteren Ablaufs; Es wird ab diesem Kapitel jeweils ein Kapitel der Gegenwart (mit Sayuri) sich abwechseln mit einem Kapitel der Vergangenheit (mit Shinichi). So wird das laufen bis zum Ende... und ganz zum Schluss folgt dann der Epilog. Und begonnen wird mit Shinichis erstem Eintrag und den Fragen seines Töchterleins; ich wünsche gute Unterhaltung, liebe Grüße, Eure Leira :) _______________________________________________________________________ Teil 2: Tagebücher Kapitel 1: Die Geschichte von Conan Edogawa Heute Sayuri saß immer noch auf dem Boden, schluckte. Ihr Vater war also tot. Gestorben, bevor sie die Chance gekriegt hatte, ihn kennen zu lernen; und weil er gewusst hatte, dass er sterben würde… und anscheinend nicht nur ihrer Mutter und ihren Großeltern überlassen wollte, ihr von ihm zu erzählen… hatte er diese Bücher geschrieben. Sie ließ die Seiten durch die Finger gleiten. Viele, viele, dicht beschriebene Seiten; ein ganzer Karton voller Notizbücher. Er hatte seine Sache gründlich gemacht. Ein sehr mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit, als sie umblätterte… und anfing, den ersten Eintrag der Tagebücher zu lesen. 14.07.1993 Hallo… Heute fange ich also an, diese Aufzeichnungen für dich zu schreiben. Ich muss gestehen, es ist ein wenig seltsam, und wundere dich bitte nicht über… komische Sätze oder so. Es ist ein wenig ungewöhnlich, etwas zu schreiben, an jemanden… den man nicht wirklich kennt. Du bist nämlich gerade erst drei Wochen alt; also… wirklich drei Wochen alt. Noch nicht mehr als ein Haufen kleiner Zellen… wenn’s überhaupt schon soweit ist, ich bin weder Arzt noch Biologe… Ich bin… dein Vater. Und ich schreibe das hier, weil ich heute erfahren hab, dass es dich geben wird… Ich muss jetzt wohl so ehrlich sein, dir zu sagen, dass ich eigentlich gegen dich war... aus gegebenen Gründen... Deine Mutter hat sich durchgesetzt. Sie bewies in dieser Sache wohl den größeren Dickkopf. Versteh mich bitte nicht falsch - ich freue mich über dich, dass du existierst. Dass du leben wirst. Das, was mich ein wenig oder besser… ein wenig sehr… traurig macht, weswegen ich eigentlich kein Kind wollte, ist, dass ich bald nicht mehr sein werde. Wahrscheinlich werde ich dich nie zu Gesicht bekommen, weil ich… sterben werde, bevor du da bist. Ich wollte deine Mutter einfach nicht mit so etwas Großem wie der Verantwortung für ein Kind alleine lassen… ich wollte, dass sie es einfach hat... sie hat es jetzt schon schwer genug mit mir. Und ich wollte nicht noch eine Person haben… von der ich mich verabschieden muss. Nun - das Thema wäre allerdings hiermit durch; du wirst kommen, soviel steht fest. Und irgendwie freue ich mich wirklich. Sooo... damit du weißt, wer ich war, will ich dir in diesen Büchern (ich denke, eins wird nicht reichen) erzählen, wer ich bin. Was ich mache. Was mir wichtig ist. Was ich dir gern beibringen würde… Alles das, was ich getan hätte, wäre mir ein wenig mehr Zeit vergönnt. Ich finde einfach, du musst erfahren, warum du… der oder die du nun diese Zeilen liest… mich nie kennen gelernt hast. Du hast ein Recht darauf es zu wissen. Und ich… ich will mich auch gleich entschuldigen, für alles… für alles, was durch meine Abwesenheit schwerer ist für dich. Ich bin zum Teil selber Schuld, dass ich für dich nicht da sein kann… und deswegen… entschuldige ich mich… in aller Form und aus tiefsten Herzen. Es tut mir unendlich Leid… für dich. Und für mich auch… So- nun. Aber am besten stelle ich mich an dieser Stelle einmal vor - mein Name ist Shinichi Kudô, 24 Jahre alt. Was gibt’s noch… 1,80 groß, blaue Augen, braune Haare, Blutgruppe B… interessiert dich das eigentlich? Ich hoffe, ich langweile dich nicht, aber ich bin so was nicht gewohnt. Der Schriftsteller in der Familie ist mein Vater, also dein Opa… *g* Opa… der wird sich aber alt vorkommen, jetzt… :) Nun… weiter im Text. Ich bin von Beruf Detektiv, schon ziemlich lange. Seit… ich fünfzehn war. Und auch wenn es geschwollen klingt, es ist nicht nur mein Job, es ist meine Berufung… aber dieser Berufung ist es wohl auch zu verdanken, dass das hier passieren muss. Insofern muss ich dich wohl hiermit gleich warnen, in dem ich dir abrate, diesen Beruf zu ergreifen. Bitte, mach das nicht. Such dir einen anderen Beruf, ich kann es dir nur raten… Aber weiter. Da ich denke, ich bin dir schuldig, dir zu sagen, warum ich nicht für dich da sein kann, werde ich also diesen ersten Eintrag einem Jungen namens Conan Edogawa widmen… Conan Edogawa war Grundschüler. Manche bezeichneten ihn als eine Landplage, oder eine Nervensäge; das ist eine rein subjektive Einschätzung. Fakt ist, er war Brillenträger, für sein Alter fast schon verboten schlau und gebildet, und viele hielten ihn eigentlich für ein süßes Kerlchen. Ich nicht. Und das hatte einen Grund. Conan Edogawa war meine zweite Identität. Er schlich sich einfach so ungefragt in mein Leben, als ich 16 Jahre alt war… und blieb für etwas längere Zeit. Du wirst dir jetzt denken, mit mir geht’s schneller bergab als ich denke, weil ich dir hiermit sagen will, dass ein Grundschüler 16 Jahre alt sein kann - und es nicht an seinem Intelligenzquotienten liegt, dass dieser Sechzehnjährige noch in der Grundschule ist … Nein, das ist leider die Wahrheit. Und wie es dazu kommt, dass ein Sechzehnjähriger zu einem Sechsjährigen mutieren kann, und inwieweit das mit meinem… frühen… Tod… zu tun hat… dazu komme ich jetzt. Es fing damit an, als ich mit deiner Mutter ein Date hatte. Ich hatte es ihr versprochen, dafür, dass sie die Karatestadtmeisterschaften gewonnen hat. Wir kannten uns da schon seit Jahren, musst du wissen… wir waren wohl das, was man Sandkastenfreunde nennt… wir haben uns irgendwie schon früh gefunden… waren aber auch reichlich blind, zu blind, um nicht schon viel früher zu sehen, was wir wirklich für einander waren. Auf alle Fälle… waren wir da aber nur ‚befreundet’. Wir waren noch kein Paar, das war es, was die Sache so spannend machte; denn ich war damals schon… verliebt in sie. Sagen konnte ich ihr das aber damals noch nicht, auch wenn ich’s versucht hab. Bin kläglich gescheitert. Nun… wir hatten also ein Date. In einem Vergnügungspark, dem Tropical Land. Ich weiß nicht, welches Jahr haben wir in deiner Zeit? Gibt’s das noch? Oder hat man es schon abgerissen? Aber ich schweife schon wieder ab. Wir haben uns also einen schönen Abend gemacht, ohne beziehungstechnisch auch nur einen winzigen Schritt weitergekommen zu sein, als in der Achterbahn ein Mord passierte. Ja… ein grausiger Fall war das. Es ging um einen mit einer Klavierseite geköpften… nein, ich erspar dir das. Nun, während ich diesen Fall also löste, also der Polizei half, ihn zu lösen... da fielen mir zwei verdächtige Gestalten auf. Zwei Männer, von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Sie waren nicht diejenigen, die den Mord begangen hatten, aber ich konnte ihnen ansehen… dass auch sie schon getötet hatten. Menschen getötet hatten. Als der Fall dann geklärt war, und Ran und ich schon auf dem Rückweg waren… da fiel mir einer von ihnen ins Auge; und weil er sich seltsam verdächtig verhielt, beschloss ich, ihm zu folgen. Ein Entschluss, der, wie sich herausstellen sollte… der größte Fehler meines Lebens war. Der Fehler… der mich mein Leben kosten wird. Ich lief ihm also hinterher… hinters Riesenrad, um genau zu sein. Wenn es noch steht, kannst du ja Katastrophentourismus betreiben, sollte es dich interessieren. Dort beobachtete ich ihn, wie er mit einem anderen Mann illegale Geschäfte abschloss; es ging um Waffenschmuggel und dergleichen. Und ich war… war so beschäftigt damit, ihn zu beobachten… dass ich seinen Partner nicht bemerkte. Erst als er mir von hinten eins übergebraten hat. Tja. Ich hab mich wirklich sehr schlau angestellt. Nun… war ich also entdeckt worden. Ein ungebetener Zeuge… und den gedachten sie loszuwerden. Weil aber vom vorangehenden Fall noch zuviel Polizei auf dem Rummelplatz herumfleuchte, konnten sie mich nicht erschießen. Der Knall hätte die Beamten zu schnell herbeigelockt. Also verabreichten sie mir ein Gift. Ein… Zellgift. Es hätte mich töten sollen, aber das hat es nicht getan… stattdessen hat es mich verjüngt, in der Zeit zurückgeworfen um zehn Jahre. Es war… war nun klar, dass ich mich versteckt halten musste, denn wenn sie erfahren hätten, dass ich noch lebte, hätten sie mich, und wahrscheinlich auch die, die mir Nahe standen, umgebracht. Also legte ich mir auf Rat von Professor Agasa (lebt der noch? Ich hoffe doch...) eine andere Identität zu… die von Conan Edogawa. Ebenfalls einem Ratschlag des Professors folgend… zog ich bei Ran ein, deren Vater eine Detektei führte… die nicht ganz so gut ging. Aber wir hofften, auf diesem Wege möglichst schnell an Informationen über die Männer in schwarz zu bekommen. Wie du dir denken kannst, hab ich deiner Mutter nicht meine wahre Identität preisgegeben. Shinichi war verschwunden, offiziell an einem Fall beschäftigt, inoffiziell tot und wer zurückblieb… war der süße, kleine Hosenscheißer Conan. Und so vergingen Jahre, in denen ich sie anlog… und das hat mich einiges gekostet, das kann ich dir sagen. Ich wollte sie nicht anlügen. Und ich… ich kann mich glücklich schätzen, wirklich glücklich… dass sie mir verziehen hat. Nun… im Laufe meiner Jahre als Grundschüler Conan hab ich noch jemanden kennen gelernt; Shiho Miyano. Wenn sie noch irgendwo in der Nähe ist, kannst du dich ja mal mit ihr unterhalten, sie wird dir das mit dem Gift um einiges plausibler erklären können, als ich es kann. Nun… sie war ebenfalls verjüngt worden (aus Gründen, die ich zwar weiß, aber aus Respekt vor ihrer Person hier nicht nennen will), war noch dazu ein Ex-Mitglied und Forscherin in der Organisation gewesen, hatte sogar das Gift, dass mich und sie geschrumpft hatte, entscheidend weiterentwickelt; und schloss sich mir an. Zusammen kämpften wir also gegen die Schwarze Organisation, und es gelang uns, nach Jahren, sie zu zerstören, und Shiho gelang es, ein Gegengift zu entwickeln. So also erlangte ich meinen alten Körper wieder. Nur hat… nur hat die Sache einen Haken. Ich war… ich war zu lange Kind. Ich merkte, dass etwas nicht stimmte, erst Jahre nach der Rückverwandlung… und wie man mir erklärt hat, ist es nun das Gift, das seine Bestimmung doch noch erfüllt. Es wird mich umbringen. Das Gegengift verhindert, dass ich wieder klein werde, aber gegen… gegen die Zerstörung, die das Gift anrichtet, kann man leider nichts mehr machen. Deswegen also… sitze ich nun hier und muss dir das alles schreiben, und kann nur drauf hoffen, dass du mir, erstens glaubst… und zweitens… mir irgendwann meinen Fehler, den ich an jenem Tag im Tropical Land gemacht habe, verzeihen kannst. Glaub mir... ich bezahle bitter dafür. Und es tut mir Leid, dass du auch einen Teil dieser Rechnung tragen musst, indem du ohne Vater aufwachsen musst. Es tut mir Leid. Sayuri blickte auf, blinzelte. Das Buch in ihrer Hand zitterte. Sie wusste nicht… wusste nicht, woran es lag… aber… ihr war fast übel. Sie hatte nur ein paar Seiten gelesen, aber diese wenigen Zeilen… hatten sie so sehr mitgenommen, sie so tief berührt … dass sie es körperlich spürte. Sie hatten eine Seite in ihr zum Klingen gebracht, die bis hierher stumm gewesen war. Hier schrieb der Mann, der ihr Vater war. Eigentlich hatte er sie nicht geplant in seinem Leben, nicht unter diesen Umständen, das gab er sogar zu… aber nun, da er nichts mehr dagegen tun konnte… wollte er sich noch so gut es ging… mit ihr auseinandersetzen. Sich ihr vorstellen. Damit sie wenigstens einen Eindruck von ihm persönlich hatte, wo sie sich schon nicht kennen lernen durften... Und immer wieder entschuldigte er sich… dafür dass er nicht da war… sich nicht um sie kümmern konnte. Ein paar Minuten saß sie einfach da, und alles was man hörte, war das Geräusch ihres Atems. Sie war aufgewühlt, und dementsprechend hob und senkte sich ihr Brustkorb heftiger als gewöhnlich. Was sie da gelesen hatte… er hatte so bereut… er hatte sie nicht allein lassen wollen, und ihre Mutter auch nicht. Er war erst vierundzwanzig Jahre alt gewesen, als ihn der Tod ereilt hatte. Und er hatte es gewusst… hatte gewusst, wann… Ein heiserer Schluchzer entrang sich ihrer Kehle. Nur einer. Dann hatte sie sich wieder im Griff. Langsam klappte sie das Buch zu. Sie brannte zwar darauf, weiter zu lesen… aber sie musste das nun erst einmal sacken lassen. Zumal war die Geschichte seiner zweiten Identität ja auch wirklich… seltsam. Eigentlich recht unglaubwürdig; andererseits... welchen Grund hätte er gehabt, ihr so ein Märchen aufzutischen? Und dann kam ihr die Idee überhaupt. Warum sollte sie nicht seinen Ratschlag befolgen, und rüber gehen zu Tante Shiho und dem Professor? Nichts war leichter als das; sie lebten immer noch im Haus nebenan. Sie schnappte sich das Buch, lief aus ihrem Zimmer, rannte die Treppe hinunter. Ran hörte nur noch, wie sie die Tür zuschlug, hastete zum Fenster, atmete erleichtert auf, als sie sie auf dem Grundstück des Professors verschwinden sah. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie es für ihre Tochter sein musste und war froh, sie sicher im Haus des Professors zu wissen. Ran hatte keine Ahnung, was Shinichi geschrieben hatte. Er hatte niemanden jemals einen Blick in seine Bücher werfen lassen. Sie hatte auch nie gefragt, und irgendwann auch nicht mehr darüber nachgedacht. Sie schluckte schwer, ein leiser Seufzer entfloh ihrer Kehle. Sie würde abwarten müssen, wie ihre Tochter das alles aufnahm. Und wie ihr neugewonnenes Wissen ihr Familienleben veränderte; und das würde es; das würde es sicher. Sayuri klingelte Sturm. Unter ihrem Arm klemmte das Buch, auf ihrem Gesicht lag ein entschlossener Ausdruck, aber in ihr - in ihr herrschte Chaos. Der Professor öffnete, lächelte herzlich, als er sah, wer ihn besuchte. „Sayuri, wie schön dich zu sehen. Wie geht’s dir…?“ Und dann bemerkte er das Buch unter ihrem Arm. Sein Blick wurde starr, seine Miene ernst. „Ich nehme an, du hast Fragen…?“, murmelte er. „Ja… an Sie und an… an Tante Shiho…“ Sie flüsterte den Namen nur. „Dann komm rein…“ Shiho saß am Wohnzimmertisch, trank Kaffee und las eine Arbeit eines ihrer Studenten. Sie war mittlerweile Dozentin an der Teitan Universität, lehrte Chemie und Mikrobiologie, war eine geachtete Koryphäe auf ihrem Gebiet. Gedankenverloren streckte sie die Hand aus, begann Ai, die auf einem Kissen neben ihr lag und schlief, das blaugrau getigerte Fell zu kraulen. Als die Katze anfing zu schnurren, schaute sie sie liebevoll an. Ai hätte eine alte Dame sein müssen, mittlerweile; aber sie hielt sich gut. Und es blieb Shihos Geheimnis, warum dem so war. Wenigstens etwas… etwas wollte sie sich bewahren. Sie wusste, es war falsch, und sie ahnte, er würde ihr Verhalten missbilligen… aber wenn sie ihn schon nicht hatte retten können, so wollte sie wenigstens das retten, was ihr von ihm geblieben war. Dann ging die Tür auf, und ihr Blick hob sich. Als sie Sayuri und das Buch sah, wurde sie bleich. Sie zog ihre Hand zurück und die Katze wachte auf, blinzelte, schaute ihre Herrin vorwurfsvoll an. Shiho hatte nur Augen für Sayuri. Für seine Tochter. Seine Tochter, die, wie es aussah… sich heute wohl zum ersten Mal auch als solche fühlte. „Setz… setz dich.“ Sie merkte, wie sie ihre Fassung langsam verlor. Über die Jahre hatte sie ihn verdrängt. Shinichi, Sayuris Vater, ihren besten Freund. Den Mann, der sie das Leben gelehrt hatte. Sie wollte ihn vergessen, vergessen, was sie ihm angetan hatte - ihm und seiner Familie. Sie wusste, das war nicht fair, nicht fair ihm gegenüber – er hatte verdient, dass man ihn nicht vergas, sich ein Leben lang an ihn erinnerte… aber sie schaffte das nicht. Es war zu grausam. Er war gestorben, und sie… sie war am Leben. Immer noch. Sie versuchte, die Erinnerung an ihn auf einen Namen zu beschränken. Buchstaben. Buchstaben taten nicht so weh. Bevor Sayuri auch nur einen Ton sagen konnte, fing sie an. „Wenn du jemandem die Schuld geben willst, dafür, dass du diesen fantastischen Menschen, deinen Vater, niemals kennen lernen durftest - dann gib sie mir. Bitte. Er hat… er hat mich nie beschuldigt, deine Mutter auch nicht - aber ich bin es. Schuldig. Zumindest teilweise. Und es wäre - es wäre dein gutes Recht, wenn du… wenn du mir die Schuld gibst. Wenn du mich nun hasst…“ Sie wandte ruckartig den Kopf ab. Sayuri erblasste. Langsam dämmerte ihr, dass wohl alles, was auf den wenigen Seiten, die sie gelesen hatte… tatsächlich der Wahrheit entsprach. Shihos Verhalten ließ keinen anderen Schluss zu. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. „Nein… deswegen bin ich nicht hier… ich bin nicht auf der Suche nach einem Sündenbock...“ Shiho schluckte. „Du willst wissen, warum…“ Das Mädchen nickte. „Ja… Wie… warum ist das passiert, Tante Shiho…?“ Eine Träne rollte über ihre Wange. „Er schreibt hier…“ Sie öffnete das Buch, setzte sich neben die blonde Frau. Agasa setzte sich in den Stuhl neben ihnen, schluckte, starrte auf die Schrift. Shinichis Handschrift. Er blickte auf, schaute in Shihos Gesicht. Ihr schien es ähnlich zu gehen wie ihm; ihr war auch noch das letzte bisschen Farbe aus dem Gesicht gewichen, strich mit zitternden Fingern, kurz, ganz kurz, über die eng aneinander gereihten Schriftzeichen, bis Sayuri das Buch ein wenig wegzog. Sie wollte nicht, dass sie es las. Es war ihrs. „Er schreibt hier, er hätte… zwei Männer in Schwarz verfolgt, mit sechzehn. Die versucht haben, ihn umzubringen, mit einem Gift. Einem Zellgift, das tödlich wäre... ihn aber verjüngt hat. Und er sagte… in der Zeit als…“, sie suchte den Namen, „als Conan Edogawa hätte er dich kennen gelernt, und du wärst auch ein Kind gewesen. Wie… wie… ich meine… ich hoffe… ich will nicht glauben, dass er sich so eine Geschichte zusammenphantasiert…“ Sie versuchte, ernst zu klingen, obwohl sie diese Stelle in seinen Aufzeichnungen noch immer zu unglaublich fand, als dass sie sie einfach so für bare Münze nehmen konnte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sie anlog, welchen Grund konnte er haben, gehabt haben, ihr ein Märchen aufzutischen, noch dazu ein so makaberes; aber sie konnte es einfach nicht verstehen. Es sich nicht erklären. Sie konnte es nicht glauben, weil sie keinen Beweis dafür hatte. Shiho nickte langsam. „Sayuri… du kannst ihm glauben. Du solltest ihm glauben. Alles, was er sagt, ist wahr. Und ich bin mir sicher, er wird dich in all seinen Bücher nicht anlügen. Shinichi… hat das Lügen verabscheut. Er hat nur einmal, ein einziges Mal, in seinem Leben gelogen… und da war er nicht er selbst, sondern eben Conan, und das ließ ihm keine andere Wahl. Er hatte Angst um Ran, Angst um alle die er liebte, deshalb hat er nie etwas gesagt, sie alle getäuscht. Er hat diese Rolle gespielt, zur Perfektion gebracht, eine einzige Lüge gelebt. Nun… also… ja, es stimmt. Ich war auch ein Kind. Ich lernte ihn kennen, weil ich ihn gesucht hab. Ich war… Mitglied dieser Organisation, war an der Forschung an dem Gift beteiligt, das ihn letztendlich…“ Sie merkte, wie ihre Lippen zu zittern, ihre Augen zu brennen anfingen. Die Erinnerung an ihn… an die Tage damals… brach in ihr alte Wunden wieder auf, setzte ihr mehr zu, als sie sich eingestehen wollte. Sie hob Ai von ihrem Kissen, drückte sie in stummer Verzweiflung an sich. „Aber ein Kind! Geschrumpft! Ich meine…!“, brauch es aus Sayuri hervor. Shiho schüttelte langsam den Kopf. „Ich hab das Gift mitentwickelt. Glaub mir, es existierte. Als man meine Schwester, die auch für die Organisation arbeitete, umgebracht hatte, weigerte ich mich, mit meiner Arbeit fort zu fahren. Daraufhin hat man mich… gefangen genommen und eingesperrt, bis man wüsste, was man mit mir anstellen sollte. Und… nun… ich sah ohnehin keinen Sinn im Leben mehr… nach dem Tod des einzigen Menschen, der mir bis dahin etwas bedeutet hatte… Nach Akemis Tod…“ Sie hielt kurz inne, holte Luft. „Ich nahm mein Gift, von dem ich eine Kapsel in meiner Kitteltasche hatte, selbst. Ich schluckte es in der Hoffnung, dass es mir einen schnellen Tod bescheren möge. Das… hat es nicht. Als ich… nun.. geschrumpft war… floh ich. Ich wusste nicht wohin, und dein Vater… man hatte seine Leiche nie gefunden, er galt als zweifelhafter Todesfall… ich hatte mir schon gedacht, dass bei ihm der Fall der Verjüngung eingetreten war. Ich habs an den Labormäusen gesehen, weißt du. Wir haben damals in seinem Haus nach Lebenszeichen gesucht, kurz nachdem sie ihn erwischt hatten, ihm das Gift verabreicht hatten. Wir waren zweimal da, zweimal. Beim ersten Mal schien nichts angerührt, kein einziger Hinweis, dass in dem Haus noch jemand lebte. Beim zweiten Mal… waren die Kindersachen… aus der Schublade, in der sie sich vorher befunden hatten, verschwunden.“ Shiho schluckte. Sie sprach schnell und ein wenig holprig, redete, ohne viel nachzudenken, denn allein der Gedanke an ihn… tat so unglaublich weh. „Also… ich hab ihn gesucht. Vor seinem Haus bin ich in jener Nacht zusammengebrochen. Der Professor hier…“, sie schaute Agasa kurz an, „hat mich gefunden. Und mich aufgenommen. Das Vergnügen, deinen Vater kennen zu lernen, hatte ich dann an meinem ersten Tag in der Grundschule.“ Und da huschte ihr zum ersten Mal ein Lächeln über die Lippen. Nur ganz kurz. „Wenn du wüsstest, wie er sie gehasst hat… man hat ihm angesehen, das kleine Einmaleins hat ihn zu Tode gelangweilt… nun. Ich hab mich ihm zu erkennen gegeben und zuerst war er gar nicht begeistert, mich in seiner Nähe zu wissen. Er hielt mich für das was ich war, eine Kriminelle. Aber er… er hat… er hat zugelassen, mich kennen zu lernen. Und noch etwas… ich hab… hab zugelassen, dass er mich kennen lernt. Er hatte etwas an sich, dem man sich schwer entziehen konnte. Er hat mir Mut gemacht. Er hat mir gezeigt, dass es im Leben noch etwas gab, wofür es noch zu kämpfen lohnte. Und dann… dann… genau dann… traf es ausgerechnet ihn…“ Die Katze in ihren Armen fing an sich zu sträuben, als Shihos Griff immer fester wurde, miaute leise. Die Forscherin kniff die Augen zusammen, schluchzte unterdrückt. Sie konnte nicht mehr, brach in Tränen aus, als sie an sein Gesicht dachte, als sie ihm damals erzählt hatte, dass es für ihn keine Hoffnung mehr gab. Als sie ihm eröffnet hatte, dass er sterben würde. Agasa schaute seine Mitbewohnerin bestürzt an, seufzte schwer. Offensichtlich war es keine gute Idee von ihr gewesen, zu versuchen, die Erinnerung an ihn zu verdrängen. Er hatte anfangs ja versucht, mit ihr zu reden; aber sie hatte stets abgeblockt. Sie hatte nicht darüber nachdenken wollen. Sie hatte nie gelernt, damit umzugehen, und das sah man jetzt allzu deutlich. Dann seufzte er, und übernahm die Aufgabe, die Geschichte weiter zu erzählen, wo sie es offensichtlich nicht konnte. „Nun. Shinichi und Shiho… Ai, wie sie damals hieß… freundeten sich an. Sie nahmen den Kampf gemeinsam auf, und sie schafften es, die Organisation zu sprengen. Dein Vater… Shinichi… war wirklich brillant. Er war intelligent, schlau, und mutig; mit einem Hang zu zu großer Risikobereitschaft.“ Agasa lächelte leicht. „Nun, nach zweieinhalb Jahren zweiter Kindheit schafften sie es, sich aus den schwarzen Schatten zu lösen. Ai… Shiho, erfand das Gegengift zum Apoptoxin 4869, wie dieses Zellgift hieß, und alles schien wunderbar. Er… er hat deiner Mutter alles gebeichtet, und auch sonst allen, die betroffen waren… wie deinem Opa Kogorô, dem er einen tollen Ruf als Meisterdetektiv verschaffte, indem er ihn durch kleine Narkosepfeilchen schlafen schickte und dann die Fälle für ihn löste. Ich hab ihm eine Uhr gebaut, die eine Abschussvorrichtung für die Dinger beherbergte.“ Sayuri starrte ihn mit offenem Mund an. „Du darfst ihn dafür nicht verurteilen. Es… es blieb ihm nichts anderes übrig, um an Spuren zu kommen, die ihn zu den Männern in Schwarz führen konnten… glaub mir, er hat sich selbst wohl gehasst dafür. Er hat wirklich genug… genug gelitten in der Zeit. Rans Kummer um Shinichis Verschwinden, die Gefahr, die hinter ihm immer größer wurde, das Leid, das er Ran durch seine Lügen zufügte - er ertrug viel in dieser Zeit. Er wollte alle um jeden Preis von jeglichem Übel beschützen, versank dadurch selber in immer mehr Einsamkeit… Der Druck war enorm, die Verantwortung unglaublich… er hat es gepackt, aber es hat ihn… für immer verändert.“ Shiho schluckte, räusperte sich geräuschvoll. „Aber er hat’s geschafft. Er hat’s geschafft. Darum ging es doch. Er hat’s geschafft… er hätte glücklich sein können, er hatte ein schönes Leben vor sich…“ Agasa nickte unglücklich. „Ja, das hatte er. Und dann…“ Die rotblonde Forscherin seufzte schwer, wischte sich eine Träne vom Kinn. „Es ging… Es ging so fünf Jahre gut. Er war glücklich mit Ran, er baute sich ein Leben, eine Existenz auf, machte deiner Mutter einen Heiratsantrag… es hätte eigentlich alles nicht besser laufen können. Bis er… bei mir auftauchte, mit einer Frage. Er… er sagte… dass…“ Sie wandte den Blick ab. „Er hatte Probleme, gesundheitlich, Sayuri. Er litt unter... gelegentlichen schmerzvollen Anfällen. Genau wie damals bei Conan; du kannst dir vorstellen, sicherlich, dass so ein Wachstums- oder Verjüngungsvorgang nicht ohne ist… und er… nun… er sagte, es ähnelte dem… damals. Ich kann... mich noch genau an die Angst in seiner Stimme erinnern. Es muss furchtbar gewesen sein für ihn, dass ihm das immer noch nachhing, ihn verfolgte. Es war das gleiche wie damals, nur dass er… nicht schrumpfte, sondern er selbst blieb. Ich hab dann Tests gemacht. Und all diese Tests, sowie die Tests von drei Ärzten, zu denen ich ihn geschickt hab… haben eine Diagnose gefällt. Das Gift, das Apoptoxin, entfaltete, weil es zu lange in Shinichis Körper war, seine Wirkung nachträglich. Es zerstörte seine Zellen. Er war 24, als er das erfuhr. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sein Zellwachstum den Zelltod noch locker in Schach gehalten; aber ab dem Alter ungefähr stagniert das Wachstum des Menschen, die Telomeraserate nimmt soweit ab, dass sie den Ist-Zustand hält; aber der Mensch nicht weiter wächst. Solange das Wachstum anhielt, war also das Zellsterben noch ausgeglichen worden, doch als es aufhörte, da... ging es... zu Ende. Die Ärzte hatten ihm…“ „… noch ein halbes Jahr gegeben.“, vollendete Sayuri ihren Satz. Shiho nickte schwer. „Ja… er hat gekämpft… dieses Leben war ein einziger Kampf, wenn man es nüchtern betrachtet.“ „Aber ein Kind?“, fing das Mädchen wieder an. „Ich meine… das ist alles schön und gut, aber du musst zugeben…“ Die rotblonde Forscherin überlegte kurz. Dann schaute sie das Mädchen vor sich mit zusammengekniffenen Augen an. „Du zweifelst immer noch? Nach all…“ „Ich… ich weiß nicht, es klingt so… unglaublich…“ Sayuri geriet ins Stammeln. Sie wollte keinen als Lügner darstellen, aber diese Geschichte hörte sich doch sehr… fantasievoll an. Sie wollte sie glauben, ja, das schon… aber ihr fehlte… der Beweis. Shiho schaute sie starr an. Wenn du wüsstest… wie ähnlich du ihm bist. „Komm mit.“ Agasa starrte sie an. „Shiho, das kannst du nicht…“ „Ohne Beweise wird sie’s nicht glauben. Sie ist wie er, er hat ohne Beweise auch nie was geglaubt.“ Sie ging energischen Schrittes aus dem Zimmer, Sayuri stolperte ihr hinterher, gefolgt vom Professor, der immer noch Einwände hervorbrachte. Ai sprang geschmeidig vom Sofa und schloss sich ihnen an, als sie ins Labor hinab stiegen. Shiho holte ein Glas mit einem feinen weißen Pulver aus dem Regal, schraubte es auf, stellte es vor sich auf den Tisch. „Das ist nichts für zarte Gemüter. Bist du sicher, dass du es willst?“ Das Mädchen schaute sie an. „Was genau…?“ Die Frau drehte sich um, holte eine Maus aus einem Käfig, wandte sich wieder zu seiner Tochter um, schaute sie lange an. „Ich werde diese Maus jetzt verjüngen…“, begann sie dann. „Das hier ist das gleiche Gift, dass deinem Vater seinerzeit verabreicht wurde. Es wird… schrecklich sein… grausam anzusehen und anzuhören. Sie wird nicht sterben, weil ich die tödliche Komponente entfernt habe, aber ansonsten ist es das gleiche Gift. Aber danach wirst du weder an meinen, noch an seinen Worten je wieder zweifeln. Willst du… willst du es sehen?“ Sayuri starrte wie hypnotisiert auf die Maus, deren Nase zuckte; ihre Barthaare vibrierten und sie schaute aus wachen, schwarzen Äuglein erregt um sich. Dann begann sie sich in Shihos Fingern zu winden, anscheinend ahnte sie, dass ihr ein unheilvolles Schicksal beschieden war. Sayuri zögerte noch einmal kurz, dann nickte sie. Ein unangenehmes Gefühl keimte in ihr hoch. Eigentlich war sie sich gar nicht mehr so sicher, ob das eine gute Idee war. Trotzdem nickte sie erneut, als Shiho sie ein letztes Mal fragend ansah. Agasa schaute seine langjährige Mitbewohnerin ernst, fast ein wenig wütend an. „Shiho, du weißt, dass Shinichi…“, fing er erneut an. Seine Stimme klang leise, aber in ihr Schwang deutlich hörbare Ablehnung mit. Er befürwortete ihre Idee, ihr Verhalten nicht, und das war ihm allzu deutlich anzusehen. Shiho warf ihm einen kurzen Blick zu, griff die Maus mit beiden Händen, damit sie ihr nicht entkam. Dann schüttelte sie den Kopf. „Shinichi… ist aber nicht hier. Und er will doch sicher… dass seine Tochter ihm glaubt. Dass sie in ihm keinen Lügner sieht. Sie wissen doch, wie sehr er es verabscheut hat… das Lügen.“ Sie verzog das Gesicht bei dem Gedanken an ihn. „Er will bestimmt, dass seine Tochter ihm glaubt…“ Agasa trat näher, schaute sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte. „Ran würde es auch nicht wollen! Du weißt, wie es wirkt, du weißt, was sie sehen wird, und du weißt, dass der Anblick für sie viel zu…“ „Hören Sie auf. Sie will es sehen, also soll sie es sehen.“ Shiho drehte sich um. Der alte Mann warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Seine Stimme klang vorwurfsvoll. Shiho, die seine Blicke im Rücken spürte, blickte ihn aus den Augenwinkeln an. „Und außerdem… Ran ist auch nicht hier, oder sehen Sie sie etwa?“ Dann schaute sie zu Sayuri, nickte ihr zu. „Stell dich da hin und schau gut zu…“ Ihre Stimme verlor sich. Sie hob den Deckel vom Glas, stellte es ab, löffelte ein wenig Pulver heraus und hielt es der Maus vor die Nase. Das Tierchen kam nicht umhin, ein wenig davon zu schlucken. Sobald sie merkte, wie die Maus in ihrer Hand immer wärmer wurde, setzte sie sie auf die Tischplatte. Das kleine Tier konnte sich längst nicht mehr auf den Pfoten halten, sackte auf die Tischplatte, zitterte. Allein dieser Anblick reichte eigentlich. Sayuris Magen begann sich umzudrehen. Ihre Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, das sehen zu wollen, wurden immer stärker. Sie schluckte hart, ihr Mund wurde trocken. Die Maus piepste erbärmlich. Sayuris Hände begannen zu zittern, ihre Finger wurden taub und kalt. Wie versteinert blickte sie auf das weiße Mäuschen, das sichtbar unter Schmerzen litt. Sie wusste nicht, wie er ausgesehen hatte. Sie hatte nie ein Bild von ihrem Vater gesehen. Aber als die Maus begann, sich zu winden, von Krämpfen geschüttelt, schmerzerfüllt zu quieken, zu zucken… war es um ihre Beherrschung geschehen. Zu sehen, dass man ein Tier so quälte, machte sie fast wahnsinnig. Dass diese Schmerzen ein Mensch hatte erleiden müssen, ihr eigener Vater… brachte sie um den Verstand. Sayuri schrie auf, wandte sich ab, schlug sich die Hände vors Gesicht. „Hör auf! Was tust du ihr an! Hör auf! Hör auf!“ Sie wollte sich die Ohren zuhalten, nichts mehr hören, nichts mehr sehen, aber Shiho trat hinter sie, hielt ihre Arme fest. „Sieh hin. Du wolltest es doch sehen…! Das hat er…“ Die Forscherin fing an zu zittern, brach ab, ließ Sayuri wieder los. Die starrte ihr entsetzt, fast angsterfüllt ins Gesicht, wich ein paar Schritte zurück. So hatte sie sie noch nie gesehen. Shihos Augen waren unverwandt auf die Maus gerichtet. Anders als Sayuri… wusste sie, wie er ausgesehen hatte. Shinichi… Sie erinnerte sich nur zu gut daran… Das war die reinste Selbstfolter, und das wusste sie auch. Sie dachte an ihn, daran, wie sie ihm damals in der Herrentoilette des Beika-Restaurants zugesehen hatte, wie er… wieder zu Conan wurde. Ohne Ran gesagt zu haben, was sie ihm bedeutete. Wie ein Studienobjekt hatte sie ihn sehen wollen, wie ihre weißen Mäuse hatte sie ihn beobachten wollen… nüchtern, sachlich, mit der Neugier einer Wissenschaftlerin. Die Rechnung war nicht ganz aufgegangen. Als sie ihn gesehen hatte… war etwas passiert. Sie hatte ihre Objektivität verloren… als sie ihren Freund sah, der wegen ihrem Gift diese Qualen litt… Ab diesem Zeitpunkt hatte sie nie wieder eine ihrer Mäuse bei diesem Versuch betrachten können, ohne ihn zu sehen. Ohne sich seinen Körper auf dem gefliesten Boden vorstellen zu müssen. Das Bild suchte sie heim, immer wieder. Damals… sie hatte es anfangs wirklich noch… als Fallstudie gesehen… als sie sich lächelnd die Brille von der Nase gezogen hatte. Ihre Gedanken drifteten ab, als sie an den Abend dachte… die Maus immer noch vor Augen, war ihr Geist schon längst woanders. Sie sah ihn an, der vor ihr auf dem Boden der Herrentoilette kauerte. 'Du bist mir noch etwas schuldig, Conan Edogawa...' Sie konnte verstehen, warum er nicht wieder klein werden wollte; er war ein gutaussehender Oberschüler, das musste sie ihm lassen. Aber dennoch war sie aufgeregt; sie war ja schon selber geschrumpft, sie hatte dieses Phänomen bei ihren Mäusen gesehen... aber noch nie am Menschen. Jetzt bot sich ihr die Möglichkeit. Die einmalige Gelegenheit, das Gift am Menschen wirken zu sehen. Sie trat wissbegierig einen Schritt näher. Und dann schaute er auf, sah sie an, und sie erstarrte augenblicklich. Ihre Finger wurden kalt.. Alles, was sie sah, war die Qual in seinen Augen. Schmerz. Schmerzen, die ihm das Gift zufügte... körperliche Schmerzen, die fast nicht aushaltbar schienen, sie wusste wie es sich anfühlte, sie hatte es am eigenen Leib erfahren... Aber es zu sehen... zu sehen, wie er sich krümmte, sich unter den Krämpfen wand, es in seinen Augen ablesen zu können... diese Tortur... Was ihr Gift ihm antat... Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Es war ein Mensch, der hier vor ihr lag. Ihr Freund. Ein lebender Mensch mit einem eigenen Leben, das hier, in diesem Augenblick, restlos aus den Fugen geriet, in Trümmer ging, einstürzte und zerbrach... Was sie fast noch mehr traf, allerdings, war diese seelische Qual in seinen Augen. "Ai... Ai, sie wartet doch auf mich..." Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, sie konnte ihn kaum verstehen. Aber sie klang so verzweifelt. Sie sah, dass er litt; darunter litt, seine Freundin schon wieder zurücklassen zu müssen. Sie wusste nicht, ob er es ihr gesagt hatte... aber allein diese gewisperten Worte, diese offensichtliche Sehsucht nach ihr, nach Ran, versetzten ihr einen Stich. Warum hatte sie ihm nicht gesagt, dass das Gegengift nur 24 Stunden halten würde? Sie biss sich auf die Lippen, Schuldgefühle machten sich in ihr breit. Er hätte seine letzten Stunden als Shinichi bestimmt anders gefüllt als mit dem Lösen eines Mordfalls, hätte er es gewusst. Und dann wäre das hier… nicht ganz so überraschend… Er schrie erstickt auf, und lenkte damit Ais Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Sie ließ sich zu Boden sinken, näherte sich ihm, griff ihm an die Stirn. Sie war heiß. Nicht nur warm, sondern heiß. Er schwitzte und er schien erschöpft. Mit den Kräften am Ende. "Shinichi!" Ai rief leise seinen Namen, nahm sein Gesicht in beide Hände. "Shinichi, es wird gleich vorbei sein... du kennst das doch... du weißt das doch... halt durch..." Er sah sie müde an. "Warum passiert mir das? Was hab ich der... Welt... getan... dass sie sich so an mir rächen muss...?" Sie starrte ihn an, sprachlos. Und erkannte erst jetzt, dass sie nichts über ihn wusste. Über Shinichi Kudô. Sie wusste nur, er liebte Ran… aber über seine Vergangenheit… war ihr nichts bekannt. Nichts, dass ihn ihr näher brachte. Als er zusammensackte, konnte sie ihn nicht halten. Er lag auf den kalten Fliesen, zusammengekrümmt wie ein Embryo, atmete schwer. Sie griff nach seiner Hand, hielt sie mit beiden Händen, fest, harrte aus neben ihm - teilte seinen Schmerz. Jegliches wissenschaftliches Interesse war längst verschwunden. Kurze Zeit später lag, in einem Anzug der ihm viel zu groß war, Conan Edogawa. Ein leiser Schrei riss sie aus ihrer Erinnerung. Sayuri hatte geschrien, als die Maus zu schrumpfen begann. Es war nicht richtig, Sayuri zu zwingen, sich das anzutun, das wusste sie. Eigentlich sollte sie sie sofort hier raus bringen. Sie warf ihr einen Blick zu, die mit starren Augen die Maus betrachtete, die langsam immer kleiner wurde, wie gefangen auf die Tischplatte schaute, wimmerte, als sie sah, wie das Tierchen sich quälte. Sie tat es nicht. Sie zog sie nicht weg, brachte sie nicht raus… weil sie wollte, dass sie verstand. Nur wer wusste, durch welche Hölle er gegangen war… konnte verstehen, was er alles erlebt und erlitten hatte, auch, als Conan schon lange der Vergangenheit angehört hatte. Und dann… nach ein paar Minuten… … war es still. Sayuri klammerte sich an der Tischplatte fest, blickte erschüttert auf die Maus auf dem Tisch vor ihr. Eine Träne rollte ihr aus dem Augenwinkel. Sie war ein Baby. Eine kleine Babymaus. Das Mädchen geriet ins Wanken. Es war wahr. Alles was er geschrieben hatte, war wahr… Der Professor griff nach ihrem Arm, hielt sie fest. „Oh mein Gott...“ Sie hauchte die Worte nur. Shiho starrte immer noch auf die kleine Maus, ließ sie liegen, wo sie war. Ihre Augen waren glasig, Tränen begannen über ihr Gesicht zu laufen. Dann wandte sie sich seiner Tochter zu, schaute sie lange an, bevor auch nur ein Wort über ihre Lippen kam. „Wie du siehst… hier ist der Beweis.“ Sie räusperte sich, schluckte hart. Als sie nun sprach, wandte sie den Blick ab. Sie schaffte es nicht mehr, ihr ins Gesicht zu sehen. „Es tut mir Leid, Sayuri. Wie du siehst… habe ich deinen Vater ermordet. Es war mein Gift, das ihm das angetan hat…“ Und nun hasse mich wenigstens du dafür… Sayuri warf ihr einen verängstigten Blick zu - dann rannte sie nach oben, atemlos, griff sich das Buch vom Wohnzimmertisch und wollte nach Hause laufen, schnell, schnell weg hier, als der Professor sich ihr in den Weg stellte. Sie blieb stehen, starrte ihn nervös an. „Lassen Sie mich gehen… bitte?“ Ihre Stimme bebte. Es war ihr anzusehen, dass dieser Ort für sie nun nicht mehr der gleiche war, wie vorher. Dass die Menschen, die dieses Haus bewohnten, für sie nicht mehr dieselben waren, wie noch vor ihrem Besuch. Agasa schaute sie betrübt an, schüttelte langsam den Kopf. „Nein… Sayuri… ich würde dich bitten, noch mal hereinzukommen. Komm mit… Kleines. Komm. So kann ich das nicht stehen lassen. Shiho hat es gut… gemeint, aber ich denke, sie ist übers Ziel hinausgeschossen.“ Sie schaute ihn zweifelnd an, man sah ihr an, wie unwohl sie sich fühlte, wie sehr sie die letzten Minuten aufgewühlt hatten. Er zog sie mit sich in die Küche, kochte ihr eine Tasse sehr süße heiße Schokolade, setzte sich ihr gegenüber hin. Sayuri bebte am ganzen Körper, trank dankbar ein paar Schlucke der warmen Flüssigkeit. „Es stimmt, wenn sie sagt, dass er sehr gelitten hat. Er hat viel aushalten müssen, dein Vater. Und diese Sache mit dem Gift war nicht... einfach.“ Er schaute seiner jungen Nachbarin ins Gesicht, seufzte dann. „Aber ich denke, er würde mir zustimmen, wenn ich sage, dass sein Leben… nicht nur aus Leid und Schmerz bestand. Er hat gern gelebt, mit allem, was er hatte. Er hat geliebt… und gelitten. Er hat viel geopfert aber auch viel gewonnen. Er hat… er war kein Mann der halben Sachen, Shinichi. Er hat intensiv gelebt… hat mitgenommen, was ging. Er war… er war ein höchst faszinierender Mensch; hatte hohe Moralvorstellungen, schon sehr früh einen sehr ausgeprägten Sinn für Recht und Unrecht. Er hat sich für Gerechtigkeit eingesetzt, hat nichts mehr verehrt als die Wahrheit. Er hat für sie gekämpft, deswegen wurde er Detektiv. Er wollte wohl auf seine Weise die Welt verbessern… er wollte Unrecht aufdecken… und bei einer seiner Aktionen kreuzten sich seine Wege mit denen der Organisation. Der Fall… hat ihn zu mehr Ruhm verholfen, als er sich je erträumen hätte können… und gleichzeitig hat er damit mit sechzehn sein Todesurteil unterzeichnet, ohne es zu wissen… weil er zu neugierig war. Weil sein Instinkt ihn wieder einmal nicht getrogen hatte. Die Nachricht, dass er so bald schon sterben würde, hat ihn hart getroffen; aber aufgegeben hat er nicht. Er hatte seine Tiefs, ja, aber es gab Gründe für ihn, jede Minute, die ihm noch blieb, zu nutzen.“ Agasa schluckte, kniff die Augen zu, öffnete sie wieder, blinzelte heftig. „Nach dem, was du gesehen hast, magst du vielleicht glauben, sein Leben war nur von Schmerz bestimmt… eine Aneinanderreihung von unglücklichen Zufällen. Das stimmt; aber nur zum Teil. Er hat sein Leben durchaus auch genossen. Trotz oder gerade wegen all dieser Tiefschläge. Ich will nicht, dass du glaubst, du müsstest ihn bemitleiden, denn Mitleid war das Letzte, was er wollte. Bis zum Ende wollte er keins. Und von dir…“, er lächelte traurig, strich ihr über den Kopf, „würde er erst Recht keins wollen.“ Sayuri schaute ihn betroffen an. „Kannten Sie… kannten Sie ihn gut, Professor? Meinen… meinen Vater?“ Der alte Mann nickte schwer. „Er war… er war wie eine Art Enkel für mich. Ich kannte ihn schon, da schob ihn Yukiko noch im Kinderwagen. Ich… denke doch, ich kannte ihn gut. Aber… ich denke, am meisten wirst du wohl erfahren, wenn du weiter liest, was er dir aufgeschrieben hat… ich wollte nur, dass du weißt… dass nicht sein ganzes Leben nur Schmerz war.“ Er seufzte schwer. Sayuri nickte, nippte an ihrer Tasse. „Shiho… Shiho hat ihn geliebt, weißt du. So sehr geliebt, dass sie nie versucht hat, ihm sein Glück, Ran, zu nehmen. Aber sie hat… hat sich nie verziehen, den Menschen, der ihr soviel gegeben hat, neuen Lebensmut, Freundschaft, Loyalität und das Gefühl, doch gebraucht zu werden… ins Grab gebracht hat. Das was sie treibt… hat selbstzerstörerische Züge. Sie hat bis heute versucht zu verdrängen, was passiert ist. Aber sie… anders wird sie nicht fertig damit. In ihr ist Hass… so großer Hass auf sich selbst, deinen Vater… nunja, nicht umgebracht, aber doch mit Schuld an seinem Tod gewesen zu sein… dass sie damit fast nicht fertig wird. Sie hat nur deswegen noch nicht aufgegeben, weil er ihr damals das Versprechen abgenommen hat, sich nicht zugrunde zu richten. Aber sie… sie bedauert so unendlich… dass sie dir und ihm und Ran… soviel vorenthalten hat. Verstehst du das?“ Er schaute sie abwartend an. Sie leerte ihre Tasse langsam, schaute ihn dann an. Sie war bleich im Gesicht, aber sie nickte. „Ja… ich denke schon.“ Sie stand auf. „Aber ich denke, ich gehe jetzt besser.“ Er seufzte leise, erhob sich ebenfalls. „Wahrscheinlich hast du Recht.“ Der alte Mann begleitete sie zur Tür. Kurz, bevor sie nach draußen ging, drehte sie sich noch einmal um. „Sagen Sie, Professor… vermissen… vermissen Sie ihn…?“ Agasa schaute sie traurig an. „Ja.“ Er schaute zu Boden. „Ich werde… den Tag nie vergessen, als er das letzte Mal aus dieser Tür schritt…“ Sayuri schluckte, dann drehte sie sich um und ging. Professor Agasa beobachtete sie, bis sie um die Ecke verschwunden war. Dann wandte er sich um, ging schweren Herzens nach unten ins Labor, wo er Shiho fand. Sie saß am Boden, in Tränen aufgelöst, die Katze an sich gedrückt. Die freudige Nachricht ---------------------- Guten Tag, verehrte Leserinnen und Leser! Oder besser guten Abend. ^-^ Vielen, vielen Dank für die Kommentare im letzten Kapitel! Es freut mich, dass euch auch die Stelle mit Ai und Conan in der Herrentoilette gefallen hat! Ich hab mir da mal Gedanken darüber gemacht; und dann kam das dabei raus. Ich dachte mir einfach... so kalt kann sie das nicht lassen, das mitanzusehen. Ansonsten... hab ich hierzu wohl nichts weiter zu sagen; das Kap, das folgt, ist wie im letzten Kapitel angekündigt, ein Vergangenheitskapitel; und es ereignet sich noch nicht so viel... aber es ist wohl ein kleiner Auftakt auf das, was demnächst kommt. Ich wünsche gute Unterhaltung, Viele Grüße, eure Leira :) _______________________________________________________________________________ Kapitel 2: Die freudige Nachricht Vergangenheit Die Sonne schien durchs Fenster, brachte die Füllfeder zum Glimmen, als er die letzten Worte schrieb und einen Punkt setzte. Es war Samstag, ein schöner Sommertag. Das Fiasko von vor ein paar Tagen war kaum mehr als ein Schatten; Shinichi merkte, dass Ran, seit sie ihr Geheimnis nun endlich mehr oder minder freiwillig geteilt hatte, wieder viel befreiter war. Er hegte immer noch Bedenken; aber ihm blieb nichts weiter übrig, als sie zu äußern, und sich ansonsten zu arrangieren. Sie bekamen ein Baby; oder zumindest bekam Ran eins. Er in diesem Sinne ja nicht; aber auch das… konnte er nicht ändern. Die Machtlosigkeit machte ihn schier wahnsinnig, manchmal. Er wusste es nur wenige Tage, und doch kamen sie ihm wie Wochen vor… die Zeit lief dahin, und er konnte nichts tun. Er konnte nichts tun. Seine Sorgen, seine Bedenken deswegen waren zu einem wahren Berg angewachsen, und das in nur zwei Tagen. Er hatte lange nachgedacht, ihm waren alle möglichen Schwierigkeiten in den Sinn gekommen, und all diese Gedanken ließen ihm keine Ruhe. Und ließen in sich auch nicht wirklich freuen, auch wenn er wollte. Er wollte. Irgendwann hatte er für sich beschlossen, es sich nicht schwerer zu machen als nötig, und eine gewisse Distanz nicht zu unterschreiten. Er wollte sich gern freuen, ja... aber vielleicht war es besser so. Besser, wenn er nicht zu sehr aufging in seiner Rolle des werdenden Vaters; denn je mehr er sich hineinziehen ließ, umso schwerer würde später der Abschied werden. Er seufzte, schraubte seinen heißgeliebten Füllfederhalter zu, ließ seine Augen noch mal konzentriert über das gerade Geschriebene gleiten. Dann quietschte die Tür leise und Ran erschien im Türstock, schaute ihn interessiert an. Dann fiel ihr Blick auf das Buch am Tisch und den Füller in seiner Hand. „Sag mal, was machst du da eigentlich?“ Er trank seinen Kaffee aus, überflog die letzten Zeilen, klappte das Buch zu. „Nun...“ Er schluckte, schaute sie ein wenig betrübt an, versuchte nichtsdestotrotz ein Lächeln. „Ich schreibe so etwas Ähnliches wie meine Memoiren…“ „Deine… Memoiren?“ Ein erschrockener Ausdruck machte sich auf ihrem Gesicht breit. Er verschränkte seine Hände auf dem Notizbuch. „Etwas Ähnliches, sagte ich. Ich… beantworte Fragen, die…“, er blickte auf Rans Bauch, deutete mit dem Füller in ihre Magengegend, und zog die Augenbrauen zusammen, „er oder sie vielleicht einmal stellen wird… bezüglich meiner Person.“ Sie kam näher, zog die Tür hinter sich zu. „Shinichi.“ Ihre Stimme klang sanft, aber auch ein wenig bedrückt. Er blickte aus dem Fenster, beobachtete, wie der Professor den Müll ausleerte. Dann wandte er sich wieder ihr zu. Er seufzte leise, strich ihr über die Wange. „Ich denke, das… das… Kind… hat ein Recht darauf, zu wissen, wie das alles kam… und ich will dir die Last nicht aufbürden, es ihr oder ihm zu erzählen. Du sollst das nicht tun müssen. Ich denke, ich mache das am Besten selber. Außerdem… hätte ich gern… auch ein Wort dabei mitzureden, was mein Sohn oder meine Tochter mal von seinem oder ihrem alten Herrn denkt…“ Shinichi griff sie an der Hand, zog sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Lippen. „Weißt du eigentlich, was du dir da angetan hast…?“ „Das Beste, was mir je passieren konnte …“, murmelte sie, lächelte. „Sei dir da mal nicht so sicher…“ „Shinichi!“ Sie schaute in entsetzt an, nahm seinen Kopf in beide Hände. Er schluckte, seufzte leise. „Du kennst meine Bedenken.“ Sein Blick schweifte wieder ab. „Ja, das tu ich…“, murmelte sie leise. „Aber denkst du nicht, dass du wenigstens ein paar… deiner Sorgen… vergessen kannst?“ „Nein.“ Sie schaute ihn ein wenig bekümmert an, strich ihm mit den Fingerspitzen unablässig seine Ponyfransen aus der Stirn; dann verfinsterte sich ihr Gesicht schlagartig, als sie neben dem zugeschlagenen Buch ausgebreitet die Fotos der Perlen entdeckte. Darauf hatte sie ihn noch gar nicht angesprochen... insgeheim hatte sie ja gehofft, ihn würde die Nachricht über ihre Schwangerschaft dazu bringen, vorzeitig auszusteigen. Offensichtlich war diese Hoffnung umsonst gewesen. Trotzdem musste sie ihn fragen… vielleicht änderte sie ja seine Meinung doch noch. „Was… was ist mit dem Fall…?“ Ihre Stimme zitterte. „Gibst du ihn ab…?“ Er schüttelte den Kopf, schaute kurz zur Seite, holte Luft. „Nein.“ Ran schloss in stummer Verzweiflung die Augen, starrte an die Decke. „Shinichi…“ „Nein. Und sag nicht, du hättest was anderes erwartet.“ Shinichi stand auf, griff sie an den Schultern, hob dann mit einer Hand ihr Kinn an. „Nein, Ran. Aber ich pass auf mich auf, ich versprechs… wirklich. Ich werd… versuchen, nicht noch mal in so ein Tief zu kommen, wie das letzte Mal. Aber du siehst doch ein, dass… dass ich nicht aufhören kann, jetzt erst Recht nicht. Er weiß, wer ich bin, weiß…“, er schluckte hart, „dass wir geheiratet haben; und… wer weiß… wie lange ihm die Tatsache verborgen bleibt, dass wir Eltern werden. Ich kann ihn nicht rumlaufen lassen, Ran, nicht nur, weil er ein Psychopath ist, der unschuldige Frauen umbringt, nein… für meinen Geschmack ist er meiner Familie schon viel zu nahe gekommen.“ Sie schaute ihn starr an. Er wandte hilflos den Kopf ab, ließ seine Arme wieder sinken. „Ich habe Angst um dich… um… euch… du musst mir erlauben, solange ich noch kann, auf euch aufzupassen, Ran. Und das beinhaltet diesen Fall nun mal…“ Er drehte ihr den Kopf wieder zu, schaute sie entschlossen an. „Ich werd ihn kriegen. Es dauert nicht mehr lange.“ Sie verdrehte ihre Augen, stöhnte. „Wo hab dich das bloß schon mal gehört...?“ Er lachte leise. „Diesmal stimmt es aber. Ich weiß es.“ Ran seufzte, beugte sich vor, lehnte ihre Stirn an seine, schaute ihm in die Augen. „Aber pass auch auf dich auf... sags nicht nur. Ich mag keine leeren Versprechungen.“ „Jaja…“ „Shinichi…!“ Sie starrte ihn vorwurfsvoll an. „Ich will dich nicht… nicht mehr so kaputt erleben… so am Boden zerstört, so fertig… hörst du…?“ Sie flüsterte es nur, schaute ihn durchdringend an. „Du weißt, ich kann dir das nicht versprechen…“ Sie seufzte. „Aber du… versuchst es wenigstens.“ „Das kann ich dir sogar schwören.“ Er hob die Hand, lächelte sie an. „Und nun mach dir nicht so viele Sorgen. Diese Falten auf der Stirn bleiben dir sonst.“ Irritiert hob sie die Hand, strich sich über die Stirn, als er ihre Finger griff und ihr einen Kuss auf die Fingerspitzen drückte. Dann klingelte es an der Tür. Er stand auf, ging, um zu öffnen. Ran folgte ihm. Es waren Eri und Kogorô. Ran verschluckte sich fast. Sie hatte ganz vergessen, den beiden zu sagen, dass Shinichi… es nun wusste. Sie wollte gerade ihr Versäumnis nachholen, als ihr Vater, der ihre Reaktion wohl falsch deutete, ihr einen warnenden Blick zu warf und die Hand hob, zum Zeichen, dass sie still sein sollte. „Wir müssen mit dir reden.“ Kogorôs Stimme klang ernst. Shinichi seufzte. Ein Blick in das erschrockene Gesicht von Ran, und der Fall war klar für ihn. „Nein, müsst ihr nicht.“ Er hatte eine Ahnung, was jetzt kommen würde. „Doch, das müssen wir…“ Eri warf einen Blick zu ihrer Tochter. „Hör zu, Ran ist…“ „… schwanger. Ich weiß.“ Nun war es an Eri und Kogorô, zu staunen. „Seht mich bitte nicht so an. Ich weiß es seit vorgestern.“ Ran ließ ihre Stirn auf seine Schulter sitzen, griff nach seiner Hand. „Es war nicht zu übersehen.“, fügte er trocken an. Kogorô warf ihm einen verständnislosen Blick zu, während Eri wissend lächelte. „Und…?“, brach es schließlich aus ihm hervor, während sie Shinichi und Ran in die Küche folgten. „Was und…?“ Shinichi seufzte leise. „Ich mache… mache keinen Hehl daraus dass ich… dagegen war. Und ich bin auch jetzt noch nicht restlos begeistert, und werde es auch… nie ganz sein, weil ich mir einfach… weil ich mir einfach Sorgen mache. Aber es ist passiert… es ist nicht zu ändern. Ich kann nur versuchen, das Beste daraus zu machen…“ Er lächelte etwas hilflos. Eri und Kogorô starrten ihn bekümmert an. „Hör zu, wir werden selbstverständlich uns um sie kümmern…“, murmelte Kogorô. Shinichi schluckte, schaute kurz zu Boden. „Ja, das… das haben meine Eltern auch gesagt. Also brauch ich mir ja keinen Kopf mehr zu machen, oder?“ Er lachte humorlos, traurig, dann räusperte er sich. „Ich… wir kommen schon klar. Macht euch keine Gedanken.“ Eri und Kogorô schauten von einem zum anderen. Dann fiel Eris Blick auf die Uhr. „Tja… das war es eigentlich, weswegen wir gekommen sind. Nachdem du es ja weißt... und noch nicht die Scheidung willst...“, sie lächelte gezwungen über ihren eingenen Witz, „fürchte ich fast, ich muss euch schon wieder verlassen. Ich habe heute ein außerordentliches Treffen mit einem Mandanten…“ Sie schluckte. Kogorô nickte langsam. „Ich will euch dann auch nicht länger stören. Ihr habt sicher noch genug zu tun. Deine Eltern sind ja noch im Hotel oder?“ Er wandte sich Shinichi zu. „Die werden nicht mehr aus der Stadt zu kriegen sein, fürchte ich.“, antwortete dieser seufzend. „Dann werde ich sie vielleicht mal… besuchen…“ „Ja, mach das…“ Betretenes Schweigen breitete sich aus. Irgendwie wollte keinem so Recht etwas einfallen, um die Stille zu überbrücken. Schweigend ging das Ehepaar Mori nebeneinander her, nachdem es sich von dem jungen Paar verabschiedet hatte, bis es vor der Detektei angekommen war, die schon lange keinen Klienten mehr gesehen hatte. Sie blieben stehen. Lange schaute Eri ihren Mann von der Seite her an. „Kogorô… aber wirklich glücklich sieht er nicht aus…“, murmelte sie dann. „Wie kannst du das auch erwarten, Eri. Aber dafür schlägt er sich ohnehin noch gut. Gib ihm ein wenig Zeit… um halbwegs klar zu kommen.“ Er räusperte sich, dann wandte er sich um, stieg die Treppen in die Wohnung hoch. Sie seufzte schwer, stieg in ihr Auto. Shinichi schaute Ran entschuldigend an. „Ich… es tut mir Leid… sonderlich gut ist das ja nicht gelaufen.“ Sie schüttelte den Kopf, strich ihm sanft über die Wange. „Nicht so schlimm. Ich hätte ihnen ja auch mal früher was sagen können. Und wo wir grad dabei sind… wem wollen wir’s denn eigentlich sagen? Ein paar… nunja… wir müssen uns mal Gedanken machen. Patentante und so…“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Tante?“ „Nun ich dachte…“, begann sie, druckste herum. „Sonoko.“, seufzte er. „Wenn’s ein Mädchen ist, ja…“ „Und wenn’s ein Junge wird?“ „Dann darfst du dir jemanden aussuchen, dem wir die Ehre zuteil werden lassen.“ Sie stupste ihn an der Nase, versuchte ein Lächeln. Er lächelte zurück. „Da musst du eigentlich gar nicht mehr fragen…“ „Heiji.“ „Wer sonst.“ Shinichi grinste nun doch. „Ich hab nur den einen wirklichen Freund, den ich fragen könnte.“ Sie ließ sich von seinem Grinsen anstecken, fühlte, wie ihr wieder ein wenig leichter wurde. „Dann ruf ihn doch gleich an. Oder fahr ihn besuchen. Und ich geh zu Sonoko.“ „Ja, das könnten wir machen.“ Er nickte. „Und wir müssen es Agasa und Shiho noch sagen…“ Ran nickte. Dann gab sie ihm einen zarten Kuss auf die Wange. „Es tut mir Leid, dass ich dir das antue… aber…“ Er schluckte, legte seine Arme um sie, drückte sie an sich und atmete den Duft ihrer Haare ein. „Ist schon gut, Ran. Schon gut…“ „Was? Nich’ dein Ernst! Aber ich dachte, du wolltest nich…?“ Shinichi seufzte tief. Die Reaktion Heijis auf die Neuigkeit, dass er Vater… werden würde, war absolut vorhersehbar gewesen. Ja, genau so hatte er sich das vorgestellt. „Ja, das stimmt schon. Ich wollte auch nicht. Aber sie halt… nun… wie soll ich sagen… ich hätte es ihr nicht zugetraut, aber sie hat…“ „Dich `reingelegt?“ Heijis Kinnlade fiel herunter. Shinichi lächelte bitter ob der Wortwahl seines Freundes. „Sozusagen, ja. Sie war schon schwanger, als sie mich gefragt hat, ob ich überhaupt ein Kind will.“ Er ließ sich mal wieder auf Heijis Hotelbett sinken. „Nun isses halt passiert.“ „Und wie fühlste dich?“ Heiji schaute seinen Freund besorgt an. „Willst du Patenonkel sein, wenn’s ein Junge ist?“ Heijis Mund öffnete und schloss sich wieder, ohne dass ein Laut aus ihm hervorgedrungen wäre. „Du verstehst es, das Thema zu wechseln, Shinichi.“, murmelte er dann. Shinichi fuhr sich über die Augen. „Heiji… du kennst meine Bedenken. Sie haben… sie haben sich nicht geändert. Und… ich… es macht mich ziemlich fertig, dass… nun… er oder sie ohne Vater aufwachsen wird.“ Er starrte blicklos zu Boden. „Nie wissen wird, wer ich bin, genauso wie ich nie wissen werde, was aus ihm oder ihr wird… was für ein Mensch… mein Kind werden wird…“ Er lächelte hilflos, als er sich seinem Freund zuwandte. „Aber es hilft doch nichts, oder? Es hilft nichts. Ran ist schwanger, sie wird das Kind kriegen, ich sollte mich mal ein wenig ausklammern in dieser Beziehung…“ Heiji schaute ihn erschüttert an. „Ich sollte aufhören, mal immer nur an mich zu denken…“ Shinichis Stimme verlor sich. Heiji schaute ihn ernst an. Aber das tustde doch nicht… „Ich mach' gern den Patenonkel wenn’s ´n Junge wird.“, brach es aus Heiji hervor. Shinichi lächelte bitter, wenn auch ein ganz klein wenig amüsiert. „Du kannst das Thema längst nicht so gut wechseln wie ich.“ Heiji ließ den Kopf sinken. „Ich weiß. Aber ich… weiß nich’, was ich dir sagen kann, ob ich dir etwas raten kann. Ich kann dir nich’ helfen, und das treibt mich in den Wahnsinn… ich kann dich verstehen, du… tust mir Leid… ich… es ist nich’ fair. Nein, das isses nich’... Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass ich immer ein offenes Ohr haben werde, wenn du mal was loswerden willst; und dass ich, egal ob Junge oder Mädchen, für dein Kind genauso ein Freund sein werde, wie ich für dich einer war; ein wenig väterlicher vielleicht. Wenn du das willst, heißt das.“ Shinichi schaute ihn lange an. „Ich danke dir.“ „Das musstde nich’.“ Heiji schüttelte den Kopf. „Nein, das musstde echt nich’. Es ist mir ein Vergnügen… und eine Ehre.“ „Na, jetzt wirst du pathetisch.“ „Na, bist du’s etwa nich’?“ Shinichi verengte die Augen zu Schlitzen, schaute ihn aus dem Augenwinkel an. Dann seufzte er resignierend. „Doch. Touché.“ Heiji grinste ihn an. „Wie geht’s Ran?“ Shinichi wiegte den Kopf. „Gut… denke ich. Sie ist bei Sonoko, fragt sie, ob sie Patentante werden will, wenn’s ein Mädchen wird.“ Heiji nickte verständnisvoll. „Und was machen wir beide jetzt?“ „Weiß nicht… oder doch; wir könnten im Fall weiter machen.“ „Shinichi… das is’ nich’ dein Ernst.“ Heiji schaute ihn nüchtern an. Im Moment fehlten ihm die Worte. Er hätte eher gedacht, vielleicht ein wenig zu feiern… allerdings keimte ihn ihm langsam die Erkenntnis, dass für Shinichi die Tatsache, dass er Vater werden würde… nicht unbedingt ein Grund zum Feiern war. Er seufzte. „Es is’ dein Ernst.“, murmelte er dann. Shinichi nickte langsam mit dem Kopf. „Ja, ist es.“ Er schaute ihn an. „Und davon abgesehen, Heiji, ist das unser Job. Er wird nicht aufhören, Leute umzubringen, bis wir ihn haben, das wissen wir beide. Also komm schon. Fahren wir aufs Revier. Ich muss dich wohl nicht dran erinnern, was für ein Tag heut ist, oder?“ Heiji schaute ihn ratlos an. Shinichi seufzte genervt. „Gut, da du’s anscheinend doch vergessen hast, wie’s scheint: es ist Samstag… das heißt, morgen ist Sonntag. Er hat zwar noch keine Warnung geschrieben, aber…“ Heijis Kinnlade klappte nach unten, dann nickte er, dem Argument seines Kollegen war wohl nichts entgegenzusetzen. „Wie konnt’ ich das vergessen?“, murmelte er fragend. „Schiebs auf die äußeren Umstände.“, antwortete Shinichi jovial, klopfte ihm auf die Schulter. Dann stand er auf, ging zur Tür, hielt inne. „Hör zu, ich weiß, dass du mein Verhalten für irrational hältst, aber ich bitte dich…“ Der Detektiv aus Osaka schüttelte den Kopf, schnitt ihm damit das Wort ab. „Is’ schon gut, Kudô. Du brauchst dich nich’ zu erklären…“ Er schaute ihn etwas bedrückt an. Es schmerzte ihn, zu sehen, dass sich Shinichi nicht vorbehaltlos freuen konnte; dass er nicht einmal zu viel darüber nachdenken konnte. Und er ahnte, dass es jetzt einfach nötig war, dass er sich mit etwas anderem befasste, als mit dem Gedanken an ein Kind, dass seins war, aber gleichzeitig nie seins sein würde. Shinichi… schien wohl für sich beschlossen zu haben… eher auf Distanz zu bleiben… um sich selbst nicht unnötig zu verletzen. Eine Einstellung, die er zwar nicht billigte, aber vorbehaltlos nachvollziehen konnte. Geschlagen seufzte er. Beschäftigen wir dich also ein wenig… „Hallo Ran!“ Sonoko lachte ihre Freundin an, als sie ihr die Haustür öffnete. „Schön dich zu sehen!“ Sie zog sie an sich und drückte sie kurz. „Komm mit, wir gehen ins Wohnzimmer. Was wolltest du mir denn so dringendes mitteilen? Ich muss sagen, du hast mich echt neugierig gemacht…!“ Sonoko lachte erneut, öffnete ihrer Freundin die Tür ins Wohnzimmer, wo bereits Tee und Kuchen auf dem Tisch stand. „Dafür setzt du dich besser“, murmelte Ran geistesabwesend, schaute auf den liebevoll gedeckten Tisch. Sie dachte an Shinichi, und wie er es hatte erfahren müssen. Tee und Kuchen wären eindeutig die bessere Option gewesen, um ihm zu sagen, dass sie sein Kind erwartete. Oder irgendeine der vielen anderen hübschen Arten, wie man einem werdenden Vater von seinem Glück berichten konnte. Er stattdessen… Ran schreckte aus ihren Gedanken, als sie ein leise gluckerndes Geräusch vernahm. Eine gepflegt aussehende Haushälterin in weißer Uniform schenkte Tee in die zwei Tassen und verschwand dann, als die beiden jungen Frauen sich setzten. „Also, Ran, jetzt machs mal nicht so spannend…“ Sonoko griff nach einem Schokoladeneclair. „Sonoko…“ Ran schaute sie an, merkte, wie ihr plötzlich das Herz bis zum Hals schlug. „Ich hab was Furchtbares gemacht…“ Eine Träne rann ihr aus dem Augenwinkel. Die blonde Frau ließ ihren Kuchen, von dem sie gerade ein Stück abbeißen hatte wollen, auf den Teller zurück sinken, schaute ihre Freundin erschrocken an. „Aber Ran… Ran, was ist denn?“ Ran schaute sie etwas schüchtern an. „Ich hab ihm was Schlimmes angetan, Sonoko…“ „Wem, ihm? Shinichi?“ Sonoko zog die Augenbrauen zusammen. Ran nickte. „Ran, jetzt… bitte… sag doch, was los ist…“ Sonoko schluckte. Sie wusste, wie sehr Ran litt unter dem Gedanken, dass ihr Mann sie bald verlassen würde, sterben würde… aber sie hatte keine Ahnung, was jetzt los war. Ran holte Luft. „Weißt du… ich denke, du kannst dir vorstellen, dass ich immer gern eine Familie wollte… eine eigene…“ Sie schniefte. Sonoko nickte. „Nun, da… als… als Shinichi mir erzählt hat, an diesem Tag… dass er… dass er…“ „Schon gut. Ich weiß es ja. Was war dann? Erzähl da weiter…“ „Ich habe beschlossen, dass ich diese Familie trotzdem haben will. Und da hab ich…“ Sonokos Augen wurden groß. „Ran…“ Die Angesprochene schüttelte den Kopf. „Ich hab nur noch an mich gedacht, gar nicht mehr an ihn. Ich dachte mir, dass er wahrscheinlich keine Kinder haben will, wo er sich doch nicht mehr darum kümmern kann… da hab ich… nun. Ich wollts unbedingt, verstehst du? Unbedingt… und bevor er was dagegen tun kann, dachte ich… Ich hab mit ihm erst… über Kinder geredet, als ich es schon längst wusste, dass es zu spät war. Natürlich… war er dagegen. Und ich kann ihn ja verstehen. Es quält ihn. Er kann so viel nicht mehr erleben, und das weiß er, und er will mich auch nicht mit einem Kind allein lassen, und deswegen dachte ich… ich hab immer wieder mit ihm geredet, aber er hat seine Meinung nie geändert, dabei…“ „Warst du schon...“ „Ja.“ „Hast du’s ihm gesagt…?“ „Nein. Ich hab… mich nicht getraut. Ich hab erst viel zu spät bemerkt, wie kaputt ihn der Gedanke machen könnte. Nun… er hat’s trotzdem herausgefunden. Vorgestern… du hast doch sicher gehört… Morgenübelkeit…“ Sonoko schluckte. „Oh nein…“ Ran holte tief Luft. „Er ist… er war… ich werds nie vergessen… dieses Entsetzen. Er stand in der Tür, und allein wie blass er geworden ist, als er erkannte… Ich hab ihn betrogen, belogen, hintergangen. Ich hab seine Meinung nicht respektiert, alles in den Wind geschlagen, was ich ihm versprochen hab bei unserer Hochzeit… wie war das mit dem lieben und ehren...? Er war… wütend. Ja. Dann ist er gegangen. Er hat… nachdenken müssen. Und er hat mir noch mal erklärt… warum er eigentlich lieber keins gehabt hätte… Sonoko…“ Tränen rannen ihr von Neuem über die Wangen. „Verziehen hat er mir trotz allem. Ich hab so was nicht verdient. Er hat es ohnehin schon so schwer, auch ohne dass ich im das Leben noch mehr zur Hölle mache, als es ohnehin schon ist.“ Sie nahm das Taschentuch, das ihr ihre Freundin reichte. „Sonoko, dieser Schmerz in seinen Augen… der Gedanke, nicht einmal die Geburt seines Kindes zu erleben… er wird es nie sehen… das Kind wird ihn nie kennen lernen… ich hab… es ihm leichter machen wollen, stattdessen mach ich es ihm schwerer…“ Sonoko seufzte, zog ihre Freundin an sich, umarmte sie sacht. „Wie geht’s ihm jetzt?“ „Du kennst ihn… er versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Aber man sieht es ihm doch… manchmal an. Diese Welt ist nicht fair… einfach nicht fair…“ Sie schluchzte. Der Gedanke, dass sie ein Kind von einem Mann erwartete, den sie mehr liebte als alles andere auf der Welt… Der sie mehr liebte, als sie es ihres Erachtens verdiente… … und der in wenigen Monaten sterben würde… trieb sie an den Rand des Wahnsinns. Nie war ihr das alles so klar gewesen wie in diesem Moment, als sie es Sonoko erzählt hatte. Sich selbst noch einmal darüber reden zu hören, die Geschehnisse alle noch einmal Revue passieren zu lassen… brachte sie nahe an einen Nervenzusammenbruch. Sie wollte gar nicht dran denken, dass er bald nicht mehr da sein würde. Dass sie sein Kind allein kriegen würde, allein im Krankenhaus… Immer mehr Tränen strömten über ihr Gesicht, Sonokos Worte drangen gar nicht mehr bis zu ihr vor. Sie weinte. Und hörte nicht auf. Hörte einfach nicht mehr auf. Shinichi war gerade aus dem Auto gestiegen, als sein Handy klingelte. Heiji schaute ihn fragend an. Er zuckte mit den Achseln, hob ab. „Kudô?“ Er lauschte, begann, sich auf die Lippen zu beißen. „Ja, sofort. Bis gleich.“ Er wandte sich Heiji zu. „Steig ein, Hattori. Wir müssen zu Sonoko fahren.“ Er seufzte schwer. Der Osakaer Detektiv schaute ihn an. „Ran…?“ „Wer sonst…“, murmelte Shinichi, ließ den Motor an, legte den Rückwärtsgang ein, kurbelte am Lenkrad und gab Gas. Wenige Minuten später schlängelten sie sich durch den Stadtverkehr zu Sonokos Luxuswohnung. Der Kies knirschte, als er das Auto in der Einfahrt parkte. Er und Heiji stiegen aus, eilten die Treppen hoch; die Haustür ging auf, noch ehe sie ganz hinaufgekommen waren. Sonoko stand in der Tür, starrte ihn an. „Sie ist im Wohnzimmer. Erste Tür links.“ Er nickte nur, dann schlüpfte er aus seinen Schuhen, verschwand in besagtem Zimmer. Heiji und Sonoko blieben an der Tür stehen. Ran kauerte auf dem Sofa, schaute ihn aus rotgeweinten Augen an. Dasselbe Bild… zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen… Er seufzte, setzte sich wortlos neben sie, zog sie an sich. Sie umklammerte ihn, in ihrem Gesicht lag pure Verzweiflung. „Schhh…“ Er gab ihr einen Kuss auf die Schläfe, strich ihr über die Haare. „Ran, was ist denn… ich dachte, das wäre alles geklärt soweit…“, murmelte er sanft. „Ich hätte dir das nicht antun dürfen. Du hast es…“ Er hielt ihr den Mund zu. „Ran, lass gut sein, jetzt. Erstens ist es schon zu spät jetzt, und zweitens, geht es nicht nur um mich. Es geht auch um dich. Und wenn du das unbedingt haben willst…“ „Aber du…“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Es ist schon gut jetzt… es ist schon gut. Wir… ich werd schon fertig damit, Ran. Mach dir um mich nicht so viele Sorgen.“ „Aber…“ „Ah! Kein Aber. Ich dachte du freust dich drauf…?“ „Tu ich auch.“ Sie schniefte leise, ein fast trotziger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. „Und warum brichst du dann hier zusammen? Ich dachte, du wolltest Sonoko fragen…“ „Wollt ich auch…“ „Aber warum dann…?“ Sie seufzte schwer. „Ich musste daran denken, wie du es erfahren musstest… und wie du reagiert hast. Und an dein Tagebuch… Und ich hätte auch gewollt, dass du dich freuen kannst…“ Eine einzelne Träne verließ ihren Augenwinkel. Er strich sie ihr mit dem Daumen weg. „Ersteres war wirklich etwas unglücklich, da stimme ich dir zu. Aber alles andere, Ran… das ist hauptsächlich meine Sache und muss dich doch gar nicht so sehr tangieren. Du musst… damit klarkommen, dass du mich nicht mehr lange hast. Dass du das Kind allein großziehen musst. Dagegen sind mein Probleme wohl lächerlich.“ Sie schaute ihn ernst an. „Sind sie nicht.“ Shinichi legte den Kopf in den Nacken, seufzte schwer. „Gut, sind sie nicht. Aber das sind trotzdem meine Probleme, also lass sie meine Sache sein. Du hast ganz andere, Ran. Kümmere dich lieber darum. Sieh’s als Aufgabenteilung an. Und außerdem…“ Er versuchte ein Lächeln. „Wer sagt dir denn, dass ich mich nicht freue? Ich kann’s nur nicht so zeigen, weil’s für mich auch gleichzeitig so bitter ist… aber ich freu mich doch. Glaub mir bitte…“ Ran schüttelte den Kopf, verstand nicht, wie er es schaffte… wie er noch so stark sein konnte, für sie… soviel Verständnis aufbringen konnte. Dann nährte sie sich ihm, gab ihm einen zarten Kuss. „Ich will dich nicht gehen lassen…“, hauchte sie leise. Er drückte sie an sich, sagte nichts. Dann schaute er auf die Platte mit den Eclairs. „Hast du Sonoko überhaupt gefragt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Willst du jetzt Sonoko noch fragen?“, flüsterte er in ihr Ohr. Sie nickte. „Mhhh…“ „Soll ich mit Heiji wieder verschwinden?“ „Nein… ich hätte gern, dass du bleibst.“ Sie ließ ihn los. „Bitte…“ „Schon gut.“ Er räusperte sich, dann stand er auf, trat auf den Gang. „Bitteschön.“ Er winkte die zwei, die am anderen Ende gewartet hatte, näher. „Geht’s wieder…?“, murmelte Sonoko besorgt. Shinichi seufzte. „Für den Moment.“ Schweigend saß sie neben ihm im Auto. Es hatte zu regnen begonnen, ganz leicht. Sie hatten gerade Heiji im Hotel abgeliefert und waren nun auf dem Weg nach Hause. Lange sagte sie nichts, schaute dem Scheibenwischer zu, wie er von Zeit zu Zeit die Tropfen von der Scheibe zog. Im Radio lief leise Musik. Er hatte sich angewohnt, in der Stadt das Radio nicht zu laut zu machen, um den Verkehr nicht zu überhören. Ran seufzte. „Es tut mir Leid.“ Shinichi, der gerade um die Ecke bog und das Lenkrad fast bis an den Anschlag kurbelte, warf ihr einen überraschten Blick zu. „Ran…“ Er gab Gas, das Lenkrad glitt unter seinen Fingern wieder in die ursprüngliche Position zurück. „Nein. Hör zu, bitte… es tut mir Leid. Nicht dass du nicht ohnehin schon genug zu verdauen hättest… nein… du hast auch noch mich, die in schöner Regelmäßigkeit zusammenbricht, dir noch mehr Kummer macht, dich betrügt und belügt und…“ „Ran!“ Shinichi starrte sie an. „Halt die Klappe.“ Er richtete seinen Blick wieder auf die Straße. „Huh?“ Sie schaute ihn einigermaßen überrascht an. „Na hör mal…“ Er schüttelte den Kopf, lächelte. „Ich liebe dich. Deswegen… wird es mir egal sein, wie oft du noch zusammenbrichst oder sonst wie Kummer hast, solange ich dich wieder aufrichten kann. Ich werde da sein für dich, solange ich noch kann. Nur würde ich dich bitten, mich nicht mehr anzulügen, nicht bei so wichtigen Sachen…“ Shinichi setzte den Blinker, bremste ab. Sie griff nach seiner Hand. „Ich versprechs.“ Er nickte, dann fuhr er auf dem Parkplatz ihres Hauses. „Aber wir müssen uns schon noch über ein paar Dinge klar werden…“, meinte er dann, als er ausstieg. „Wie es weitergehen soll… wenn… ich nicht mehr da bin. Wie… nun… mir wären da ein paar Punkte in der Erziehung wichtig, weißt du… und wir müssen die Finanzen irgendwie klären… wir müssen ein Zimmer einrichten und wir müssen Sachen einkaufen und…“ Ran schaute ihn an. „Alles was du willst.“ Shinichi blickte sie ernst an. „Am wichtigsten wär mir… dass es doch irgendwie glücklich aufwächst, aber ich bin mir sicher, das kriegst du hin... Und versprich mir, bitte, dass du alles tun wirst, um zu verhindern, dass er oder sie Detektiv wird.“ Seine Stimme klang ernst, seine Augen blickten kurzzeitig ins Leere. Dann fing er sich wieder, schloss die Haustür auf. „Und wir müssen uns Namen überlegen. Und wenn unser Kind einen Hund will, dann kriegt es einen, weil ich nie einen gekriegt hab.“ Shinichi lachte sie an. „Ich wollt immer einen. Meine Eltern waren immer dagegen. Du siehst, was aus mir geworden ist, es hat mich fürs Leben geprägt…“ Sie schüttelte den Kopf, lächelte. „Du bist unglaublich, weißt du das…?“ Shinichi grinste, dann umarmte er sie, zog sie mit sich, stieß mit dem Fuß die Tür zu. „Ob du’s glaubst oder nicht, ja, das ist mir bewusst.“ Ran stellte sich auf die Zehenspitzen, lehnte ihren Kopf gegen seine Stirn. „Und darum liebe ich dich…“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er grinste, wandte seinen Blick kurz nach unten, als er unter seinen Füßen nicht den glatten Stein der Eingangshalle spürte. Dann erkannte er auch, warum. Er stand auf einem weißen Umschlag. Kein Absender. Nur ein Empfänger. An den lieben Herrn Detektiv Nachforschungen --------------- Hallo, liebe Leserinnen und Leser! Da die Frage letztes Mal aufgetaucht ist; Sonoko ist Patentante, ja. Ihr dürft sie da auch mal live erleben, als solche ^^; Ich denke, auch sie wird mal erwachsen, oder zumindest erwachsener *g* Und wird ihrer Aufgabe da auch gerecht. Und warum nicht Heiji als Patenonkel für ein Mädchen? Ich dachte, ich mach einfach gleiches Recht für alle. Ran darf sich jemanden aussuchen, und Shinichi auch; und wer es wird, entscheidet das Schicksal. Heiji wird auch ohne eine Rolle als Patenonkel präsent genug in Sayuris Leben sein, denke ich. Nun denn; ich wünsche gute Unterhaltung und bedanke mich an dieser Stelle sehr für eure Kommentare zum letzten Kapitel! Das nächste Mal wird es dann langsam auch im Fall wieder weitergehen... Viele Grüße, eure Leira ___________________________________________________________ Kapitel 3: Nachforschungen Gegenwart Guten Tag, guten Tag! Ich dachte mir, weil’s gerade halb drei Uhr morgens ist und ich ohnehin nichts zu tun hab und nicht schlafen kann… und wahrscheinlich auch nie wegen dir so früh aufstehen muss - widme ich dir diese frühen Morgenstunden, und schreib hier mal ein wenig weiter. Wo war ich stehen geblieben? Bei Conan Edogawa, nicht wahr? Nun… nehmen wir mal an, aus irgendeinem Grund glaubst du mir. (Ich hoffe inständig, dass Shiho, falls du bei ihr warst, dich mit den Mäusen verschont hat…) „Zu spät.“, murmelte Sayuri leise. Ein Hauch von Sarkasmus schwang in ihrer Stimme mit. Also. Ich gehe davon aus, du nimmst, was ich dir bis hierher erzählt habe, als bare Münze, was wichtig wäre, denn sonst ist das, was noch kommt, was ich noch schreibe, irgendwie witzlos... da ich dir ja diese Bücher ja nur deswegen verfasse, weil ich wahrscheinlich nicht einmal mehr miterlebe, wie du auf die Welt kommst, geschweige denn, mich mal vernünftig mit dir unterhalten kann… und das eben wegen diesem Gift. Hier geht es also darum, mich vorzustellen und dir zu sagen, was ich mit dir alles unternommen hätte, dir gesagt, beigebracht, dich gelehrt hätte, wäre ich noch bei dir. Wenn du ein Mädchen bist, wäre die Sache wohl ein wenig schwer geworden, ab und an, fürchte ich, weil ich gern blind bin, manchmal, was die Belange und Gefühle von Frauen angeht. Frag deine Mutter. Frag Shiho. Oder Sonoko. Frag meine Mutter. Sie werden es dir alle bestätigen können. :) Nun. Falls du ein Junge bist, könnte es sein, dass wir uns mal ziemlich in die Haare kriegen würden. Ich weiß nicht, wie autoritär ich als Vater wäre, aber glaub mir… antiautoritär wäre ich nicht, soviel wage ich mal zu behaupten. Ich erzähl dir vielleicht am besten, was ich von meinen Eltern, also deinen Großeltern, alles gelernt hab; vielleicht kannst du dir dann vorstellen was wir gemacht hätten? Es ist ein wenig schwer, das geb ich zu... sich das alles vorzustellen. Nun... von meinem Vater... er hat mir wohl seine Leidenschaft für Bücher nahe gebracht; ich lese und las schon immer viel, und ich löste gern Rätsel. Er hat mir auch immer mal wieder welche gestellt, als ich noch klein war. Später dann nicht mehr, aus Gründen, die ich nie erfahren habe. Irgendwann waren sie ja dann auch im Ausland, und ich ging Rätseln anderer Größenordnung nach, aber dazu dann später. Bei einem Urlaub auf Hawaii hat er mir dann allerhand irrsinniger Sachen beigebracht; ich kam mir manchmal vor wie im Trainingscamp für angehende James Bonds. -.- Allerdings war es lustig; und erwies sich später als durchaus nützlich. Darunter waren jedoch auch einige Dinge, von denen ich nicht will, dass du sie lernst, weder Junge noch Mädchen; ich denke nicht, dass du wissen musst, wie man einen Hubschrauber fliegt, du kommst da nur auf dumme Gedanken; und wenn er dir beibringt, wie man mit einer Waffe umgeht, dann such ich meinen geschätzten Erzeuger heim, richte ihm das aus, bitte. Aber Speedboatfahren ist eine witzige Sache :) Das könnte er dir auch zeigen. Wo ich gerade darüber nachdenke... Ich hätte gerne einen Hund gehabt, aber den haben sie mir nie erlaubt; stattdessen durfte ich all den anderen Kram machen, der viel gefährlicher ist als so ein Hund. Solltest du also einen haben wollen, hast du hiermit meine schriftliche Erlaubnis. Erinnere deine Mutter dran, wir haben darüber geredet. Zelten ist auch eine schöne Sache. Da ich selber mehrer Survivaltrainings machen durfte, wäre das sicher lustig geworden… wenn der Professor noch fit ist, oder mein Dad, kannst du die beiden ja fragen, ob sie das mal mit dir machen. Die kennen sich da gut aus. Tja... es tut mir Leid, dass ich so stockend schreibe, aber irgendwie hab ich mir das einfacher vorgestellt... Was könnte ich dir noch erzählen? Wie ich meinen Beruf gefunden habe? Das ist ja auch immer so eine Sache, an der junge Menschen oft lange arbeiten... ihr Ziel zu finden, in beruflicher Hinsicht. Hm… nun, wie du weißt bin ich Detektiv. Da ich nicht weiß, wie alt du bist, ist diese Frage vielleicht etwas sinnlos, aber weißt du schon, was du mal werden wirst? Welche Interessen hast du? Ich weiß, diese Unterhaltung hier ist ziemlich einseitig; zuerst unterhalte ich mich mit mir, dann du dich mit dir *g* Aber… ich will, dass du weißt, egal was du werden willst (außer Bankräuber, Mörder oder ähnliches, da wär ich dagegen, aber wer wäre das nicht?) würde ich alles unterstützen, was immer dich interessiert und dich glücklich macht. Ich denke einfach… du musst diesen Beruf für den Rest deines Lebens ausüben, und es… es sollte eine Tätigkeit sein, die du gerne machst. Denn nur das, was man gerne macht, macht man auch wirklich gut. Es ist mir also egal, ob du Rechtsanwältin wirst, wie Oma Eri und deine Mum, oder Schriftsteller wie mein Vater, Schauspielerin wie meine Mutter, oder Musiker, Arzt, Tierpfleger. Ich würde dich nur bitten… ich weiß, eigentlich hab ich dazu kein Recht, und ich wiederhole mich, aber… versuch, nicht Detektiv oder Polizist zu werden. Halte dich bitte fern vom organisierten Verbrechen… ich weiß, ich bin der Letzte, der das sagen darf, aber ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe mich mit vielen angelegt, meistens gewonnen, aber einmal verloren… und ich würde gerne haben… dass du nicht mein Schicksal teilst. Ich will, dass du ein glückliches, sicheres Leben führst. Nicht langweilig, nein, das nicht. Nicht spießig, bieder, oder so… aber glaub mir, man muss sich nicht jeden Tag zwei Bankräubern und einem Serienmörder in den Weg stellen, um glücklich zu werden oder ein interessantes Leben zu führen. Ich hab das selber eigentlich viel zu spät erkannt. Wie du weißt, hab ich früh angefangen damit… und es hat sich bei mir entwickelt wie eine Sucht. Schleichend, aber toxisch. Irgendwann war ich soweit, dass ich nicht mehr davon loskam. Zuerst schob ich es auf meine Gerechtigkeitsliebe, aber für Gerechtigkeit kann man auch anders sorgen. Ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Warum ich Detektiv geworden bin. Natürlich wollte ich Gerechtigkeit, ja auch, das schon. Aber ich würde lügen, würde ich behaupten, die Anerkennung wäre mir egal gewesen. Man hat meinen Namen gekannt. Man hat mich gekannt. Die Kriminellen wussten, wer ich war… ich war gut in dem was ich tat, ohne arrogant klingen zu wollen. Ich liebte meinen Beruf… zu sehr. Das Gefühl, einen Serienmörder hinter Gitter gebracht zu haben, ist gigantisch. Man denkt, man konnte wirklich helfen, die Welt ein wenig besser machen. Ein irres Gefühl, das einen erfüllt vom Scheitel bis zur Sohle. Und wenn man lange genug in diesem Beruf tätig ist, dann fühlt man sich wohl auch verpflichtet, etwas zu tun, wenn man weiß, dass man dazu in der Lage ist. Und deswegen… sitz ich wohl auch immer noch an diesem, meinem letzten Fall. Nach diesem Fall werde ich mich aus dem aktiven Leben zurückziehen. Aber davon erzähl ich dir ein anderes Mal. Wenn überhaupt… ich weiß ja auch gar nicht, wie alt du bist. Ob das für deine Ohren nicht zuviel ist. Nun, mal weiter im Text. Wäre ich zu deiner Zeit noch am Leben… was würde ich dir sagen wollen...? Dir beibringen...? Dich erziehen? Oh Mann... wäre ich der Aufgabe eigentlich je gerecht geworden? Ein Kind zu erziehen ist eine große Sache... Entschuldige, ich schweif wohl gerade wieder mal etwas ab. Hm. Also... was würd ich dir beibringen wollen...? Mir wäre wohl wichtig, dass du Sinn für Recht und Unrecht entwickelst. Ich denke, ich würde dir sagen, dass Gerechtigkeit eine Sache ist, für die man einstehen sollte. Für die man kämpfen sollte. Etwas, wofür das Kämpfen noch lohnt. Wohin käme die Welt, wenn nicht wenigstens ein paar Menschen gerecht wären. Versteh mich bitte nicht falsch, ich weiß sehr wohl, wie ungerecht die Welt sein kann. Keiner weiß das besser als ich. Aber dennoch habe ich die Hoffnung, dass Gerechtigkeit noch existiert, irgendwo. Wenn auch vielleicht… nicht für mich. Aber ich hoffe doch, dass dir mehr Gerechtigkeit beschieden sein wird. Allerdings fürchte ich fast, du wirst wohl auch gewisse Dinge so ungerecht empfinden, dass du an Gerechtigkeit nicht mehr glaubst. Tu das nicht. Dann möchte ich, dass du weißt, dass ich Lügen verabscheue. So schwer es manchmal ist, aber was wichtig ist, ist, immer die Wahrheit zu sagen. Sie kann manchmal sehr wehtun, glaub mir, das weiß ich… aber Lügen… Lügen schmerzt viel mehr. Vielleicht nicht gleich… vielleicht auch nie. Aber wenn es passiert… wenn eine Lüge auffliegt, oder du gestehen musst, gelogen zu haben… wirst du dir immer wünschen, du hättest von Anfang an die Wahrheit gesagt. Lügen ist nie eine Option. Außer vielleicht… dein oder das Leben eines anderen hängt davon ab. Ich will hier nicht zu verallgemeinern beginnen, ich bin der Letzte, dem das zusteht. Ich hab auch gelogen. Ziemlich dreist; aber ich log, um deine Mutter zu schützen. Das soll keine Rechtfertigung sein; nun, doch, eigentlich schon. Was ich eigentlich sagen wollte ist, ich sah einfach keine andere Wahl. Und wo wir gerade bei deiner Mutter sind... Was ich wirklich hoffe… ist, dass du weißt, was Liebe heißt. Ich weiß nicht, wie alt du bist, und verdammt, je öfter ich diesen Satz noch wiederhole, ich werd’s dadurch auch nicht rausfinden... ;) Fangen wir anders an. Also... Ich weiß nicht, ob es in deinem Leben bereits jemanden gibt… nicht deine Mutter oder deine Großeltern, sondern einen Jungen oder ein Mädchen, du weißt, was ich meine… den oder das du liebst. Wirklich liebst. Ich… liebe deine Mutter. Ran. Sie ist die Liebe meines Lebens… und ich bin unendlich froh, sie zu haben. Ohne sie wäre mein Leben nicht vollständig. Ich würde alles für sie tun, und das meine ich wörtlich. Sie macht mein Leben erst wirklich lebenswert. Wenn sie lächelt, ist meine Welt in Ordnung. Und jetzt… jetzt muss ich ihr so wehtun… Wir haben uns gefunden… wir verstehen uns ohne Worte, klar streiten wir manchmal, aber wir wissen, dass wir einander nicht… freiwillig… im Stich lassen würden. Sie gibt mir Halt, sie stützt mich… ich hätte mir keine bessere Mutter für dich wünschen können. Sie sich wohl aber einen besseren Vater… ;) Ich glaube nicht, ich bin ein guter Ratgeber, was das betrifft, also Gefühlsdinge… da gehst du wohl am besten zu deiner Mum; aber ich kann als jemand sprechen, der lange, lange blind war, und sich nicht traute, den Mund aufzumachen… und ich habe fast sehr bitter für meine Feigheit bezahlen müssen. Ich hätte sie fast für immer verloren. Und so knapp unsere Zeit bemessen ist, so schmerzvoll das Ende sein wird… würde ich die Zeit mit ihr nicht missen wollen. Nicht eine Sekunde. Sie macht aus mir einen besseren Menschen. Sie macht mein Leben schön. Ich weiß nicht, was ich dir raten soll. Hör auf dein Gefühl… wenn es soweit ist. Tu, was du für richtig hältst… aber versuch nie, etwas zu erzwingen. Denn lieben heißt nicht nur, jemanden festzuhalten… nein. Es heißt auch, loslassen zu können. Sayuri schaute auf. Genau das hatte ihr doch der Professor auch erzählt… über Shiho. Über Tante Shiho, der ihr Vater so viel bedeutet hatte, dass sie nie versucht hatte, ihn für sich zu gewinnen und sein Glück damit zu gefährden. Lieben heißt, verzeihen zu können. Lieben heißt, das Glück eines anderen höher zu schätzen als sein eigenes… es wäre sehr schade, und nicht in meinem Sinne, wenn du nicht wüsstest, wie tief dieses Gefühl gehen kann. Es kann einen traurig machen und glücklich; es kann einen in Tiefen reißen, von denen man nicht glaubt, je wieder hochzukommen und das Tageslicht zu sehen; es kann einen zerschmettern, weil einen ihr Verlust mehr wehtun kann als jeglicher körperlicher Schmerz. Aber Liebe… sie kann einen zu Höchstleistungen beflügeln, höher tragen als jedes andere Gefühl, kann einen glücklich machen, glücklicher als du je geahnt hast… Es ist wie ein zweischneidiges Schwert. Die eine Seite richtet sich gegen deine Feinde, die andere gegen dich selbst. Aber ohne kannst du nicht kämpfen. Wer weiß, ob es ohne etwas gibt, wofür zu kämpfen es sich überhaupt lohnt. Merk dir das. Das ist alles, was ich dir sagen kann… und ich weiß nicht, wie viel Bedeutung du dem beimessen wirst, denn du wirst wohl hauptsächlich das Kind deiner Mutter sein, dann das deiner Großeltern… eher weniger meins. Aber ich denke, mit Eri, Kogorô und meinen Eltern hast du’s nicht so schlecht getroffen. Und erst Recht nicht mit deiner Mutter. Das sage ich als jemand, der sie wohl, wie ich behaupten kann, besser kennt als die meisten anderen. Mach ihr das Leben nicht zu schwer, sie hatte mit mir schon genug zu tun. Hat… mit mir momentan genug zu tun… Nun. Ich denke, ich sollt vielleicht doch noch ein bisschen schlafen. Deine Mum wird sonst sonst wütend, wenn ich nicht auf mich aufpasse *g* Gute Nacht… Sayuri klappte sachte das Buch zu. Wahrheit. Gerechtigkeit. Liebe… Es war offensichtlich, dass er geliebt hatte. Ihre Mutter. Sie selbst, seine Eltern, seinen Beruf. Wahrheit und Gerechtigkeit. Das alles hatte Agasa ihr auch erzählt. Und die Liebe zur Gerechtigkeit… hatte ihn das Leben gekostet. Dieses eine Schwert hatte ihn getroffen. Sie zitterte. Schluckte schwer, dann nahm sie das Buch, legte es in die Kiste, stellte die Kiste in den Schrank, sperrte ab und brachte ein paar Schritte Distanz zwischen sich und dem, was ihr von ihrem Vater geblieben war. Atmete tief ein und wieder aus, versuchte, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken. Sie war wortlos aus dem Haus gegangen, heute Morgen… Weil sie sauer auf ihre Mutter war. Gerade schrieb er ihr, sie solle es ihr nicht zu schwer machen, aber… Nach allem, was sie jetzt gelesen hatte, gehört hatte, schien ihr Vater ein faszinierender, liebenswerter Mensch gewesen zu sein. Ihre Mutter hatte nicht einmal seinen Namen erwähnt. Sie konnte nicht anders, als wütend zu sein. Lange hatte sie geglaubt, sie wäre… ein Unfall gewesen. Gut, das war sie wohl auch tatsächlich, von Seiten ihres Vaters zumindest. Aber er hatte sie wohl… doch… geliebt. Es hatte ihn interessiert, was aus ihr werden würde. Was sie über ihn dachte. Sonst hätte er ihr diese Kiste nicht gemacht… nicht diese Bücher geschrieben. Bis jetzt hatte sie geglaubt, er würde sich einen Dreck um sie scheren, und sie fühlte sich mies deswegen, obwohl sie wusste, dass sie nichts dafür konnte; sie hatte es nicht besser gewusst. Er wär gern ihr Vater gewesen, das schrieb er. Sie glaubte ihm jedes Wort. Wenn sie las, was er ihr gern mitgegeben hätte, auf ihrem Weg ins Leben, zog sich ihr Magen zusammen. Und langsam manifestierte sich in ihr der Wunsch, ihn doch wenigstens kurz kennen gelernt zu haben. Ihn jetzt einmal zu sehen. Nur kurz. Nur… ein paar Minuten. Sie wusste… das war nicht möglich. Er war tot. Schon lange… lange tot. Er würde nicht wiederkommen. Alles was sie tun konnte, war sein Vermächtnis zu lesen, und sich von anderen, die ihn gekannt hatten, erzählen zu lassen, wer er war. Aber sie konnte jetzt nicht weiter lesen. Es tat weh, das alles zu sehen… mitzubekommen, was sie hätte alles haben können, was ihm alles vorenthalten geblieben war, es tat weh… und er tat ihr so Leid. Einerseits brannte sie darauf, zu erfahren, was er noch für sie aufgeschrieben hatte… andererseits fürchtete sie sich davor, dass dieses Bedauern, das sie spürte, noch größer werden würde. In Trauer umschlug. Traurig war sie jetzt schon. Aber wahre Trauer… Trauer über einen Verlust, über die Unmöglichkeit, an der Tatsache, dass sie ihn nicht kannte, noch etwas zu ändern, diese Machtlosigkeit… würde das noch bei weitem übertreffen. Sie schaffte es auch nicht, damit zu ihrer Mutter zu gehen. Sie konnte nicht mit ihr über ihn reden, sie war so wütend auf sie… so wütend, weil sie ihr diesen Menschen so lange vorenthalten hatte. Oma und Opa Kudô waren gerade kurz im Ausland, kamen erst nächste Woche wieder. Also blieben… Oma und Opa Môri. Sie stand auf, ging ohne ein Wort aus dem Haus. Ran schaute ihr hinterher. In ihren Augenwinkeln glitzerten Tränen. Sie ahnte, dass ihre Tochter sich betrogen fühlte. Aber sie hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, ihr von ihm zu erzählen. Wenn es ging, versuchte sie, nicht zu oft an ihn zu denken. Sie konnte ihn nicht vergessen. Aber die Erinnerung an ihn tat weh. Es war ihr, als fehlte er ihr jeden Tag ein wenig mehr. Sie hatte geglaubt, es würde besser werden, mit der Zeit, hatte geglaubt, sie würde sich daran gewöhnen können… aber das war ein Irrtum gewesen. Allein wenn sie an sein Lachen dachte, an sein Gesicht, wenn sie ein Foto ansah, sich den Klang seiner Stimme ins Gedächtnis rief… … glaubte sie, es nicht einen Moment länger aushalten zu können. Und deswegen versuchte sie… ihn nicht zu vergessen; aber ihn auch nicht zu präsent werden zu lassen. Denn er hatte Recht gehabt. Wenn sie nur ihrer… seiner… Tochter ins Gesicht schaute, wurde sie an ihn erinnert. Sie hatte seine Augen geerbt… diese Augen… Ran presste die Lippen aufeinander, wischte sich unwillig die Tränen aus den Augenwinkeln. Sie vermisste ihn so sehr, immer noch so sehr, als wäre es erst gestern gewesen, dass er… gegangen war. Sayuri lehnte sich auf den Klingeknopf neben der Wohnungstür. „Komm ja schon…“, ertönte es von drinnen, leicht genervt. „Komm ja schon, komm ja schon, komm ja schon…“ Dann ging die Tür auf. Sie schaute auf, geradewegs in das Gesicht ihres Großvaters. Er starrte sie an. Wenn sie einen so voller Entschlossenheit ansah, konnte man nur allzu deutlich sehen, wie ähnlich sie ihrem Vater geraten war. Diesen Blick hatte sie ganz eindeutig von ihm… diesen Zug um die Mundwinkel, wenn sie etwas unbedingt in Erfahrung bringen wollte. „Hallo Sayuri! Komm doch…“ Dann bemerkte er die Tränen in ihrem Augenwinkel. „…rein…“ Sie nickte nur, quetschte sich an ihm vorbei in den Flur. Aus der Küche kam ihre Großmutter. Sie merkte sofort, dass etwas nicht stimmte, winkte ihre Enkelin ins Wohnzimmer. Sie ahnte, was jetzt kommen würde, hatte sich in letzter Zeit immer öfter gefragt, wann es soweit wäre; jetzt, war der Zeitpunkt wohl gekommen, das war ziemlich offensichtlich. Sie dirigierte Sayuri auf eine Couch, holte ihr ein Glas Wasser und setzte sich ihr gegenüber hin. Kogorô nahm neben ihr Platz. „Sayuri… die Bücher?“ Das Mädchen nickte nur, schaffte es nicht, ihrer Großmutter in die Augen zu sehen. Kogorô seufzte, tat genervt. Er hatte sich vor diesen Gesprächen gescheut. Hatte gehofft, sie würden nie kommen. „Schön, was willst du wissen?“ „Kogorô!“ Eri schaute ihn finster an. „Sayuri… wie weit bist du gekommen?“, fragte sie sanft. „Nicht weit… aber…“ Eine Träne rann ihr aus dem Augenwinkel. Kogorô schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an. Er sah sie nicht gern weinen, genauso wenig wie er Ran gern weinen sah. Aber offensichtlich schaffte es sein Schwiegersohn noch aus dem Jenseits, den beiden Frauen in seinem Leben ihr Leben schwer zu machen. Jeder, der Ran kannte, wusste, sie war nie über seinen Verlust hinweggekommen. Sie war tapfer, versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber allein die Tatsache, dass im ganzen Haus kein einziges Foto von ihm offen zu sehen war, sie nicht über ihn sprach, wenn sie nicht musste, sie sich mehr als beharrlich an ihre Abmachung hielt, Sayuri erst dann die Bücher zu geben, wenn sie ganz direkt fragte… zeigte mehr als deutlich, wie es immer noch um Ran stand. Als er gestorben war, war ein Teil von ihr mit ihm gegangen. Dass nun aber auch seine Enkelin so traurig war, machte Kogorô wütend. „Sag mal, was hat er denn da geschrieben? Eine Tragödie? Am besten wirfst du sie…“ „Nein!“ Sayuri schrie entsetzt auf, fuhr hoch. „Nein! Die sind für mich- nur für mich! Ich kann sie doch nicht... wegwerfen!“ Sie setzte sich wieder. „Es ist alles, was ich von ihm noch hab… jemals kriegen kann…“ Sie schniefte leise. „Kogorô.“ Eri schaute ihn scharf an. „Sein Leben war doch irgendwie eine Tragödie. Es ist klar, dass die Bücher nicht lustig…“ „Aber das sind sie!“ Die beiden schauten ihre Enkelin erstaunt an. „…auch…“, stammelte Sayuri leise. „Er schreibt so… so… ich weiß auch nicht. Man fühlt sich fast, als würde er mit einem reden... er macht Witze, dann ist er wieder ernst. Er macht den Eindruck, als hätte er sich wirklich für mich interessiert, und es tut… tut weh, zu wissen, dass ich ihn nicht mehr kennen lernen darf… darum… bin ich gekommen, um mit… mit euch zu reden. Ihr habt ihn ja gekannt. Wie… wie war er so?“ „Großartig.“, murmelte Eri. „Eine Plage.“, bemerkte Kogorô düster. Er war immer noch ein wenig angesäuert; er hatte seine Enkelin sehr lieb gewonnen, und egal wie sehr er seinen Schwiegersohn geschätzt hatte, er mochte es nicht, wenn er seine Tochter zum Weinen brachte. Seine Frau warf ihm einen warnenden Blick zu. „Na schön, ich nehms zurück. Er war nur zeitweise eine Plage. Aber dann sehr intensiv.“ Kogorô seufzte, dann nickte er widerstrebend. „Nun gut… die Zeit in der er ne Plage war, ist wohl vernachlässigbar. Er war wohl… Er war ein anerkennenswerter Mensch, dein Vater. Sehr ehrgeizig, sehr aufrichtig, verlässlich, leidenschaftlich in dem was er tat… in allem. Den einzigen Makel, den er wohl hatte, war, dass er so früh sterben musste, und dass er wohl oft zu neugierig war... diese verdammte Neugier war es wohl auch, die ihm letztendlich sein Ende bescherte. Er war vierundzwanzig… das ist doch kein Alter…“ Er stöhnte leise auf, fuhr sich bei dem Gedanken an Shinichi übers Gesicht. „Du willst also wirklich wissen, wie er war? In meinen Augen?“ Sayuri nickte.“ „Soll ich ehrlich sein? Ich hab ihn lange nicht leiden können. Ich habe erst zu spät erkannt, wer er wirklich ist, und man muss wohl auch sagen, er hat es einem nicht ganz einfach gemacht… Jetzt… jetzt zerreißt es mir das Herz, wenn ich sehe, wie sehr Ran trauert… wie sehr sie ihn immer noch vermisst, obwohl er doch schon so lange tot ist. Er war die Liebe ihres Lebens, sie war mit ihm so unglaublich glücklich… die zwei haben sich gesucht und gefunden, und dann endete das alles in dieser Tragödie.“ Sayuri schaute ihn an. „Warum mochtest du ihn nicht?“ Kogorô blickte sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Ich glaube nicht, dass du das schon verstehst, Mausebeinchen.“ „Aber…“ Eri gab ihm einen Stoß in die Rippen. „Sie ist kein kleines Kind mehr. Sie wird das verstehen.“ Er warf ihr einen finsteren Blick zu, rieb sich die Seite. Dann räusperte er sich. „Nun.“ Er zupfte an seinem Bart herum. „Weißt du, als Vater lässt man seine Tochter nicht gern gehen. Ich dachte lange, er nimmt sie mir weg, Ran, und ich hielt ihn nicht für würdig; ich dachte lange, Ran hätte etwas Besseres verdient…“ Sayuri zog die Augenbrauen hoch. „Etwas Besseres?“ „Nun. Ran und Shinichi kannten sich schon ewig. Und der Junge… er hatte nur Blödsinn im Kopf. Eines Nachts sind sie mal gemeinsam in die Schule eingebrochen um Gespenster zu suchen.“ Die Augen seiner Enkelin wurden groß. „Was? Mama und… Papa… sind in die Schule eingebrochen?“ „Ja. Sie waren sieben Jahre alt und auf der Suche nach Geistern, wer auch immer damals dieses Gerücht verbreitet hat, es spuke dort... ich weiß es nicht. Aber er hat Ran dazu angestiftet, mit zu gehen. Und nun… weißt du schon was über Conan?“ Sayuri nickte bedrückt. „Ja, alles…“ „Glaubst du’s…?“ Kogorô schaute sie ernst an. Das Mädchen nickte. „Ja.“ Ihr Mund war trocken, und so nahm sie einen Schluck Wasser. „Gut. Dann hat dir vielleicht auch jemand erzählt, dass er mir einen Ruf als Meisterdetektiv verschafft hat. Indem er mich schlafen schickte und meine Fälle löste… mit meiner Stimme wohl gemerkt, er hatte einen Stimmenimitator.“ Kogorô massierte sich die Schläfen. „Kleiner Bastard…“ „Kogorô!“ „Ja ja… nun. Du kannst mir denken, dass ich deswegen auf ihn nicht sonderlich gut zu sprechen war. Ich hielt ihn für keinen guten Umgang für Ran. Ich wollte, dass er ihr fernbleibt, ich wollte mir nicht mal seine Entschuldigung anhören. Nun… er blieb hartnäckig. Was deine Mutter betraf; und mich. Irgendwann haben wir uns dann mal ausgesprochen, und ich rechne ihm hoch an, dass er mir gegenüber damals so offen war. Von da an… begann ich ihn mit anderen Augen zu sehen. Ich lernte ihn wohl da erst richtig kennen… und schätzen. Als wir dann erfuhren… dass er sterben würde… hat mich das hart getroffen. Er hatte das nicht verdient, aber anstatt sich selbst zu bedauern, dachte er an uns. Er wollte uns nicht belasten... Shinichi… hätte damals am liebsten alle Brücken abgebrochen. Er wollte sogar die Verlobung lösen und…“ Kogorô brach ab. „Ich war auch nicht geplant…“ „Woher weißt du…“, fragte Eri erschrocken, schaute sie betroffen an. „Woher… weißt du das?“ Sayuri atmete tief ein, biss sich auf die Lippen. „Er hat’s mir aufgeschrieben. Und es mir… erklärt. Er meinte, so ehrlich muss er sein, mir das zu sagen. Dass er in seiner Situation eigentlich kein Kind wollte. Wenn man es so hört, seine Erklärung liest, klingt es logisch. Aber er entschuldigt sich auch… dafür… immer und immer wieder, und man merkt, wie Leid es ihm tut und ich…“ Eri stand auf, setzte sich neben sie, zog sie an sich. „Du solltest darüber mit deiner Mutter reden, Sayuri. Wirklich.“ Das Mädchen löste sich aus der Umarmung ihrer Großmutter, schüttelte vehement den Kopf. „Das kann ich nicht.“ „Aber warum nicht?“ Eri schaute sie verständnislos an. „Wie kann ich mit ihr über meinen Vater reden, wo sie ihn doch jahrelang in meiner Gegenwart nicht erwähnt hat? Sie hat nie seinen Namen genannt, es stehen keine Bilder herum, er… es ist, als hätte er nie existiert! Wegen ihr dachte ich, ich wär… nicht gewollt. Nicht so, wie es der Fall ist… sondern wirklich nicht gewollt. Als hätte sich mein Vater einfach so aus der Affäre geschlichen, ein Feigling, ein Verräter… und die Tatsache, dass ihr und nicht einmal seine Eltern über ihn geredet haben, vor mir… das… das… das kann nur auf ihrem Mist gewachsen sein!“ Sie atmete heftig. „Ich hab ihm gegenüber ein richtig schlechtes Gewissen, weil ich ihm in Gedanken haltlos all diese Sachen unterstellt hab!“ Sie war aufgestanden, schrie fast, in ihren Augen glimmte ein wütendes Funkeln. „Ich hätte ein Recht gehabt, es schon früher zu wissen! Erst als ich sie… wirklich ganz direkt gefragt hab, hat sie mir die Bücher überhaupt gegeben! Ich kann ja verstehen, dass es schwer ist für sie, aber sie hat keine Vorstellung, wie es für mich ist! Ich kann mit ihr da jetzt nicht drüber reden…!“ Kogorô stand auf, drückte das Mädchen wieder in ihren Sessel. „Schhh. Beruhig dich. Glaub mir, er nimmt dir das nicht übel, dass du ihm das unterstellt hast.“ „Ja, weil er tot ist.“, bemerkte Sayuri sarkastisch. Kogorô schüttelte den Kopf. „Nein, weil er weiß… wüsste… dass du nichts anderes denken konntest, wo du es doch nicht besser wusstest. Aber jetzt weißt du’s ja, und die Sache ist gegessen. Glaub mir, Shinichi wäre da nicht so. Er würde dir nicht verzeihen, und zwar, weil er keinen Grund sähe, dass man dir überhaupt irgendetwas vorwerfen müsste.“ Sayuri sah auf. „Meinst du?“ „Nein, ich weiß es.“ Er seufzte. „Ich kann verstehen, dass du sauer auf deine Mutter bist, und ja, sie hat mir und seinen Eltern, sowie Shiho und dem Professor, überhaupt allen, das Versprechen abgenommen, mit dir nicht über ihn zu reden… aber das doch nur, weil sie selber nie über seinen Verlust hinweggekommen ist. Sie kann nicht sein Bild sehen, weil sie ihn zu sehr vermisst. Sie sieht etwas, was sie hatte, und nie wieder bekommen kann, obwohl sie sich so danach sehnt. Du musst Verständnis für sie aufbringen, Mausebeinchen.“ Kogorô setzte sich wieder in seinen Sessel. „Als dein Vater starb, ging ein Teil von ihr mit ihm; und ein Teil von ihm blieb bei ihr. Leider macht sie das nicht ganz… weder sie noch ihn.“ Sayuri schaute ihn an, ihr Blick war nachdenklich; und schwieg. Verhör ------ Mesdames, Messieurs, es ist mir eine große Ehre und ein Vergnügen, ihnen hiermit das neueste Kapitel zu präsentieren *lacht* Nun; wie ihr euch wohl denken könnt, geht es heute mit der Vergangenheit weiter; und zwar sofort und ohne Unterbrechung mit dem mysteriösen weißen Umschlag, auf den unser lieber Detektiv im vorletzten Kapitel stehen geblieben is ^-^; Und der Titel bezieht sich nicht nur auf den Fall... ich denke, ein paar von euch werden darauf wohl schon gewartet haben; es lässt sich auch kaum umgehen. Ich wünsche euch also hiermit sehr gute Unterhaltung mit der Fortführung des Falls und dem Drumherum! Vielen, vielen, vieeeelen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Es freut mich, dass ihr die Geschichte lesen wollt (mein Beileid an dieser Stelle zu einer Doppelstunde Chemie am Dienstag...). Dann ein paar kleine Anmerkungen am Rande- die Aussprache mit Ran folgt Stückchenweise und ja, es werden die Fetzen fliegen ^^; Und ja- er wird ihr über den Fall schreiben. Ich denke mal, mit der Aussage verrat ich nicht zuviel... In diesem Sinne, noch mal gute Unterhaltung! Bis nächsten Dienstag, eure Leira PS: Nur, falls die Frage auftaucht... man kann die Zitate wirklich googeln! Alle bis auf eines gibt es wirklich ;D __________________________________________________________________ Kapitel 4: Verhör Vergangenheit „Man könnte verrückt werden.“ „Könnt’ man.“ „Wahrlich den Verstand verlieren.“ „In der Tat.“ „Komplett durchdrehen.“ „Komplett.“ Heiji starrte Shinichi frustriert an, der in seinem Büro im Polizeirevier inmitten um ihn herum ausgebreiteter Fotografien stand; der ganze Boden des Zimmers glich einem Fototeppich, und er war das Zentrum des Sturms, drehte sich um die eigene Achse, suchte mit den Augen die Bilder ab. Shinichi war nur ein paar Minuten, nachdem er ihn dort abgesetzt hatte, wieder vor dem Hotel gestanden, mit dem Umschlag in der Sakkotasche. Er hatte sich nur erlaubt, ihn zuhause zu lesen, hatte sich dann von einer nicht ganz so begeisterten Ran losgeeist und war im Anschluss gleich zu ihm gefahren; schließlich durfte er eigentlich für Meguré nicht vor Heiji den Inhalt wissen. Der Brief lag nun neben seinem Vorgänger am Tisch in seinem Büro. So war Shinichi also heute doch noch zu seinem Fall gekommen. Leider… Heiji wurde nicht schlau draus, und Shinichi auch noch nicht, wie es schien. Er wusste nicht, ob es eine Drohung war, oder eine Mordankündigung. Es war verworren… Begonnen hatte er wie immer mit denselben Worten. Lieber Herr Detektiv, Dann folgte eine Zeile. Nur eine. An der Krone funkelt die Perle nur, und freilich nicht die Wunden, mit denen sie errungen ward. Und darunter wie immer… Hochachtungsvoll, der Perlenmörder Eigentlich, so nahmen sie an, war das eine Ankündigung. Ein weiteres Mädchen könnte morgen Nacht sterben. Und man sah Shinichi an, dass ihn das angriff. Ihn sehr nervös machte, unter Spannung setzte. Er würde nicht noch eine junge Frau sterben lassen. Egal wie, aber das würde er verhindern. In seinen Augen stand grimmige Entschlossenheit. Heiji selber lehnte an der Tür, in den Händen hielt er zwei Tassen Kaffee, die er gerade geholt hatte, und versuchte, die Gedankengänge seines Freundes nachzuvollziehen. „Und was isses nun eigentlich, das dich verrückt werden, den Verstand verlieren und durchdrehen lassen könnt’?“ Shinichi schaute auf, zog eine Augenbraue hoch. „Warum gibst du mir Recht, wenn du keine Ahnung hast, wovon ich rede?“ „Du hast mir zugehört?“ Heiji schaute ihn erstaunt an. „Ich bin ja nicht wie du, Hattori. Ich bin multitaskingfähig. Kaffee.“ Er streckte die Hand aus, beugte sich gleichzeitig nach unten. Heiji drückte ihm seine Tasse in die eine Hand, während er mit der anderen ein Foto, dass den Hals eines der Opfer darstellte, herauspickte. „Die Tatwaffe.“ Shinichi seufzte, suchte sich noch ein paar Fotos und legte sie vor Heiji auf einen Tisch. „Die Tatwaffe.“ Er kratzte sich am Hinterkopf, stellte die Tasse ab. „Es macht mich fast wahnsinnig. Laut Pathologen müsste es ein ziemlich großes Messer sein“, er maß mit beiden Händen einen Abstand, um Heiji die Größe zu demonstrieren, „und rasiermesserscharf.“ Heiji nickte, nippte an seinem Kaffee. Die Fakten waren ihm bekannt. „Weißt du, Hattori, ich bin mir in den meisten Punkten ziemlich sicher, was den Mörder betrifft. Ich denke, ich kenne den Tathergang und sein Motiv. Ich glaube zu wissen, wie er sich seine Opfer aussucht, sie einfängt, und sie umbringt, und warum. Und ich bin überzeugt davon, dass es einer unserer“, er senkte die Stimme, beugte sich näher zu Heiji, „Polizisten ist. Und diese Nachricht passt mir bestens in die Karten.“ Er richtete sich wieder auf, warf einen Blick auf den Brief. In Heijis Gesicht zeichnete sich leichte Verwunderung ab. „Aber solange ich die Tatwaffe nicht finden kann, nicht mal weiß, wie er sich ihrer entledigt hat, kann ich die drei zwar anklagen, aber den Betreffenden nicht festnageln, weil ich es nicht beweisen kann. Ich kann noch nicht ganz sicher sagen, wer es ist, auch wenn ich einen starken Verdacht hege; und ich kann nicht sagen wie er sich des Messers entledigt hat, und damit steht und fällt diese Untersuchung, denn er lässt ansonsten ja auch nichts an Beweisen zurück. Er müsste gestehen, und das wird er nicht machen, bestimmt nicht… denn er fühlt sich nicht schuldig, das ist das Problem. Und deswegen… wird es nahezu unmöglich sein… diesen neuen Mord, den er plant…“ Er würgte fast. „…zu verhindern. Eigentlich bleibt nur eine Option. Wir müssen alle drei beschatten, weil ich eben noch nicht hundertprozentig weiß, wie ich ihn belasten kann. Und solange ich das nicht kann, darf ich mir bei der Wahl des Täters auch noch nicht zu sicher sein; das wäre fahrlässig... und noch dazu kommt, dass der erste Mord in Osaka war. Das kann ich auch noch nicht ganz genau erklären, da werde ich wohl noch ein wenig recherchieren müssen... ob einer der fraglichen Personen hier...“, er war einen Blick auf die Akten, „zum fraglichen Zeitpunkt bei euch war.“ Er zog die Akten vom Stapel, klappte eine nach der anderen auf, ohne Heiji zu Wort kommen zu lassen, der ihn nur staunend anstarrte. Er kannte Kudô und seinen Arbeitseifer, seine Brillanz… aber sie hier so zu sehen, war Wahnsinn und ließ ihn sich selbst fast wie ein Amateur vorkommen, obwohl er ja auch ein Profi war. Wie er die Sache anging, die Fakten in seinem Kopf zusammenfügte, die Schlüsse, die er zog… Heiji schluckte, blinzelte, wandte sich dann Shinichi zu, der mit der Akte vor seiner Nase herumfuchtelte. „Kommen wir also zu unseren Verdächtigen, vielleicht siehst du was, das ich übersehe. Als ersten haben wir hier Nobokazu Itakura, 42 Jahre alt, seit zweiundzwanzig Jahren bei uns im Verein, seit fünf Jahren beim Morddezernat, geschieden, zwei Kinder. Dann wäre da Akihiro Kano, 35 Jahre alt, seit zehn Jahren bei der Polizei, seit zwei Jahren beim Morddezernat, ledig, keine Kinder. Bevor er Polizist wurde, hat er studiert… Medizin an der Tokio University, fast bis zum Abschluss, dann abgebrochen. Warum, steht nicht hier. Und der Dritte im Bunde wäre dann… Ryoichi Saijo, 26 Jahre jung… der is nur knapp älter als wir, hat aber auch schon studiert… und zwar, halt dich fest… Literaturgeschichte, Philologie… das ist mal ein Werdegang. In drei Jahren abgeschlossen, aber er hat sich wohl gelangweilt, deswegen kam er zu uns, ist hier seit… nicht ganz drei Jahren… und auf Empfehlung von Kommissar Yoshifumi Taneda im Morddezernat seit vier Monaten. Ein Greenhorn, also. Das wären sie, unsere potentiellen Serienmörder.“ Er nahm seine Tasse wieder in die Hand, ließ den Kaffee langsam im Becher kreisen, indem er sie schwenkte; dann hörte er damit auf, setzte den Becher an die Lippen und trank ihn in einem Zug aus, stellte die Tasse mit einem lauten ‚Klonk’ auf den Tisch. „Bevor du anfängst… ja, dass Kano als Ex-Mediziner gutes Knowhow fürs Kehledurchschneiden hat, weiß ich auch, allerdings muss das nichts heißen. Kann, muss aber nicht. Das Messer war groß und sehr scharf. Rein körperlich wären sie alle in der Lage gewesen, obwohl die Präzision des Schnittes ein nicht zu vernachlässigender Aspekt ist. Aber das ist der Punkt… das Messer… mit so einem Riesenmesser kann keiner einfach so rausgehen. Das würde auffallen. Und selbst wenn… es waren nirgendwo Blutspuren, nur rund um die Leiche. Nicht im Gang zur Hintertür, nicht in den Toiletten, oder in der Küche, was darauf hindeuten würde, dass er es dort irgendwo saubergemacht hat oder losgeworden ist. Es ist fast klinisch sauber. Es kann kein Messer sein, aber laut Pathologe muss es eins sein… irgendwas stimmt da nicht… wo versteckt er es? Und wie bleibt er selber dabei sauber…?“ Er legte den Kopf in den Nacken. „Aber weiter. Unser Literaturwissenschaftler hat auch einen Punkt für sich… die Zitate. Aber die kann man gut googeln, ich weiß es, ich hab’s ausprobiert. Man braucht nur Perle oder Perlen plus Zitat eingeben… Und noch dazu spricht eigentlich ein Zitat gegen ihn. Das mit den Austern. Es weist darauf hin, dass der Sprecher eher… nicht schön ist. Und das deutet auf Itakura; der ist wahrlich keine Schönheit, Saijo aber, wie du ja festgestellt hast, schon.“ Er lächelte ihn liebenswürdig an. Heiji schenkte ihm einen verstimmten Blick. „Das darf ich mir wohl ewig anhörn...“ Shinichi grinste. „Sei froh, meine Ewigkeit dauert nur noch etwa viereinhalb Monate.“ Heiji wurde bleich, fuhr hoch, starrte ihn wütend an. „Kudô… das ist’ nich’… das is nich witzig!“ Shinichi schreckte zurück, blinzelte. „Ich… ich weiß… entschuldige. War ein… ein blöder Scherz. Ich hab nicht nachgedacht.“ Er versuchte ihn beruhigend anzusehen, war selber erschrocken über Heijis Ausbruch. Shinichi konnte einfach noch nicht umgehen, mit der Tatsache… dass wohl andere mit seinem Schicksal noch weniger umgehen konnten wie er. Und dass er auch beim Reden jetzt wohl besser aufpassen musste, bei der Wortwahl. Er seufzte, schaute ihn bedrückt an. „Wirklich, es… es tut mir Leid, ich hab echt nicht nachgedacht. Es rutschte mir... mehr oder weniger über die Lippen.“ „Hm.“, brummte Heiji, starrte auf den Boden. Dann nickte er, brummte leise. „Schon gut.“ Er verdrehte die Augen. „Hastde denn jetzt eigentlich einen Verdacht, Kudô?“ Shinichi nickte. „Ja, ich hab einen Verdacht… aber, wie gesagt, ich kann ihn einfach noch nicht hundertprozentig begründen…“ Shinichi seufzte, ließ seinen Blick wieder über die Fotos am Boden schweifen. Heiji tat es ihm gleich. Dann ging die Tür auf, und der Luftzug, der durch das offene Fenster verursacht wurde, wirbelte die Fotos auf. Shinichi eilte zum Fenster, während Heiji sich ihrem Eindringling zuwandte. „Kommissar Meguré.“, bemerkte er, deutete eine Verbeugung an. Meguré warf ihm einen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu. „Heiji, ich hoffe doch, du mischst dich nicht…“ „Ich bin stumm wie ein Bürosessel, Herr Kommissar.“ Er grinste breit. „Und genauso taub. Und außerdem verwechselt mich Kudô sowieso mit einer Sekretärin. Ich darf ihm dauernd den Kaffee holen.“, plauderte Osakaer Detektiv jovial, grinste noch breiter und nickte in Shinichis Richtung, der etwas angesäuert versuchte, wieder System in sein Chaos zu bringen. Etwas verstimmt richtete sich der junge Detektiv auf, warf seinem Vorgesetzten einen leicht verärgerten Blick zu, den, so wusste er, Meguré nur ihm verzieh. „Sagen Sie, ist es wirklich zuviel verlangt, vorher anzuklopfen, bevor Sie in mein Büro stürmen?“ Er blickte um sich. „Stürmen im wahrsten Sinne des Wortes.“ „Entschuldigung.“, murmelte der Kommissar. „Nun, wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?“, seufzte Shinichi, bückte sich, drehte ein weiteres Foto wieder in die richtige Position. „Ich wollte dich fragen, wie’s vorangeht.“ „Prächtig.“, meinte Shinichi trocken, hob ein weiteres Foto auf, um es an einer anderen Stelle wieder hinzulegen. „Und jetzt sagen Sie, was Sie wirklich wollen. Um den Stand der Ermittlungen zu erfragen, hätten Sie anrufen können.“ Shinichi warf ihm einen kalkulierenden Blick zu. Meguré trat von einem Fuß auf den Anderen, knetete seine Hände. Es war immer wieder unheimlich, wie sein junger Kollege seine Gedanken lesen konnte. „Du hast ja Recht… nun,…Shinichi… ich wollte fragen, warum du die Akten von Kano, Itakura und Saijo hast.“ Shinichi fuhr ruckartig hoch. „Interesse?“, sprudelte es aus ihm hervor, als ihm keine andere Ausrede einfiel. Meguré schüttelte den Kopf. „War das eine Frage?“ „Nein.“ „Verdächtigst du sie?“ Shinichi wandte den Kopf ab, holte die Akten vom Tisch. „Sie können Sie gern wieder haben.“ Meguré nahm sie nicht an. Seine Hände blieben in seinen Jackentaschen vergraben. „Das beantwortet die Frage nicht.“ Beharrlich starrte er ihn an. Der junge Mann schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich fürchte, ich kann Ihnen diese Frage überhaupt nicht beantworten. Noch nicht. Sie wissen, ich schmeiße nicht mit halbgaren Theorien um mich.“ Der Kommissar kniff die Augen zusammen. „Du bist nicht Sherlock Holmes, Kudô…“ Shinichi lächelte ironisch. „Das weiß ich. Aber wie er halte ich es für unverantwortlich, haltlose Anschuldigungen in den Raum zu stellen. Wenn Sie mir bei den Ermittlungen helfen wollen, fragen Sie lieber den Pathologen, ob wirklich nur ein scharfes Messer als Tatwaffe in Frage kommt. Ach ja...“ Er hielt inne, als ihm eine Idee durch den Kopf schoss. „Sagen Sie, wie wurden eigentlich die Teams für die Beobachtung der Bars…“ Er seufzte leise, als ihm ihr Bild wieder vor Augen trat. „… zusammengestellt?“ Meguré dachte kurz nach. „Es wurde eigentlich recht frei eingeteilt. In deinem Fall fragte ich, wer in der Nähe des ‚Courtyard’ stationiert ist oder wohnt, wer optimalerweise die Räumlichkeiten und den Charakter, die Klientel des Etablissements kennt… und da haben sich eben die drei gemeldet. Und sie haben danach gefragt, ob sie mit dir dort arbeiten könnten, und warum hätte ich ihnen das abschlagen sollen? Es war ja egal, wo du ermittelst. Wenn du die Gründe wissen willst, warum sie darum jetzt konkret gebeten hatten, oder wessen Idee das war, dann frag sie bitte selber, die weiß ich nicht mehr. Warum?“ Shinichi starrte ihn an, blinzelte. „Nur so. Der Pathologenbefund wäre nett.“ Damit schob er Meguré mehr oder weniger aus dem Büro, wandte sich zu Heiji um, die Akten immer noch in der Hand. Hinter ihm fiel die Tür zu, er lehnte sich dagegen, fixierte seinen Freund mit starrem Blick. „Hältst du das noch für einen Zufall?“ „Das hab ich nie getan…“, murmelte Heiji erschüttert. „Was machen wir nun wegen morgen? Meguré reinen Wein einschenken? Oder ihn bitten, eine neue, groß angelegte Kneipentour zu planen?“ Shinichi überlegte; dann schüttelte er den Kopf. „Das geht nicht. Wir müssten ihm sonst deine Lüge erzählen, und du weißt, was dann passiert; wir können ihm die Wahrheit nicht sagen. Und das andere geht auch nicht, ich glaube nämlich, dass unser Mörder den Schwanz einziehen wird, wenn wir wieder mit einem Großkommando anrücken.“ „Aber…!“ „Nun…“, begann Shinichi langsam, näherte sich ihm. „Ich will deine Karriere nicht zerstören. Aber wir… wir können auch etwas tun, ohne das Meguré es wissen muss. Wir wissen, wo die drei wohnen; also beschatten wir sie morgen Abend.“ Er schaute gedankenverloren aus dem Fenster. „Wir sind aber nur zu zweit, sie sind drei. Und du kannst auch vergessen, dass ich dich allein irgendwohin gehen lasse.“ Shinichi seufzte, schaute ihn dann an. „Wir fragen Mori, den Professor, Shiho… und… meinen Vater. Damit wären wir sechs. Pro Mann zwei Beschatter.“ Heijis Kinnlade fiel nach unten. „Na, dann mach du mal.“, krächzte er. Die Meinung des Pathologen ließ wie immer auf sich warten, und so fanden sich Heiji und Shinichi gegen Feierabend über den Akten brütend auf der Wache im Revier und zeichneten die Lebensläufe ihrer Verdächtigen nach, möglichst, ohne selber irgendeinen Verdacht zu erwecken. Sie waren gerade dabei, die letzten Daten abzugleichen und irgendwelche Schlüsse daraus zu ziehen, als die Tür zum Großraumbüro aufging. Herein kam eine attraktive Frau Mitte Dreißig, die ein kleines Mädchen auf ihrem Arm trug. „Minako!“ Takagi sprang auf, strahlte sein kleines Mädchen an. Miwako Sato, die das Mädchen auf dem Arm trug, ging näher, lächelte ihn an. Der Polizist gab seinem Töchterchen einen Kuss auf die Nase, streichelte ihr über ihr flaumiges Haar. „Das ist ja eine Überraschung, dass ihr mich abholt!“ Er küsste seine Frau auf die Wange. Meguré trat ebenfalls näher ein väterliches Lächeln auf seinen Lippen. „Hallo Sato! Meine Güte, Mina-chan, du bist gewachsen! Wie groß du schon bist! Na, gib Opa Meguré die Hand…“ Er reichte ihr seinen Zeigefinger, den die Kleine bereitwillig umklammerte. „Schau mal, Shinichi - ist die nicht süß! Wie sieht’s denn eigentlich bei dir und Ran mit Familienplanung aus?“ Meguré lachte gutmütig – aber das Lachen fiel ihm fast aus seinem Gesicht, als er in das aschfahle Gesicht seines Kollegen und Freundes blickte. Shinichi wurde fast übel. „Kudô…“ Heiji beugte sich zu ihm. „Hey, hey… nich’ aufregen..“ Shinichi schüttelte den Kopf, versuchte, Ruhe zu bewahren, sich nichts anmerken zu lassen, obgleich er wusste, dass es dafür schon viel zu spät war. Seine Hände zitterten, waren binnen Sekunden schweißnass geworden, eiskalt. Das alles trieb ihn an die Grenzen dessen, was er ertragen konnte. Er gönnte Takagi sein Glück, aber er konnte sich das nicht ansehen. Mit zitternden Fingern griff er sich an die Stirn, als ein schmerzhaftes Pochen einsetzte. Dann stand er auf, ignorierte, dass er einen Kaffeebecher mit sich riss, und verließ das Büro, ohne irgendjemanden anzusehen. Heiji eilte ihm hinterher. Das war zu viel für ihn. Viel zu viel. Und das wusste er. Heiji ahnte, dass allein der Gedanke an sein Kind, das er nie in den Armen halten würde, ihn fertig machte; dann auch noch das zu sehen, vorgeführt zu bekommen, was er niemals haben würde, musste ihn einfach schier verrückt machen. Es musste einfach… unerträglich sein. Draußen am Gang blieb er nicht stehen, tastete sich an der Wand entlang weiter. Heiji schloss zu ihm auf, ging besorgt neben ihm her. Hinter ihnen ging die Tür auf und wieder zu. Und dann stand er vor ihnen. Jûzô Meguré. Sein Gesicht war bitterernst. Der Kommissar packte Shinichi wortlos am Arm und zerrte ihn mit sich, winkte Heiji, ihm zu folgen, ließ ihn nicht los, ehe er ihn nicht in seinem Büro in einen Sessel verfrachtet hatte. Heiji blieb hinter seinem Freund stehen. Minuten vergingen, in denen sich die drei Männer nur anschwiegen. „Kommissar…“, begann der Osakaer Polizeichef dann. „Nein!“ Meguré schien schier der Kragen zu platzen. „Denkt ihr nicht auch, es ist Zeit, dass ihr mal redet?“ „Nein.“ Shinichi saß vorn über gebeugt, stützte sich mit seinen Ellenbogen am Tisch ab, vergrub die Hände in seinen Haaren. „Shinichi…“ Heiji ließ sich nun doch neben ihm in einem Stuhl nieder. „Nein.“ Der Kommissar schaute von einem zum andern. „Wie lange glaubt ihr, ihr könnt dieses Spiel noch spielen? Irgendetwas ist los mit dir, Kudô, und du deckst ihn!“ Heiji wich seinem wütenden Blick aus. „Lassen Sie Hattori bitte in Ruhe, Kommissar.“ Shinichis stimme klang gedämpft, er schüttelte müde den Kopf. Meguré starrte ihn an. Dann schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. Shinichi fuhr erschrocken hoch. „Kudô, du weißt, was ich von dir halte. Ich schätze dich als integeren Kollegen, als brillanten Ermittler und guten Freund. Und ich rede jetzt mit dir als dein Vorgesetzter, als dein Kollege und als dein Freund.“ Er räusperte sich, stand auf, baute sich vor den beiden jungen Männern auf. „Glaubst du, mir ist nicht aufgefallen, dass du ab und an seit ein paar Wochen nicht wirklich bei der Sache bist? Du hast dich verändert. Vor ein paar Wochen warst du kaum ein Schatten deiner selbst. Mittlerweile scheinst du dich zwar gefangen zu haben, aber der Alte bist du nicht. Du redest kaum, du siehst einem selten in die Augen, du wirkst oft erschöpft wenn du gehst, du zuckst zusammen, wenn du eine Leiche siehst - ja, sieh mich nicht so an, das ist mir aufgefallen! Und dann die Szenen mit Takagi. Vor ein paar Wochen schon hab ich mich gefragt, was los ist; und heute passiert das Gleiche schon wieder! Herrgott noch mal, du hast dich doch auch gefreut, als Takagi und Sato geheiratet haben! Du hast mir noch beim Schreiben der Rede für die Hochzeit geholfen! Takagi hätte seinen Sohn nach dir benannt - nun ist es halt eine Tochter, aber das ist Schicksal. Himmel, was ist los mit dir? Warum reagierst du so empfindlich, wenn man dich nach eurer Familienplanung fragt? Ihr seid frisch verheiratet, da ist so eine Frage doch kein Grund, entsetzt den Raum zu verlassen…“ Meguré wurde auf einmal still. „Oder… oder… kann Ran etwa keine Kinder…“ Shinichi seufzte frustriert auf, fuhr sich übers Gesicht. Sie waren in einer Sackgasse angekommen, das war nun selbst für ihn offensichtlich. Er musste auspacken, so sehr ihn der Gedanke auch quälte, aber der Karren steckte fest, weiter zu Schweigen machte keinen Sinn mehr. „Kommissar!“, begann Heiji aufgebracht. „Ich denke nicht, dass Shinichis Privatleben sie etwas angehen muss…“ Shinichi hob den Kopf, schaute Heiji lange an. Dann schüttelte er den Kopf. „Lass gut sein… Heiji. Es hat keinen Zweck mehr.“ Der Osakaer Detektiv schaute seinen Freund lange an. „Du willst wirklich…? Biste da sicher… ich meine…?“ Er schaute ihn unbehaglich an. Er ahnte, was Shinichi nun vorhatte. Er würde… er würde dem Kommissar von seinem Schicksal erzählen. Er wusste nur nicht… ob das eine gute Idee war. Für ihn persönlich… und für Shinichis weitere Involvierung in den Fall. Und… Schließlich… stand auch Kogorôs guter Ruf auf dem Spiel. Shinichi nickte Heiji zu; der beruhigte sich langsam. Was auch immer Shinichi sagen würde… wenn er fallen sollte, würde er keinen mit sich reißen wollen. Er würde nur sagen, was nötig war. Die einzige Frage war… ob er selbst nach dem Sturz in der Lage war, wieder aufzustehen. Der Tokioter Detektiv schluckte, dann wandte er sich dem Kommissar wieder zu. „Nein. An Ran liegt es nicht.“ Meguré schaute ihn an, schien nachzudenken. „Warum benimmst du dich dann so seltsam? Warte… kannst… etwa du…?“ Noch mehr Entsetzen spiegelte sich auf Megurés Gesicht. Shinichi musste fast lachen, so komisch war die Situation - wenn sie nicht gleichzeitig so bitter gewesen wäre. Heiji neben ihm fing an, seine Finger zu kneten. Dieses Gespräch musste die Hölle sein für seinen Freund. „Nein, das ist es auch nicht. Ran ist schwanger. Von mir. Das Problem…“ „Ja…?“ Meguré beugte sich in teilnahmsvollem Interesse nach vorn. Shinichi biss sich auf die Lippen. Dann ging die Tür auf. Herein kam Takagi. „Kommissar! Hier sind Sie - und… äh, du… ich wollte mit dir auch noch reden, ich meine…“ „Setzen Sie sich, Takagi. Wir sind gerade dabei, uns diesbezüglich auszusprechen, und sie betrifft es ja auch… irgendwie.“ Shinichi schaute ihn in stummem Protest an. Meguré überging seinem Blick geflissentlich, winkte seinen Inspektor ungeduldig, sich zu setzen. Takagi warf den beiden Detektiven einen fragenden Blick zu, holte sich einen Stuhl, setzte sich zu ihnen. Shinichi schluckte, war kurz davor, einfach zu gehen. Heiji sah ihm das an. Meguré allein wäre noch tragbar gewesen. Aber Takagi nun auch noch… Shinichi krallte seine Hände um die Armlehnen des Stuhls, bemühte sich um Fassung. Es war leider der Fall, so gestand er sich ein, dass er, wenn er einfach ging, seine Situation auch nicht besser machen würde. Es wäre nur ein Aufschub des Unvermeidlichen. Also räusperte er sich noch einmal, bevor er ansetzte, sprach, ohne jemanden anzusehen. „Das Problem, das ich habe, in letzter Zeit - die Ursache für meine gelegentliche Unkonzentriertheit, meine geistige Abwesenheit, meine teilweise überzogene Niedergeschlagenheit, meine…“, er blickte zu Takagi „Unfreundlichkeit und fehlende Teilnahme an ihrem Glück…“ Er hob den Kopf, starrte an die Decke, holte tief Luft. Eigentlich müsste man meinen, ich könnte meinen Text mittlerweile… Dann fuhr er fort, setzte neu an. „Wie sie ja jetzt wissen, ist Ran schwanger. In der… fünften Woche. So eine Schwangerschaft dauert neun Monate. Und ich hab noch sechs. Das heißt… fünf. Knappe… fünf Monate. Über ein Monat ist ja eigentlich schon um…“ Seine Stimme verlor sich. Sein Blick senkte sich langsam wieder auf die Tischplatte. „Fünf Monate? Für was…?“ Shinichi fing an zu schwitzen. Allein der Gedanke machte ihn schon wahnsinnig, es jetzt auch noch auszusprechen war fast nicht auszuhalten. Er tat es doch. „Fünf Monate… zu leben. Ich…“ Shinichi schaute auf seine Finger, sein Blick war ausdruckslos. Heiji biss sich auf die Lippen, wandte den Blick ab, starrte aus dem Fenster. Er hörte ihn neben sich reden, und obwohl er die Geschichte schon kannte, krampfte sich sein Magen erneut zusammen, als er ihn sprechen hörte. „Ich sterbe. In etwa fünf Monaten. Bevor mein Sohn oder meine Tochter das Licht der Welt erblickt, sollte die Rechnung der Ärzte stimmen. Das… entschuldigen Sie, aber ganz so leicht stecke ich das einfach auch nicht weg, wie es aussieht. Deshalb… deshalb bin ich wohl ein wenig neben mir, momentan. Ich versuche, mich zusammenzureißen, ich geb’ mir wirklich Mühe, es nicht nach außen zu tragen, aber immer gelingt es mir nicht…“ Er lächelte unglücklich, fuhr sich mit einer Hand über den Hinterkopf. „Natürlich freue ich mich für Sie, Takagi, auch wenn ich nicht so aussehe…“ Dann stand er auf, langsam; trat hinter seinen Stuhl, schob ihn ordentlich unter den Tisch. Heiji tat es ihm gleich. Er wollte weg hier. Seinen Freund packen und weg hier, raus hier. Shinichi schaute kurz von Takagi zu Meguré. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, meine Herren.“ Damit ging er. Keiner hielt ihn auf. Die beiden Polizisten starrten sich nur betroffen an, schluckten. Shinichi brauchte geschlagene fünf Minuten, bis er seinen Wagen aufgesperrt hatte. Allein seine Schlüssel zu finden war ein fast unmöglich scheinendes Unterfangen gewesen. Hattori stand neben ihm, redete auf ihn ein. „Du kannst so nich’ fahren.“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Geh, nimm dir ein Taxi, Heiji, ich will jetzt keinen um mich haben, bitte.“ „Das kannstde vergessen. Ich lass dich doch so jetzt nich’…“ „Heiji, verschwinde endlich!“ Er schaute ihn aufgebracht an. „Ich bin gerade nicht gesellschaftsfähig, also mach, dass du wegkommst!“ Er öffnete die Autotür, ließ den Kopf gegen die kalte Kante des Dachs sinken. Dann schaute er wieder auf. In seinen Augen stand Reue. „Entschuldige, ich wollte dich nicht anschreien. Ich will nur… dass du gehst, jetzt, bitte. Ich… bin nicht ganz Herr über mich. Ich will zu dir nichts sagen, was ich später bereue, aber ich kann gerade keine Garantie für meine Wortwahl übernehmen. Darum bitte ich dich, nimm dir ein Taxi, ich bezahl’s dir auch morgen, aber geh, lass mich allein, bis ich mich abreagiert hab. Ich fahr nicht los, bevor ich nicht klar denken kann, ich versprech’s dir.“ Er ließ sich hinter das Steuer sinken, lehnte seinen Kopf ans Lenkrad. Heiji schaute ihn ernst an. Man merkte, wie die Situation an ihm nagte, wie sehr es ihm eigentlich widerstrebte, die nächsten Worte auszusprechen. „Ruf an, wennsde zuhause bist, Kudô. Und bitte pass auch auf, ja?! Versprichs mir nicht nur, tu’s auch!“ Shinichi schaute auf, blickte in sein besorgtes Gesicht. Dann nickte er. „Und wehe, du wagst es, mir das Taxi zu bezahlen.“ Heiji kniff die Lippen zusammen, drehte sich um und ging. Er hörte, wie hinter ihm die Autotür zu fiel, fluchte leise. Aber er wusste… es hatte keinen Zweck. Shinichi brauchte seine Ruhe jetzt; und er hatte nicht das Recht, sie ihm zu nehmen. Shinichi schluckte schwer, bettete seinen Kopf auf seine Arme, lehnte sich gegen das Lenkrad, versuchte, wieder herunterzukommen. Sich zu beruhigen. Das war angesichts der Situation leichter gesagt, als getan. Der Fall war weg und morgen wusste das ganze Dezernat, dass Shinichi Kudô demnächst starb. Dann klopfte es auf die Scheibe, jemand öffnete die Tür. Er hatte nicht abgeschlossen, und das bereute er in diesem Moment. „Shinichi…?“ Es war der Kommissar. Seine Stimme klang brüchig. Shinichi schluckte, dann hob er den Kopf. „Du brauchst nicht glauben, dass ich dich so allein nach Hause fahren lasse. Steig aus.“ Shinichi kniff die Lippen zusammen, stieg wieder aus, überließ Meguré die Schlüssel, umrundete seinen Wagen und kletterte durch die Beifahrertür wieder herein, schloss die Tür, schnallte sich an. Er wusste, es war zwecklos, dem Kommissar jetzt zu widersprechen. „Willst du drüber reden…?“ „Nein.“ „Weiß… weiß Yusaku…?“ „Ja.“ „Ran…?“ „Ja.“ Meguré startete den Motor, gab Gas. „Warum…?“ Shinichi seufzte. Genau diese Frage hatte er befürchtet. „Das ist nicht so einfach…“ „Wie kann das nicht so einfach sein?“ „Weil es… noch das Leben einer anderen Person betrifft.“ Shinichi drehte den Kopf, schaute nach draußen. Tokio zog an ihm vorbei. Sein Kopf begann zu schmerzen, heftig. „Welche Person?“ „Wird das ein Verhör?“ „Shinichi! Verdammt noch mal, du kommst in mein Büro, sagst mir, dass du in einem halben Jahr stirbst – und gehst! Du kannst doch nicht glauben, dass ich das einfach so stehen lasse! Ich will den Grund wissen!“ „Der Grund geht Sie aber verdammt noch mal nichts an!“ „Welche Person ist noch betroffen? Und inwiefern?“ Der Kommissar ließ nicht locker. Shinichi wandte sich ab, schwieg eisern. Megurés Fragen prallten an ihm ab. Vor seinem Haus angekommen stieg er aus. Während der ganzen Fahrt hatte Meguré weiter gebohrt, ohne Erfolg. Als er das Auto parkte, war der Polizist wirklich sauer. Shinichi öffnete das Gartentor, Meguré ging ihm energischen Schrittes nach, pulverte weiter. Und in dem Moment ging die Haustür auf, Ran und Kogorô traten heraus. „Du brauchst nicht glauben, dass ich gehe, bevor ich nicht weiß, was dich verdammt noch mal umbringt!“ Shinichi fuhr herum, war kreidebleich im Gesicht. „Lassen Sie mich endlich in Ruhe, Meguré!“ Dann blinzelte er, schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. „Entschuldigen Sie…“ In dem Moment merkte, wie ihm jemand von hinten eine Hand auf die Schulter legte, ihn zurückzog. „Der Grund, warum er nicht reden will… bin ich, Herr Kommissar. Wenn Sie es gestatten, führen wir beide dieses Gespräch zu Ende.“ Kogorô wandte sich an Shinichi. „Du gehst rein, du... siehst nicht gut aus. Und…“ Er schaute ihn ernst an. „Danke, dass du mich immer noch deckst. Aber ich denke, jetzt sollten wir es gut sein lassen…“ Shinichi schluckte. „Wenn du meinst, Kogorô.“ Dann fühlte er eine Hand in seiner, die ihn mit sich zog. Ran führte ihn zurück ins Haus, schloss die Tür hinter ihnen. „Miesen Tag gehabt?“ „Mies ist gar kein Ausdruck…“ Er seufzte, verdrehte kurz die Augen; dann zog er sie an sich, vergrub sein Gesicht an ihrem Hals, atmete den Duft ihrer Haare ein. Sie zog ihn mit sich auf die Couch, strich ihm durch die Haare. „Er wird mir den Fall abnehmen. Er… es ist vorbei…“, murmelte er leise, schaute zu Boden. „Shinichi…“ Sie seufzte, gab ihm einen Kuss auf die Schläfe. Dann ging die Wohnzimmertür auf, und herein kamen der Kommissar und Rans Vater. Schwer ließ sich Meguré in einen der Sessel fallen, schaute seinen langjährigen Freund an, schwieg. Kogorô nahm in einem anderen Sessel Platz. Lange sagte keiner ein Wort. „In was hast du dich da reingeritten…“, flüsterte der Kommissar schließlich. „Conan… Conan Edogawa warst du…?“ Shinichi zuckte bei dem Namen seines alter Egos zusammen, schaute weg, als er antwortete. „Ja.“ „Und dieses Gift…“ „Kommissar. Bitte.“ Ran starrte den Polizisten an, biss sich auf die Lippen. „Ich denke, mein Vater hat es Ihnen erzählt, also hören Sie bitte auf, diese Fragen zu stellen…“ „Ran, lass ihn.“ Shinichi schaute seinen Vorgesetzten an. „Es bringt mich um, ja. Sie können Kogorô glauben, so unglaublich die Geschichte auch ist. Hätte ich es nicht erlebt, würde ich es auch nicht glauben…“ Meguré nickte langsam. Eine Weile trat erneut Stille ein. Dann räusperte sich der Kommissar. „Ich kann dich so nicht weitermachen lassen, das weißt du. Du solltest die Zeit, die du... die du noch hast, anders verbringen. Du sagst es selbst, es... beschäftigt dich auch in der Arbeit, du könntest einen Fehler machen, und das kann ich nicht... zulassen, das weißt du...“ Shinichi kniff die Lippen zusammen, nickte nur. Meguré sah ihn nicht an, blickte zu Boden. Dann nahm er ganz langsam seinen Hut ab. „Herrgott… Shinichi…“ Seine Stimme brach. „Was hast du alles durchgemacht…“ Er hob den Kopf wieder, schaute seinem Gegenüber ins Gesicht. „Hattori hat’s gewusst?“ Shinichi nickte nur. „Ja. Er hat’s… herausgefunden. Ich hab ihm noch nie was verheimlichen können…“ „Beides?“ Shinichi wusste, was beides war. Eines war Conan… das andere war… das hier. Conans Vermächtnis. Die späte Rache der Organisation. „Ja.“ Meguré schwieg lange, und als er den Mund wieder öffnete, um zu sprechen, merkte man, wie schwer ihm das Reden fiel. „Ich kann dich so nicht weitermachen lassen…“, wiederholte Meguré geistesabwesend. „Ich weiß.“ Shinichis Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. Ran klammerte sich an seinem Arm fest. Meguré schaute von ihrem Gesicht zu seinem, begann, seinen Hut zu kneten. Dann stand er ruckartig auf. „Warum passiert sowas…? Warum zur Hölle hast du das getan? Ich hätte dich nie so in die Fälle involvieren dürfen, dann wärst du nie in Kontakt gekommen mit…“ Shinichi starrte ihn verblüfft an. „Hören Sie auf, Kommissar. Es reicht mir, wenn ich mir das von meinem Vater anhören kann. Sie trifft da genauso wenig Schuld wie ihn…“ „Ich kann dich so nicht weitermachen lassen…“ Meguré biss sich auf die Lippen, nuschelte den Satz erneut. Shinichi verzog das Gesicht. „Dann schicken Sie mir die Kündigungsunterlagen, und ich unterschreibe.“ Er fing an zu zittern. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Er war noch nicht soweit. Er wollte diesen Fall noch beenden. Er war einfach noch nicht soweit... „Ich will dir aber keine Kündigung schicken…“ Meguré legte seinen Hut auf den Tisch, fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. „Ich… wann… wann wolltest du aufhören?“ „Nach diesem Fall.“ „Du… fühlst dich also soweit fit ja? Um diesen einen noch…“ Shinichi starrte ihn an. Ran schluckte. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen oder weinen sollte. Meguré schaute Shinichi ernst an. Der Detektiv nickte. „Gut. Dann… machen wir diesen einen noch. Es… zeichnet sich ja ein Ende ab, nicht wahr?“, murmelte der Kommissar mehr zu sich selbst als zu jemand anderem. „Ja. Es… nähert sich dem Ende.“ Shinichi schluckte. „Aber du brauchst nicht glauben, dass ich dich aus den Augen lasse. Wenn ich bemerke, dass es dir zuviel wird, bist du raus, hörst du? Takagi wird selbstverständlich nichts sagen…“, fügte er an, als er Shinichis besorgtes Gesicht sah. Shinichi seufzte leise. „Danke.“ Meguré schüttelte schwer den Kopf. „Du brauchst mir nicht zu danken. Ich… ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, es tut mir so Leid, vor allem…“, er schaute zu Ran. „Da ist es doch… das Mindeste, was ich tun kann… dir einen würdigen Abschied zu ermöglichen.“ Er schaute ihn bekümmert an. Dann setzte er seinen Hut auf und ging ohne ein weiteres Wort. Shinichi schaute ihm sprachlos hinterher. Kogorô hob die Hand zum Gruß, nickte den beiden zu, dann ging er dem Kommissar hinterher, um ihn zurück zum Revier zu begleiten. Shinichi stand ebenfalls auf, brachte sie zur Tür, wollte nicht einfach so sitzen bleiben. Langsam schloss er sie hinter den beiden Männern. Als er nach fünf Minuten immer noch nicht zurückgekehrt war, machte Ran sich auf den Weg in die Eingangshalle, um zu sehen, wo er abgeblieben war. Sie fand ihn, einsam auf weiter Flur. Er stand einfach nur da, sie Hände tief in den Hosentaschen vergraben, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, betrachtete sein Spiegelbild in den blankgebohnerten Fliesen, schluckte hart. Als er sie aus den Augenwinkeln bemerkte, drehte er sacht den Kopf, biss sich auf die Lippen. „Ich will nicht sterben, Ran…“ Er flüsterte es nur, aber es klang wie ein Schrei in ihren Ohren. Sie eilte zu ihm, schlang ihre Arme um seinen Oberkörper, drückte ihn an sich. Shinichi presste die Augen zusammen. „Ich will nicht…“ „Ich weiß…“ Ran zog ihn an sich, so fest es ging, atmete tief ein. Sie war erleichtert und erschrocken zu gleich; sie hatte ihn noch nie so deutlich darüber reden gehört. Einerseits fand sie es gut, dass er darüber reden konnte… und andererseits brachte sie die Situation an den Rand des für sie Erträglichen, weil es sie so hilflos machte… so hilflos, so ohnmächtig. Es zeigte ihr umso deutlicher, dass sie ihm, der ihr mehr bedeutete als alles andere auf der Welt… nicht helfen konnte. „Das will ich auch nicht… ich will es doch auch nicht…“ Er seufzte. Sein warmer Atem auf ihrer Haut jagte ihr einen leichten Schauer über den Rücken, der in jeder anderen Situation in ihr ein Gefühl von Wohlsein hervorgerufen hätte, doch nicht in dieser. Er löste sich vorsichtig von ihr, hielt sie ein wenig auf Abstand. „Verzeih mir, ich hätte nicht davon anfangen sollen.“ Er schluckte, gab ihr einen Kuss auf die Stirn, dann ging er ins Büro. Er musste mit Heiji telefonieren. Und für morgen Abend musste noch geplant werden… Sie schaute ihm hinterher, ließ ihn aber ziehen. Shiho schaute aus dem Fenster. Gerade hatte sie ihn gesehen, wie er sich von Kogorô und dem Kommissar verabschiedet hatte, und kam nicht umhin, an seinen und Rans Besuch heute Morgen zu denken. Schwanger. Ran und Shinichi erwarteten ein Kind. Ein Kind. Papa. Er würde Vater werden… wenn sie ihm nicht diese Chance verbaut hätte. Sie hatte es in seinen Augen gesehen, richtig freuen… richtig freuen konnte er sich nicht. Es war klar gewesen, offensichtlich, dass er sich mehr Sorgen machte, als Vorfreude empfand. Er konnte sich auch auf nichts freuen, er würde bereits tot sein, wenn das Baby kam. Er würde es nicht erleben. Stattdessen musste er nun mit dem Gedanken leben, dass sein Frau sein Kind allein großziehen musste. Dass es ihn nie kennen lernen würde, niemals wissen würde, wer er war. Und sie war schuld. Es war ihm wirklich… ins Gesicht geschrieben gewesen… wie gern er sich gefreut hätte. Wirklich gefreut. Er wär gern Vater geworden, und sie zweifelte nicht daran, dass er sein Bestes gegeben hätte. Dass er als Vater versagen könnte… diese Gedanken brauchte er sich nun nicht machen. Eine Träne rollte ihr über die Wange. Der Professor stellte sich neben sie. „Shiho.“ Er schaute sie mitfühlend an. „Shiho. Ran wollte es so. Und glaubst du nicht, er wird sich irgendwann noch freuen können?“ Sie sah ihn nicht an, als sie sprach. „Ich hoffe es für ihn.“ Damit drehte sie sich um und ging. Sie ahnte nicht, wie bald sie Shinichi schon wieder sehen würde. Es war Sonntagmorgen, und in Agasas futuristischer Küche standen Yusaku Kudô, Kogorô Mori, Heiji, Shiho, und Agasa, der Hausherr persönlich und starrten Shinichi an, als ob er nun den Verstand verloren hätte. Gerade hatte er ihnen eröffnet, mit was er sie heute Abend zu beschäftigen gedachte. Heiji stand neben ihm und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Mori sah alles andere als begeistert aus. „Du willst was? Dass wir sie beschatten? Ohne Megurés Wissen seine Leute… observieren?!“ Shinichi nickte. Yusaku wandte grinsend den Kopf ab. Auf solche Ideen konnte auch nur einer kommen. Sein Sohnemann, der master of disaster himself. „Warum sagen wir Meguré nicht einfach die Wahrheit?“, fragte Kogorô, schaute seinen Schwiegersohn ein wenig verstimmt an. „Weil Heiji,“ Shinichi gab seinem Freund einen Klaps auf den Hinterkopf, „sonst seinen Job verlieren würde. Er hat gelogen, für mich, du kannst von mir nicht erwarten, dass ich ihn hinhänge…“ Yusakus Kopf fuhr herum. Er hatte sich bereits gefragt, wie es sein konnte, dass Meguré seinen Sohn noch am Fall arbeiten ließ, wenn der Mörder ihn bedrohte. Wie er Jûzô kannte, hatte er erwartet, dass er ihn sofort abzuzog. Genau das hatte er auch getan; Meguré hatte denjenigen, von dem er dachte, dass er bedroht wurde, auch aus dem Verkehr gezogen. Nur war das der Falsche. Er warf Heiji einen musternden Blick zu. Offensichtlich teilte der junge Mann seine Einschätzung, dass Shinichi diesen Fall noch brauchte… und hatte deshalb dieses Opfer gebracht. Heiji merkte, dass er beobachtet wurde, wandte den Kopf, sein Blick traf den Yusakus. Der Mann nickte nur. Heiji erwiderte die Kopfbewegung, fuhr sich dann langsam durch die Haare. „Also machen wir’s?“, fragte er laut, übertönte Shinichis und Kogorôs Debatte, die sich erbittert fortgesetzt hatte. Alle, auch Kogorô, nickten. „Gut.“, murmelte Shinichi. „Hier sind die Adressen und die Namen. Ich geh mit Heiji, Shiho mit dem Professor, und ihr zwei…“ Er warf seinem und Rans Vater einen Blick zu, „könnt euch bestimmt auch hervorragend unterhalten, wenn euch langweilig wird, nicht wahr? Bitteschön, die Adresse.“ Er reichte Agasa und seinem Vater je eine Karte. „Heute Abend ab sechs Uhr, bitte auf Position sein. Über die Mikroemitter wird Kontakt gehalten.“ Er verteilte die alten Detective-Boys-Anstecker. „Bis dann.“ Shinichi drehte sich um, ging, gefolgt von Heiji und seinem Vater wieder rüber in sein Haus. Mori schaute Agasa und Shiho ein wenig verblüfft an. Die junge Frau zuckte mit den Schultern, verschwand in ihr Labor. Der alte Professor seufzte tief. „Lassen Sie ihn.“ Er schaute ihm nach. „Sie kennen ihn doch, wenn er Blut gerochen hat, hält ihn nichts mehr.“ Yusaku holte ihn und Heiji ein. „Ich hab gehört, Meguré weiß es.“, murmelte er leise. Shinichi warf ihm einen kurzen Blick zu. „Sag doch bitte gleich, dass Meguré dich angerufen hat.“ Sein Vater seufzte. „Schön ja. Er hat gesagt, er lässt dir den Fall.“ „Ja.“ Shinichi lächelte bitter. „Meine Abschiedsvorstellung… mein letztes Problem.“ Yusaku schluckte hart. Seine Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Shinichi schaute sie an, seine Augen huschten von einem zum anderen und fast bereute er seine Worte. „Hört zu, Ran darf… sie sollte nichts von heute Abend wissen, sie macht sich nur Sorgen. Also…“, wechselte er das Thema ein wenig. „Schon gut, wir gehen schon.“ Yusaku nickte. „Sag meiner Schwiegertochter einen schönen Gruß. Bis heute Abend.“ Shinichi winkte, dann ging er durch da Gartentor und rauf zur Haustür, durch die er in der Villa verschwand. Yusaku schaute ihm nachdenklich hinterher. Neben ihm stand Heiji, vergrub unsicher seine Hände in seinen Hosentaschen. „Du weißt, dass es falsch war, dass du gelogen hast.“, murmelte der Schriftsteller leise. Er seufzte schwer. „Und gleichzeitig war es das Richtigste, was du in der Situation tun konntest.“ Er wandte den Kopf, schaute Heiji an, der auf einen Pflasterstein vor seinen Schuhen schaute. „Er braucht diesen Fall… er braucht das Gefühl…“ „…noch zu etwas zu gebrauchen zu sein…“, vollendete Heiji seinen Satz. Dann schaute er auf, Shinichis Vater ins Gesicht. „Er hat mir das Telefon gegeben, mir gesagt, ich soll Meguré von den Briefen erzählen. Sie hätten ihn sehen sollen… Er selber konnte es ihm nicht sagen… aber ich konnts auch nicht. Ich hab ihn einfach so angelogen, den guten Kommissar…“ Yusaku schob ebenfalls seine Hände in seine Jackentasche. „Aber er braucht… braucht diesen Fall einfach noch… um Adieu zu sagen. Ganz davon abgesehen, dass ihm der Mörder den Fehdehandschuh hingeworfen hat. Und das kanner auf sich nich’ sitznlassn. Konnt’ er noch nie.“ Yusaku nickte schwer. „Ich danke dir. Dass du… ihm beistehst.“ Heiji strich sich langsam über den Kopf, über die Stirn, dann übers Gesicht, ließ seine Hand wieder sinken. „Ich würd’ nich’ mehr in’ Spiegel sehen können, würde ich ihn allein lassen. Einen besseren Freund als ihn werd’ ich nie mehr finden.“ Er schloss kurz die Augen. „Ich kann ihm nich’ helfen. Aber was immer dazu beiträgt, dass es ihm besser geht, ich werd’s tun.“ Heiji seufzte schwer. „Manchmal denk’ ich, das kann nich’ wahr sein.“ Er schluckte schwer. „Das kann einfach gar nich wahr sein…“ Yusaku wandte sich langsam um. „Bewahr dir den Glauben. Bewahr dir diese Momente. Denn die Realität… bringt einen an die Grenzen seines Verstands.“ Er schluckte hart, dann ging er. Heiji seufzte, dann zog er sein Handy aus der Tasche, rief sich ein Taxi. Onkel Heiji ----------- Guten Tag! Vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Da nun wieder ein Gegewartskapitel folgt, müsst ihr leider noch ein wenig warten, wie's im Mordfall weitergeht... und wieviel Meguré dann doch noch rauskriegt... oder nicht. Und was sich Yusaku und Kogorô in einsamen Momenten zu sagen haben *lacht* Ich finds interessant, dass euch das interessiert ^^; Jetzt ist erst mal Heiji dran, und ich glaub, solang hat er noch nie am Stück geredet. Und dieser Dialekt hat mich fast um den Verstand gebracht ^^; Alles rot in meinem Worddokument ;D Ich wünsche viel Vergnügen, bis nächste Woche, Eure Leira ^-^ __________________________________________________________________________ Kapitel 5: Onkel Heiji Gegenwart Lange saß sie vorm Schrank auf dem Teppich, haderte mit sich. Starrte das hellbraune, gemaserte Holz an, die Schranktür, hinter der, wie sie wusste, sich die Kiste mit den Büchern ihres Vaters verbarg. Kunststück, sie hatte sie ja selbst dort eingesperrt. Erinnerungen an einen Menschen, den ich nicht kenne und nie kennen lernen werde. Sie hatte seit zwei Tagen nicht gewagt, die Bücher noch einmal anzufassen. Und seit zwei Tagen redete sie auch mit ihrer Mutter nur das Nötigste. Mittlerweile wünschte sie sich manchmal, sie hätte nie gefragt. Nie gefragt, wer er gewesen war. Manchmal wünschte sie sich, er hätte diese Bücher nicht geschrieben. Sie hatte noch gar nicht so viel gelesen, aber was sie jetzt wusste, reichte ihr, dass dieser Gedanke in ihrem Kopf auftauchte. Wäre er ein Fehlgriff ihrer Mutter gewesen… jemand, der sie einfach hatte sitzen lassen, mit ihrem ungeborenen Kind, dann hätte sie wütend sein können. Mit Wut konnte sie umgehen. Gut sogar. Wäre er tot… einfach nur tot, hätte er ihr nicht diese Tagebücher hinterlassen, von denen die ersten paar Einträge sie schon so sehr mitnahmen… dann wäre er einfach nur tot gewesen, und sie hätte einfach nur traurig sein können. Auch mit Trauer konnte sie umgehen. Aber das… Schon nach ein paar Seiten, nach den Gesprächen mit ihren Großeltern, dem Professor und Shiho... kam er ihr so seltsam vertraut vor. Und das, soviel war sie sich sicher, würde sie an die Grenzen dessen, was sie ertragen konnte, treiben. Sie hatte es nun von mehreren Seiten gehört; ihr Vater war ein ehrlicher, aufrichtiger, anständiger und liebevoller Mensch gewesen... und er war mitten aus dem Leben herausgerissen worden - und hatte das auch noch gewusst… Genau deshalb hatte er ihr diese Bücher hinterlassen. Damit er sich ihr vorstellen konnte. Trotz allem. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Sie war neugierig auf ihn. Sie wollte mehr von ihm lesen, mehr über ihn erfahren, sie wollte weiter seitenweise seine Schrift sehen. Und gleichzeitig, das wusste sie, wollte sie es nicht. Sayuri wollte einfach nur traurig sein, dass er tot war. Sie wollte nicht, dass es ihr das Herz zerriss, weil sie von einem Menschen erfuhr, den sie so gern gekannt hätte… so gern kennen lernen würde... und aber wusste, dass das nicht mehr möglich war. Einfach nicht möglich war. Dann stand sie auf, öffnete die Schranktür, schaute hinunter in den Karton. Bückte sich, holte die Nummer eins wieder heraus. So sehr sie sich auch zu überzeugen versuchte… er hatte die besseren Argumente. Erstens hatte er sich die Mühe gemacht, das alles zu schreiben… das sollte gewürdigt werden. Er hatte verdient, dass sie sich anhörte, was er zu sagen hatte. Zweitens war sie einfach unglaublich neugierig. Und drittens… genoss sie das Gefühl, dass ihr Vater sie geliebt hatte… dieses Wissen machte ihr Leben glücklicher und trauriger zugleich. Sie schluckte, suchte die Seite, wo sie aufgehört hatte, setzte sich aufs Bett – und ließ sich von seinen Worten in den Bann ziehen. Hallo! Wie geht’s dir? Ich weiß, der Gedanke kommt vielleicht etwas spät, aber ich hoffe, das hier zu lesen nimmt dich nicht zu sehr mit… Eigentlich soll es ja mehr informativ sein - ich will ja gar nicht, dass du zu sehr Anteil nimmst; was geschehen ist lässt sich nun mal nicht mehr ändern und du hast wohl den allerwenigsten Einfluss darauf. Leider weiß ich nicht, wie du das hier mal auffassen wirst, deshalb... wollte ich das nur mal gesagt haben. Sayuri hob eine Augebraue, seufzte tief. „Netter Versuch...“, murmelte sie leise. Nun – ich dachte mir… vielleicht interessiert es dich... wenn ich dir heute mal was über mein ‚gesellschaftliches’ Leben, so man es nennen will, erzähle. Du weißt mittlerweile, dass ich mit Shiho befreundet bin, und mit Professor Agasa. Ein weiterer Freund, den du wahrscheinlich kennst, der dein Patenonkel ist, wenn du ein Junge bist, ist Heiji Hattori. Und genau über den will ich dir mal ein Bisschen berichten. Wie wir uns kennen lernten, warum gerade wir Freunde geworden sind, wie ich ihn sehe… das volle Programm. Du wirst sicher auch Freunde haben, da denke ich, könnte es dich interessieren, wie ich es mit Freundschaften gehalten hab. Grundsätzlich ist wohl zu sagen: ich hatte wenige. Außer deiner Mutter und Heiji, sowie Shiho und Agasa, könnte man eventuell, unter Umständen, aber eigentlich nur oberflächlich tangierend Kazuha und Sonoko dazuzählen. Sonst keinen. Ich war noch gut bekannt mit den Leuten vom Revier, Meguré, Takagi, Sato… aber denen hab ich längst nicht soviel erzählt wie den oben genannten. Fakt ist, der einzige, wirklich gute Freund, den ich habe, ist Heiji Hattori. Auch wenn mir sein Dialekt bisweilen auf den Geist geht, und ich ihn für zu ungestüm halte, gelegentlich. Er fällt gern mit der Tür ins Haus, aber das wirst du ja schon wissen ;D Nichtsdestotrotz ist er einer der Menschen, auf die ich mich in jeder Lebenslage hundertprozentig verlassen konnte, der mich auch jetzt nicht im Stich lässt… und solche Freunde… solche Freunde findet man selten. Nun. Heiji. Also von vorne. Wir lernten uns kennen, als ich Conan war - und gleichzeitig auch wieder nicht. Tatsache ist, dass wir uns bei einem Fall trafen. Es ging um einen Giftmord. Zu der Zeit war ich schon Conan; und Heiji, ein wenig überdreht und allzu selbstsicher, wollte mal sehen, was der vielgerühmte Shinichi Kudô so drauf hat. Deshalb stattete er Kogorô, Ran und mir einen Besuch ab, musste enttäuscht feststellen, dass ich nicht da war, lud sich aber doch trotzdem gleich zu einer Falluntersuchung ein. Hab ich erwähnt, dass er manchmal fast ein wenig unverschämt ist? Lädt sich da einfach selbst ein... wollte bei Kogorô übernachten, bis ich mal auftauche, weil er sich dachte, irgendwann besuch ich sicher mal Ran... kaum zu fassen, oder? ;) Aber weiter im Text. Nun war es so… ich war zu dem Zeitpunkt krank. Erkältet, die Grippe oder was das war… und Heiji - der Trottel, muss man sagen, entschuldige - aber Heiji, also… er hatte nichts besseres zu tun, als einem Sechsjährigen Knollenwurzelschnaps zu trinken zu geben. Er hatte eine Flasche für Kogorô dabei, als Gastgeschenk, weil er, wie gesagt, sich einquartieren wollte. Ich kann dir sagen dir, das Zeug brennt runter… Sayuri lachte kurz auf. Ja, das hörte sich nach Onkel Heiji an, wie sie ihn kannte. Allerdings hatte er ihr ihres Wissens noch keinen Schnaps zu trinken gegeben. Sie zog die Augenbrauen hoch, kniff ihre Zunge zwischen ihre Lippen und las weiter. Schnaps also. Für einen kranken Grundschüler, lass dir das auf der Zunge zergehen. Auf alle Fälle kriegte er seinen Willen, wir fuhren mit ihm zu dem Fall; und ich weiß nicht, was es war, aber irgendetwas in dem Schnaps, zusammen mit der Grippe… bewirkte, dass ich kurzzeitig meinen alten Körper wieder bekam. Ich zeigte also Heiji, der sich bei der Fallauflösung durchaus schlüssig zu einer Lösung herangetastet hatte – nur leider zur falschen – wo der Hammer hängt :) Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht; sie konnte fast den Triumph in seiner Stimme hören. Dann wurde ich wieder Conan… aber Heiji hat diese Blamage wohl nicht so schnell verwunden, auch wenn er sich als sehr fair mir gegenüber erwies und mich den besseren nannte, was Schwachsinn ist. Es gibt kein besser oder schlechter. Nicht in diesem Metier... es ist egal, wer den Fall löst, die Hauptsache ist, einer tut es. So gingen wir also auseinander - und ich sollte ihn erst etwas später wieder sehen, als ich bei einem Gewinnspiel über Sherlock Holmes teilnahm. Er, der in seinem Leben noch keinen Fall von Holmes gelesen hat (ich hoffe doch für ihn er hat das inzwischen nachgeholt!!! Da kannst du ihn bei Gelegenheit mal fragen, das ist Pflichtlektüre bei seinem Beruf!) machte auch mit. Ich frag mich heut noch, warum. Vielleicht hat er mich wieder gesucht, was weiß ich. Nun. Wie zu erwarten war – es geschahen Morde. Und obgleich so viele Krimifreaks auf einem Haufen versammelt waren, waren die einzigen, die da noch durchzublicken schienen, Heiji und ich. Nun war es so; für gewöhnlich legte ich Kogorô kurz schlafen und löste mit seiner Stimme den Fall. Diesmal ging das nicht… also benutzte ich ihn. Heiji. Allein seinen Dialekt nachzuahmen war eine Farce -.- Es geschah, was kommen musste; Kogorô, einigermaßen aufgebracht, weil Heiji seine grandiose, aber haltlose Theorie zerpflückte, briet ihm eins über. Und dann hab ich nicht aufgepasst. Heiji ist nämlich durch den Schlag aufgewacht... er ließ mich den Fall fertig lösen, stellte sich weiter schön schlafend; und dann stellte er mich zur Rede (eigentlich erpresste er mich damit, alles Ran zu stecken, wenn ich nicht gestehe…). So kam es, dass er hinter mein Geheimnis kam… aber er behielt es für sich. Das war… der Grund, warum aus ihm und mir Freunde wurden. Er hat mich nicht verraten. Im Gegenteil – aus irgendeinem Grund dachte er wohl, er müsse mir helfen, und ich bin doch irgendwie froh, und war es auch damals, dass er und ich uns über den Weg gelaufen waren. Eigentlich sind wir uns ja schon viel früher begegnet, indirekt - aber da wussten wir noch nichts von einander; wir waren Mittelschüler, und genau genommen waren wir noch nicht mal Detektive. Falls dich die Geschichte auch noch interessiert, kannst du ihn fragen, oder Ran, oder meinen Vater, der war auch dabei. Tut mir Leid, aber wenn ich anfange, hier alle Fälle aufzuschreiben, die ich bearbeitet habe... dann werd ich hier nicht fertig ;) Heiji und ich waren also seit diesem Ereignis befreundet. Das fing damit an, dass wir unsere Fälle, wenn wir uns trafen, gemeinsam lösten und ging soweit, dass wir uns gelegentlich, wenn der andere in Bedrängnis war, für den jeweils anderen ausgaben… das haben wir wirklich getan. Wir halfen uns, wo es also nötig war, aus der Klemme, lernten voneinander, waren für einander da; hatten unseren Spaß, aber auch unsere ernsten Momente. Ich hatte ihm eigentlich nicht erzählen wollen, dass ich sterben muss… aber wie so vieles fand er auch das heraus. Und nun… ist er schon wieder dabei, mir aus diversen Klemmen zu helfen… versucht, auf mich aufzupassen, so gut es eben geht, was ich manchmal schon ein wenig erdrückend finde, aber wenn’s ihm das Leben leichter macht... Ich fürchte nur, ich bin ein schlecht zu bewachendes Objekt… :) Damit muss er klarkommen. Nun. So kommt es auch, dass ich mit ihm jetzt an diesem Fall sitze… Irgendwie muss ich mir ja meine Zeit vertreiben, wenn ich nicht gerade Romane schreibe für dich ;) Also arbeite ich noch. Als Detektiv. Das hier… ist mein letzter Fall. Ich hab Ran versprochen aufzuhören, damit ich mit ihr… und irgendwie auch dir… noch eine schöne Zeit haben kann, ohne dass sie Angst haben muss, irgendsoein Psychopath jagt mir eine Kugel durch den Schädel. Psychopath ist wohl ein gutes Stichwort. Ich hoffe inständig, du bist schon alt genug, um das hier zu lesen – Kriminalfälle sind nichts für kleine Kinder. Da ich aber mal schwer davon ausgehe, dass du kein Kind mehr bist, kann ich dir ja etwas erzählen. Vielleicht hat es ja irgendeinen Nutzen für dich. Ich denke sogar, den hat es ganz sicher; allerdings schreib ich hier erstmal den Anfang auf, zu mehr fehlt mir nämlich gerade leider die Zeit, deine Mum will einkaufen fahren. Für dich. Also beschwer dich nicht, dass du auf eine genauere Schilderung der Ereignisse im Fall des Perlenmörders noch ein wenig warten musst. Wir, also Heiji und ich, sowie die Tokioter Polizei, sind an einem Serienmörder dran… er bringt fast jede Woche junge Frauen um, schmückt sie dann mit Perlen, deshalb der Name. Das allein ist schon schlimm genug, aber er scheint einen Narren an mir gefressen zu haben. Ich kann dir sagen, langsam macht mich der Kerl wahnsinnig. Er schreibt mir Briefchen, versteckt in ihnen Hinweise. Wie krank kann man sein… Er mordet fröhlich weiter und schreibt mir Nachrichten, in denen er mich spüren lässt, für wie unfähig er mich erachtet. Und zwar auf eine Weise, die an und für sich witzig wäre, wäre es nicht so verdammt ernst. Jeder von ihnen beginnt mit den gleichen Worten: Lieber Herr Detektiv… Nun… schon irgendwie irre, oder? Aber wir werden ihn kriegen, dessen bin ich mir sicher. Ich habe noch keinen ungelösten Fall in meiner Bilanz, und das hier wird sicher nicht der erste. Er wird seine Strafe bekommen. Ganz sicher. Aber nun… muss ich wohl wirklich Schluss machen. Ran klopft schon zum fünften Mal, sie will unbedingt Sachen für dein Zimmer kaufen. Wir wissen noch gar nicht, ob du ein Junge oder ein Mädchen bist, aber sie will unbedingt einkaufen. :) Nunja. Da muss ich wohl mit. Also dann, bis die Tage- Sayuri schaute auf, klappte das Buch langsam zu. Heiji Hattori. Onkel Heiji. Ihr Onkel Heiji war der beste Freund ihres Vaters gewesen. Bisher hatte sie ihn immer als guten Bekannten, als Freund der Familie gesehen, sie hatte nicht gewusst, dass es dieses starke Band der Freundschaft zwischen den beiden Männern gegeben hatte. Sie seufzte. Ihre Patin war Tante Sonoko. Sie war ja auch ein Mädchen und kein Junge. Kurz tauchte die Frage in ihrem Kopf auf, ob ihr Vater lieber einen Jungen gehabt hätte, aber dann verwarf sie sie wieder. Das war lächerlich. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er einen Sohn bevorzugt hätte. So wie er schrieb... glaubte sie das wirklich nicht. Aber Onkel Heiji kannte sie, obgleich er nicht ihr Pate war, nur zu gut. Er hatte ihr bis jetzt immer etwas zu Weihnachten und zum Geburtstag geschenkt, kümmerte sich um sie, interessierte sich für sie; sie wusste, wann immer sie Hilfe brauchte, konnte sie zu ihm kommen, das hatte er ihr öfter als einmal versichert. Sie mochte ihn. Sie mochte seine Art, seine Lockerheit. Sie bewunderte ihn für seinen Ehrgeiz im Beruf, für seinen Mut. Und fragte sich nun, ob ihr Vater etwa genauso gewesen war...? Er war immerhin Detektiv gewesen. Und er hatte, wie der Professor ihr ja erzählt hatte, eine große Verbrecherorganisation zu Fall gebracht. Und Onkel Heiji hatte, wie sie ja gelesen hatte, davon gewusst. Ihr Vater schwieg sich offensichtlich aus, wie er es geschafft hatte, sie zu stürzen; er hatte ihr nicht einmal die Natur des Syndikats beschrieben, und auch Tante Shiho und der Professor hatten nichts über sie gesagt. Aber Onkel Heiji wusste da sicher was. Er war bestimmt auch dabei gewesen, und irgendwie glaubte sie, lieber mit ihm darüber reden zu wollen als mit Tante Shiho. Das Bild der Maus tauchte kurz vor ihren Augen auf, ließ sie schlucken. Sie mochte ihre ‚Tante’ zwar trotzdem noch, aber irgendwie musste über diese Sache wohl doch erst noch ein wenig mehr Gras wachsen. Also würde sie wohl mit Heiji Hattori reden, das schien ihr als gute Idee. Dabei konnte sie ihn auch gleich fragen, wie ihr Vater so als Detektiv gewesen war… Heiji kannte ihn wohl auch schon ein wenig länger als Tante Shiho. Und ihr Vater würde wohl mit seinem Freund anders geredet haben, ihm andere Dinge erzählt haben als ihr. Sie schaute sich in ihrem Zimmer um. Morgen war Samstag. Sie musste nicht zur Schule. Das hieß… Ein Trip nach Osaka… wäre drin. Vielleicht sollte sie sein Angebot einmal nutzen… wann sonst hätte sie je seinen Rat, ein Gespräch mit ihm, nötiger gebraucht als jetzt. Jetzt… Er ist der beste Freund meines Vaters. Gedankenverloren begann sie, ein paar Sachen zu packen. Stunden später war sie angekommen, leicht fröstelnd, außer Atem. Unsicher schaute sie sich um; dann öffnete sie das Tor zum Anwesen des Hauses Hattori. Sie war Hals über Kopf aufgebrochen, hatte niemandem eine Nachricht hinterlassen, sich in den nächsten Zug nach Osaka gesetzt und war vom Bahnhof hergelaufen und erst jetzt, erst jetzt - kam ihr die Idee… dass sie vielleicht zuerst hätte anrufen sollen, ob er überhaupt Zeit für sie hatte. Mittlerweile hatte sie die Haustür erreicht, presste zögernd ihren Finger auf den Klingelknopf. Von drinnen waren der durchdringende Klingelton, sowie leichte, tapsige Schritte zu hören, die sich rasch näherten. Dann öffnete sich die Tür. Ein kleiner Junge schaute sie von unten herauf an. Seine Haare standen wirr nach allen Seiten ab und auf seinem blauen Pullover prangte ein großer rotbrauner Fleck, der Rest seines Mittagessens, schätzte Sayuri. Die Farbe erinnerte sie an Sojasoße, auch wenn das Blau des Pullovers den Ton abdunkelte. Der Kleine blinzelte sie an, öffnete den Mund, doch ehe er zu Wort kam, schallte eine andere, dunkle Stimme durchs Haus, brachte den Jungen dazu, sich erschrocken umzudrehen. „Takeo!“ Sie beide kannten die Stimme nur zu gut. Die Stimme des Hausherrn. Und er klang aufgebracht. „Takeo Shinichi Hattori, hab ich dir nich’ gesagt, du sollst die Tür nich’ öffnen…! Wer weiß, wer draußn steht...!“ Sayuri schaute zu Takeo hinab, der sie ein weiteres Mal anblinzelte, sah, wie sich jetzt doch Freude auf seinem Gesicht abzeichnete, die Erschrockenheit wich. Er erkannte sie. Sie starrte ihn nur an. Takeo Shinichi... Ihre Unterlippe begann zu zittern, obwohl sie sich so fest vorgenommen hatte, hier nicht zu weinen. Sie wollte vor Onkel Heiji nicht weinen. Sie wollte nicht schwach wirken. Sie war kein kleines Mädchen mehr… Aber… Der kleine Junge… Er hieß wie ihr Vater. Das wurde ihr erst jetzt wirklich klar. Sie kannte den kleinen Sohn von Heiji schon seit seiner Geburt, er war jetzt vier Jahre alt, und ein wirklich süßer Knirps. Und sein Name war Takeo Shinichi Hattori. Vom Aussehen her kam er sehr nach seinem Vater, allerdings hatte er seine großen, grünen Augen, die gerade noch größer wurden, eindeutig von seiner Mutter, Tante Kazuha. „Yuri-chan!“, hörte sie ihn dann erfreut piepsen, sah ihm zu, wie er ein paar Schritte rein in den Flur lief, dann wieder heraustappte. „Mama, Papa, Yuri-chan is’ da!“ Heiji trat auf den Gang heraus, hob seinen kleinen Sohn hoch, gab ihm einen Kuss auf die Haare, klemmte ihn sich lachend unter den Arm. Der kleine Junge fing zu Kichern an, strampelte mit Armen und Beinen. Sayuri starrte ihn nur an. All das, wusste sie, hatte ihr Vater mit ihr nicht gemacht. Er war zu dem Zeitpunkt bereits tot gewesen. Ein Funken Eifersucht auf den kleinen Jungen flammte in ihr auf. Dann wandte sich Heiji ihr zu, schaute sie etwas erstaunt, aber keinesfalls unfreundlich an. „Sayuri? Was…“ Dann erst bemerkte er ihre Verfassung. Und das Buch unter ihrem Arm. Das Lachen fiel im buchstäblich aus dem Gesicht. Sie drückte das Notizbuch eng an sich. Sie hatte es mittlerweile gelesen, im Zug. Weitergelesen, ohne abzusetzen. Heiji wurde blass, biss sich auf die Lippe. Er hatte von Shinichis Plänen gewusst, die Bücher gesehen, allerdings wie sie alle, nur von außen. Nie hatte einer einen Blick rein werfen dürfen. „Shi- Shinichi…?“ Eine Träne rollte ihr aus dem Augenwinkel; sie wischte sie ärgerlich fort. Der kleine Junge hörte auf zu strampeln, und sein Vater setzte ihn geistesabwesend wieder ab. Der Kleine schaute auf, zu seiner großen Freundin, die wie eine Cousine für ihn war, und schluckte. Ihm war der Stimmungswandel nicht entgangen. Heiji kniff die Lippen zusammen, schluckte schwer. „Sayuri, komm rein… komm rein…“ Er trat vor, zog sie mit sich. Kazuha trat aus der Küche, eine Schürze um den Bauch gebunden, schaute sie zuerst freundlich lächelnd, dann betroffen an. Ihre Blicke schweiften zu ihrem Mann. Der nickte nur; dann wandte er sich an die Tochter seines besten Freundes. „Sayuri- wo ist Ran? Weiß sie, dassde hier bist?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein.“ „Kazuha…“ „Schon klar, ich ruf sie an.“, murmelte die Angesprochene. Sie winkte ihren kleinen Sohn mit sich, verschwand in der Küche. Heiji führte Sayuri ins Wohnzimmer, ließ sie sich auf einem Sitzkissen hinsetzen, holte dann Tee - und Sake. Er reichte ihr eine winzige Portion. „Du siehst aus, als hättestde’s nötig…“ Sayuri schluckte hart, stürzte den kleinen Becher runter, verzog angewidert das Gesicht, als der Alkohol ihr die Speiseröhre zu verätzen schien; und erinnerte sich an den Eintrag ihres Vaters bezüglich Alkoholika und Heiji Hattori. Ein leises Lächeln huschte ihr über die Lippen, das allerdings genauso schnell verschwand, wie es gekommen war. Heiji schaute das Mädchen abwartend an. Er wusste nicht, wie er mit ihr umgehen sollte, nun, da - da der Zeitpunkt für das Gespräch offenbar gekommen war… vor dem ihm schon so lange graute. Das Gespräch, in dem sie ihn nach seinem besten Freund befragte. Sie schaute mit versteinerter Miene zu Boden, dann fing sie an, ihre Worte kaum hörbar, als sie sprach. „Du hast es gewusst?“ „Was?“, murmelte Heiji, schaute sie unsicher an. „Conan.“ Heiji starrte sie an. In seinen Zügen lag Unbehagen. „Ja.“, gab er dann langsam zu. „Dann… kannst du mir ja sicher erzählen… was das für Leute waren… weswegen er sein Leben…“ Ihre Hand zitterte, als sie nach der Teetasse griff. „Du fällst heut aber mit der Tür ins Haus, Sayuri…“, murmelte Heiji betroffen. Sie schüttelte unglücklich den Kopf. „Ich hab gelesen, ihr wart befreundet. Du hast… ich meine, der Kleine… Takeo-chan… Er… er heißt… Takeo Shinichi…“ Das Mädchen schaute ihn fast anklagend an. Heiji seufzte geschlagen, nickte langsam. „Ja, ich hab meinen Sohn nach meinem besten Freund benannt. Er wäre nicht ganz glücklich drüber, aber alles muss auch nich’ nach seinem Kopf gehen.“ Er kratzte sich gedankenverloren am Hinterkopf. „Aber trotzdem, Sayuri, ich weiß nich’, ob ich dir das sagen darf. Hätte er gewollt, dassde’s weißt, hätt’ er…“ „Aber ich muss es wissen!“ Sie starrte ihn mit funkelnden Augen an, ihre Stimme überschlug sich. „Ich muss! Ich muss wissen, wen ich hassen kann! Onkel Heiji!“ Sie stockte, fing sich nur mühsam wieder. „Wegen dieser… Organisation habe ich keinen Vater mehr. Ich hatte nie so ein Glück wie Takeo-chan… ich durfte nie… Pa… Papa durfte nie… ich… ich… bitte!“ Sie schaute ihn verzweifelt an, ihre Unterlippe zitterte. „Bitte!“ In ihrer Stimme lag ein Flehen, dass er nicht überhören konnte. Heiji lehnte sich zurück, starrte an die Decke, fuhr sich über die Augen. Shinichi… was soll ich machen, sags mir… Langsam senkte er seinen Blick wieder, schaute in ihre… seine… Augen. Die Ähnlichkeit verblüffte ihn einmal mehr; dann seufzte er geschlagen. Er wusste nicht, ob er bereuen würde, was er jetzt tat. Aber, in diesem Punkt gab er ihr Recht - sie sollte wissen, wer ihr das angetan hatte. „Also schön. Wenn’s dir hilft...“, murmelte er leise, schaute sie besänftigend an. „Danke…“, hauchte sie, wischte sich mit ihrem Ärmel die Tränen, die ihr zu ihrem Ärgernis schon wieder in die Augen gestiegen waren, aus den Augenwinkeln und von den Wangen, riss sich zusammen. „Du weißt also von Conan… von der Verjüngungssache, seh’ ich das richtig?“ „Ja.“ „Und jetzt willste wissen, was das für Leute warn…?“ Sayuri nickte, stürzte dann den Tee runter, als sie merkte, wie der Sake immer noch in ihrem Hals brannte und ihr der Alkohol zu Kopf stieg. „Wie gesagt, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist… ich meine, hätte er gewollt, dass du’s weißt, dann hät’ er doch sicher auch was dazu… geschrieben…“ Seine Augen blieben auf dem Buch haften. Sayuri drückte es mit beiden Händen an sich. „Aber gut. Soll er mich später zur Hölle schicken, wenn er meint.“ Er seufzte. „Du willst wissen, ob es wenigstens einen Sinn hatte, dass du auf all das… verzichten musst? Du willst wissen, wen du hassen kannst? Glaubstde, Hass hilft dir da weiter...? Denkstde, das wird die Sache einfacher machen für dich?“ Sie wandte beschämt ihren Kopf ab, schluckte. „Ich weiß es nicht. Aber ich... glaube, dass es wichtig ist für mich, das zu wissen, Hass hin oder her.“ Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, studierte dann wieder das Fleckchen Tatamimatte vor sich. Heiji stand auf, ging im Zimmer auf und ab, schaute immer wieder Shinichis Tochter an. Sie war ihm ähnlich. Sie war Shinichi so unglaublich ähnlich… Nicht nur vom Äußeren, nein… sie hatte zwar seine Augen, seine Haare geerbt, ja… aber sie war ihm auch charakterlich sehr ähnlich, und das erstaunte sie alle immer wieder, hatte sie ihn doch nie gekannt. Sie hatte seine Neugier… diesen Sinn für Gerechtigkeit. Sie wollte wissen… wollte lernen. Genauso wie er hatte sie sich nie damit zufrieden gegeben, was augenscheinlich war; sie hatte immer schon hinter den Vorhang schauen wollen, an der Fassade geklopft, geschaut, ob der Putz bröckelte, ihren Kopf unter Wasser gesteckt, um sich nicht von der Oberfläche blenden zu lassen. Sie war schon immer so gewesen. Sie war loyal, wissbegierig und intelligent. Aus ihr sprach ihr Vater, ohne dass sie es wusste. Natürlich hatte sie auch viel von Ran… aber gerade, weil Shinichi nicht mehr da war, wurde ihre Ähnlichkeit zu ihrem Vater allen umso mehr deutlich. Er wusste, wie sehr Ran manchmal darunter litt. Sie liebte ihre Tochter, sie war ihr Ein und Alles, sie würde sie nie hergeben wollen, hatte nie ihren Entschluss bereut, mit dem Mann, den sie liebte, ein Kind zu haben… aber diese Ähnlichkeit, diese permanente Erinnerung an ihren Shinichi, an ihre große Liebe… zerrte an ihr, fraß und nagte an ihr, würde sie nie zur Ruhe kommen lassen. Sie liebte ihn noch immer. Und ihre Tochter zeigte ihr jeden Tag aufs Neue, wie sehr. „Onkel Heiji!“ Ihre Stimme drang wieder zu ihm durch. „Onkel Heiji?“ Sie bekam fast schon ein schlechtes Gewissen, so eine Szene gemacht zu haben. Immerhin sprach sie hier mit dem besten Freund ihres Vaters, und es war auch für ihn bestimmt nicht leicht, so unvorbereitet darüber reden zu müssen; überhaupt darüber reden zu müssen. Heiji schaute zu Boden, rieb sich kurz über die Augen. Sie war seine Tochter; sie hatte zweifellos… das Recht, zu wissen, wer Schuld an ihrer Situation war. Aber leicht fiel es ihm nicht, als er schließlich sprach. „Sie nannten sich die ‚Schwarze Organisation’.“, begann er dann langsam. Seine Stimme war kaum hörbar, sein Gesicht von ihr abgewandt, er starrte nach draußen, wo die Sonne gleißend hell am Himmel stand. „Das weißt du vielleicht…“, murmelte er. Sie nickte langsam. „Sie gaben sich Codenamen. Nannten sich nach alkoholischen Getränken. Die zwei, die ihn seinerzeit hinter dem Riesenrad im Tropical Land erwischten, hießen Gin und Wodka.“ Heiji holte tief Luft. „Das weißt du auch, nehm’ ich an. Also brauch ich dir die Vorgeschichte wohl nicht erläutern. Ich… mach mal lieber ab dem Zeitpunkt weiter… als der Stein ins Rollen kam… als Sherry ins Spiel kam. Sherry, alias Shiho Miyano, alias Ai Haibara.“ Er schluckte, drehte sich zu ihr um. „Sie war Ex-Mitglied und Forscherin, wie du weißt… oder?“ Sayuri schaute ihn ernst an. In ihren Fingern fing es an zu kribbeln, sie merkte, wie sie nervös wurde. „Ja.“ Heiji nickte kaum merklich, eher für sich selbst. „Shiho Miyano hatte eine Schwester, Akemi Miyano. Shinichi… Conan… hatte mit ihr in einem früheren Fall zu tun. Sie starb, wurde getötet von Gin… dein Vater konnte ihr nich’ helfen, sie nich’ retten, sein kleiner Körper hinderte ihn daran. Etwas, das noch lange an ihm zerrte, vor allem, als er eben Shiho kennen lernte… die ihre geliebte Schwester so sehr vermisste...“ Seine Stimme verlor sich kurz. „Nun. Worauf ich hinaus will is aber eigentlich was anderes. Als Shiho vom Tod ihrer Schwester erfuhr, wollte sie sich weigern, weiter zu arbeiten. Sie wurde daraufhin eingesperrt, damit sie keine Schwierigkeiten machte, und kam daraufhin... mit dem Gift in Kontakt.“ Heiji zögerte. Er verschwieg ihr fürs erste mal lieber, wie und warum genau dieser Kontakt herbeigeführt worden war. „Mit dem gleichen Gift wie er; das Gift… das sie weiterentwickelt hatte. Den Anfang der Forschungen hatten bereits ihre Eltern gemacht, die aber schon sehr früh, als Shiho selbst noch ganz klein war…“, er seufzte, lächelte sie bitter an, „bei einem Unfall starben.“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus, als er das Wort ‚Unfall’ aussprach. „Nun; Shiho, sie… ihr spielte ihr Schicksal den gleichen Streich, den es Shinichi gespielt hatte; auch sie starb nich’, sondern schrumpfte. Daraufhin flüchtete sie, suchte nach deinem Vater…“ Sayuri nickte gedankenverloren. Das meiste kam ihr bekannt vor… aber es aus einem anderen Mund noch einmal zu hören, aus Onkel Heijis Mund; von einem Mann ausgesprochen, zu dem sie schon immer aufgeschaut hatte… brachte das Erzählte noch einmal in eine andere Dimension. „Nun, sie schloss sich ihm also an. Zuerst war er gar nicht begeistert; er hat zwar nie wirklich darüber geredet, was er hinter dem Riesenrad erlebt hatte, als man ihn erwischte; er hat nie darüber gesprochen, wie es sich anfühlte, was er ertragen musste… in den letzten Monaten, die ihm blieben, aber haben wir es alle… gesehen.“ Er schluckte schwer, starrte kurz aus dem Fenster; seine Gedanken glitten zurück an jenen Tag, als er ihn im Regen in dieser Gasse gefunden hatte, das Gesicht schmerzverzerrt, diese Ohmacht in seinen Augen… Er zuckte zusammen, als sich Sayuri leise räusperte, fuhr herum. „Nun, wo war ich…? Ach ja… sein Leiden… nun… Wir alle konnten kaum verstehen, wie er es aushielt, und demzufolge verwundert es mich nich’ mehr, dass er von Shiho, oder Ai, wie sie sich damals nannte, zu Anfangs nich’ besonders angetan war. Sie war Schuld an dem Gift, das sein Leben so aus den Fugen gerissen hatte, das konnte er nicht so schnell wegstecken. Er traute ihr nicht, und das war verständlich. Aber nach und nach lernten sich die beiden kennen, und es stellte sich heraus, dass eben ihr… das Leben auch sehr übel mitgespielt hatte. Sie war keine Mörderin. Sie wollte nie jemanden töten. Und sie… fing an, deinen Vater so sehr zu schätzen, dass sie ihm helfen wollte, sein altes Leben wieder zurückzubekommen und ihm zu helfen, die Schwarze Organisation zu stürzen, damit sie beide wieder in Sicherheit wären. So haben sie also angefangen. Shiho forschte am Gift, Shinichi löste mit Hilfe von Kogorô immer mehr Fälle, bescherte ihm Ruhm und Ehre, und fand selbst gelegentlich einen Faden, der ihn zur Organisation führte.“ Während er erzählte, war er im Raum umhergewandert, den Blick fest auf den Boden geheftet; nun kam er wieder zu ihr, setzte sich auf ein Kissen auf den Boden, schenkte sich selber und Sayuri wieder Tee ein. „Sie entdeckten einige interessante Dinge, musst du wissen; die Machenschaften der Organisation waren wirklich ungeheuerlich. Der Fall… war wirklich der Fall seines Lebens und dieses Meisterstück wird ihm nie wieder jemand nachmachen.“ Heijis Stimme war voller Bewunderung. „Trotz allem muss man wohl sagen, hätt’ er gewusst, was auf ihn wartet, wenn er Wodka nachläuft… hätt’ er’s gelassen, hätte deine lieber Mum nach Hause gebracht...“ Er schloss kurz die Augen. „Nun, was dich interessieren könnte, wäre vielleicht noch, dass sie während ihren Ermittlungen sogar auf FBI und CIA stießen, die ebenfalls an einem Sturz der Organisation interessiert waren…“ Sayuris Augen wurden groß. „Mein Vater hat mit dem FBI gearbeitet?“ Heiji nickte. „Ja, hat er; die drei agents hießen James Black, Shuichi Akai und Jodie Starling. Und er hat sie alle in die Tasche gesteckt. Nunja, vielleicht bis auf Akai, die beide waren wohl gleich fit im Kopf. Sie hatten da ohnehin so eine art Triumvirat... Kudô, Akai... und auf der Gegenseite Gin. Die drei lieferten sich sehr interessante Gefechte, wobei dein Dad und dieser FBI-Agent da zusammen einen klaren Vorteil hatten.“ Heiji grinste breit, allerdings reichte dieses Grinsen nicht bis in seine Augen; sie waren betrübt, blickten bekümmert auf Sayuri, die an seinen Lippen hing. „Dein Dad… war der verdammt noch mal schlauste Detektiv, den du finden konntest. Er hat jeden, und wenn ich sage jeden, dann meine ich jeden, Fall gelöst, der ihm unter die Finger kam. Unter jeden Umständen. Und auch… diesen, seinen ganz persönlichen Fall, hat er gelöst… allerdings nich’ ohne Opfer, wie wir wissen. Dass es allerdings so für ihn ausging… hat er selbst wohl nich’ geahnt. Die Organisation hat sich schließlich doch noch an ihm gerächt…“ Heiji seufzte, vergrub seine Finger in seinen Haaren, um sie dann ruckartig herauszuziehen. Es fiel ihm schwerer als er gedacht hatte, über seinen Freund zu reden. „So unglaublich grausam an ihm gerächt…“ Er brach ab, schüttelte den Kopf, starrte kurz ins Leere, als er daran dachte; an ihre Gespräche, an das Bedauern in seinen Augen, die Wut, und die Verzweiflung - und diese Bitterkeit... Er schluckte hart, riss sich zusammen. „Die erste Zeit war wohl die Schwerste. Als er erfuhr, dass er sterben würde, es allen anderen beibringen musste… ihm ging’s selber nich’ gut, aber anstatt sich um sich selbst zu kümmern, kümmerte er sich um Ran; um seine Eltern; um mich… Man hat es ihm angesehen, anfangs. Er konnte sich nich’ mehr konzentrieren, er konnte sich den Mordopfern, den Leichen nicht mehr so unbefangen näher wie zuvor, weil er sich immer mehr mit ihnen identifizierte; ich mein’ das tat er vorher auch, um verstehen zu können… aber nun identifizierte er sich nich’ mehr mit dem Menschen, sondern mit dem Tod, verstehst du? Das war hart… die erste Zeit war wirklich furchtbar. Mit jedem Tag, der verging… erkannte er mehr und mehr Dinge, die er nich’ mehr erleben würde. Eines davon warst du… man sah ihm an, welche Sorgen er sich machte, wie Leid ihm das tat, wie schuldig er sich fühlte, nich’ für dich da sein zu können, dabei konnt’ er doch nichts dafür…“ Heiji starrte sie an, merkte, wie seine Augen zu brennen anfingen, wandte sich beschämt ab. „Bis er sich dann wieder gefangen hatte, sich abgefunden hatte damit. Ich mein, er war... er war in vielen Situationen, in denen er hätte sterben können, und in keiner hatte er je wirklich... Angst, oder verlor er den Kopf. Oder trauerte seinem Leben hinterher. Aber das waren alles Situationen, in denen sein Tod anderen genützt hätte, in denen das Opfer seines Lebens andere gerettet hätte. Das machte Sinn, und das verstand und akzeptierte er. Außerdem war da oft... der Zeitraum um groß zu überlegen etwas zu kurz.“ Er lächelte kurz. „Aber in dem Fall... der eintrat... war sein Tod eigentlich ein sinnloses Opfer, und er hatte neun Monate Zeit, darüber zu brüten, wie sinnlos es wirklich war, und wer darunter wie leiden könnte, und was er verpasst... das war einfach wirklich hart, und er brauchte seine Zeit, sich damit abzufinden.“ Heiji verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber letztendlich hat er das, auch wenn’s ihm schwer fiel. Dein Vater war brillant, er war ein genialer Detektiv, mir ein loyaler Freund, deiner Mutter ein liebevoller Ehemann und dir… dir wäre er ein hervorragender Vater geworden. Allein die Mühe, die er sich mit den Büchern gemacht hat, weil er den Gedanken nich’ ertrug, dass du ganz ohne ihn sein solltest, zeigt das. Er fand, du solltest etwas haben von ihm, auf irgendeine Weise wissen, wer er war. Du solltest nie zweifeln an dem, was er war. Hörst du? Nie! Hätte er gekonnt, wär’ er für dich da gewesen.“ Heiji holte tief Luft. „Er hät’ alles für dich gemacht, ich weiß es. Dass ihm das genommen worden ist, ist unendlich tragisch, denn ich als… Vater… kann sagen, was er versäumen muss, und es is’ so viel… Er hätte das verdient. Du hättest es verdient.“ Er seufzte laut, kaute kurz auf seiner Unterlippe. „Es war… es war so grausam. Es war so hart für ihn… er konnte sich anfangs nich mal freuen über dich, zu sehr… sorgte er sich… zu sehr fürchtete er… dass ihn der Schmerz darüber, dich nie sehen zu können, dich allein lassen zu müssen, kaputt macht. Er wollte dir nie zu nahe kommen, um sich selbst zu schützen, aber das hat er nich’ geschafft. Du warst seine Tochter, und er liebte dich, vom Tag an, als er wusste, dass es dich gibt, auch wenn er’s da noch nich’ wollte.“ Sayuri schaute ihn an, ihre Hände krampften sich um ihre Teetasse, ein Kloß hatte sich in ihrem Hals festgesetzt, und so sehr sie sich auch bemühte, sie schaffte es nicht, ihn runterzuschlucken. Er räusperte sich betroffen, dachte kurz an seinen eigenen Sohn, hatte fast schon ein schlechtes Gewissen. Dann riss er sich wieder zusammen. „Aber entschuldige, Sayuri, ich schweif’ ab. Also, die Organisation. Dein Vater. Wo waren wir…? Beim FBI und dem Niedergang der Organisation, oder? Nun… ich sollt wohl noch erwähnen, dass sie auch Hilfe aus der Organisation selbst bekamen… sagt dir Sharon Vineyard was…?“ „Sie war ne Schauspielerin.“ Das Bild einer hübschen blonden Frau tauchte vor ihren Augen auf. „Genau. Und sie war ein Mitglied der Schwarzen Organisation.“ Sayuri verschüttete ihren Tee beinahe. „Was? Sie war… sie war… was?“ Sie starrte ihn an, mit großen Augen, ungläubig geöffneten Lippen. „Ja, sie war ein Mitglied. Ihr Codename war Vermouth. Sie hat wohl zwischendrin die Schnauze voll gehabt und deinem Vater geholfen, die Schwarze Organisation auseinander zu nehmen. Ihre persönlichen Gründe wusste dein Vater, aber er hat sie mir nie erzählt; ich denke aber, das Rache eine große Rolle gespielt hat... Das Syndikat war wirklich gewaltig… es hatte Verbindungen bis in die Staaten, überall waren Mitglieder verteilt, in hohen Rängen, in allen Ämtern, in Politik, Wirtschaft, Medien. Sie unterminierte die japanische Gesellschaft schlimmer als die Yakuza, sie war grausam, gefährlich und skrupellos. Ihre Mitglieder betrieben Waffenschmuggel, begingen Bankraube, erpressten Leute… und wer sich ihnen nicht fügte, oder sie störte, oder in irgendeiner Weise für sie gefährlich sein konnte, den legten sie um. Und so wurde dein Vater auf sie aufmerksam; er beobachtete sie bei einem Geschäft, und wie so viele vor ihm, hätte er sterben sollen, aber er tat es nicht. Er nahm den Kampf auf, gewann… aber der Preis für den Sieg war viel zu hoch.“ Heiji schluckte hart, schaute Shinichis Tochter lange an, wandte dann den Blick ab. Sayuri umklammerte ihre Teetasse, bereute es fast, hergekommen zu sein. Ihr schlechtes Gewissen quälte sie; sie hätte ihm sagen sollen, dass sie kam und warum. Damit er sich etwas zu Recht legen hätte können. Sich… darauf vorbereiten hätte können. Jetzt war es zu spät. Sie sah ihm an, wie sehr es ihn mitnahm, über seinen besten Freund zu reden. Dann wurde sie durch seine Stimme aus ihren Gedanken gerissen, als er fort fuhr. „Es is’… immer noch kaum zu fassen, dass er weg ist. Es is’… fast fünfzehn Jahre her, aber mir kommt es wie gestern vor, als er mir Lebwohl gesagt hat. Ich weiß noch, wie ich ihn drum gebeten hab, es nich’ zu tun. Ich wollt’s verschieben, darüber nich’ reden, ich wollt’s verdrängen. Dass er tatsächlich eines Tages nich’ mehr da sein würd’ konnt ich mir nicht vorstell’n. Es war am Tag danach, als er starb, am Tag nach seinem Lebwohl. Sein Vater hat mich angerufen, ums mir zu sagen; Ran konnt’s nicht’… Sie war am Boden zerstört, so zerschmettert, der Verlust war für sie fast nicht auszuhalten.“ Er hob den Kopf, schaute sie lange an. „Ich konnt’s nich’ glauben, dass er weg war… gegangen, für immer. Ich hatte doch vor ein paar Stunden mit ihm geredet. Das…“ Sayuris Magen drehte sich fast um; sie fühlte sich richtig schlecht. Er schluckte, fuhr sich über die Augen, starrte in seine Teetasse. „Er war der beste Freund, den ich je hatte. Er war besser als ich, was die Detektivarbeit betraf, aber er hat da eigentlich nie eine große Sache draus gemacht… klar, ein paar Sticheleien hie und da, aber ich war da nich’ anders. Ich hab ihn auch geärgert, wann und wo ich konnte, das war einfach so… und seine Daseinsform als Grundschüler hat einen auch irgendwie dazu herausgefordert.“ Ein kurzes Grinsen huschte über seine Lippen, und diesmal war es echt. „Aber… wir haben uns verstanden, als Partner, nich’ als Konkurrenten. Wie sagte er damals, als ich so fulminant verloren hab? Bei unserem ersten Fall, dem Giftmord… ich wollt’ ihm zeigen, dass ich besser bin als er und bin dabei sowas von auf die Schnauze gefallen…“ Er lachte hilflos. Sayuri starrte ihn an, wollte weinen. Sie hatte nie geahnt, dass ihr Vater und Onkel Heiji derart enge Freunde gewesen waren. Heiji fuhr fort, blickte sein Spiegelbild in seiner Teetasse an. „Also ging ich zu ihm, wollte mich entschuldigen… für meine Arroganz. Sagte ihm, dass er besser wäre; gewonnen hätte. Und weißt du, was er gesagt hat?“ Sayuri schüttelte langsam den Kopf. Heiji lächelte traurig. „Der Kerl steht da, als ich zu Kreuze kriech’ und sagt nur, dass es darum doch gar nich’ gehen würd!“ Er holte Luft, schaute seiner Tochter ins Gesicht. „Er meinte, dass es kein Besser oder Schlechter gäbe, keinen Gewinner oder Verlierer… sondern nur eine Wahrheit. Sie zu finden wäre das Ziel von uns allen; und dabei wäre es doch wohl egal, wer sie findet, Hauptsache, einer tut es.“ Heiji seufzte, schaute Sayuri liebevoll an. „Und damit hatte er Recht. Und weil er mir stets ein verlässlicher und loyaler Freund war, Sayuri, hab ich ihm versprochen, für sein Kind ein mindestens ebenso guter Freund zu sein.“ Er seufzte tief. „Deshalb sitz’ ich nun hier… und erzähl dir das alles. Nun… wie gesagt, die Organisation, um zum eigentlichen Thema zurückzukommen, hat er zerlegt, wie du vielleicht weißt. Sie existiert nich’ mehr. Er hat geschafft, jedes ihrer Mitglieder hinter Gitter zu bringen. Ein paar starben auch vorher. Gin wurde bei der Festnahme erschossen. Sharon stellte sich. Und der Kopf der Bande… der Boss… er starb vor drei Jahren im Staatsgefängnis in Tottori.“ Heiji strich sich über die Augen, schaute seine junge Freundin müde an. „Es ist nich’ fair, dass ihm das passieren musste. Er, von allen Menschen auf dieser Welt, hatte dieses Schicksal am wenigsten verdient.“ Als er so geendet hatte, schwieg er sie lange an. Kazuha, die mit ihrem Sohn auf dem Arm ins Zimmer trat, um mitzuteilen, dass Ran unterwegs war, und dass das Essen fertig wäre, blieb stumm, sagte nichts, als sie ihren Mann und die Tochter seines besten Freundes am Boden sitzen sah. Schließlich räusperte Heiji sich geräuschvoll. „So jemanden wie ihn hab ich nie wieder gefunden. Und so schwer es auch manchmal is… bin ich froh, glücklich und stolz, sagen zu können, dass wir befreundet waren… so jemanden zu haben und zu verlieren ist wohl besser, als diesen Grad der Freundschaft nie gekannt zu haben.“ Er schaute sie an, dann hob er die Hand, strich ihr sanft übers Haar. „Sayuri, glaub mir, ich versteh, wie du dich fühlst. Du fühlst dich um deinen Vater betrogen und das zu Recht… aber bitte; lass nich’ zu, dass dich die Trauer um ihn auffrisst. Freu dich lieber… freu dich, dass er dich geliebt hat, denn das hat er; du durftest ihn nich’ mehr kennen, aber er hat sich gefreut, wenn auch, wie gesagt, erst etwas später. Freu dich auf jede Seite, die du in seinen Büchern noch lesen wirst. Lass zu, dass dich das Wissen um ihn und seine Zuneigung für dich stark macht… aber lass nich’ zu, dass dich der Schmerz und die Wut kaputtmachen. Das hätte er nich’ gewollt.“ Vorsichtig strich er ihr eine Träne von der Wange, schaute sie traurig an, versuchte dennoch zu lächeln. „Glaub mir, er hätte dich nie weinen sehen wollen…“ Sayuri schaute auf, blinzelte, schluckte dann tapfer und strich sich über die Augen. Dann ließ sie sich von ihm, der bereits aufgestanden war, aufhelfen. „Komm, gehen wir was essen… bis deine Mum kommt.“ Sayuri zögerte. Er bemerkte, dass sie ihm nicht folgte, schaute sie an, schluckte. „Hast du noch eine Frage?“ Das Mädchen nickte. Heiji steckte seine Hände in die Hosentaschen, blickte sie abwartend an. „Was denn?“ „Hast du… jemals… Sherlock Holmes gelesen…?“ Heiji schaute ruckartig weg, biss sich auf die Lippen. „Einen Band, ja.“ „Welchen?“ Sie starrte ihn an, ihr Herz klopfte. „Eine Studie in Scharlachrot.“ Er atmete stockend aus, verließ das Zimmer in Richtung Küche, griff sich an die Stirn. Sayuri schaute ihm hinterher; sie wagte erst nach einigen Minuten, ihm zu folgen, und fand ihn dann am Küchentisch sitzend, als ob nichts gewesen wäre. Sie wusste, er spielte ihr was vor, aber sie bohrte nicht nach. Sie setzte sich, fragte sich im Stillen, warum ausgerechnet dieses Buch der erste und einzige Sherlock Holmes-Roman gewesen war, den Heiji Hattori gelesen hatte. Und sie ahnte die Antwort. Stunden später saß sie mit ihrer Mutter im Auto und fuhr zurück nach Tokio. Zuerst hatte sie nur nachgedacht, nachgedacht über diese Organisation, über all die Fakten, die sie von Heiji heute erfahren hatte; dann hatte sie das zweite Notizheft, das sie angefangen hatte, wieder hervorgeholt und sich in seine Aufzeichnungen vertieft. Ran schaute in den Rückspiegel, biss die Zähne zusammen bis ihr Kiefer schmerzte. Sayuri saß auf der Rückbank, nicht wie gewohnt auf dem Beifahrersitz, und las. Las seine Bücher. Seit Tagen sah sie sie mit nichts anderem mehr, wenn sie sie überhaupt sah. Sie hatte ihr keine Vorhaltungen gemacht, weil sie abgehauen war. Sie hatte nur kurz mit Heiji geredet; er hatte wirklich mitgenommen ausgesehen, allerdings noch kein Vergleich zu ihrer Tochter, deren Gesichtsfarbe sehr blass gewesen war. „Sayuri.“ Keine Reaktion. „Sayuri…“ Ihre Tochter ignorierte sie. „Sayuri! Hör zu, ich kann verstehen, wenn du…“ Sayuri schaute auf, blickte geradewegs in den Rückspiegel, wohl wissend, dass ihre Mutter sie sah. „Du verstehst gar nichts, Mama.“ Sie schaute kurz aus dem Fenster. „Würdest du mich verstehen, dann würde ich mir nicht alle diese Informationen von allen anderen holen müssen. Würdest du mich verstehen, hättest du mir längst erzählt, was für ein Mensch mein Vater war.“ Ihre Augen blitzten wütend - und damit wandte sie sich wieder ab, las weiter. Ran biss sich auf die Lippen, sagte nichts mehr. So schwiegen sie; bis sie zuhause angekommen waren. Und auch dann nahm das Schweigen kein Ende. Heiji stand an der Terrassentür, schaute hinaus in die Nacht. Kazuha trat neben ihn, lehnte sich an ihn. Er legte einen Arm um ihre Schultern, zog sie an sich. Lange schwiegen sie sich an, standen in perfektem Einverständnis nebeneinander, schauten hinauf in den sternenübersäten Nachthimmel; und schließlich war es Kazuha, die sprach. „Ich weiß nich’, wie Ran das aushält…“ Heiji schluckte. „Gar nich’. Das siehste doch. Sie will ihn vergessen und kann es doch nich’… irgendwas muss da passieren. Irgendetwas muss passieren… so wie sie es macht, kann es nich’ weitergehen, und es is’ nich’ fair, ihm das anzutun, das hat er nich’ verdient… so verdrängt zu werden…“ „Heiji…!“ „Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Er war ihr immer ein guter Freund, ein guter Ehemann, und er wäre ein guter Vater geworden. Er… hatte seine Fehler, aber die haben wir alle, und im Vergleich zu dem, was er gut gemacht hat, wiegen die doch fast nich’ auf. Er hat nich’ verdient, dass sie ihn so aus ihrem Leben verbannt, es scheint fast, als würd’ sie nich’ dran denken wollen, was sie aneinander hatten… als würde sie sich weigern, ihn in ihrem Leben zu lassen, und das is nich’ fair…“ Er wandte sich um, schaute zu seinem Wohnzimmerschrank. Sayuri war das Foto nicht aufgefallen, weil es nicht in ihrem Blickfeld gestanden hatte; und Heiji hatte es ihr nicht gezeigt. Dort stand, gerahmt, ein Foto von Shinichi. Hast du sie wirklich so allein gelassen…? Kazuha folgte seinem Blick, seufzte leise. „Ich denk’ es wird auch was passieren.“, murmelte sie leise. Er wandte sich wieder um, küsste ihren Nacken, seufzte kaum hörbar. „Ich hoffe du hast Recht...“ Stürme ------ Einen schönen guten Abend, liebe Leserinnen und Leser ^^; *Kaffeehinstell* Ich danke sehr für die Kommentare zum letzten Kapitel! Wirklich, es freut mich, wenn euch die Geschichte trotz ihrer traurigen Thematik anspricht! Und danke, Leylis, für den Hinweis mit der Kursivstelle- die ist mir tatsächlich durch die Lappen gegangen, ich habs korrigiert. Im Übrigen- falls sich wer gewundert hat, warum die Tagebücher am Sonntag upgedatet wurden... mir sind da beim noch mal anschauen einige Fehler aufgefallen, die ich so unkorrigiert nicht lassen wollte... *seufz* Ich sollte mal im Vorfeld genauer durchlesen, was ich so fabrizier ^/////^ Nun- wie dem auch sei, hier geht es weiter mit dem Fall... der nun auch bald seinen Abschluss findet. Ich hoffe, ich werde euren Erwartungen gerecht! Viele liebe Grüße und gute Unterhaltung beim Lesen wünscht euch Eure Leira ;D Bis nächsten Dienstag ;D PS: Ich denke, man kann den Täter jetzt gut einkreisen, oder? Ich schätze, sehr anspruchsvoll war der Fall nicht, aber es war mein Erster ^///^ __________________________________________________________ Kapitel 6: Stürme Vergangenheit Shinichi schaute auf, als sie ins Wohnzimmer kam, wo er mit mittlerweile dem zweiten Buch saß und seine Aufzeichnungen machte. Irgendwie musste er die Zeit bis heute Abend totschlagen, bis ihr Beschattungsunternehmen startete... und dabei versuchen, so unauffällig wie möglich zu sein. Als sie näher kam, hielt er inne, schlug das Buch zu und ließ den Füller in seiner Hemdtasche verschwinden. Sie ließ sich neben ihm aufs Sofa sinken, lehnte sich an ihn. „Kein neuer Mord?“ „Nein, noch nicht… aber irgendwie denke ich, das ist nur die Ruhe vor dem Sturm.“ Er biss sich auf die Lippen. Es war keine direkte Lüge gewesen, noch gab es keinen neuen Mord, noch war die Ruhe vor dem Sturm die Atmosphäre, die vorherrschte… aber er hatte ihr auch nicht gesagt, wo er sich heute Abend rumtreiben würde… warum seine Mutter ihr heute einen Besuch abstatten, und sie zum Essen ausführen würde. Sie war nicht begeistert gewesen von seiner Idee, aber sein Vater hatte seinen Beitrag geleistet. Ran musste abgelenkt sein. Er seufzte leise, dann legte er einen Arm um sie, drückte sie an sich. Sie legte eine Hand auf seinen Bauch, begann unbewusst mit einen Knopf zu spielen. Im Licht der Nachmittagssonne glitzerte der Ehering an ihrem Finger. Er zog die Augenbrauen zusammen. Lange, lange trug er sich mit dem Gedanken schon herum… dem Gedanken, was sein würde, wenn er nicht mehr war. Was dann aus Ran wurde... und der Anblick des Eherings an ihrem Finger erinnerte ihn von neuem daran. Zwar hatte sie ihm versprochen, und es stand in ihren Ringen, dass sie sich ewig… wirklich ewig… treu sein wollten, aber… wollte er das, für sie? Oder lieber nicht? Hatte er das Recht, ihr ein Versprechen abzuverlangen, das in dieser Größenordnung spielte? Hatte er das Recht, ihr ein neues Glück zu verwehren, wenn sie sich vielleicht noch einmal in einen anderen Mann verlieben konnte…? Hatte er? Durfte er das von ihr erwarten? Durfte er auf diesem Versprechen bestehen…? Er seufzte leise auf. Ran schaute auf, schaute in sein betrübtes Gesicht, merkte, dass seine Gesichtszüge etwas müde wirkten. „Shinichi?“ Er schien sie nicht zu hören. Sie setzte sich auf. „Shinichi?“, wiederholte sie etwas lauter. „Shinichi, woran denkst du?“ Er blinzelte, schaute sie an. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das von dir verlangen darf.“, murmelte er schließlich leise. Sie schaute ihn verständnislos an, wusste mit seinen Worten fürs Erste nichts anzufangen. Er drehte seinen Ehering um seinen Finger, als er überlegte, wie er fort fahren sollte. „Ich… ich überlege schon lange, lange hin und her, Ran… ich meine, wir wissen, beide, dass ich nicht mehr allzu lange…“ „Shinichi…“ Sie schaute ihn bedrückt an. Er schluckte, seufzte erneut, setzte von vorne an. „Unser Eheversprechen, Ran. Es erlischt mit der Sekunde, in der ich sterbe… du bist dann nicht mehr an mich gebunden. Ich frage mich, ob ich von dir verlangen darf, dass du auch nach mir keinen anderen lieben sollst…“ Shinichi schaute sie ernst an. „Ich denke nicht, dass ich das darf… wenn du dich wieder verlieben kannst, sollte ich mich freuen und das gutheißen… also wenn… du willst… dann… ich will von dir nicht fordern, dass du dich ewig an mich bindest. Ich hab dazu nicht das Recht…“ Ran stand auf, langsam, schaute ihn an. Ihre Miene schien unbewegt, aber ihre Hände zitterten. Er blickte auf, blinzelte. „Hör auf.“ Ran starrte ihn an, schüttelte mit zusammengekniffenen Lippen den Kopf. Sie stemmte ihre Hände in ihre Hüften, sah ihn, der vor ihr in einem Sessel saß und von unten herauf anblickte, anklagend an. „Hör endlich auf damit. Fang nicht schon wieder an... Wir hatten das schon am Tag unserer Hochzeit, und meine Meinung hat sich nicht geändert, Shinichi. Ich will keinen anderen außer dir; deshalb gibt es auch keinen nach dir…“ „Aber…“ „Kein aber. Das ist meine Entscheidung und ich hab sie getroffen. Ich werde sie nicht ändern. Finde dich endlich ab. Ich weiß, du meinst es gut, aber das ist nicht deine Entscheidung, also lass das Thema...“ „Herrgott, Ran, jetzt lass mich doch mal ausreden!“ Er funkelte sie aufgebracht an. „Du bist erst dreiundzwanzig. Du hast dein Leben noch vor dir. Wenn du die Gelegenheit kriegst, und jemand dich und…“ Er schluckte. „Dich und… und… das Kind… lieben will, dann lass ihn doch… ich meine… wir waren ja nun auch nicht so lange zusammen…“ Ran presste die Augen zusammen. Ihr war das Kind nicht entgangen. Er ging auf Distanz. Dann schaute sie auf, blickte ihm starr ins Gesicht. „Dreiundzwanzig Jahre, Shinichi.“ Ran schluckte. „Ist das nichts?“ „Aber… du rechnest…“ Er schaute sie erstaunt und auch etwas fassungslos an. „Ich zähle alle Jahre, die wir uns kennen, ja, auch wenn wir uns wohl an die ersten drei, vier Jahre nicht erinnern.“ Sie lächelte sanft. „Aber sei doch mal ehrlich, wir waren doch schon seit wir uns erinnern können zusammen… wir waren nie getrennt. Das wir unsere Beziehung erst später auf diese Ebene gebracht haben, ist doch egal. Andere lernen sich erst viel später kennen und haben sich dann dreiundzwanzig Jahre; ich hab diese Phase eben schon früh in meinen Leben gehabt…“ Ihre Stimme verlor sich zu einem Wispern. „Ran…!“ Er starrte sie leicht fassungslos an. Unglauben spiegelte sich in seinem Gesicht. Was sie da sagte, erfüllte ihn mit unglaublicher Freude - und gleichzeitig mit mindestens ebensoviel Schmerz. Er wusste, sie meinte jedes ihrer Worte ernst. Sie schüttelte sachte den Kopf, fixierte ihn mit ihren blauen Augen. „Lass es. Ich weiß, dass keiner an dich herankommen wird. Ich weiß, dass keiner mit dir vergleichbar sein wird, dass mir keiner das geben kann, was du mir gibst, und ich weiß, dass es nicht gerecht wäre, unserem Kind einen Ersatz zu geben. Nicht, wenn ich mir bewusst bin, wie gern du diese Rolle übernommen hättest. Und das bin ich, denn ich seh’ dir an, wie sehr es dich quält, wie sehr du es dir wünschen würdest, für ihn oder sie als Vater da zu sein, denkst du ich merke nicht, wie du trotz all deinem guten Willen versuchst, dich zu schützen, indem du auf Abstand gehst…?“ Ihre Worte waren zum Ende hin immer rauer geworden, bis sie schließlich leise aufschluchzte. „…und es tut mir so Leid, Shinichi...“ Eine Träne rollte ihr über die Wange. „...so unendlich Leid... und deswegen... A-a-aus deinem Verhalten schließe ich... darum weiß ich, dass... dass kein anderer Mann unser Baby so lieben würde wie du. Keiner würde sich ihm oder ihr, unserem Sohn oder unserer Tochter, mit mehr Hingabe widmen, keiner ihm oder ihr mehr Aufmerksamkeit schenken - und keiner würde unser Kind mit seinem Leben, so unbedingt, schützen wollen wie du. Keiner. Und mit keinem würde es sich so verbunden fühlen wie mit dir. Diesen Part einem anderen zu geben scheint mir nicht richtig… es soll wissen, was es an dir gehabt hätte. Und sag nicht, du hättest gerne, dass dein Kind von einem Fremden…“ „Er wäre doch aber dann nicht fremd…“, murmelte er unüberzeugt. „Du glaubst dir das doch selber nicht…“, unterbrach sie ihn leise. Er schluckte, während sie langsam den Kampf um ihre Fassung endgültig verlor. „Ich will niemand anderen als dich. Und ich wünschte, ich wünschte so sehr... wir hätten noch weitere dreiundzwanzig Jahre... und noch mal..." Immer mehr Tränen perlten ihr nun über die Wangen. Er rutschte auf dem Sessel, in dem er gesessen hatte, ein wenig vor, schlang seine Arme um die Taille seiner Frau, legte seine Wange an ihren Bauch. Sie streichelte ihm über die Haare. „Unser Kind wird einen Vater haben. Nur einen. Dich.“ Er schloss die Augen. „Und auch ich werde immer die deine sein. Ich versprechs dir…“ Sie beugte sich runter und hauchte ihm einen Kuss auf die Haare, sank dann auf seinen Schoß und kuschelte sich an ihn. Er hielt sie fest, strich ihr über den Rücken, bis sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. „Ich will, dass du glücklich bist…“, murmelte er leise, als er sie schließlich wieder los ließ. Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ich will doch nur, dass du glücklich bist…“ „Das werde ich aber nicht mehr werden, Shinichi. Glücklich bin ich nur mit dir… vollkommen perfekt ist meine Welt nur, wenn auch du ein Teil von ihr bist.“ Er seufzte schwer. „Sag so was nicht, Ran.“ Sie schloss kurz die Augen. „Hör auf, etwas kontrollieren zu wollen, worüber du keine Macht hast. Damit machst du dir das Leben nur unnötig schwerer, Shinichi.“ In seinem Gesicht war sein Unwille klar zu sehen, aber er erwiderte nichts mehr. Lange sagte keiner der beiden mehr ein Wort. Seine Gedanken drifteten ab, als er ihr unbewusst den Rücken streichelte. Er konnte nicht verhindern, dass sie sich langsam wieder über den heutigen Abend zu drehen begannen… denn wenn sie Glück hatten, konnten sie ihn heute dingfest machen, diesen Psychopathen. Wenn doch nur diese Briefe ein wenig mehr Aufschluss geben würden. Er glaubte, er hatte von den Perlen schon alle Information extrahiert, die zu holen war, aber bei den Briefen, den Zitaten, war er sich sicher, dass es noch mehr zu deduzieren gab. Er schob sie vorsichtig von seinem Schoß. Sie schaute ihn fragend an, versuchte aus seinem Gesicht zu lesen, was in ihm vorging. Für sie war es relativ offensichtlich. „Du denkst an den Fall.“ Shinichi starrte sie an. In seinen Zügen war sein schlechtes Gewissen deutlich zu lesen. „Kannst du Gedanken lesen?“ „Deine schon. Was beschäftigt dich denn schon wieder…?“ Er war erstaunt, dass sie es so leicht aufnahm. Tatsache war, sie war in diesem Fall zum ersten Mal erleichtert, dass der Fall ihn ablenkte... ablenkte von den Sorgen, die er sich um sie und um das Kind machte, wie nach diesem Gespräch offenbar geworden war. „Also, was ist es denn?“, bohrte sie nach. Shinichi blinzelte sie an. „Du lässt nicht locker… oder?“ „Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. Er seufzte geschlagen. „Alle unsere Verdächtigen wären potentiell als Mörder geeignet; jeder hat eine besondere Eigenschaft... die ihn auszeichnet. Zwei dieser Eigenschaften kann man sich allerdings aneignen. Und die dritte Eigenschaft schließt eigentlich die beiden anderen aus, damit wäre der Fall klar, aber das glaub ich nicht... Und dann wären da noch die Zitate. Es sind die Zitate. Ich weiß nicht, worauf sie sich beziehen… nicht alle, heißt das. Ich hab eine gewisse Ahnung, was sie bedeuten könnten, aber noch nicht viel mehr. Ich weiß nicht mal, ob sie kopiert sind oder erfunden. Man kann sie alle im Internet nachschlagen, aber nicht immer steht der Autor dabei und...“ „Zeig mal her.“ Sie setzte sich auf das Sofa, faltete die Hände in ihrem Schoß. „Na komm schon, Shinichi. Vielleicht weiß ich was.“ Er stand auf, warf ihr einen langen Blick zu, vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen. Dann ging er in sein Büro, holte die Kopien der Zettel und Briefe, ging zurück ins Wohnzimmer breitete sie vor ihr aus. „Bitteschön, Miss Holmes.“ „Mrs Holmes, mein Lieber.“ Er lachte leise, während Ran sich interessiert vorbeugte. „Das ist von Goethe.“ Ran hob einen Zettel hoch. Shinichi schaute sie an. „Hm?“ „Das ist von Goethe.“, wiederholte Ran. „Und das von Lessing. Balzac. Schiller. Dein Mörder ist ein Liebhaber klassischer europäischer Literatur, wie’s scheint…“ Ihm fiel die Kinnlade nach unten. „Woher…?“ „Das ist der ‚Kram’ der in meinem Bücherzimmer steht, und den du nicht anfasst, Krimifreak. Wie du siehst, hätte es nicht geschadet.“ Sie grinste ihn frech an, hielt einen weiteren Zettel hoch. „Der hier kommt mir unbekannt vor. Wahrscheinlich hat er sich da selbst als Poet versucht. Und, hilft dir die Info jetzt weiter?“ Ran schaute ihn fragend an. „Mal sehen.“, murmelte er. „Ich danke dir!“ Er küsste sie auf die Nase, schrieb unter ihrer Anleitung die Namen der Autoren auf die Zettel, sammelte sie wieder ein. Seine Miene nahm einen grüblerischen Zug an, als er in sein Büro ging. Ran sah ihm hinter, atmete langsam aus, schüttelte milde lächelnd den Kopf. Dann war der Abend gekommen. Alle waren auf Position und alles lief nach Plan, bisher. Shinichi und Heiji hatten sich wie zwei Schatten an Officer Saijos Fersen geheftet. Ab und an gaben ihnen die anderen in gewisperten Stimmen ihre Position durch. Alle drei Verdächtigen hatten ihr Haus, beziehungsweise ihre Wohnung verlassen und waren unterwegs. Das machte die Sache spannend. Sehr spannend. Shinichi und Heiji hasteten ihrem Zielobjekt hinterher. Er bewegte sich rasch durch die Straßen; sie konnten sich aber immerhin noch glücklich schätzen, dass sie ohne Auto auskamen. Mit einem Auto nachts jemanden zu verfolgen fiel viel mehr auf. Er seufzte leise, als sie sich weiter durch das Vergnügungsviertel schlängelten. Offensichtlich war ihr Mann auf Zerstreuung aus. Zerstreuung, die das Tokioter Nachtleben ihm bringen sollte. Heiji schluckte. Warum auch nich’? Schlecht sieht er nu ja nich aus… kann gut sein, dass er heute Abend nach erfolgreicher Jagd mit seiner Beute nach Hause geht… Er warf Shinichi einen besorgten Blick zu. Im Zwielicht, in das die Straßenlaternen die Umgebung tauchten, konnte er den Gesichtsausdruck seines Freundes nicht genau erkennen. Er machte sich Sorgen, dass er sich übernahm. Sich zu sehr anstrengte. Physisch wie psychisch - Shinichis Leben war auch ohne diesen Serienmörder und diese mitternächtliche Beschattungsaktion schon schwer genug. Shinichis Augen glitten über die Gesichter, die ihnen entgegenkamen. Sein Blick schweifte durch die Nacht, aber nie, nicht für den Bruchteil einer Sekunde, verlor er Saijo aus den Augen. Anspannung kroch in ihm hoch. Es war eine viertel Stunde vor Mitternacht. Wenn einer ihrer drei Männer einen Mord begehen wollte, dann musste es bald sein. Sehr bald. Und dann würden sie ihn kriegen. Er schaute sich aufmerksam um – und stutzte. Das konnte doch nicht wahr sein… Das ist doch bitte nur ein Scherz jetzt, ja? „Wie kommst du klar damit?“ Yusaku stand mit Kogorô in der Nähe einer Imbissbude, wo ihr Beschattungsobjekt sich ein kleines Abendessen genehmigte. „Mit was?“ Er wusste, die Frage war überflüssig. Er wusste genau, was Kogorô meinte. Und doch konnte er sie sich nicht verkneifen. Ja, Kudô, wie kommst du klar mit der Tatsache, dass dein einziger Sohn bald stirbt...? „Mit... mit... ich meine...“ Kogorô wurde rot, was Yusaku mehr erahnte als sah, denn wie es sich für zwei Beschatter gehörte, standen sie ungesehen in der Dunkelheit zwischen zwei Häuserblocks, weit entfernt von der nächsten Laterne. „Weißt du was, meine Frage war taktlos. Du musst sie nicht beantworten.“, meinte er schließlich. Yusaku seufzte, dann warf er dem Mann neben sich einen kurzen Blick zu. „Ich weiß nicht, wie ich klarkommen werde, wenn es soweit ist. Was das Jetzt betrifft, versuche ich, nicht daran zu denken.“ Kogorô schluckte. „Es tut mir Leid.“ „Warum dir?“ Der Schriftsteller widerstand dem Drang, sich eine Zigarette anzuzünden, nicht um seine Gesundheit zu schonen, sondern weil die Glut sie hätte verraten können, und drehte sich nun vollends zu seinem Beschattungspartner und Schwiegervater seines Sohns. „Warum dir?“, wiederholte er. Kogorô seufzte, wand sich sichtlich unter den Blicken Yusakus. Er war kein Mann der Worte, das wusste er, aber er stand einem gegenüber. Wie sollte er ihm verdeutlichen, warum es ihm Leid tat, ohne sich dabei schändlich zu blamieren? Wie sollte er es ihm erklären, dass es ihm Leid tat, um Shinichi- um seinen Sohn, den er so lange hatte nicht ausstehen können...? Er seufzte, holte Luft. Dann schaute er gerade aus, nahm ihren Verdächtigen wieder ins Visier. „Weil er das nicht verdient hat.“ Brillante Antwort, Kogorô. Während er sich in Gedanken einen Versager schalt, räusperte sich Yusaku. „Danke. Und danke auch, dass ihr euch auch um das Kind...“ „... kümmern wollt? Kein Grund, zu danken, Yusaku. Wir werden beide Opa - es ist auch unser Enkel. Ganz klar, dass wir uns um Ran und das Baby auch kümmern werden...“ Ein verhaltenes Lächeln huschte ihm über die Lippen. „Wisst ihr zufällig schon, ob sie schon wissen, was es wird...?“ Yusaku schüttelte den Kopf, konnte sich ein leichtes Lächeln ebenfalls nicht verkneifen. „Nein, ich glaub aber, dafür ist es auch noch zu früh...“ Dann nickte er nach vorne, als eine Bewegung seine Aufmerksamkeit erregte. „Da, er geht weiter.“ Kogorô nickte, setzte sich neben ihn in Gang; dann stutzte er. „Sag mal, Yusaku- da drüben, das sind doch...“ Shinichi blieb abrupt stehen. Heiji, der ihm folgte, rannte ihn fast über den Haufen. „Hey, Kudô… was is’n los?“ Shinichi sagte nichts, deutete nur nach vorn. Und dann sah Heiji, was sein Freund meinte. Saijo war vor einer Kneipe stehen geblieben, und hatte gewartet – dann war Bewegung in seinen Körper gekommen. Die, auf die er gewartet hatte, waren gekommen. An der Tür traf sich ihr Beschattungsobjekt mit zwei Männern. Und zwar mit keinen geringeren als mit Itakura und Kano. Shinichis Augen huschten suchend umher, hatten bald gefunden, was er gesucht hatte. Seinen Vater, Kogorô, den Professor und Shiho. „Ah, das darf nich’ wahr sein?! Die gehen in die Kneipe! Jetzt! Zu dritt! Warum müssen unsere Verdächtigen untereinander befreundet sein? So ein Mist, komm, wir dürfense nich’ verlieren…“ Heiji fluchte leise, folgte den Männern in die Kneipe, genauso wie die anderen Beschatter. Shinichis und Yusakus Blicke trafen sich kurz; dann teilten sie sich in der restlos überfüllten Bar auf, um ihre Männer zu suchen. Shiho schnappte nach Luft, schaute sich angewidert um, als sie sich durch die Menschenmassen arbeiteten. Leute stießen sie an, Dampf und Gestank hing in der Luft. Ihr schauderte. Irgendwie wollte sie gerade nicht mit fünf Menschen gleichzeitig Körperkontakt haben, und als sie Shinichis Gesicht in der Menge erblickte, konnte sie sich aus seinem Gesichtsausdruck erschließen, dass es ihm wohl ähnlich ging. Das einzig Positive an der Situation war, wenn er umfallen würde… würde er sich nicht wehtun. Er würde wohl einfach stehen bleiben, denn Platz zum Umfallen war keiner vorhanden. Sie sah, wie er ungeduldig auf die Uhr schaute, zückte ihr Handy, um ebenfalls die Uhrzeit zu checken. Es war fast Mitternacht. Sein Herz begann zu rasen. Er durfte hier keine Zeit mit der Suche der Verdächtigen verschwenden. Er musste den Schuldigen finden, und zwar gleich. Ohne auf Heijis Proteste zu hören, drehte er sich wieder um, wühlte sich durch die tanzenden Menschen zur Tür, hastete nach draußen und begann zu laufen. Er suchte einen Eingang zu einem Hinterhof. So ging es viel schneller, als wenn er drinnen gesucht hätte. Der Mord geschah zweifellos draußen. Und genauso zweifellos hatte auch diese Kneipe wie alle anderen einen Hinterausgang… und dort würde er sie treffen. Den Täter und das Opfer. Yusaku warf Heiji einen Blick zu. „Ihr sucht sie hier drinnen.“ Mehr sagte er nicht, dann kämpfte er sich aus der Menge der mehrheitlich besoffenen Tokioter Jungend frei, folgte seinem Sohn. Er sah ihn zwar nicht, aber er konnte die Richtung seiner Schritte orten, er hörte ihn rennen. Und dann sah Shinichi den Eingang. Er bog um die Ecke, sah zwei dunkle Gestalten in der Finsternis stehen. Ihre Gesichter verschwanden im Schatten, doch er konnte erkennen, dass es sich um eine Frau und einen Mann handelte. Der Mann stand hinter ihr, einer zierlichen jungen Dame, und steckte ihr vorsichtig etwas ins Haar. Shinichis Herzschlag setzte einmal aus. Dann schrie er. „Lauf weg von ihm!“ Die Szene schien wie eingefroren. Der Mann zuckte zusammen, schaute sich hektisch um, erkannte ihn. Und zog das Messer. Shinichi hielt den Atem an, blieb auf der Stelle stehen zur Salzsäule erstarrt. „Nein…“, hauchte er. „Nein… Nein… Nein!“ Er sah die Klinge im Mondlicht aufblitzen, hörte ein ersticktes Keuchen, einen leisen Schrei. Der Mann ließ die Frau zu Boden sinken, lachte auf und begann zu laufen. Er drückte sich in den Schatten entlang durch einen Spalt zwischen zwei Häuser. Und war verschwunden. Shinichi rannte zu der Frau, die vor ihm auf dem Boden lag. Blut quoll aus einer Verletzung an ihrem Hals hervor. Er starrte sie an, schaute sich Hilfe suchend um - dann zog er seine Jacke aus, drehte sie zusammen, presste sie auf den Schnitt. Noch lebte sie. Noch. Er musste verhindern, dass sie verblutete. Offensichtlich hatte sein überraschendes Auftauchen die Präzision, mit der der Täter seine Schnitte für gewöhnlich ausführte, gestört. Sie holte Luft, wollte sprechen. Er schüttelte den Kopf, legte ihr einen Finger auf die Lippen. Er brannte auf den Namen des Mörders… aber er durfte nicht zulassen, dass sie sprach. Jede Bewegung würde mehr Blutverlust bedeuten, und sie verlor ohnehin schon genug. „Shinichi!“ Yusaku bog um die Ecke, fand seinen Sohn am Boden kniend. Der drehte sich nur kurz um, warf ihm einen hektischen Blick zu. „Ruf einen Krankenwagen. Schnell! Mach schon!“ In seiner Stimme klang blanke Panik. Yusaku erfasste die Lage sofort, zog sein Handy aus der Tasche, wählte die Nummer des Notrufs, berichtete, was vorgefallen war. Als er den Notruf abgesetzt hatte, kniete er sich neben seinen Sohn, half, auf die Wunde genügend Druck auszuüben. Einerseits durften sie nicht zu fest drücken, um ihr das Atmen zu ermöglichen, andererseits mussten sie fest genug pressen, um die Blutung zu stoppen. Shinichi schaute die Frau an, die mit ängstlichen Augen zu ihnen beiden aufschaute. Er konnte ihre Angst spüren, sie war greifbar, ging auf ihn über, kroch über seine Fingerspitzen hinauf in seinen ganzen Körper, in jede Faser seiner Muskeln, in die hinterste Ecke seines Geistes. Sie war diejenige gewesen, die heute sterben sollte. Wegen ihm. Wegen mir… Er fing an zu zittern, seine Finger wurden kalt, sein Griff lockerte sich. Yusaku starrte seinen Sohn besorgt an, als er merkte, wie dessen Konzentration offensichtlich nachließ. Shinichis Augen, die gerade noch die blanke Panik gespiegelt hatten, wurden blicklos, leer. „Shinichi!“ Yusaku konnte ihn nicht anfassen, um ihn zu rütteln. „Shinichi!“ Seine Stimme wurde laut. „Shinichi, du musst drücken, sonst verblutet sie!“ Hinter ihm wurde an der Hintertür Tumult laut. Heiji, Agasa und die anderen quollen aus der kleinen Türöffnung. „Shinichi?!“ Heiji rannte näher, ließ sich zu Boden sinken. Er schaute seinen Freund an, dann dessen Vater und ahnte, was passiert war. Shinichis Hände fingen an, zu zitterten. Der Schock über das eben Erlebte kroch ihm in die Glieder. Heiji merkte es, drückte Shinichi ein wenig zur Seite, presste für ihn weiter auf die Wunde. „Was hast du gesehen…?“, fragte er leise. „Zu viel…“, murmelte Shinichi langsam. „Aber nicht genug.“ Er schaute in die blauen, um Hilfe bettelnden Augen der Frau. Ihre Angst stand ihr quer übers Gesicht geschrieben, Todesangst. Und langsam schlossen sich ihre Lider. Shinichi schnappte nach Luft, merkte, wie ihn jemand zog, ihn nach oben zerrte, hörte Kogorôs und Agasas Stimmen, aber verstand nicht, was sie sagten. Kurz sah er in Shihos erschrockenes Gesicht. Dann hörten sie die Sirene des Krankenwagens. Der Kommissar betrat das Wohnzimmer der Kudôs, wo Ran und Shinichi, Heiji, Shiho, Professor Agasa, Kogorô und Yusaku verteilt auf der Couch und den Sesseln saßen. Er hatte gerade telefoniert, war sehr blass um die Nase, und sehr wütend. So knapp waren sie davor gewesen, den Täter zu schnappen. So knapp. Und er war sich sicher gewesen, sie hätten ihn geschnappt, hätte man ihn eingeweiht; aber das hatte man nicht. Und genau das war es, was ihn wütend machte. Als er Shinichi, der noch blasser als er selber war, und den Ran an ihre Schulter gezogen hatte, sah, verrauchte seine Wut ein wenig. „Das war das Krankenhaus. Sie wird es überleben. Allerdings ist sie bewusstlos. Sie kann uns nicht sagen, wer versucht hat, sie umzubringen.“ Er warf ein durchsichtiges Plastiksäckchen auf den Tisch. Darin schimmerte ein perlenbesetzter Haarreif. Shinichi unterdrückte mit Mühe seinen Würgereiz. „Den trug sie.“, erklärte Meguré unnötigerweise. Dann setzte auch er sich, um gleich wieder hochzufahren. „Und was habt ihr da eigentlich gesucht?!“ Shinichi hob den Kopf. „Was denken Sie? Wir kannten doch alle den Inhalt der neuesten Nachricht… also haben wir eine Kneipentour gemacht.“ Er versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen. Heiji neben ihm nickte bestätigend. „Nachdem Sie keinen neuerlichen Großeinsatz planen konnten, weil der Täter sonst wahrscheinlich gekniffen hätt’…“ Meguré schaute sie skeptisch an. „Na, das war aber ein wahnsinniger Zufall, dass ihr gerade zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort wart…“ „Detektivische Intuition.“, meinte Heiji trocken. „Hm.“ Meguré drehte sich um. „Wie auch immer. Du solltest schlafen.“, bemerkte er an Shinichi gewandt. „Ich seh’ euch drei morgen auf dem Revier. Gute Nacht.“ Damit drehte er sich um und ging. Und hatte doch das Gefühl… dass er irgendetwas übersah. „Wer war nun draußen…?“, murmelte Yusaku, schaute von Agasa zu Shiho, wandte sich dann zu Heiji und Kogorô. „Wir haben die anderen beiden aus den Augen verloren.“, murmelte Shiho leise. „Es war so voll… und danach hab ich sie alle drei die Straße rauf gehen sehen, in die nächste Bar. Wir sind genauso weit wie vorher. Wir wissen nun nur, dass es wirklich ein Messer ist, das er verwendet, und dass er sich mit einem Regencape vor Blutspritzern schützt. Die Polizei sucht noch nach der Tatwaffe und dem Cape.“ Shinichi stöhnte unterdrückt, fuhr sich mit kalten Händen über die Augen. Ran schaute ihn an. „Ihr seid die Letzten, wisst ihr das?!“, fauchte sie wütend. „Wenn ihr euch schon von ihm beschwatzen lasst, dann passt gefälligst besser auf ihn auf! Ihr wisst genau…“ Kogorô schaute sie an, schüttelte den Kopf. „Da kann man nicht aufpassen, Mausebein. Hätte irgendeiner von uns gesehen, wie der Mistkerl der Frau die Kehle durchschneidet, würden wir genauso aussehen wie er. Das hat nichts mit seiner Konstitution, sondern mit seinem Verstand, seiner Seele zu tun. So etwas zu sehen, bringt einen an seine Grenzen. Ich denke Meguré hat Recht, er sollte jetzt ins Bett gehen. Das sollten wir alle.“ Damit erhob er sich. „Gute Nacht, bis morgen.“ Das Wohnzimmer leerte sich. Am nächsten Morgen saßen die zwei Detektive in Shinichis Büro, tranken Kaffee und machten sich über die Sandwiches her, die Ran zubereitet hatte, damit Shinichi das Essen nicht vergas. Vor ihnen lagen die Akten über ihre Tatverdächtigen, die nachgezeichneten Lebensläufe, alles, was sie in den letzten Tagen über diese drei Männer in Erfahrung hatten bringen können, und das war einiges. Daneben die Zettel mit den Zitaten, die Shinichi gestern mit Ran zugeordnet hatte. Es ging ihm heute bedeutend besser als gestern, auch wenn ihn die Bilder der im Mondlicht aufglänzenden Klinge, des fast schwarz scheinenden Blutes, das aus der Halswunde der Frau strömte und ihre hilflos, ängstlich bettelnden blauen Augen immer noch verfolgten. Er legte sein Sandwich ab, legte den Kopf in den Nacken. „Wenigstens wissen wir jetzt sicher, dass es ein Messer ist.“ „Ja, großartig.“, nuschelte Heiji, während er kaute. Shinichi seufzte, massierte sich die Schläfen. Heiji, der ihm gegenüber saß und die Beweismaterialien sichtete, schaute ihn besorgt an. „Hey… alles okay mit dir…?“ „Jaaa…“ „Wirklich…?“ Shinichi blickte auf. „Heiji, mein Freund. Das sind Kopfschmerzen. Ganz stinknormale Kopfschmerzen, wie sie jeder mal kriegt. Es ist weder von gestern, noch das… das andere. Mach dir nicht immer Gedanken.“ Shinichi schnappte sich das Sandwich wieder. „Ich bin doch ein großer Junge, Hattori. Und außerdem wird sie’s überleben. Das ist es nicht, was mir Kopfzerbrechen bereitet.“ Heiji grinste unwillkürlich bei dem leicht genervten Gesichtsausdruck seines Freundes. „Is gut.“ Shinichi nickte fast trotzig und aß sein Sandwich fertig auf. Was mir Kopfschmerzen macht, ist dass wir so nah dran waren, gestern, hätten ihn fast auf frischer Tat ertappen können. Ich weiß zwar mit ziemlicher Sicherheit, wer er ist; aber ich kanns nicht beweisen. Ich hab ihn nicht gesehen, und ich kann ihm die Tatwaffe nicht vor die Nase halten, weil ich nicht weiß, wo er sie deponiert bevor er sie braucht, und nachdem er sie benützt hat. Gut... davor wird er sie wohl irgendwo am Körper tragen. Vielleicht in ein Tuch gewickelt im Stiefel. Er trug Schuhe, die hoch genug waren, ein Messer darin zu verstecken. Aber wo ist er es losgeworden? Ich wie mittlerweile, wer es ist, aber ich kann ihn nicht festnageln. Eine Weile hörte man nur das Rascheln der Blätter, als die beiden Detektive das Chaos auf dem Schreibtisch umschichteten. „Kriegen wir ihn…?“ „Absolut.“ Shinichis Stimme klang bestimmt. „Aber seit Wochen entkommt er uns… immer und immer wieder…“ „Aber nicht mehr lange.“ Er sah auf. „Und eigentlich hätte ich von dir mehr Zuversicht erwartet, mein Freund…!“ Heiji seufzte. „Ich mein ja nur. Wie kannst du dir so sicher sein, dass du ihn noch schnappst…?“ Shinichi lehnte sich zurück, angelte mit einer Hand nach hinten, schnappte sich die Kaffeetasse, die er dort in sicherer Entfernung zu den Akten deponiert hatte, und nahm einen tiefen Zug, bevor er antwortete. „Weil das mein letzter Fall ist. Und weil ich in meiner Bilanz keinen ungelösten Fall haben will.“ Heiji starrte ihn fassungslos an. „Dein letzter…? Aber du hast doch…“ „… noch Zeit? Ja, du hast Recht. Ein wenig bleibt mir noch. Und diese Zeit… würde ich gern mit meiner Familie verbringen. Mit Ran. Mit meinen Eltern, mit meinen Freunden, also auch dir, Quatschkopf - aber außerhalb von Fällen. Erstens, weil Ran mich gern unter ihrer Fuchtel haben will…“ Er grinste. „Und zweitens, weil ich gern mehr schöne Dinge mit ihr machen will. All das, zu dem wir nicht mehr kommen werden, wenn ich es aufschiebe…“ Ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Und drittens, Hattori… ich will hier nicht umkippen. Ich… irgendwann werde ich nicht mehr können, und ich will nichts offen liegen lassen oder Schwäche zeigen. Man soll gehen, wenn’s am Schönsten ist. Wenn ich diesen Serienmörder hab, ist das ein schönes Karriereende.“ Heiji nickte. Er verstand ihn. Shinichi nippte an seinem Kaffee. „Also, was haben wir? Drei potentiell Verdächtige. Itakura, Kano, Saijo. Dafür spricht, dass sie von meiner Hochzeit wussten. Dann… haben wir diese hier.“ Er schob Zitatzettel in die Mitte des Tisches. „Und wir haben die Perlen.“ Er legte die Fotos daneben. Gedankenverloren massierte er sich die Schläfen. „Also die Perlen sprächen dafür, dass er sie gekannt hat. Ja?“, fragte Heiji grübelnd. „Ja. Wobei ich denke, er kannte sie nur flüchtig. Ich glaube, er hat sie alle erst in der Woche vor ihrem Tod kennen gelernt. Er wird sehr charmant gewesen sein, ein netter Kerl, verständnisvoll, einfühlsam. Ein echter Kavalier. Und an ihrem Todesabend schenkt er ihnen Perlen… und bringt sie um. Gebrauchte Perlen. Was können wir daraus schlussfolgern?“ „Die Perlen gehörten jemandem?“ Heiji schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Brillant ermittelt, Hattori. Die japanische Polizei kann wahrlich stolz sein auf ihren zukünftigen Chef.“ Er grinste leicht. Heiji zog ein Gesicht. „Dann sag mir, was ich nicht weiß, Holmes.“ „Wer der Täter ist, zum Beispiel?“ Heiji fuhr hoch, starrte ihn an. „Du weißt es und sagst nichts?“ „Ich kann es ihm nicht beweisen.“ „Du weißt es und sagst NICHTS?!“ Heiji war aufgestanden, atmete schwer. Dann ließ er sich wieder auf seinen Stuhl sinken, trank einen großen Schluck Kaffee. „Spuck’s aus, Kudô! Seit wann weißt du’s?“ „Seit gestern abend. Die Erleuchtung kam mir, als ihr alle weg wart... und da hab ich noch ein wenig recherchiert.“ Er seufzte leise, dann lächelte er, ließ sich im Stuhl zurück sinken, legte die Fingerspitzen aneinander und führte sie langsam ans Kinn. „Es macht einfach alles Sinn. Aber bevor ich dir alles sage, hab ich noch ein paar Fragen an dich, bevor ich dir meine Theorien darlege, Watson.“ „Nur zu.“ Heiji beugte sich vor. „Schön. Als Mitglied der Mordkommission wusste er, dass wir zwei näher in Kontakt stehen, dass du mich fragen würdest, wenn bei dir ein Problem auftaucht. Der erste Mord war wohl noch Zufall... der in Osaka. Soweit ich weiß, war zu der Zeit eine Abordnung von uns bei euch... oder?“ Heiji nickte. „Es muss ihn wohl überkommen haben. Es muss was passiert sein, dass aus ihm diesen Mörder gemacht hat... etwas, das ihn die Kontrolle verlieren ließ und ihm den Verstand geraubt hat.“ Der Detektiv aus Osaka seufzte. „Sie waren aber alle drei bei uns. Itakura, Saiji, Kano zusammen mit Shiratori und Takagi.“ „Und da wart ihr doch bestimmt auch mal gesellig einen heben.“ „Ja...“, murmelte Heiji widerwillig, als er an den Kater des nächsten Morgens dachte. „Kannst du dich noch daran erinnern, worüber ihr geredet habt? Das ist wichtig.“ Der Detektiv aus Osaka schaute ihn nachdenklich an. „Du stellst Fragen. Über unser Privatleben. Nun... Takagi hat mir Fotos von seiner Tochter gezeigt, da sind wir allgemein auf diese Themen gekommen.“ „Habt ihr da auch... über andere Leute geredet.“ Heijis Gesicht fing an zu glühen. „Ja, über dich und Ran, zum Beispiel. Wir haben über euere Hochzeit geredet.“ Shinichi zog die Augenbrauen hoch. „Aha. Habt ihr euch gut unterhalten...?“ „Bestens, Kudô.“ Heiji wich seinem Blick aus. „Ich weiß, das war unhöflich...“ „Nein, das war nicht unhöflich. Ich schätze, das war der Auslöser.“ Der Kopf des Osakaers fuhr ruckartig hoch. „Bitte, was? Wie kommstde denn da drauf?!“ Shinichi nickte langsam. „Doch, das passt. Sowas in der Art hatte ich mir gedacht...“ „Kudô...“ Heijis Stimme wurde langsam drohend, in ihr schwang deutlich die Ungeduld. „Gut, dann hör zu. Es sind immer junge Kellnerinnen. Es sind immer schwarzhaarige, zierliche Frauen mit langen Haaren. Es ist immer von Sonntag auf Montag immer um Mitternacht. Wenn die alte Woche vergeht, die neue beginnt, der alte Tag stirbt und ein neuer erwacht.“ Heiji zog die Augenbrauen erneut hoch. „Sehr pathetisch. Langsam wirst du etwas seltsam…“ Shinichi warf ihm einen schrägen Blick zu, dann hob er seine Akte vom Tisch, holte aus und zog sie Heiji über den Kopf. „Trottel.“ Er seufzte leise. „Hattori, damit du verstehst, wer es ist, muss ich dir sagen, wie er vorgeht. Also; er beendet jede Woche mit einem Mord, fängt die nächste völlig neu und unbelastet an. Er verschenkt Perlen, die mit Sicherheit nicht im gehörten. Ich sag dir was.“ Er schloss kurz die Augen. „Der Kerl hatte ne Freundin, die aussah wie diese Kellnerinnen. Darauf bist du wahrscheinlich auch schon gekommen.“ Heiji nickte bestätigend. „Ihr gehörten die Perlen.“ „Wahrscheinlich, ja.“ „Und er lernt jede Woche jemanden kennen, der seiner Liebe, seiner großen, einzigen, echten, wahren Liebe so ähnlich sieht, trifft sich über die Woche mit ihr… er sucht gezielt Kellnerinnen in Bars, weil seine Freundin auch eine Bardame war… und über die Woche stellt er fest… stellt er voller Wut, voller Verzweiflung und Hass fest, dass diese Frau nicht seine Freundin ist. Was tut er?“ „Er bringt sie um.“ „Ganz genau. Und hier wissen wir auch, warum.“ Er schob mit den Fingerspitzen ein Blatt Papier zu Heiji. Ein Optimist ist ein Mensch, der ein Dutzend Austern bestellt, in der Hoffnung, sie mit der Perle, die er darin findet, bezahlen zu können. „Er hat sie nicht gefunden… die Perle. Die Austern waren alle hohl.“ Heiji lehnte sich nach vorn. „Sprich weiter.“ „Gut… also, er bringt sie um. Vermutlich ist seine Freundin gestorben… wahrscheinlich auf die gleiche Art wie all diese Mädchen. Das ist es, was ich gestern gesucht hab- die Nachrichten über die Verbrechen in den Wochen vor dem Besuch einer Kommission von unserer Stelle bei euch in Osaka. In einer Bar in der Innenstadt gabs eine Messerstecherei, bei der eine junge Frau, die Bardame, ums Leben gekommen ist. Ich weiß die Namen noch nicht, aber das könnte alles in Verbindung stehen- die Frau könnte seine Freundin gewesen sein. Es passt einfach alles... Er kommt er mit dem Verlust nicht klar… also sucht er Frauen, die so sind wie sie, in gewisser Weise sucht er wohl nach ihr... Und am leichtesten tut man sich fürs erste einfach mit dem Aussehen. Als er sie dann aus lauter Enttäuschung umbringt, tut er das wie der Mörder seiner Freundin, damit sie wenigstens eins wirklich gemeinsam haben, neben dem Aussehen; die Todesursache. Das perlengleiche Schimmern der Haut, blahblah... und der hier.“ Er hob den Zettel in die Höhe. An der Krone funkelt die Perle nur, und freilich nicht die Wunden, mit denen sie errungen ward. „Sie starb, deswegen hat er sie jetzt, all die Perlen. Die Wunde war ihr Verlust, Schmerz, den er erlitten hat. Und er schenkt jetzt seinen Mordopfern die Perlen seiner Freundin, weil er sie selber nicht mehr sehen kann. Er schmückt die Frauen, damit ein letztes Mal diese Perlen, die einst seine Liebste schmückten, noch einmal zu altem Glanz erblühen. Er verteilt seine Tränen.“ Shinichi hielt den nächsten Zettel hoch. Perlen bedeuten Tränen. Einst weinte ich für jede Perle eine Träne, und es waren viele, viele Perlen… Nun weine ich nicht mehr, ich habe keine Tränen mehr… ich verschenke meine Perlen… für jede Träne eine. Sag mir, wer weint nun? Er nahm einen weiteren Schluck Kaffee. „Nun. Nur der erste Teil ist ein Zitat. Seine Freundin war wohl eine Perlenliebhaberin, und als sie starb, da entwickelte er wohl diesen Fetisch mit den Perlen. Zuerst hat er um sie getrauert, und er wiegt seine Tränen mit diesen Perlen auf; und nun ist er einsam, verbittert, sieht, dass er keine mehr findet wie sie und verteilt die Perlen, damit sie wenigstens noch einmal schimmern können. Und dieser Zusatz… „Sag mir, wer weint nun?“… ich fürchte, mit dem sind wir gemeint. Oder… nun, ich. Weil er mir ja auch diese Briefe schickt. Ich schätze, er spielt mit meinem Moralgefühl. Und wohl auch auf alle Fälle mit den Gefühlen der Hinterbliebenen der Opfer.“ Er seufzte, warf Heiji einen nachdenklichen Blick zu. „Dann wäre das nächste Rätsel; wir haben das Motiv, aber noch nicht den Täter. Den findet man so…“ Shinichi fischte nach dem nächsten Zettel. Sie lachten über mich und sagten, ich sei nicht gerade schön; ich gab ihnen zurück, in den Austern, die auch nicht schön wären, steckten Perlen. „Das lässt eigentlich nur einen Schluss zu.“ „Es ist Itakura!“, rief Heiji aus. „Aber wer ist dieser ‚Herausforderer’, von dem er in seinem ersten Brief schreibt?’“ Shinichi schüttelte langsam den Kopf. „Nein, Heiji. Unser Mann… unser Mann ist ein anderer. Und der Herausforderer… ist wohl er selbst. Er leidet unter einer Persönlichkeitsspaltung. Dissoziative Identitätsstörung.“ „Warum das? Aber der Zettel…!“ Shinichi zog den vorletzten Spruch vom Tisch. „Der Zettel gehört zu diesem…“ Wenn du dir eine Perle wünschest, Such sie nicht in einer Wasserlache. Denn wer Perlen finden will, muss bis zum Grund des Meeres tauchen. Heiji starrte ihn an. „Er täuscht uns?“ Shinichi lächelte sacht. „So ist es… wir müssen nur den Kopf unter die Oberfläche stecken… unter dem ruhigen Wasser stecken oft unendliche tiefe Abgründe… ohne das man es von außen sieht.“ Heiji ließ den Kopf auf den Tisch knallen. „Himmel, Kudô, reichts nich’, wenn unser Irrer in Rätseln spricht? Musst du’s dann auch noch tun? Ich geb’ zu, du bist schlauer als ich. Klärste mich jetzt auf?“ Shinichi zog eine Augenbraue hoch. „Das Zauberwort?“ „Ich bring dich um.“, knurrte sein Gegenüber. „Danke, das kann ich allein. Heiji?“ „Bitte.“, kam es undeutlich genuschelt von der Tischplatte hervor. „Weißt du, ich glaub fast, ich hab das jetzt nicht ganz genau verstanden.“ Shinichi lehnte sich amüsiert zurück, verschränkte die Finger hinter dem Kopf. Heiji richtete sich auf. „Schön. BITTE. Klär mich auf, bitte, ich flehe dich an, ich komm mir grad so dumm vor…“ Der Osakaer Detektiv verdrehte die Augen. "In diesem Fall läufste mir ganz schön den Rang ab. Ich komm mir vor wie Watson." „Du kennst Watson doch gar nicht." Shinichi grinste. "Nein, Heiji, du wirst sehen, es ist eigentlich offensichtlich... ich stand da selber viel zu lange auf dem Schlauch. Ich geb dir noch einen Tipp… Du tippst auf Itakura, weil er hässlich ist. Nun… es muss aber nicht sein, dass er immer noch hässlich ist. Dass er es war… aber nicht mehr ist. Und dass er sich jetzt vorkommt wie gefälscht. Deswegen waren auch unechte Perlen unter den Schmuckstücken, die er verschenkt hat.“ „Rück jetzt einfach raus mit der Sprache. Und dann erklär mir bitte auch noch, was das mit eurer Hochzeit zu tun hatte.“ „Na gut. Ich denke, die Hochzeit wird ihm sauer aufgestoßen sein... schließlich war er vielleicht selber verlobt. Warum er sich dann allerdings so auf mich eingeschossen hat, weiß ich noch nicht. Und der Täter war also...“ Shinichi beugte sich nach vorn, wollte gerade alles erklären, als er stutzte. „Sag mal, wo ist eigentlich Ran…?“ Der Osakaer Detektiv stöhnte auf. „Ich weiß auch nicht. Der Täter…! Sags endlich!“ Shinichi hörte nicht hin. „Sie wollte doch schon längst hier sein… es war abgemacht, sie holt mich ab, nach der Untersuchung…“ Er klang beunruhigt. Und genau dieser Ton ließ Heiji aufhorchen. „Shinichi?“ Der hörte ihn gar nicht mehr. Ein ungutes Gefühl hatte von Shinichi Besitz ergriffen. Er schaute sich suchend um. Und da sah er ihn liegen… den Zettel, unter der Tür. Shinichi stand auf. „Heiji, war der vorhin auch schon da…?“, flüsterte er leise. Der angesprochene folgte seinem Blick, schüttelte dann langsam den Kopf. „Nein…“ Shinichi ging zur Tür, bückte sich, hob ihn mit klammen Fingern auf. Sein Herz fing an zu rasen, als er ihn auseinander faltete. Mein lieber Herr Detektiv… ich hätte nicht gedacht, dass ich das einmal sagen muss… Ich habe Sie unterschätzt. Sie wissen, wer ich bin. Sie wissen, was ich bin. Und Sie wissen auch, wen ich habe… jetzt, in diesem Moment. Wenn Sie sie jemals lebend wieder haben wollen, sorgen Sie dafür, dass man den Mord jemand anderem anhängt. Wie ein Meer sind Königsgnaden: Perlen fischt man, wo es ruht, aber hüte dich vor Schaden, wenn ein Sturm erregt die Flut. Mit aller Hochachtung Der Perlenmörder Der Brief fiel ihm aus der Hand. Er erbleichte, dann fuhr er herum. Ran! Shinichi riss die Tür auf. Draußen war keiner; einzig und allen die Putzfrau saugte mit ihrem Staubsauger tapfer die endlosen Flure des Polizeihauptquartiers, starrte ihn verdutzt an. Shinichi knallte die Tür zu, ließ sich an ihr zu Boden sinken. „Kudô!“ Der schaute zu ihm hoch, verständnislos, geschockt. Dann reichte er ihm den Zettel, den er vom Boden wieder aufhob. „Ran…“, flüsterte er leise. „Er hat Ran… Ran und das Baby…“ „Shinichi…“, Heiji starrte entsetzt zu ihm runter. „Aber wie kann er…?“ „Gelauscht…“, hauchte der Tokioter Detektiv leise. „Er hat bestimmt gelauscht. Wahrscheinlich sogar Wanzen angebracht. Heiji, verdammt!!!“ Das letzte Wort schrie er. Heftig schlug er mit er Faust gegen die Wand in seinem Rücken, durchfurchte mit den Fingern sein Haar. „Verdammt! Wenn er… wenn er Ran etwas antut… oder dem Baby…“ Er merkte, wie die Angst sein Innerstes zu Eis zu gefrieren schien. Er biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte, spürte den Schmerz jedoch kaum. "Ich muss ihn aufhalten." Seine Stimme war kaum zu verstehen, aber die Anspannung, die in ihr lag, war dennoch deutlich zu hören. Heiji schluckte. So viel Wut, Schmerz und Verzweiflung auf einmal hatte er bei Shinichi noch nie erlebt. Und der Blick in seine Augen, der Tonfall seiner Stimme, besorgte ihn. Er wusste nicht, wie weit Shinichi, der ohnehin dem Tod geweiht war, wohl keine Strafe mehr fürchtete, gehen würde, um das, was er liebte, das einzige, wofür er überhaupt noch lebte, zu retten… oder zu rächen. Er wusste es nicht. Unter normalen Umständen lägen die Dinge klar. Aber nicht so. Nicht in dieser Situation- sie war unberechenbar. Und dieser Gedanke beunruhigte ihn zutiefst. Oma und Opa Kudô ---------------- Guten Abend, liebe Leserinnen und Leser! Zuallererst möchte ich mich herzlich bei den Kommentatoren des letzten Kapitels bedanken! Dankeschön, es freut mich sehr, dass ihr euch die Mühe macht! Nun... bevor ihr jetzt allerdings wissen dürft, wie’s mit Ran weitergeht, kommt wie gehabt ein Kapitel der Gegenwart. Wer also noch irgendwelche Tipps den Mörder betreffend abgeben will, dies wäre die letzte Möglichkeit. Es tut mir Leid, wenn der Fall nicht so gut zum Miträtseln ist wie man es von Conan gemeinhin gewohnt ist - ich hab mir Mühe gegeben... denn ja, eigentlich wars mein erster ‚echter’ Fall ^/////^ Auch wenn vielleicht schon mal welche erwähnt wurden, das hier war der erste zum Miträtseln. Aber jetzt wünsch ich euch erstmal gute Unterhaltung mit Sayuri, viele liebe Grüße, Eure Leira ;D ________________________________________________ Kapitel 7: Oma und Opa Kudô Gegenwart Der Besuch bei Onkel Heiji war nun zwei Tage her. Zwei Tage, in denen sie und ihre Mutter zwar geredet hatten, aber auch wieder nicht - sie redeten nicht miteinander, sondern irgendwie jeder für sich, und ihre Gespräche schlossen ein Thema immer noch aus; Shinichi Kudô, ihren Vater. Sayuri hatte auch zu Hause nicht mehr damit angefangen, nach ihm zu fragen; und Ran wusste nicht, ob sie ihr deshalb dankbar sein sollte oder nicht. Sie wusste nicht, wie sie jetzt anfangen sollte, über Shinichi mit ihr zu reden, jetzt, nachdem schon so viel falsch gelaufen war... ganz davon abgesehen, dass sie den Gedanken an ihn gern von sich wegschob, wenn es sich einrichten ließ. Sie ertrug ihn nicht. Und so kamen sie beide irgendwie miteinander aus, und doch war ihr Verhältnis ganz eindeutig gestört. Sie wusste, was Sayuri ihr vorwarf, und sie wusste auch, ihre Tochter hatte damit Recht; ohne Einschränkungen Recht. Sie hatte es übertrieben, sie von ihm abzuschirmen, bis sie dafür bereit war, für die Wahrheit… aber nicht aus Böswilligkeit. Sie wollte sich schützen. Schützen vor dem Schmerz, den sie wachrief mit dem Gedanken an einen Menschen, den sie so sehr geliebt hatte, dass sein Tod in ihr eine Leere hinterlassen hatte, von der sie nicht gewusst hatte, nie geahnt hatte, dass sie existieren könnte. Deshalb ließ Ran sie lesen. Und schwieg sich aus. Und so kam es, dass Sayuri, zwei Tage nach ihrem Osakatrip mit einer Tasse Tee bäuchlings auf ihrem Bett lag, mit dem dritten Buch ihres Vaters aufgeschlagen vor sich ans Kopfkissen gelehnt. Leise schlürfend trank sie einen Schluck Tee. Ihre Zwiegespaltenheit, was das Lesen seiner Aufzeichnungen anbelangte, war ganz und gar nicht verschwunden; aber sie hatte sich jetzt ein für alle Mal dafür entschlossen, sie alle zu lesen, egal, was danach kam. Wie sie sich danach fühlen würde. Für den Moment sollte sie das nicht interessieren. Was zählte, war das jetzt, und jetzt war er da, und redete gewissermaßen mit ihr... und das fühlte sich einfach gut an. Gedankenverloren klemmte sie ihre Zungenspitze zwischen ihre Lippen und ließ ihre Augen über die Zeilen wandern. Hallo! Deine Mutter glaubt, du wirst ein Mädchen. Ich weiß nicht, woher sie dieses Wissen nimmt, aber sie ist davon felsenfest überzeugt und freut sich. Ich will nicht wissen, was sie macht, wenn du ein Junge bist. ;-) Bestimmt freut sie sich genauso drüber. Wahrscheinlich hat sie nur irgendwelche Anwandlungen, die Schwangere eben so haben. *g* Oder doch weibliche Intuition? Keine Ahnung. Mir für meinen Teil ist das egal, nur heute warf dieses Thema ein Problem auf; Ran wollte Farbe für dein Zimmer kaufen. Dreimal darfst du raten, welche. Genau. Rosa. Sayuri lächelte verhalten. Ihre Mutter hatte also ein Mädchen gewollt. Und sie hätte prompt das Klischee bestätigt, indem sie ihr den rosa Traum kleiner Prinzessinnen zu erfüllen wollte - ein Zimmer, ganz in Pink. Sie sah sich um. Kein Hauch von Pink. Hier war allerdings alles gelb. Immer schon gelb gewesen... anscheinend hatte irgendwer die pinke Invasion verhindert. Und sie sollte auch gleich erfahren, wer. Geistesabwesend zog sie die Schublade ihres Nachttischchens auf, kramte eine Tafel Schokolade hervor und packte sie aus, brach sich ein Stückchen ab und schob es sich in den Mund. Nachdem sie ein bisschen daran gelutscht hatte, zerkaute sie sie, schluckte die Schokolade runter, nahm das Buch wieder in die Hand und las weiter. Wenn du ein Junge bist, solltest du mir jetzt verdammt noch mal dankbar sein. Wenn du ein Mädchen bist, wohl auch. :) Denn ich hab mich in der Farbwahl durchgesetzt, yeah! Kein Rosa. Wie kommt sie auch auf diese Idee! Rosa! Ist das zu fassen. Rosa. Oder Pink. Genauso schlimm. Also, ich konnte sie breitschlagen, es pastellgelb zu streichen, oder wie auch immer diese Farbe heißt, und nach langen Diskussionen hat sie mir zugestimmt... schon allein, weil sie wohl keine Lust hatte, alles wieder hellblau zu streichen, wenn du doch ein Junge bist, und mit dem Streichen zu warten, bis wir es wissen, wollte sie nicht. Sie wollte dein Zimmer einrichten, also musste gestrichen werden. Und da ich ein treusorgender Ehemann bin, hab ich also gestrichen… die Wände… den Fußboden, Rans Haare, den Teppichboden hier und im Gang und.. mich. Hoffentlich geht das wieder ab. Deine Mum kocht grad vor Wut, weil ich den Teppich ruiniert hab. :) Und weil’s nicht rosa ist. Aber rosa, hey… Gelb is viel besser. Gelb macht einen fröhlich. Rosa wird dich irgendwann nerven, wenn du älter bist, egal ob Junge oder Mädchen - dann wirst du dein Zimmer neu streichen, und uns in die Hölle wünschen, weil sich rosa so schwer übermalen lässt; aber Gelb- Gelb wird dir immer gefallen, glaub mir. Ich mag gelb. Rot mag ich auch, aber… ich denke, in einem signalroten Zimmer wird man wahnsinnig. Also Gelb. Sayuri schaute auf. Gelb. Es stimmte, alle ihre Wände waren gelb, pastellgelb… zwar war schon die zweite Schicht drauf, aber sie hatte den gleichen Farbton wieder gewählt. Die Farbe, die ihr Vater ausgesucht hatte, wie sie jetzt wusste. Dann stieg sie aus dem Bett, ging zu ihrem Schreibtisch, zog ihn von der Wand weg, kniete sich auf den Teppichboden. Die gelben Flecken waren schon da, so lange sie sich erinnern konnte, zwar nur noch sehr schwach sichtbar, aber die verwaschene Farbe war noch zu erkennen. Er hatte sie… sie waren entstanden, als ihr Vater ihr Zimmer gestrichen hatte. Natürlich hatte sie das nicht gewusst. Bis jetzt. Sie schluckte, strich mit ihren Fingern über die gelb verfärbten Stellen, kniff dann die Augen zusammen, schluckte und ging sie zurück zum Bett, griff sich das Buch und las weiter. Also wo wir jetzt schon beim Einrichten deines Zimmers sind, würde mich irgendwie interessieren, welche Art von Büchern du liest. Wir haben heut neben der Farbe nämlich auch Regale gekauft, musst du wissen, und ein Bett und einen Schrank und eine Wiege. Aber die Regale sehen irgendwie so leer aus ohne Bücher. Es kann zwar sein, dass du dir aus Büchern nichts machst - aber bei einem Schriftsteller als Opa, und wenn du auch nur ein bisschen was von mir hast, dann wirst du Bücher lieben. Beziehungsweise liebst Bücher. Ich bin großer Fan von Kriminalliteratur, besonders von Sherlock Holmes von Arthur Conan Doyle, wie du dir wohl denken kannst, nun, da du ja meinen Beruf schon weißt :D Solltest du in der Hinsicht nach mir kommen, dann wird dich unsere Bibliothek wohl begeistern. Es gibt da fast jeden Krimi, der bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlicht worden ist. Wenn nicht… Pech gehabt ;) Da stehen nämlich bis jetzt nur Krimis. Die Bücher, die deine Mutter liest, stehen in ihrem Bücherzimmer. Da dieses Haus so feudal groß ist (was dem Größenwahn deiner Großeltern zu verdanken ist), konnten wir uns leisten, neben einer Bibliothek noch eine Minibibliothek einzurichten. Apropos Großeltern - ich hoffe, du kommst gut mit meinen Eltern klar, und sie lassen sich bei dir ein wenig öfter blicken als bei mir. Als ich dreizehn war, sind die nämlich ausgezogen. Ja, du liest richtig - sie sind ausgezogen. Nicht ich. In einem Anflug von keine Ahnung was haben sie sich eingebildet, sie müssten in Übersee einen drauf machen… Nein, Scherz bei Seite. Eigentlich weiß ich selber nicht genau, warum sie das taten… sie waren wohl schon immer sehr aktive Menschen, engagiert, vielseitig orientiert; meine Mutter war mal Schauspielerin, hat aber ihren Beruf aufgegeben, als sie meinen Vater geheiratet hat. Mein Vater ist Kriminalschriftsteller, ich nehme an, das ist dir bekannt, und er, so er denn noch lebt, ist das wohl immer noch. Er war seinerzeit schon überaus erfolgreich, und es zog sie wohl beide in die Staaten, sie wollten vielleicht einen Klimawechsel, ich weiß es nicht. Ich wusste nur, ich wollte das nicht. Eigentlich sollte ich mitkommen, aber ich blieb hier. Es gab ein paar Streitereien deswegen, aber ich setzte mich durch. Nun. Offiziell gab ich als Grund an, dass ich Amerika nicht unbedingt mag (was der Wahrheit entspricht; ist zwar schön für eine Reise, aber leben will ich da nicht), dass ich die Schule hier fertig machen wollte, dass ich aus meiner Umgebung nicht weg wollte… Der Hauptgrund allerdings, den sie genauso wussten wie ich, obwohl er nie ausgesprochen worden war, war die Freundschaft zu deiner Mutter. Ich wollte nicht weg von Ran… deshalb blieb ich hier. Meine Eltern ließen sich von da ab eher sporadisch blicken, aber ich will ihnen keinen Vorwurf machen. Wenn man sie brauchte, sie rief, dann kamen sie auch. Nur leider… ist ihnen von da drüben aus wohl so manche Notsituation hier entgangen… weil der Ruf zu leise war oder der Weg zu lange. So erfuhren sie auch von Conan erst Wochen später… und das nicht mal von mir, nein, von Professor Agasa. Agasa ist wohl überhaupt der Grund, warum aus mir noch einigermaßen was geworden ist, neben deiner Mutter ;) Er war wie ein Großvater für mich. Er war immer da, wenn ich ihn brauchte, und dafür bin ich ihm auf ewig dankbar. Er hat sich um mich gekümmert, egal wie alt ich war… egal was ich brauchte. Ich weiß nicht, was ich ab und an ohne ihn gemacht hätte. Aber zurück zum Thema. Meine Mama… ist wohl im Grunde genommen ein herzensguter und liebenswürdiger Mensch, auch wenn sie einem das mit der Liebenswürdigkeit ab und an ein wenig schwer macht. Sayuri musste grinsen. Ja, das hörte sich schwer nach Oma Yukiko an. Sie hat manchmal so Anwandlungen… sie neigt dazu, einen mit ihrer Hilfsbereitschaft zu erdrücken, sie liebt es, im Rampenlicht zu stehen und aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen, mit viel Trara die eigene Persönlichkeit zu inszenieren. Irgendwo ist sie immer noch Schauspielerin, das wird sie wohl nie ganz verlassen ;D Sie ist meistens gut gelaunt, durchaus nicht auf den Kopf gefallen, spontan, stürmisch, etwas abgedreht… und sie hasst es, alt auszusehen, für alt gehalten oder als Tante bezeichnet zu werden. Darfst du eigentlich Oma zu ihr sagen? Das muss die Hölle für sie sein *g* Sayuri grinste breit. Ja, das war absolut ihre Omi, wie sie leibte und lebte. Aber im Grunde genommen ist sie wohl die beste Mama, die ich mir wünschen könnte. Nicht jede hätte mit ihrem Sohn so viel durchgemacht wie sie mit mir und ihn dann immer noch so gern gehabt, wie sie mich wohl hat. Es tut mir ehrlich Leid… ihr jetzt diesen Kummer bereiten zu müssen… ich seh’s in ihren Augen, wie sehr sie der Gedanke manchmal quält… ich hoffe, sie kommt drüber weg, kommt klar, einigermaßen zumindest… vielleicht kannst du ihr da ja helfen. Jemand, um den sie sich kümmern kann, jemand Neues, den sie bemuttern und ihre Liebe schenken kann, wenn ich nicht mehr da bin… Ahhh ja... Okay… lassen wir das. Darüber will ich hier eigentlich nicht reden. Nehmen wir uns meinen werten Herrn Erzeuger vor; wo wir schon dabei sind, folgen hier jetzt mal ein paar Wahrheiten über deinen Opa. *räusper* Yusaku Kudô… Von ihm hab ich dir ja schon mal erzählt, allerdings denke ich, muss ich noch ein wenig anfügen… gerade was meine Situation und unser Verhältnis im Allgemeinen betraf, kann ich dir bestimmt noch was erzählen, vielleicht interessiert es dich... da er ja wohl einer deiner Ersatzväter sein wird, neben deinem Opa Kogorô... Ich denke, ich lerne gerade ganz neue Seiten an ihm kennen. Du kannst… kannst dir nicht vorstellen, wie es war, ihm… ihm die Nachricht von meinem… baldigen Ableben zu sagen. Ich hab es ihnen gleichzeitig gesagt, meiner Mutter und meinem Vater und es war hart genug… zweimal hätte ich das nicht gepackt. Die Reaktion meiner Mutter war vorhersehbar. Sie war… am Boden zerstört, brach in Tränen aus, das kannst du dir wohl vorstellen. Mein Vater war sauer. Zuerst auf mich. Weil ich sterben muss… weil ich mir das alles eingebrockt habe. Weil er dachte, ich würde nicht kämpfen, würde mein Schicksal einfach so akzeptieren. Und dann sagte er auf einmal gar nichts mehr. Er ist einfach gegangen. Hat tagelang nicht mit mir geredet. Reagierte nicht auf meine Anrufe, meldete sich nicht, ließ mir nicht einmal etwas über meine Mutter ausrichten. Irgendwann ging ich dann zu ihm… und da haben wir uns ausgesprochen… Und du wirst lachen, aber erst da hab ich gemerkt… wirklich gespürt… wie viel ich ihm wohl eigentlich bedeute. Er kam… kommt… wohl nicht gut klar damit… was heißt gut, er kommt gar nicht klar. Aber er ist… da, auch wenn es ihm schwer fällt. Er steht mir zur Seite, und er hat versprochen, auch für dich da zu sein… da ich es ja nicht kann. Ich denke… wir haben früher viel aneinander vorbei geredet, so ab dem Alter, als ich in die Pubertät kam. Du kennst das vielleicht… wenn Kinder sich gegen die Eltern auflehnen. Ich bitte dich an dieser Stelle, sei nicht zu hart zu deiner Mutter in der Zeit; bzw. ich hoffe, du warst es nicht. Sie hatte in ihrem Leben schon genügend harte Zeiten… Mein Vater, nun. Solange ich noch klein war, lief alles glänzend. Ich bewunderte ihn, und er war ein sehr liebevoller Vater. Sehr interessiert… er kümmerte sich um mich, gab mir Rätsel auf, forderte mich auf seine Art, wie das Väter wohl so machen. Ich werde das… bei dir wohl leider nicht machen können… Sayuri meinte, spüren zu können, wie er bei diesem Absatz innegehalten haben musste... genau der Gedanke war ihr auch gekommen, als sie gelesen hatte, was er und sein Vater gemacht hatten. Der Gedanke war ihr schon gekommen, vor zwei Tagen, als sie Heiji mit Takeo erlebt hatte. Sie schluckte schwer, konzentrierte sich wieder auf den Text vor ihren Augen. Aber das... tut jetzt wohl auch nichts zur Sache. Wie gings mit meiner Beziehung zu meinem Vater weiter? Nun... als ich erwachsen wurde, kamen ein paar Differenzen auf, wie wohl in jeder Eltern-Kind-Beziehung. Die erste war wohl, dass ich Detektiv wurde. Er ist auch begnadet, musst du wissen, er wäre ein guter Detektiv, ein sehr guter, sogar. Er ist ein brillanter Denker, ein hervorragender Beobachter. Und in all der Zeit, als ich mich erprobte, mich testete, Herausforderungen suchte und die ersten Erfolge in Sachen gelöste Fälle sich einstellten, hat er sich stets einen Spaß daraus gemacht… mir meine Fehler unter die Nase zu reiben. In jedem Fall, über den wir stolperten, hat er mir gezeigt, was ich übersehen hatte. Ich hielt es für pure Bosheit, zu Teil sogar für Neid, für Missgunst, doch ich hab mich geirrt. Es war seine Art, mich anzuspornen. Er hat mir nie wirklich gesagt, was er von mir hielt, obwohl er doch ein Mann der Worte ist, ein Schriftsteller. Ich dachte deswegen, ich könnte es ihm nicht Recht machen… dachte, ich hätte seine Anforderungen als Sohn nicht erfüllt. Ich hab mich geirrt. Es hätte gut getan, mal ein Wort des Lobes zu hören, aus seinem Mund, aber dazu kam es erst, als es fast schon zu spät war. Leider werde auch ich dir nie… mein Lob aussprechen können, wenn du etwas gut gemacht hast; aber sei dir versichert, ich wäre sehr stolz auf dich. Tatsache ist… ich bin froh, überaus froh, ihn zu haben; er hat seine Sache gut gemacht, als Vater, auch wenn er sich momentan Vorwürfe macht. Er denkt, er habe mich mit Dreizehn, als er also in die Staaten ging, im Stich gelassen. Er glaubt, wäre er hier gewesen, dann würde all das nicht passieren. Willst du wissen, was ich darüber denke? Er irrt. So brillant er ist… hier irrt sein überaus intelligenter Geist. Ich hätte diese Männer verfolgt, egal ob er zu Hause gesessen wäre… ich war mit Ran im Park, was hätte er tun können? Ich wäre deswegen kein anderer geworden… Es kommt leider… wie es kommen muss. Ich hoffe, du kommst also gut klar mit den beiden… Bis dann, Töchterchen. Oder Sohnemann. Mal sehen, wie gut die Intuition deiner Mutter ist. :-) Sayuri klappte das Buch zu, schluckte, rutschte vom Bett. Schaute ihre gelb gestrichenen Wände an, den Fleck in der Ecke… dann ging sie runter, in die Eingangshalle, zog sich ihre Jacke an. Sie wollte zu ihren Großeltern. Zu Oma und Opa Kudô. Irgendwie verspürte sie jetzt das dringende Bedürfnis, mit ihnen zu reden, und sie waren gestern aus den Staaten zurückgekehrt. Sie musste sie jetzt sehen. Sie hatte schon viel zu lange warten müssen. Ran trat in die Eingangshalle, sah ihre Tochter mit dem Buch unterm Arm, als sie versuchte, in ihre Schuhe zu schlüpfen, ohne ihre Hände dabei zu benutzen. „Wo gehst du hin, Sayuri?“ Sayuri blickte sich um, schaute sie an. Angespannt, ja. Ihre Mutter wirkte angespannt… „Oma und Opa.“, antwortete sie dann kurz angebunden, bückte sich wieder zu ihren Schuhen. „Meine Eltern… oder…“, begann Ran langsam, trat einen Schritt näher. Sayuri blickte erneut auf, schüttelte den Kopf, schaute sie misstrauisch an. „Nein. Oma und Opa Kudô. P… Papas Eltern. Ich…“ Ran starrte sie an, sog hörbar die Luft ein. In ihren Augen spiegelte sich leichtes Erstaunen. „Du… du nennst ihn…“ Das Mädchen stieß heftig ihren linken Fuß mit den Zehen am Boden auf, um ganz in den Schuh hineinzurutschen und bereute es umgehend, als pochender Schmerz sich in ihren Zehen einstellte. Dann drehte sie den Kopf, funkelte sie leicht verärgert an. „Ja. Das war er doch, oder? Und ich hätte ihn schon viel früher so nennen können, wenn du mir mal etwas über ihn erzählt hättest, Mama…“ Ran sah sie nicht an. Also war es jetzt soweit; sie waren wieder auf das Thema gestoßen, das sie in diese Situation gebracht hatte. Stockend atmete sie aus, knetete ihre Hände. „Ich konnte nicht.“ „Ach ja?“ Sayuri sah auf. In ihren Augen funkelte Wut. „Ach ja?!“ Sie schrie fast. All der Zorn, den sie seit Tagen in sich trug, kochte in ihr hoch, schäumte über. Sie hatte nie vorgehabt, ihrer Mutter zu sagen, was sie über ihren Vater gedacht hatte, vor diesen Büchern, weil sie ja wusste, ihre Mutter hatte es nicht böse gemeint, indem sie ihr nichts sagte, aber jetzt, angesichts ihrer ándauernden Verstocktheit, verlor sie einfach die Kontrolle über sich. „Weißt du, was ich dachte? Ich dachte, er wäre irgendein Mistkerl gewesen, irgendein Typ, den du geheiratet hast, weil du ihn toll fandest, und der dich sitzen gelassen hat, als du schwanger geworden bist, weil er die Verantwortung nicht tragen konnte, weil er Kinder nicht wollte! Ich dachte, er wäre es nicht wert, diesen Titel zu tragen, Vater! Ich…“ Eine Träne des Zorns verließ ihren Augenwinkel. Ihre Finger krampften sich so fest um das Buch, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. „Wegen dir hab ich ihm so Unrecht getan! Wegen dir! Weil du mir nichts gesagt hast, und auch allen anderen verboten hast, mit mir darüber zu reden! Sogar seinen Eltern, warum haben sie eigentlich auf dich gehört?!“ Ran wurde weiß, als sie das alles hörte. Sie merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich, schämte sich. Und doch konnte sie sich nicht wirklich verteidigen. Sie konnte sie nicht ansehen, und ihr die Gründe nennen, warum es soweit hatte kommen müssen. Denn es gab keine. Dass Sayuri so gedacht hatte, war wirklich allein ihre Schuld. Weil sie mit seinem Tod einfach überfordert war... nach wie vor kam sie nicht klar damit, dass er weg war. „Es war abgemacht, dass ich dir die Sachen erst gebe, wenn du explizit nach ihm fragst. Er wollte es auch so.“ Rans Stimme war kaum mehr zu hören. Sie starrte zu Boden, schwieg. „Aber hat das eingeschlossen, dass keiner je ein gutes Wort über ihn verlieren darf? Ich sehe ein, dass die Geschichte nichts…“, ein Zittern durchfuhr sie, als sie an die Maus dachte, „für kleine Mädchen ist, aber dass ihr nicht ein Wort über ihn verloren habt, nicht eins, das ist krank! Das war bestimmt nicht in seinem Sinn! Erzähl mir nicht, dass er wollte, dass ich ihn für einen Mann halte, der nur auf seinen Spaß, ein schönes Leben, ohne Kinder, ohne Sorgen, ohne Verantwortung aus war und sich aus der Affäre zog, als es ihm zu heiß geworden ist! Das kannst du nicht gewollt haben!“ Sie biss die Zähne zusammen, dass ihre Kiefer schmerzten. „Nicht, wenn du ihn geliebt hast…“ Ran hob ruckartig den Kopf, als kurz eine Flamme von Wut in ihr aufflackerte, aber sie, im Gegensatz zu ihrer Tochter, hatte sich besser im Griff. „Ich habe… habe ihn geliebt! Pass auf, was du sagst und wage ja nie wieder, das anzuzweifeln, hörst du?!“ Verzweiflung und Verletzlichkeit standen in ihren Augen. Sayuri sah es, aber ignorierte es. „Warum dann das alles? Warum lässt du zu, dass ich auf solche Gedanken komme? Denn er war ganz anders…“ Ein Schauer durchlief sie. „Er hat mein Zimmer gestrichen und mir den Teppich versaut, er entschuldigt sich, dass er nicht hier ist, jeden den ich frage, sagt mir, wie sehr er ihm fehlt, und dass ganz besonders du ihn vermisst und immer noch so liebst und dann lässt du zu, dass ich so ein falsches Bild von ihm kriege… ich versteh das nicht. Ich verstehe dich nicht...“ Sayuri schluckte. „So kenne ich dich gar nicht...“ Ihre Stimme verlor sich. Ran blinzelte. „Es tut mir Leid, Sayuri.“ „Das hätte dir mal früher einfallen sollen…“, wisperte sie leise. Ran stand noch lange einfach nur da, nachdem die Tür zugeschlagen worden war. „Ich komme!“, flötete Yukiko, als sie an die Tür eilte. Wer immer auch draußen stand, schien es entweder nicht gehört zu haben, oder es interessierte ihn nicht - denn der Dauerton der Türglocke blieb bestehen. „Ich komme ja!“ Sie verdrehte die Augen. Eigentlich hatte nur eine Person die sie kannte, die Angewohnheit, ihrer Ungeduld durch den vehementen Einsatz der Türglocke Ausdruck zu verleihen. Ihre Enkelin. Und genau die stand auch vor ihr, als sie die Tür aufmachte. Statt in ein einigermaßen genervtes Teenagergesicht zu blicken, musste sie allerdings erstaunt bemerken, dass ihr Ein und Alles aus rotgeweinten, verquollenen Augen zu ihr aufsah. „Yuri-chan, was ist passiert?“ Sie zog das Mädchen behutsam in ihr Haus, das sie und Yusaku sich gekauft hatten, nach Shinichis Tod, um in der Nähe ihrer Enkelin und Schwiegertochter bleiben zu können. „Streit mit Mama.“, murmelte das Mädchen heiser. Sie streifte ihre Schuhe ab und schlüpfte in die Pantoffeln, die extra für sie immer bereitstanden. Ihr taten ihre harschen Worte ihrer Mutter gegenüber eigentlich Leid. Aber ihr Stolz verbot ihr, sich gleich bei ihr zu entschuldigen. Das, was sie getan hatte, konnte sie ihr einfach nicht so leicht vergeben… Yukiko zog die Augenbrauen sorgenvoll hoch, warf ihrem Mann, der hinter ihr in der Wohnzimmertür erschienen war, einen kurzen Blick zu. Ran und Sayuri stritten sich nicht. Nicht so. Eigentlich waren Mutter und Tochter ein Herz und eine Seele, und das war auch gut so. Und dann sah sie es. Das Notizbuch. Und nun wusste sie, was, oder besser gesagt, wer, der Auslöser für den Streit gewesen sein musste. Die Person, die nie gewollt hätte, dass sich seine beiden ‚Frauen’ wegen ihm stritten. Ihr Sohn. Shinichi. Langsam hob sie die Hand an den Mund, drehte sich um, versuchte Fassung zu bewahren. Yusaku, der es ebenfalls bemerkt hatte, trat zu ihr, nahm sie kurz in die Arme, winkte Sayuri, die ihre Großmutter betroffen anstarrte, ins Wohnzimmer. Jetzt konnte auch er sich denken, worüber seine Enkelin und Ran sich gestritten hatten. Ein Blick in Yukikos Augen genügte ihm, um ihm zu zeigen, dass sie das Gleiche dachte. Langsam zog er sie mit sich ins Wohnzimmer, drückte sie in einen Sessel. Sie hatte sich langsam wieder im Griff. Tief atmete sie ein, räusperte sich. „Was… was willst du denn gerne wissen… über Shinichi?“ Sayuri schaute unschlüssig von einem zum anderen. Sie waren etwas bleich im Gesicht, beide. „Ich will euch nicht… bedrängen, wenn es euch zu schwer fällt, dann…“ „Das geht schon in Ordnung, Sayuri. Stell ruhig deine Fragen, welche auch immer du hast.“ Yusaku lächelte sie aufmunternd an. „Ich hab ihm versprochen, dass ich deine Fragen mal so gut wie möglich beantworte, wenn du kommst…“ Yukiko nickte. „Wir beide haben das. Also… was möchtest du gern wissen…?“ Das Mädchen blickte sie an; in ihren Augen lag ein brennendes Flehen, das Yukiko und Yusaku einen Stich versetzte. „Alles… ich will… alles… wissen…“ Sie schluckte. „Wie… wie war er in meinem Alter? Was hatte er für Interessen, außer Krimis…? Und wie… wie war diese Zeit als… als Conan… für ihn? Er schreibt nur, wie es passiert ist, und dass er es gehasst hat, aber wie… der Professor hat gesagt, er wäre danach nicht mehr derselbe gewesen, wer war er also vorher…? Ich…“ Sie unterbrach sich, als sie sah, wie sich ein Lächeln auf die Lippen ihres Großvaters schlich. „Er war wie du. Er stellte auch hundert Fragen auf einmal und ließ einem kaum die Zeit, darauf zu antworten.“ Sayuri wurde rot, murmelte irgendetwas Unverständliches und schwieg, hörte allerdings nicht auf, ihre Großeltern erwartungsvoll anzustarren. Yusaku warf Yukiko einen kurzen Blick zu; sie nickte, und er begann zu erzählen. „Shinichi…“, meinte er, räusperte sich, als er merkte, dass beim Gedanken an seinen Sohn sich doch ein Kloß in seinem Hals bildete, „war bestimmt nicht immer einfach. Ich denke aber, ich kann behaupten, das ist kein Kind jemals für seine Eltern. Du bist es auch nicht.“ Er grinste seine Enkelin an. „Er hätte seine helle Freude an dir gehabt, glaub mir. Nun… Also, wo waren wir… er war nicht immer einfach… einerseits; andererseits hat er es… uns auch zu einfach gemacht. Ich weiß nicht, warum oder wie es kam, aber Shinichi war schon recht früh ein sehr selbstständiger Junge. Zwar mit jeder Menge dummer Ideen im Kopf, aber doch intelligent genug, um zu wissen, welche seiner Ideen er ausführen konnte ohne sich dabei selbst zu schaden; und welche nicht. Er war schon als Kind ein schlaues Kerlchen, hatte einen Hang dazu, viel zu lernen, viel zu lesen und alles zu erforschen, was irgendwie seine Neugier weckte. Wie du.“ Er schaute Sayuri eindringlich an. „Ich hab mir manchen Abend damit um die Ohren geschlagen, mir für ihn ein Rätsel auszudenken. Immer in der Absicht, ihm eins zu stellen, an dem er scheitert, aber das hat er nie getan. Er hat sogar mit sechs Jahren Rätsel geknackt, die für mich bestimmt gewesen wären. Nun gut, den letzten Stichpunkt hat er erst mit siebzehn herausgefunden, aber immerhin; er war wirklich begabt. Und ich war unglaublich stolz auf ihn.“ Ein warmes Funkeln glänzte in seinen Augen. „Als er dreizehn Jahre alt war… nun… da packte Yukiko und mich die Reiselust. Wir wollten weg aus Japan, wir wollten eine Luftveränderung, vor allem ich; ich hoffte auf neue Ideen und Inspiration in Amerika… diesem Schmelztiegel der Kulturen. Er sollte eigentlich mitkommen, ich meine, er war ja erst dreizehn, er war noch ein Kind, aber er weigerte sich. Während der Zeit haben wir zum Teil heftig gestritten. Er brachte uns die unterschiedlichsten Argumente, warum er hierbleiben wollte; um die Schule nicht wechseln zu müssen, wegen der Sprache, wegen der Umgebung; dabei war eigentlich klar, vielleicht in dem Moment gar nicht so sehr ihm, aber mir und Yukiko sehr wohl, dass ihn nur eine Sache in Japan hielt. Eine Person. Ran.“ Yusaku lächelte versonnen. „Er war wohl damals schon hoffungslos verknallt in deine Mutter, aber noch zu pubertär, um das zu begreifen. Aber er setzte sich durch, er blieb. Wir waren zwar verletzt, dass er sich von uns schon soweit abgekapselt hatte, aber wir ließen ihm seinen Willen… wir wollten ihn nicht unglücklich machen. Er blieb also hier, ging zur Schule, kriegte sein Leben selber auf die Reihe. Gut, Professor Agasa half ihm ab und an aus, war da, wenn er ihn mal brauchte…“ Er seufzte. „Um ehrlich zu sein, Sayuri, hab ich mir manchmal, vor allem später, und vor allem in der Zeit als… als… nun ja…“ Yusaku brach ab, seufzte, strich sich über die Augen. „Ich hab mich oft gefragt, ob wir ihn nicht ein wenig allein gelassen haben. Ob wir etwas hätten ändern, verhindern können, wären wir geblieben.“ Langsam ließ er sich in seinen Sessel zurücksinken, schwieg eine Weile, offensichtlich versunken in Selbstvorwürfen. Dann begann er erneut zu sprechen. „Nun, je älter er wurde, desto mehr begannen wir uns aneinander zu reiben, gelegentlich. Er begann, sich von mir abgrenzen zu wollen, und er tat es wohl am meisten dadurch, dass er sich nicht wie ich, irgendwann aus dem Dasein als Detektiv und Helfer der Polizei verabschiedete, sondern dabei blieb. Er wollte die Fälle erleben, sie lösen, Gerechtigkeit bewirken, nicht nur über sie schreiben, so wie ich. Er hat sich das nie ausreden lassen. Um ehrlich zu sein… weiß ich gar nicht mehr, warum ich ihm seine Fehler immer vorgehalten habe, wenn wir mal zu einer Fallauflösung zusammengekommen sind. Immer hab ich ihm zeigen müssen, dass man noch um ein Eckchen weiter denken hätte können. Ich wollte ihn wohl anstacheln, noch besser zu werden, und das wurde er. Aber ich fürchte, dadurch hab ich ihm einen falschen Eindruck davon vermittelt, was ich von ihm hielt.“ Sayuri schluckte, schaute auf ihre Hände. Davon hatte er ihr geschrieben. „Nun, wie war er noch… er war Fußballfan, ja. Hat selber gespielt, in der Mittelstufe; stieg recht bald zum Kapitän der Mannschaft auf, war beliebt und wurde anerkannt. Nun… das war vor seiner Zeit als Conan und als Detektiv. Als er dann seinen ersten Fall gelöst hat, geriet der Stein erst so richtig ins Rollen. Ich denke, ihm hat das auch gut getan, dieses Lob, die öffentliche Anerkennung, auch wenn er ab und an leicht arrogante Anwandlungen kriegte aufgrund des Rummels, den man um seine Person machte. Er war in den Schlagzeilen, man zeigte sein Bild im Fernsehen. Es fing an, als er sechzehn war. Vorher war er beliebt, weil er berühmte Eltern hatte, was ihn störte. Er schloss kaum Freundschaften, nicht vor und nicht nach seinem Durchbruch als Detektiv; er war beliebt, begehrt, er kam gut mit seinen Mitschülern aus, konnte motivieren, das zeigte er in seiner Fußballmannschaft, ja, das schon; aber er ließ nie einen nahe genug ran, um zu sehen, wer er wirklich war. Niemanden außer deiner Mutter, denn sie kannte ihn schon lange genug. Er vertraute ihr. Und wegen dieser… unguten Form von Beliebtheit, sage ich, es war nicht schlecht, dass er selbst etwas erreichte, das ihn auszeichnete. Er trat heraus aus unserem Schatten… machte sich selber einen Namen. Wie gesagt, es ließ ihn manchmal ein wenig kopflos werden, aber das sei ihm verziehen. Er war zufrieden so, er war mit sich im Reinen. Und das machte ihn wohl etwas unvorsichtig. Es war immer alles gut gegangen, egal in welchen Fall er geriet, er kam heil wieder heraus. Bis er auf die schwarze Organisation traf, die sein Leben so gründlich aus allen Fugen riss, dass es ihm wohl manchmal wirklich scheinen musste, als würde nie wieder etwas so werden wie vorher. In gewisser Weise… wurde es auch nie mehr so wie vorher… Er war wieder zum Kind geworden, musste seiner Umwelt, fremden Menschen wie Freunden und letztlich wohl auch sich selbst etwas vorspielen, das so nicht existierte: den Grundschüler Conan Edogawa.“ Er räusperte sich, schluckte. Yukiko warf ihm kurz einen Blick zu; dann ging sie. Er schwieg, bis sie wieder kam, in ihren Armen in Tablett mit Gläsern, Keksen und Saft. Yusaku nickte ihr dankbar zu, griff sich ein Glas und den Saft, goss zuerst seiner Enkelin, dann seiner Frau und schließlich sich selbst etwas ein, bevor er mit seiner Erzählung fortsetzte. „Wir waren nicht oft… nicht oft da, wenn er uns gebraucht hätte, zu der Zeit. Er hatte es wirklich nicht einfach… jedem, das heißt, fast jedem, diese Lügengeschichte aufzutischen, nicht wie er selber handeln zu können, nicht wie er selber reden zu dürfen, so hilflos, so wehrlos zu sein, das… das muss ihn an die Grenze dessen gebracht haben, was er ertragen konnte. Er musste mit ansehen, wie Dinge vor seinen Augen passierten, ohne etwas dagegen tun zu können, weil er körperlich nicht mehr dazu in der Lage war. Er musste mit ansehen, wie er seiner großen Liebe, seiner Ran, so wehtat mit seinen Lügereien, mit seinen Ausreden und Ausflüchten… es war für ihn derart unerträglich, dass er daran dachte, mit ihr Schluss zu machen, damit sie ihn vergaß, und mit einem anderen glücklich wurde. Er wollte unbedingt alles Leid von ihr fernhalten, von allen, die er liebte, immer. Als er es dann schaffte, die Organisation zu sprengen, sie zu besiegen und wieder er selbst wurde… Shinichi Kudô… hatte er sich irreversibel verändert. Er war erwachsen geworden. Er hatte gelernt, wie grausam das Leben sein kann. Er war wohl… demütig geworden. Aber irgendeine Macht hat wohl entschieden, dass er seine Lektion trotz allem nicht gelernt hatte.“ Yusakus Stimme brach, er vergrub seinen Kopf in beide Hände. „Ich werde diesen Abend nie vergessen, als er es uns sagte. Und ich hab ihm vorher noch Vorhaltungen gemacht, was denn nun so wichtig wäre, dass er es uns nicht am Telefon sagen könnte.“ Er stöhnte auf. „Dabei… dabei…“ Yukiko griff ihn am Arm, zog ihn zu sich. „Während der Zeit, die er noch hatte…“, begann nun sie zu reden, „versuchte er, wie auch vorher schon, alles von allen anderen abzuhalten. Er trug seinen Kummer, seine Qual und seine Schmerzen, so er sie hatte, nicht nach außen, wenn er es verhindern konnte. Er wollte nicht, dass jemand seinetwegen litt… aber dadurch machte er sich selber das Leben nicht unbedingt einfach.“ Sie schluckte. „Aber er war sehr tapfer… und ich denke, er hat… hat das Beste aus seinem Leben gemacht, was ihm unter diesen Umständen möglich war. Auch wenn es nicht das Leben war, nicht so ganz… das Leben war… das wir uns für ihn gewünscht hätten.“ Yukiko schluckte erneut, fast krampfhaft, strich sich eine Träne aus dem Augenwinkel, der jedoch gleich eine weitere folgte. Yusaku schwieg, zog seine Frau in seine Arme und streichelte ihr über den Rücken. Sayuri trank ihr Glas leer, beobachtete die beiden, sage nichts. Ihr war unwohl. Es war nur allzu deutlich zu sehen, wie sehr dieses Gespräch ihre Großeltern aufgewühlt hatte, und dass sie der Auslöser dazu gewesen war, bereitete ihr ein schlechtes Gewissen. Deswegen stand sie auf, stellte ihr Glas vorsichtig ab. Sie fühlte, es war jetzt an der Zeit für sie, zu gehen. „Dankeschön“, murmelte sie. Mehr sagte sie nicht; dies war kein guter Zeitpunkt für lange Reden, das spürte sie. Yusaku nickte nur. Blieb sie noch länger, würde ihre Anwesenheit hier… nur zusätzlich Salz in alte Wunden streuen, die eben aufgerissen worden waren. Sie winkte ihnen schüchtern zu, formte mit ihren Lippen ein lautloses ‚Auf Wiedersehen, dann ging sie – machte sich auf den Weg nach Hause. Um weiter zu lesen. Sein letztes Problem -------------------- Hallo, verehrte Leserinnen und Leser! Zuallererst möchte ich mich auch diesmal wieder sehr herzlich bei all denen bedanken, die sich im letzten Kapitel wieder die Mühe gemacht haben, mir ihre Meinung in Form eines Kommentars schriftlich zu hinterlassen… ich danke euch wirklich sehr dafür! ^///_///^ Zu diesem… Kapitel..., der Fallauflösung... bleibt nun zu sagen, dass ich wohl noch nie mit gemischteren Gefühlen ein Kapitel geladen habe… ich bin ziemlich nervös, muss ich wohl gestehen. Ich bin gespannt auf eure Reaktionen… *schluck* In diesem Sinne wünsche ich euch… viel Spaß beim Lesen wär fast ein wenig makaber, wohl aber gute Unterhaltung! Bis nächste Woche, eure Leira PS: Da die Frage mal auftauchte, wie ich mich als Autorin beim Schreiben dieser doch manchmal sehr traurigen Sachen fühle, will ich es hier mal allgemein formulieren, was ich zu dem Thema denke, damit die Frage nicht unbeantwortet bleibt: Ich denke, jeder von uns Hobbyautoren, genauso wie die Professionellen (war es nicht J.K. Rowling, die sagte, sie hätte geflennt, als sie ihre Charaktere umbrachte?), der seine Sache hier ein wenig ernst nimmt, gute Geschichten schreiben will und dem auch etwas daran liegt, dass seine Leser wirklich das mitbekommen, was er übermitteln will, versucht zu verstehen, nachzuvollziehen und nachzufühlen, was er schreibt. PPS: Ja, für all die Holmesfans - Schuldig, der Titel ist geklaut ^^; _______________________________________________________ Kapitel 8: Sein letztes Problem Vergangenheit „Shinichi, beruhig‘ dich…“ Heiji stand da, schaute seinen Freund besorgt an, legte ihm eine Hand auf seine Schulter, drückte sie kurz. „Komm… wir sagen jetzt erstmal Meguré Bescheid, ich geh’ ihn gleich holen, und ich such’ Kogorô wohl auch, wenn ich schon dabei bin… und während ich das tu’, rufst du deine Eltern an… aber beruhig’ dich… bitte… du hilfst ihnen nicht weiter, wennsde durchdrehst.“ Irgendetwas musste geschehen, das wusste Heiji; und Shinichi sah gerade nicht sonderlich handlungsfähig aus, also lag es wohl an ihm, das Zepter in die Hand zu nehmen und ein paar Aktionen einzuleiten. Er seufzte leise, warf seinem Freund einen fragenden Blick zu, überlegte, ob seine Vorschläge so angekommen waren, wie er sie geäußert hatte. Shinichi stand da, an der Tür gelehnt, die Finger gegen das Holz gepresst, als ob er seine Hände darin verschwinden lassen wollte, kreideweiß ihm Gesicht und schwer atmend. Er starrte ins Leere, in seinem Kopf herrschte Chaos, ihn regierte die Angst. Angst um seine Frau und sein ungeborenes Kind. Heiji ahnte, wie es um ihn stand, es war schließlich nicht zu übersehen; aber es half ihnen nicht weiter, die Zeit lief ihnen davon; also räusperte er sich, schaute ihn streng an. „Kudô, reiß dich zusammen, verdammt!!“ Shinichi fuhr hoch, aus seiner Lethargie gerissen durch Heijis scharfe Stimme, fixierte ihn dann langsam. „Hastde mich verstanden?“, hakte Heiji nach, wollte wissen, ob er sich nun noch einmal wiederholen musste oder nicht. Zu seiner Erleichterung nickte Shinichi, ging von der Tür weg. „Ja. Entschuldige, ich…“ „Schon gut.“ Heiji nickte ihm kurz zu, dann griff er nach der Türklinke. „Be… beeil dich.“, murmelte Shinichi, als er an ihm vorbeitrat. Heiji eilte auf den Gang hinaus, als ihm ein Gedanke einfiel; er drehte sich abrupt um. „Shinichi?“ Der Angesprochene trat auf den Gang hinaus. „Wir suchen Saijo.“ Heiji holte Luft; dann nickte er, begann zu rennen. Shinichi ging schweren Schrittes zurück ins Büro, ließ sich auf der Kante seines Schreibtisches nieder, zog sein Handy aus seiner Sakkotasche und tippte mit zitternden Fingern die Nummer seiner Eltern ein. Was hab ich getan…? Was hab ich getan… Man könnte meinen, ich hätte aus all den Dingen nichts gelernt… Aus Conan nichts, nicht das Geringste, gelernt… Dann wurde er aus seinen Gedankengängen gerissen, als sich eine Stimme an seinem Ohr meldete. „Kudô?“ Shinichi schluckte, als er die Stimme seines Vaters am anderen Ende der Leitung vernahm. „Ich… ich bin’s. Könnt… ihr… du und Mama… ins Präsidium kommen? Ran… Ran…“ Er brach ab. „Was ist mit Ran?“, hakte Yusaku alarmiert nach. „Ist was mit…? Hat sie...? Ist was… mit dem Baby…?“ Shinichi würgte, um den Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, hinunterzuschlucken. Es misslang ihm gründlich, denn er ahnte nur zu gut, woran sein Vater dachte, und ihm nun etwas noch viel Schlimmeres mitzuteilen, fiel ihm schwer. „Sie… nein. Sie… Sie wurde…“ Seine Stimme brach. „Shinichi…?“ Yusaku wurde unruhig. „Shinichi, langsam, nur die Ruhe... Was ist mit Ran?“ Shinichi holte Luft. „Sie wurde entführt. Vom Perlenmörder, weil ich… weil ich weiß…“, brach es aus ihm hervor. Yusaku hielt den Atem an, schloss kurz die Augen. „Wo bist du?“ „Noch auf dem Revier…“ Er hörte ihn schwer schlucken. „Bleib wo du bist. Wir kommen.“ Er hatte gerade aufgelegt, als die Tür aufflog, gegen die Wand krachte, dass der Putz von der Mauer bröckelte, an der Stelle, wo der Knauf gegen die Mauer geprallt war. Kogorô stürmte herein, blass wie ein Bettlaken, schaute wild um sich, entdeckte dann seinen Schwiegersohn und stürzte näher. „Heiji… hat… stimmt es?! Shinichi, stimmt es?!“ Shinichi antwortete nicht, reichte ihm nur wortlos den Brief. Kogorô überflog ihn, seine Lippen wurden dünn wie ein Strich, nahezu blutleer, als er seine Kiefer zusammenpresste. Dann warf er das Blatt weg, packte Shinichi im Kragen. „Was hast du getan?! Das ist deine Schuld! Hättest du mal den Fall abgegeben…!“ Shinichi war nur für Sekundenbruchteile erschrocken; dann wurde er erstaunlich ruhig. Sein Atem ging stoßweise, als sie sich gegenüberstanden, er Kogorôs Zorn erwartete. Er wehrte sich nicht, im Gegenteil - ihm war Kogorôs Reaktion höchst willkommen; denn sie entsprach dem Gefühl, das er selber hegte. Schuld. Er war schuld. Und jede Strafe war ihm recht. Kogorô ließ ihn langsam los, als er ihm ins Gesicht schaute, genau diese Schuld in seinen Augen las. Er seufzte laut, fuhr sich hilflos übers Gesicht, sammelte sich. Er hatte sich gehen lassen, das wusste er. Shinichi konnte nichts dafür, versuchte er sich klarzumachen. Er konnte nichts dafür, dass dieser Psychopath sich ihn ausgesucht hatte, als er überlegt hatte, wem er das Leben zur Hölle machen wollte. Für Rans Entführung konnte er nichts. Tief atmete er ein, dann wieder aus, schaute Shinichi ins Gesicht, als er sprach. „Entschuldige, bitte. Mein Ausbruch war... überflüssig, das… das hier muss für dich ohnehin die Höchststrafe sein… genauso wie für mich... aber die Schuld kann ich bei dir wohl nicht suchen...“ Er lächelte hilflos. Shinichi schüttelte langsam den Kopf. „Nein, hör zu... du hast schon Recht, ich… ich bin…“, begann er leise. Kogorô schnitt ihm das Wort ab. „Nein, bist du nicht. Du kannst nichts dafür…“ „Doch, doch… das kann ich.“ Shinichi schüttelte den Kopf erneut, heftiger, als Kogorô erneut etwas erwidern wollte, hob er eine Hand, bedeutete ihm zu schweigen und fuhr fort. „Ich wusste doch, was das für ein kranker Irrer ist… ich wusste es doch… ich hätte aufpassen müssen, ich hätte den Fall abgeben müssen…“ Shinichi schluckte. Er merkte, wie ihm das letzte Bisschen Farbe aus dem Gesicht wich, als er sich zu dem Geständnis durchrang, das er gleich machen würde. „Kogorô, du hast gesehen, an wen der Brief war. An mich. Ich frage dich… was glaubst du jetzt… an wen waren die anderen…? Und glaubst du… dass das alle waren…?“ Shinichi dachte an die Hochzeitsglückwunschkarte, seine Stimme verlor sich, beschämt wandte er den Blick ab. Wenn Ran was geschah… Wenn dem Baby was geschah… Dann war er Schuld. Er allein. Soweit hätte er es nie kommen lassen dürfen. Nie, nie, nie! Ich hätte auf sie hören sollen… Ran, ich hätte auf dich hören sollen, aufhören, als ich es noch konnte… wenn auch aus einem anderen Grund, als du dachtest… Er strich sich mit beiden Händen übers Gesicht, versuchte Luft zu holen, als er merkte, wie ein unsichtbares Band sie ihm immer mehr abschnürte, ihm den Atem raubte. Ran… Kogorô starrte ihn an, wie vom Donner gerührt, als die Erkenntnis ihn traf wie ein Schlag ins Gesicht. „Du elender…!!!“ Mehr sagte er nicht. Sei Brustkorb begann sich hektisch zu heben und zu senken, er schrie, holte mit seiner rechten Hand aus – Shinichi starrte ihn an, wartete – - und Kogorô ließ die Hand wieder sinken. Er schaute ihn an, seufzte laut, einmal mehr, bedachte seinen Schwiegersohn mit einem gequälten Blick. Er wusste nicht, was er tun sollte. Einerseits hätte er Shinichi den Hals umdrehen können; er hatte den Kommissar belogen und Ran gefährdet; Ran, und sein Kind. Sein eigenes Kind, sein eigen Fleisch und Blut. Man hätte glauben mögen, dass ihm seine Familie wichtig war. Dass er das, was ihm lieb und teuer war, nicht gefährdete. Dass er nicht so leichtfertig das, was ihm in seinem Leben etwas bedeutete, aufs Spiel setzen würde. Andererseits… Shinichi hatte nicht aus böser Absicht gehandelt. Er hatte wohl auch geglaubt, hätte er aufgegeben, wäre seine Familie trotzdem noch nicht sicher gewesen. Diese Situation war schon mehr als Strafe genug für ihn. Kogorô wusste, dass Shinichi, wenn es sein musste, für Ran sterben würde. Ohne zu zögern. Hier so machtlos zu sein, musste ihn wahnsinnig machen. Sie wegen sich in Gefahr zu wissen… Er hatte einen Fehler gemacht, und dafür zahlte er. Er hatte mehrere Fehler gemacht, in seinem Leben… und er zahlte für jeden. Und der Preis war stets horrend. „Wissen wir wenigstens, wer sie hat…?“, fragte er also tonlos, massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Stirn, als sich ein dumpfes Pochen in seinem Schädel einstellte. „Mein Mausebein…“ Seine Stimme klang kläglich, fast wimmernd, wie immer, wenn Ran in Gefahr war, wenn es ihr schlecht ging. Shinichi schaute ihn voller Reue an. Er wusste genau, wie sehr ihr Vater an Ran hing, wusste genau… wenn Ran etwas zustieß, würde das nicht nur sein eigenes Leben irreparabel kaputtmachen. Dann räusperte er sich, versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. „Saijo. Officer Saijo. Er muss mich und Heiji gehört haben, als wir geredet haben, muss erkannt haben, dass ich es weiß und ist panisch geworden…“ „Wie gefährlich ist er?“ Shinichi schluckte. „Sehr gefährlich. Er ist… psychisch krank. Dissoziative Identitätsstörung.“ „Was…?“ „Persönlichkeitsspaltung…“ „Also unberechenbar.“ „Genau das.“ Shinichi hielt sich die Hand vor Augen. Sie schwiegen sich an, minutenlang. Minuten, die ihnen beiden endlos vorkamen, als sie warteten, bis die Polizei eintraf, bis man endlich handeln konnte. Es ging alles viel zu langsam… „Ich weiß nicht, was ich mache, wenn er ihnen was antut, Kogorô…“ Shinichis Stimme war kaum zu hören. Der ältere Mann starrte ihn an, blinzelte. Aus Shinichi sprach die pure Verzweiflung, das war ihm klar; und doch wusste er, dass jedes Wort ernst gemeint war. Und er hatte… eine gute Ahnung, was Shinichi anstellen könnte, träte der schlimmste Fall ein. Dasselbe wohl wie er… an seiner Stelle. Ran saß auf einem Sofa, die Hände hinter ihrem Rücken gefesselt, beobachtete ihren Enführer. Yoshifumi Saijo ging vor ihr auf und ab, rastlos wie ein wildes Tier, gefangen in einem zu kleinen Käfig. „Er hat mich. Er weiß, wer ich bin. Wer er ist… er hat uns…“ Immer weiter murmelte er zusammenhangsloses Zeug vor sich hin, schüttelte den Kopf. „Du wirst sterben.“, wisperte er leise. „Sterben, sterben, sterben…“ Ran zuckte zusammen, schloss die Augen, um sie im nächsten Moment überrascht aufzureißen. „Nein, hör auf! Das werde ich nicht!“, hörte sie ihn schreien. Saijos Augen starrten wütend ins Leere, Ran konnte die Spiegelung seines Gesichtes in der Fensterscheibe sehen, vor der er stand. Er hatte sie Vorhänge zugezogen, bis auf einen kleinen Spalt, aus dem er hinausspähte. Ran stutzte. Offensichtlich sprach er gar nicht mit ihr, wie sie zuerst angenommen hatte. Nein. Er sprach mit sich selbst. Und das ganz offenbar, seit sie hier angekommen waren. Er hatte auf sie gewartet, im Foyer des Präsidiums; hatte gesagt, er brächte sie zu Shinichi, der bei einer Konferenz wäre… und hatte sie dann im Fahrstuhl betäubt, gerade als sie sich zu wundern begann, warum er in die Tiefgarage fahren wollte. Sie war aufgewacht, auf dieser Couch, gefesselt an Händen und Füßen mit Handschellen und ein großes Stück Klebeband über dem Mund hinderte sie daran, auch nur einen Laut von sich zu geben. Und seitdem… schien er mit sich selbst zu sprechen. Er wartete. Und während er wartete, darauf, dass seine Verfolger die richtigen Schlüsse zogen… redete er. Ran schauderte, als sie ihn mit sich streiten hörte. Er war ihr unheimlich. Sie hatte noch nie einen Menschen mit Persönlichkeitsspaltung getroffen, und mittlerweile war ihr klar, dass sie auch lieber nie einen getroffen hätte. „Doch, das wirst du… Ich werde nicht sterben, er wird mich nicht kriegen, wird er nicht, nein, wird er nicht… aber du… du bist viel zu nett, das weißt du doch schon lange… all die Jahre, das Literaturstudium, ich bitte dich, was nützt einem sowas denn im wahren Leben? Zugegeben, eine nette Idee für dieses kleine Szenario, aber er war schlauer als du…“ Ran legte den Kopf schräg, beobachtete ihn genau, konnte fast sehen, wie er seine Persönlichkeiten änderte. Sie fragte sich, ob er sich dessen eigentlich bewusst war. Dann redete er weiter, und sie hörte zu. „Das ist alles deine Schuld, du wolltest wissen, ob ich das kann… ob ich dazu in der Lage bin… nicht einfach nach meiner Perle zu suchen, sondern auch gleich noch ihn herauszufordern, ihn zu schlagen… du bist Schuld! Wenn, dann sollen sie dich bestrafen!“ Er jammerte. „Sterben wirst du!“, fauchte er sein Gesicht im Spiegelbild an. „Sterben wirst du, du elender Feigling, der sein eigenes Gesicht nicht ertragen konnte, bis er zu einem Schönheitschirurgen ging, sterben wirst du!“ Dann fiel die vor Hass und Wut verzerrte Maske von ihm ab, wich einem weinerlichen, angsterfüllten Ausdruck. „Nein...“, wimmerte er kläglich. Ran schluckte. Ihre Lage war schlimmer als sie dachte; sie war nicht nur in der Gewalt eines Irren, nein… sie war in der Gewalt eines persönlichkeitsgestörten Irren. Und dann sah sie, wie er zusammenzuckte, als draußen ein Wagen stehen blieb. Und noch einer. Noch einer. Blaulicht flammte zuckend immer wieder durch den kleinen Spalt in den Vorhängen. Ihr Herz machte einen Sprung, Angst und Erleichterung kämpften in ihr um die Vorherrschaft. Shinichi. Er war gekommen. Sie schaute vom Fenster zu Saijo, der mit angstgeweiteten Augen nach draußen starrte. „Er hat uns gefunden…“, flüsterte er nur. Dann eilte er mit großen Schritten zu ihr, griff dabei nach dem Messer auf dem Tisch, starrte sie ausdruckslos an, zog sie hoch, presste sie mit einem Arm an sich und setzte ihr die Klinge an den Hals. So erwartete er sie. Kommissar Meguré teilte seine Leute auf, als sie aus den Wagen stiegen; harsche, knappe Befehle durchschnitten die Luft wie Pistolenkugeln. Die Nerven aller waren zum Zerreißen gespannt; schließlich ging es hier nicht nur um die Frau eines ihrer Mitarbeiters; nein - eben diese Frau wurde auch noch von einem ihrer Kollegen gefangen gehalten. Tatsache war… in den Minuten, als Heiji und Shinichi Meguré über die Situation berichtet hatten, hatten sie ihm gleich alles erzählt. Sie beide waren sich dessen vollkommen bewusst, dass das noch ein Nachspiel haben würde; allerdings waren sie nicht umhin gekommen, ihn um ein vertrauliches Gespräch zu bitten, und ihm alles zu erzählen was sie wussten, wenn sie die Situation nicht noch weiter verschlimmern wollten. Es musste geklärt werden, wie es zu Rans Entführung hatte kommen können… das wussten sie beide, und deshalb hatten sie sich zu diesem Schritt entschlossen. Allerdings war Meguré als einziger, neben Kogorô, noch eingeweiht worden, was ihren Schwindel betraf. Alle anderen ging das nichts an. Der Kommissar war weiß vor Zorn geworden, aber hatte sich zurückgehalten, angesichts der Dringlichkeit der Sache und Shinichis bleichem Gesicht. Etwa eine knappe halbe Stunde später standen sie also nun vor Officer Saijos Haus, das nun gesichert und umstellt wurde. Er besaß ein kleines Einfamilienhaus in einem Tokioter Vorort; sie hatten, nachdem sie keinerlei Hinweise über den Ort hatten, wohin er Ran verschleppt haben könnte, beschlossen, hier mit ihrer Suche anzufangen. Und wie es aussah, war das nicht die schlechteste Idee gewesen. Saijo hörte einen Schuss, dann die Haustür an die Wand krachen, als sie aufgebrochen und an die Mauer geschlagen wurde. Er wich mit seiner Geisel zurück, stand in der Mitte des Raums, zog seinen Revolver, und erwartete ihn. Er enttäuschte ihn nicht. Shinichi rief nicht nach ihr, er wusste, sie war hier, mit ihm. Er lief durch den Flur, nachdem man die Haustür aufgebrochen hatte, riss die Wohnzimmertür auf, ohne auf die Schreie Megurés zu hören, dass er wahnsinnig wäre, ohne Deckung das Zimmer stürmen zu wollen. Tatsache, es war ihm egal, was mit ihm passierte. Ihn interessierte nur Ran. Ran... und das Kind. Als er sie sah, erstarrte er; blieb auf der Stelle stehen, scheinbar wie angewurzelt, blickte geradewegs in Rans angsterfüllte Augen, registrierte dann die Mündung von Saijos Dienstwaffe, die auf ihn zielte - und wurde wütend. Wütend, weil dieser Kerl es wagte, auf ihn zu zielen, und noch wütender, weil er seine Frau, seine Ran… so verängstigte. Er wusste, sie fürchtete sich. Vielleicht nicht in erster Linie um sich, aber sehr wohl um ihr Baby, das sie so unbedingt wollte… und nicht zuletzt wohl auch um ihn. Saijo lächelte, neigte leicht den Kopf. „Guten Tag, Herr Detektiv. Ich habe auf sie gewartet.“ Er winkte Shinichi mit der Waffe weiter in den Raum. „Treten Sie ein, treten Sie ein…“ Dann ließ er die Waffe sinken, schaute sie nachdenklich an. „Bitteschön, ich weiß, dass Sie aus Überzeugung keine tragen, also nehmen Sie doch meine…“ Er warf ihm die Waffe zu. Shinichi fing sie auf, schaute seinen ehemaligen Kollegen verwirrt und fassungslos an. Saijo nickte, sein Gesichtsausdruck war sanft, gesetzt. Ran fragte sich, was er nun vorhatte; gerade eben hatte er selber Angst, umgebracht zu werden, und nun gab er seine Waffe an Shinichi? Die Erkenntnis, warum er das tat, traf sie in den nächsten Sekunden wie ein Schlag ins Gesicht. Sie… wusste, Shinichi würde nicht schießen. Saijo wusste das wohl auch. Und sie fürchtete, dass er damit auch wusste, was er mit diesem Wissen über ihren Mann anrichten konnte. Sie schluckte, versuchte sich seinem Griff zu entwinden, was ihr einen Tritt gegen ihr Wadenbein einbrachte. Sie stöhnte auf; Shinichi trat vor, wurde allerdings von der Tatsache abgehalten, weiter zu gehen, als er sah, wie der Mann das Messer in seiner Hand fester gegen den Hals seiner Frau drückte. „Halt still!“ Ran spürte Saijos heißen Atem an ihrem Ohr, das Messer an ihrem Hals. Seine Stimme klang ärgerlich. Sie konnte nichts tun, und diese Ohnmacht machte sie fast wahnsinnig. Alles, was ihr vergönnt war, war zuzuschauen und auf ein Wunder zu hoffen, das sie alle hier heil hier rausbrachte. Dann riss Saijo sie aus ihren Gedanken. Der Polizist starrte Shinichi an, verzog seine Lippen zu einem hässlichen Grinsen. „Und nun, lieber Herr Detektiv, schieß, wenn du sie retten willst. Schieß…“ Er lachte bösartig, schien sich köstlich zu vergnügen. Shinichi blickte ihn alarmiert an; der Kerl war wirklich krank, das war offensichtlich. Zuerst warf er ihm eine Waffe zu, eine geladene, wie er feststellte, dann wechselte er vom Sie zum Du… Der Ton aus seinen Briefen war nun genau wieder zu erkennen. Das war er… Der Perlenmörder, der Verfasser dieser Schreiben. Ganz wie er befürchtet hatte, litt er unter einer Persönlichkeitsstörung. In seinem Köper wohnten mehrere Männer mit dem Namen Yoshifumi Saijo, und jeder von ihnen hatte ein anderes Gesicht. „Wir wissen beide, wie das für mich ausgehen wird… Ich hatte gehofft, wir könnten dem hier entgehen, aber du wolltest es ja anders. Ich wollte dich nur leiden sehen, wie ich gelitten habe… aber du siehst ja, wohin uns dein Ehrgeiz gebracht hat. Du lässt mir keine Wahl, als dich vor diese Wahl zu stellen… Also erschieß mich am Besten gleich, Detektiv. Wenn du dich traust… Wenn dir deine Moral nicht im Weg steht.“ Er lachte, laut und sichtbar amüsiert, als seine Stimmung von einem Wimpernschlag auf den nächsten umschlug. Plötzlich wurde er ernst. „Du weißt, dass man mich töten wird, hierfür. Du weißt das, Kudô, nicht wahr? Du schlauer, schlauer Detektiv.“ Seine Stimme klang heiser, er blinzelte, eine Träne rann ihm aus dem Gesicht. Shinichi starrte ihn erschrocken an. Er hatte Angst. Angst, dass der Mann, den er als Officer Saijo kennen gelernt hatte, komplett die Kontrolle über sich verlieren konnte. Und er war immer noch wütend… und fassungslos. Er konnte nicht glauben, was hier gerade passierte. Das war so… absurd. Warum war ihnen noch nie früher aufgefallen, dass mit Saijos Kopf etwas nicht stimmte? War er so gut gewesen, im Wechseln seiner Rollen? Hatte er im Dienst immer umschalten können? Warum hatte das nie jemand bemerkt? Wann war er so geworden? Etwa, nachdem man seine Freundin umgebracht hatte…? Diese Annahme lag nahe… Saijo zischte, riss ihn damit aus seinen Gedanken. „Du sollst nicht denken. Wenn du so ein Gesicht ziehst, denkst du wieder, und das sollst du nicht. Es bringt dir auch nichts… durch denken allein richtest du hier nichts mehr aus. Du sollst handeln. Schieß! Schieß, wenn du deine Frau retten willst… schieß… denn ich weiß, wenn du sie nicht rettest, wirst du nicht mehr glücklich; und ich weiß, wenn du tötest, wirst du deines Lebens ebenfalls nicht mehr froh. Und genau das ist es, was ich will. Ich will dein Unglück.“ Er lächelte, fast bedauernd. „Eigentlich wollte ich nur, dass du merkst, wie es ist, das zu verlieren, was einem am Meisten bedeutet. Nachdem du mir zu nahe kamst, sah ich das als einzigen Weg, mein Ziel noch zu erreichen. Aber auch hier bist du nun zu schnell… deswegen darfst du nun… selber entscheiden, in welcher Weise du dein Leben kaputt haben willst.“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Das kann nicht Ihr Ernst sein…“ „Oh doch.“ Saijo lachte bitter. „Oh doch. Das Leben war immer so unfair zu mir… im Gegensatz zu dir. Ich will nur die Balance wiederherstellen. Das war alles, was ich wollte.“ Shinichi schluckte, starrte ihn immer noch an. Die Wut begann langsam die Oberhand zu gewinnen bei dem Kampf, den seine Gefühle in seinem Inneren gegeneinander ausfochten. Wut, dass man ihm das antat. Wut, dass man seiner Frau, dass man Ran das antat. Er hielt die Waffe mittlerweile in beiden Händen, die Finger um den Griff geklammert, den Zeigefinger seiner rechten Hand um den Abzug gekrümmt. Shinichi zitterte am ganzen Körper, aber seine Hände waren ruhig. Aus seinen Augen sprach Verzweiflung, und Saijo, der Ran immer noch an sich gedrückt hielt, ihr das große Messer an die Kehle gelegt hatte, lachte ihn aus, schüttelt mitfühlend den Kopf. „Ach Kudô… du traust dich das wirklich nicht.“ Ein Tropfen Blut rann über Rans Hals, sickerte in den weißen Kragen ihrer Bluse, breitete sich aus in den weißen Fasern; aber sie gab keinen Laut von sich. Shinichi atmete aus, pfeifend, die Wut in ihm kochte wie nie zuvor. Es war nicht die Angst, die ihn zittern ließ. Es war Zorn. Mittlerweile waren auch Meguré, Inspektor Takagi, Heiji, Kogorô und sein Vater ins Zimmer gekommen. Sie alle zielten ebenfalls, mit Ausnahme seines Vaters, der unbewaffnet war, auf Saijos Kopf; der größte Teil seines Körpers war durch Ran verdeckt, die er vor sich hielt. „Waffen fallen lassen!“, kreischte der Polizist panisch, als er sie sah. Seine Augen waren irr aufgerissen, sprangen von einem Gesicht zum anderen. „Nur er hat das Recht! Er soll es machen!“ Ran wimmerte auf, als er das Messer noch fester an ihren Hals presste. Ein weiterer Tropfen Blut rann ihr über die Haut, wurde vom weißen Stoff ihrer Bluse aufgesogen. „Ich will, dass er es tut! Also werft eure Waffen weg, sonst bring ich sie gleich um…“ Er kicherte. „Schneide diesem hübschen Täubchen sein hübsches Kehlchen durch, ohne dass sein Retter auch nur die Chance hatte, sein Vögelchen zu befreien…“ Ran lief ein Schauer über den Rücken, als der heiße Atem ihres Entführers ihren Hals streifte, aber sie hielt still. Die Polizisten taten, was er ihnen sagte. Shinichi drehte sich nicht um, sagte nichts, schaute Saijo nur an, versuchte, ihn zu verstehen. „Warum tust du das…“, murmelte er dann, bemühte sich, nicht zu schreien, um ihn nicht zu provozieren. „Warum bringst du mich nicht einfach um, wenn du ein Problem mit mir hast?“ „Weil das nicht meine Absicht ist.“ Saijo war weiß im Gesicht geworden, starrte ihn an. „Ich sagte doch schon, ich will, dass du leidest. Du hattest es immer schön. Immer. Jeder kennt deine Geschichte, eine einzige Erfolgsstory... Shinichi Kudô, Sohn reicher Eltern, musste nie einen Finger krumm machen, um zu bekommen, was er wollte. Du siehst gut aus, du hattest nie Schwierigkeiten, ein Mädchen zu finden, du hättest jede haben können, und die Schönste, Intelligenteste, Treueste hast du dir ausgesucht. Du musstest nie jeden Yen umdrehen, du hast ein perfektes Leben… ich will, dass du leidest… leidest wie ich gelitten habe… immer noch leide.“ Eine weitere Träne rann ihm über die Wange. „Ich hatte es nie leicht. Nie. Ich war hässlich, ich war nur ein Mitteklassekind, ich durfte mir für alles und jeden ein Bein ausreißen. Aber ich habs geschafft. Ich bin bei der Polizei gelandet, und ich hab sie gefunden, die Liebe, wie du ja weißt. Du hast echt gut recherchiert, was das betrifft, und ich kann dir den weiteren Papierkram sparen, ja, die Bardame, die in der Messerstecherei umkam, war meine Freundin. Als ich sie kennenlernte, dachte ich, nun würde mein Leben perfekt. Sie liebte mich, so wie ich war. Sie war ein Engel… mein Engel. Und dann hat man sie mir genommen! Sie wurde umgebracht, wie du ja weißt! Ermordet, eine Unschuldige, einfach erstochen, und der Schuldige nie gefasst! Ich war am Boden zerstört… ich habe ihren Mörder gesucht, aber nie gefunden, genauso wie ihr alle nicht. Und du hast nicht mal gesucht. War ja nicht dein Fall, nicht wahr?“ Er schaute ihn vorwurfsvoll an. „Aber gut, nach einer Weile dachte ich, es muss weitergehen. Ich dachte... vielleicht mögen die Menschen, die Frauen... mich lieber, wenn ich besser aussehe. Vielleicht würde ich dann wieder finden, was ich verloren hatte, dieses wunderbare Gefühl, geliebt zu sein. Also hab ich mich operieren lassen, und siehe da... es war kein Problem mehr, eine Frau kennen zu lernen. Aber keine war wie sie... “ Er holte Luft, in seine Augen trat ein irres Funkeln. „Ich kannte dich, dein Leben, wer kannte dich nicht... aber bis dahin warst du für mich ein Mensch wie jeder andere. Bis man sie ermordet hat. Denn an dem Tag, als die Akte geschlossen wurde, die Mordakte meiner Freundin... ungelöst zu den Akten gelegt hat… hörte ich von eurer Heirat... von euren Plänen, von deinem Freund da...“ Er lächelte. „Davon, wie sehr ihr euch liebt, davon, wie glücklich ihr wärt, dass ihr seelenverwandt seid. Ich hatte meine Seelenverwandte gefunden und verloren... Das war nicht fair. Warum konntest du alles haben, und ich nichts? Aber gut; ich dachte, vielleicht finde ich sie noch mal, wenn ich nur genug suche. Jemanden wie sie. Also habe ich gesucht, gesucht… aber ich habe nie wieder eine wie sie gefunden, alle diese Austern waren so hohl, alle so hohl. Die erste...“ Er schluckte. „Die erste, die ich tötete, war die Kellnerin in Osaka... ich lernte sie an unserem zweiten Tag unseres Aufenthalts dort kennen. Sie sah ihr so ähnlich, aber als ich mich mit ihr traf, war sie so anders. Und weil sie so war... so oberflächlich... musste sie sterben. Ich machte nicht einfach Schluss, wie mit denen vor ihr; nein, sie musste sterben, weil ich so verbittert war, so zerfressen von Neid. Sie sah meiner großen Liebe so ähnlich, und war doch so anders, das war nicht in Ordnung. Ja, schau nur, das ist mir sehr wohl bewusst...“ Ein heiseres Lachen verließ seine Kehle. „… was meine Motive waren. Das wusste ich. Ich sortierte aus. Jemand, der nicht so war wie sie, der so oberflächlich war,…“ Er vollendete den Satz nicht, schaute sie alle nur bedeutungsschwer an. „Und wie ihr auch wisst, ich gab nicht auf, ich suchte weiter...“ Saijo hielt inne, presste Ran noch fester an sich. „Sie ist schwanger, nicht wahr? Du... bist so beneidenswert. Du und deine heile Welt… weißt du das überhaupt zu schätzen? Verdammt, ich konnte das nicht ertragen, dein Glück zu sehen, und ich wusste, ich mach dich kaputt, wenn ich dich vor einen unlösbaren Fall stelle, dir Moralapostel die Schuld gebe für weitere tote Mädchen… ich schlug zwei Fliegen mit einer Klatsche.“ Er schluchzte trocken auf, krallte seine Hand noch fester um Rans Taille. „Sie haben den Tod vielleicht nicht verdient, aber sie waren falsch, so falsch, deshalb verdienten sie das Leben noch weniger. Sie liebten nur mein Aussehen, meinen Beruf, vielleicht noch. Keine war eine Perle wie meine Kazumi. Sie hat mich geliebt, egal wie ich aussah. Sie hat mich um meiner selbst Willen geliebt, wie dieser Engel hier dich liebt, und ich kann das nicht ertragen! Ich hatte also meinen schönen Plan, wenigstens ein wenig Seelenfrieden zu bekommen, indem ich das Gleichgewicht wieder ein wenig herstellte zwischen uns, und dann kommst du, und es gelingt dir, was ich nie erwartet hätte… du schnappst mich! Bah! Mein schöner Plan gescheitert!“ Er atmete keuchend ein und aus, starrte auf den Teppichboden. „Nicht nur, dass du das Glück wohl gepachtet hast, du bist auch noch schlauer als ich… du lässt nicht zu, dass ich dich quäle, du hast herausgefunden, wer ich bin… und so dachte ich…“ Saijo lächelte, nickte ihm zu. „Also dachte ich, ich muss dich ein für alle Mal unglücklich machen, wenn du es schon nicht zulässt, dass ich meinen Kummer dadurch ertränke, meine Perlen zu verschenken und dir zusehen darf, wie du um all die Mordopfer trauerst, weil du dich so schuldig fühlst… Ich will, dass du vor den Ruinen deines Leben stehst, wie ich, du sollst so ein elendes Leben führen wie ich, dir soll Ungerechtigkeit widerfahren, wie mir… Ich wollte sie einfach umbringen, aber ich war wieder nicht schnell genug… sie tut mir auch Leid, irgendwo, aber es muss sein…“ Saijo unterbrach sich selbst, als er Shinichis Reaktion bemerkte. Der Detektiv starrte ihn an, blinzelte. In ihm kochte die Galle hoch, als er ihn so reden hörte. Dann ließ er die Waffe sinken. Und fing an zu lachen. Lachte, laut und voller Bitterkeit, dass es allen Anwesenden im Raum eiskalt den Rücken hinab lief. „Bitte, was?“, schrie Shinichi ihn dann an, sein Gesicht wutverzerrt. „Was willst du?!“ Das war so absurd… er wollte sein Unglück, und wusste gar nicht… Wusste gar nicht… Hatte keine Ahnung. Shinichi bekam fast keine Luft. Yusaku schluckte. Shinichi, tu das nicht. Lass ihn das nicht sehen… Heiji sprach aus, was er sich dachte. „Kudô… mach das nicht… du tust dir damit keinen Gefallen...“ Shinichi drehte sich nicht um, als er sprach, mit leiser Stimme, kaum wahrnehmbar. „Halt den Mund, Heiji. Er soll’s ruhig wissen. Er soll ruhig sehen, wie perfekt mein Leben ist…“ Shinichis Augen verengten sich zu Schlitzen, ein kaltes Glitzern begann in ihnen zu funkeln. Er trat einen Schritt vor. Saijo wich unwillkürlich einen Schritt zurück, zog Ran mit sich. „Du… hältst dich wohl für sehr schlau… für sehr intelligent, nicht wahr? Du hast ja Recht, ich brauchte keine Schönheitsoperationen, um so auszusehen, wie ich aussehe, und ja, ich hab die beste Frau geheiratet, die ich finden konnte für mich und ja, meine Eltern haben unverschämt viel Geld, was mich aber, ehrlich gesagt, herzlich wenig interessiert… aber glaub nicht, wage es nicht zu glauben, dass mein Leben schön ist… oder perfekt.“ Seine Stimme war beängstigend leise geworden. „Wage es ja nicht…“ Etwas Drohendes haftete diesen Worten an. Er straffte die Schultern, starrte seinem Gegenüber ohne zu blinzeln ins Gesicht, sein Ausdruck fast steinern. Gefühllos. „Du hast geglaubt, du hast dich gründlich schlau gemacht, über mich, nicht wahr? Du hast auch viel herausgefunden, dass darf man dir nicht absprechen. Du hast mich charaktermäßig hervorragend eingeschätzt, du hast all meine Achillesfersen gefunden, du hast mich eigentlich da, wo du mich haben willst… du siehst, wie mich mein Glaube an meine Schuld was den Tod deiner Opfer betrifft, in den Wahnsinn treibt, mich nicht ruhen, nicht essen, nicht schlafen lässt… und du willst mir jetzt den Gnadenstoß geben, indem ich entweder zuschaue, wie du meine Frau und mein Kind umbringst, weil ich es nicht schaffe, einen Mord zu begehen, oder du lässt mich dich töten, und weißt, dass ich damit in meinem Leben nicht mehr froh werden kann… nicht wahr? Du willst Gerechtigkeit.“ Er spuckte das Wort förmlich aus. „Gerechtigkeit, ja… wie gesagt, du hast fein über mich recherchiert, mein geehrter Polizist, ganz toll… wirklich. Hervorragende Polizeiarbeit.“ Er applaudierte. Meguré hinter ihm wurde weiß. So hatte er seinen Freund noch nie erlebt. So bitter. So zynisch. „Aber weißt du, ein Detail hat der ach so unbesiegbare, unfehlbare, unnachahmliche Perlenmörder bei den Nachforschungen und dem Erstellen des Profils seines kleinen Spielzeugs vergessen.“ „Shinichi, lass das.“ Yusaku wollte vortreten, ihn am Arm packen, ihn zur Raison zwingen. Shinichi hörte das Geräusch, wandte sich um. „Lass mich. Er soll es ruhig wissen. Er soll wissen, wie schön mein Leben ist. Wie glücklich…“ Auf sein Gesicht trat ein Ausdruck von Qual und Schmerz, der sie schaudern machte. „… ich bin.“ Er drehte sich wieder um, fixierte Saijo aufs Neue. In seinem Blick lag die blanke Wut. „Du mieser kleiner Feigling wagst es, über mich zu urteilen… über mich zu richten… du hast doch keine Ahnung, wie mein Leben ist… es ist die Hölle… denn sag mir…“ Shinichi hob den Kopf. Emotionslos ruhten seine Augen auf seinem Gegenüber, der, ob der unerwarteten Reaktion seines Opfers langsam nervös wurde. „Sag mir, wie, denkst du, lebt man, wenn man weiß, dass man in knappen fünf Monaten sterben wird?“ Er ging einen Schritt näher. „Wie, glaubst du, fühlt man sich, wenn man weiß, dass man die, die man liebt, die, die einen selbst lieben, bald allein lassen muss? Ihnen Kummer zufügt, Schmerzen? Was meinst du, wie fühlt sich das an?“ Seine Stimme wurde immer lauter. „Was glaubst du, du ignoranter Bastard, was hält einen da noch? Wenn du weißt, dass die Frau, die man liebt, ein Kind von dir bekommt, und du es niemals sehen wirst? Dass du sie allein mit der Aufgabe zurücklassen musst, aus ihm einen anständigen Menschen zu machen? Was denkst du, wie es sich anfühlt, wenn man vor physischen und psychischen Schmerzen nicht mehr ein noch aus weiß, nicht weiß, wohin oder an wen man sich wenden kann, wenn einem das Wissen um den eigenen, baldigen Tod zu viel wird…? Was denkst du, würdest du da noch glauben, die Welt wäre schön? Oder gerecht?! PERFEKT? Und dann kommst du und ziehst so eine Show ab? Entführst meine Frau und mein Kind, um mich zu quälen, weil du denkst, mein Leben wär zu gut für mich?!“ Er schrie, warf die Waffe gegen die Wand, voller Zorn. Es krachte laut, als Metall auf Stein knallte, Putz bröckelte aus der Wand, dann klapperte es, als der Revolver auf dem Boden auftraf. Saijo ließ das Messer fallen, wich zurück. Er war kreideweiß im Gesicht. „Das hast du bei deinen Recherchen wohl nicht mitgekriegt? Offensichtlich ist dir da was durch die Lappen gegangen… Oder wie seh ich das?“ Shinichi lächelte bitter, fast grausam, hob den Finger drohend. „Denkst du jetzt immer noch, meine Welt ist schön für mich? Willst du tauschen?“ Er ließ die Hand sinken, versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu kriegen. „Glaub mir, du hast keine Ahnung…“ Saijo sank zu Boden. Shinichi atmete schwer. „Das wusste ich nicht.“, wimmerte der Mann. In wenigen Minuten war aus dem hochmütigen Verbrecher, dem skrupellosen Serienmörder, ein gebrochener Mann geworden. Ran wich ab von ihm, stürzte fast; Kogorô eilte vor, zog sie mit sich, außerhalb seiner Reichweite, befreite sie von ihren Fesseln und dem Knebel. „Das wusste ich nicht!“ Seine Stimme klang bettelnd. Shinichi starrte ihn kühl an. „Das entschuldigt nichts.“ Er schüttelte den Kopf, langsam, steckte seine zitternden Hände in seine Hosentaschen, schluckte bitter. „Das entschuldigt nicht all die toten Mädchen, das entschuldigt nicht, dass du meine Frau heute zu Tode erschreckt hast, und mir in den letzten Wochen in meine Hölle noch zusätzlich Benzin gegossen hast… das entschuldigt gar nichts.“ Er schaute blicklos an ihm vorbei, als Meguré und Takagi ihn hoch zerrten. Dann wandte er sich ab, schluckte hart. Ran wand sich aus dem Griff ihres Vaters, näherte sich Shinichi. Vor ihm blieb sie stehen, lange, sagte nichts. Man sah ihm an, wie sehr ihn sein Ausbruch gerade eben fertig machte. Dass er sich schämte, so die Beherrschung über sich verloren zu haben. Sie strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn, streichelte ihm über die Schläfe, sachte, immer wieder. „Du hättest das nicht…“, flüsterte sie dann. "Du hättest nicht..." Er schüttelte schwerfällig den Kopf. „Ich hatte keine Wahl.“, hauchte er. Er war kalkweiß im Gesicht, seine Unterlippe bebte. „Ich… bin nicht stolz drauf, aber ich konnte doch nicht… ich konnte nicht zulassen, dass er dich umbringt. Hätte ich ihn erschossen, wäre immer noch die Gefahr gewesen, dass er dich… mit sich reißt… dich und…“ Er schaute zu Boden, kämpfte gegen die Übelkeit, die sich in ihm aufbaute, fröstelte. „Und ich bin doch kein Mörder… Ran… ich bin doch kein… ich kann das nicht…“ Ran schluckte, dann zog sie ihn an sich, vergrub ihr Gesicht an seinem Hals, drückte ihn so fest es ging an ihren Körper. „Ich hatte keine Wahl…“ Langsam merkte sie, wie seine Starre sich löste. Eine Träne verließ ihren Augenwinkel, als er seine Arme um sie schlang. Heiji, Kogorô und Yusaku standen da, schwiegen sich an. Bewegten sich erst, als Ran Shinichi aus dem Zimmer, aus dem Haus, raus auf die Straße zog. Sie wussten alle… wussten alle, das Shinichi hier keinem etwas vorgemacht hatte. So sah es momentan für ihn aus… sein Leben. Shinichi schluckte, starrte in den Himmel. So tief hatte er nicht blicken lassen wollen. In dem Moment hatte er nicht mehr an all die anderen gedacht, die das alles mitanhörten. Er hätte sich gewünscht, sie hätten das alles nie erfahren… Shinichi wandte sich um, wollte etwas sagen, irgendetwas, um den Eindruck, den er erweckt haben musste, zu ändern, die Betroffenheit, die er bei all den anderen ausgelöst hatte, abzuschwächen. Aber die Blicke von Meguré, Takagi, Kogorô, Heiji und seinem Vater sagten alles… nicht ein Wort, dass er jetzt von sich gegeben hätte, hätten sie ihm geglaubt. Und so ließ er es, schwieg. Schwieg. Schwieg. Es war Abend, mittlerweile, und Ran saß im Wohnzimmer, gehüllt in eine Decke, schaute fern, alleine, versuchte, sich abzulenken. Zu entspannen. Dass er den Raum betreten hatte, merkte sie zuerst gar nicht. Sie hatte mit ihm nicht mehr geredet, seit sie heimgefahren waren; er hatte geschwiegen, und sie wollte ihn nicht zum Reden drängen. Er hatte wohl für heute schon genug gesagt. Und so saß sie hier, im Wohnzimmer, vor sich eine Tasse heiße Schokolade und sah sich einen romantischen Film an. Shinichi war in sein Büro verschwunden, was er dort gemacht hatte, wusste sie nicht, aber als sie die Tür zu fallen gehört hatte, hatte sie gewusst, er wollte nicht gestört werden. Und sie akzeptierte das, auch wenn sie sich Sorgen machte. Auch wenn sie ihn gerne bei sich gehabt hätte, nach diesem Tag. Sie erkannte, wann sie ihn allein lassen musste. Sie wusste, das tat er nicht aus Egoismus… sondern weil ihn die Schuldgefühle quälten, und damit musste er erst fertig werden. Das akzeptierte sie. Doch nun war er gekommen. Sie fuhr hoch, stand auf, als sie ihn im Türrahmen erblickte. Das Geräusch, das der Stoff machte, als er sich die Falten seines Jacketts in seiner Armbeuge an einander rieben, als er sich am Türstock abstützte, hatte sie aufhorchen lassen. Nun stand sie da, schaute ihn an, wartete. Wartete. Er kam langsam näher, den Blick auf den Boden geheftet, bis er vor ihr stand. Als er ihr so nahe gekommen war, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte, blieb er stehen, hob den Kopf, schaute sie lange, lange an. Und dann sprach er. „Ich will es sehen, Ran.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Wispern, aber die Sehnsucht, die in ihr mitschwang, war deutlich zu hören. Er sah sie scheu an, dann wandte er den Blick ab, starrte wieder auf den Teppich. Sie sah, wie er mit sich rang, um seine Fassung kämpfte. „Ich will es noch sehen, bevor ich gehe… meinst du, mir ist das noch vergönnt? Mein… mein Kind noch in den Armen zu halten, bevor…?“ Er hob die Hand und streichelte ihr mit den Fingerspitzen sanft über den Bauch. Ran atmete langsam ein, schluckte schwer. Sie schaute ihn durchdringend, ließ seinen Blick nicht los, als sie ihre Hände hob und auf seine legte, damit sie auch da blieb, wo sie war. Sie konnte es kaum fassen. Es war das erste Mal, dass er sich dazu hinreißen ließ… sich dazu hinreißen ließ, Gefühle für sein Kind zu zeigen. Diesen Wunsch zu äußern musste ihn viel gekostet haben, sie wusste, er war kein Utopist was seine Lebenserwartung betraf. Und sie wusste auch, woher das nun rührte. Ihm war heute klar geworden, was er verlieren hätte können… er hatte einsehen müssen, dass ihm sein Baby nicht so egal war, wie es ihm Recht wäre. Und dass… es zu sehen, ein Ziel wäre, für das sich das Kämpfen noch lohnen würde. Sie ließ ihren Kopf gegen seine Stirn sinken, Tränen begannen, ihr über ihre Wangen zu laufen. Er schaute sie erstaunt, fast erschrocken an, gab ihr einen Kuss auf die Stirn, zog sie mit seiner freien Hand näher an sich. „Hab ich… was Falsches…?“ Sie schüttelte vehement den Kopf. „Nein. Nein! Ganz sicher nicht.“ Ihre Stimme bebte. „Ich hatte so gehofft, dass du endlich…“ Shinichi schluckte, verstand, was sie sagen wollte. „Ich wollte nicht…“, murmelte er leise, „zu nahe kommen, zu sehr involviert werden, weil ich weiß, dass es… es hinterher nur noch schlimmer machen wird, wenn ich mich jetzt reinsteigere. Aber… mir ist klar geworden, was ich verpasse, wenn ich mir die Gelegenheit entgehen lasse, dir jetzt ein guter Ehemann und… werdender Vater zu sein… solange ich noch kann. Das ist ein Glück… ich sollte mir das nicht nehmen, nur weil ich Angst habe vor dem, was danach kommen könnte.“ Er schluckte hart. „Ich liebe dich… und ich liebe… unser Kind. Ran. Und… ich würde so gern … ich würde es so gerne sehen. Glaubst du, das könnte gehen? Es wären gut drei Monate länger…“ Shinichi schluckte, ließ seinen Kopf an ihre Schulter sinken. Sie streichelte ihm durch die Haare. „Lass es uns versuchen. Lass es uns… einfach versuchen…“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Wir haben schon so viel geschafft. Das schaffen wir auch noch.“ Entschlossenheit lag in ihrer Stimme. Er seufzte leise, dann strich er ihr die Tränen von den Wangen, gab ihr einen Kuss auf die Lippen. „Ich bin so froh, dass euch nichts passiert ist… ich hätte nicht gewusst, was ich…“ „Schhhh…“ Ran schüttelte sacht den Kopf, legte ihm einen Zeigefinger auf die Lippen. „Es ist vorbei. Denk nicht mehr dran. Komm…“ Ran zog ihn mit sich aufs Sofa, hüllte sie beide in die Decke und schmiegte sich an ihn, genoss das Gefühl von Sicherheit, dass er ihr gab. Sie dachte noch lange nach, als sie so in seinen Armen lag. Über das, was passiert war… das was er gesagt hatte… und hoffte, hoffte so sehr, so sehr, dass sie ihm sein Baby noch zeigen konnte. Das ihm wenigstens dieser eine Wunsch noch erfüllt werden würde. Wenigstens das noch. Bitte… Schwarze Tage ------------- Seid gegrüßt, meine lieben Leserinnen und Leser, seid gegrüßt! Vielen, vielen Dank für die zahlreichen Kommentare zum letzten Kapitel! Es ehrt mich, dass ihr... die Lösung des Falls gut fandet. Ja... irgendwann musste es mal aus ihm raus. Ich dachte auch, ich kann ihn das nicht ewig in sich hineinfressen lassen, und die Situation schien geeignet, ihn mal ein bisschen ausrasten zu lassen. Damit ist der Fall nun zu Ende... das heißt, ganz zu Ende noch nicht, denn es bleibt ja noch die Frage, wo die Tatwaffe jedesmal hinverschwunden ist ;D In diesem Sinne wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen, ich denke... das Kapitel ist... ziemlich emotional, wenn man es mal vorsichtig ausdrücken will. *hust* Also dann! Gute Unterhaltung, bis nächste Woche! Liebe Grüße, eure Leira :D _________________________________________________________________________ Kapitel 9: Schwarze Tage Gegenwart Guten Tag… Hier, mein sehr geehrtes Töchterchen, oder auch mein hochgeschätzter Sohn, gebe ich dir eine Lektion, die du dir merken solltest: Das Leben ist nicht fair. Hört sich grausam an, ist es auch; und was es noch grausamer macht, ist, es ist wahr. Nun; aber haken wir das fürs Erste ab. Manchmal gibt es doch noch Gerechtigkeit… oder zumindest so etwas in der Art. Sayuri schluckte. Es war früher Nachmittag, und sie hatte sich gefreut, endlich in Ruhe in seinen Aufzeichnungen schmökern zu können, nachdem sie am Vormittag wie auf Kohlen stundenlang in der Schule gesessen war… Aber das hier hörte sich keinesfalls unterhaltsam an. Es war nicht derselbe Plauderton wie immer. Irgendetwas musste passiert sein, an dem Tag, als er das hier geschrieben hatte… soviel war nach den ersten Worten schon klar. Sie holte Luft, drückte sich tiefer in die Kissen des Sessels, in dem sie kauerte, zog ihre Beine an. Ich hab wirklich lange… lange überlegt, ob ich dir das hier überhaupt aufschreiben sollte, weil es… mit Erinnerungen verbunden ist, die ich eigentlich lieber gleich wieder vergessen wollen würde, aber da ich das Thema in einem der vorangegangen Einträgen angerissen hatte, denke ich, bin ich dir schuldig, dir auch den Rest nicht vorzuenthalten. Schon allein, weil es auch in Bezug auf… meine Einstellung zu dir einen gewissen Einfluss hatte, aber dazu dann später. Es geht hier nun also… es geht um den Fall. Den Serienmörder. Du erinnerst dich? Sayuri nickte unbewusst. Die gute Nachricht ist, seit heute sitzt er hinter Schloss und Riegel. Wir konnten ihn endlich festsetzen, und nicht nur ich bin deswegen froh und erleichtert… Nun bin ich offensichtlich arbeitslos, weil ich morgen bei Meguré antanzen und meine Kündigung unterschreiben werde… aber jetzt kann ich das ruhigen Gewissens tun, weil ich erledigt habe, was noch zu erledigen war. Also kann ich mich jetzt um andere Dinge kümmern, die auch noch auf mich warten. Aber… nun, erstmal geht es um den Abschluss des Falls. Eigentlich könnte ich hier aufhören, und gleich zum Ende gelangen, aber ich denke… vielleicht interessiert es dich, wie ich herausgefunden habe, wer er ist, Kraft meiner außergewöhnlichen Brillanz… Due to my extraordinary brainpower, wie Sherlock Holmes sagen würde. Das Mädchen zog die Augenbrauen hoch, starrte kurz mit nachdenklicher Miene an die Wohnzimmerwand, seufzte. Eigentlich wäre der Vergleich mit seinem Idol doch etwas Witziges… aber irgendwie lockerte diese Phrase das alles nicht im Geringsten auf. Er klang etwas bitter… bedrückt. So, als hätte er sich etwas vorzuwerfen. Als wäre etwas passiert, dass er so nie haben wollte. Es war zwar deutlich herauszulesen, wie erleichtert ihr Vater über den Abschluss des Falls war; erst jetzt wurde ihr langsam klar, wie groß die psychische Belastung gewesen sein musste für ihn… Aber richtig fröhlich oder gar stolz klang er nicht. Der Fall war zu Ende. Aber was war passiert, das ihm immer noch zu schaffen machte? Sie suchte mit ihren Augen die Stelle, wo sie abgebrochen war und las weiter. Ich muss… dir wohl einfach erzählen… wie das alles dann doch… ein mehr oder weniger unschönes Ende, allerdings mit einer wohl wirklich… großen… Erkenntnis, genommen hat. Ich hoffe, du kommst damit klar, dass ich mich jetzt mal vor dir so derart ausschütten muss. Eigentlich ist mir das auch nicht Recht, denn du solltest meine Probleme nicht hören. Da ich aber wohl alles in allem ein einziges Problem in deinem Leben bin… kommt es wohl auf die paar nicht an… und in deiner Zeit… spielt das alles ohnehin schon alles keine Rolle mehr. Schon lange nicht mehr… du musst dir also keine Gedanken darüber machen. Ich muss hier nur mal was loswerden, und… die, mit denen ich in dieser Zeit reden könnte, hab ich heute schon genug vor den Kopf gestoßen. Ich will sie nicht noch weiter beunruhigen. Also. Fangen wir von vorne an, beim Fall an sich. Einige junge Frauen wurden ermordet, wie du ja weißt. Sie waren immer um die zwanzig Jahre alt, hatten langes, schwarzes Haar und arbeiteten als Kellnerinnen oder Barkeeperinnen, um sich ihr Gehalt aufzubessern. Sie alle wurden dadurch getötet, indem man ihnen die Halsschlagader durchtrennte. Alle immer in der Nacht von Sonntag auf Montag, immer um Mitternacht… Der Mörder hinterließ immer Perlenschmuck bei ihnen; kein Mord deutete auf Kampfspuren hin, also schlossen wir daraus, dass er die Opfer kannte, und sie wiederum ihn. Sie hatten ihm vertraut, und er nutzte dieses Vertrauen aus, brachte sie hinterlistig um… Wie du ja weißt, hat er mir Briefe geschrieben. Daraus schloss ich, dass es jemand aus meinem Umfeld sein musste, denn er wusste Dinge, von denen er als Außenstehender eigentlich nichts wissen konnte… Von Rans und meiner Hochzeit, von Rans Schwangerschaft, später… er kannte mich, mein Verhalten, meine Freunde. Er kannte mich viel zu gut. Als wir also wegen einer weiteren Mordankündigung einen polizeilichen Großeinsatz ausführten, wurde klar, dass es einer der drei Polizisten sein musste, der mit mir und Heiji in dem Lokal war, das wir beschatten sollten; denn es war unser Lokal, in dem der Mord geschah. Unser Lokal. Alle drei verloren wir kurz vor der Tat aus den Augen, und kurz nach der Tat waren sie wieder da. Sie alle drei kannten mich natürlich, schließlich waren wir alle im Morddezernat beschäftigt… und ein anderer Polizist war nicht vor Ort, auch kein anderer Bekannter von mir, ausgenommen Heiji, von dem wir wohl beide ausgehen, dass er kein Mörder ist. Sayuri schluckte. Schon wieder so ein Anflug von Humor, der gar nichts Spaßiges an sich hatte. Die Tatwaffe war in allen Fällen ein ziemlich großes Messer, und das war es, was uns die Aufklärung so schwer machte; wir wussten nicht, wo der Mörder das Messer gelassen haben könnte, nach seinem Mord. Wir wussten nicht, wie es sein konnte, dass es nicht auftauchte, dass außer der Blutlache um die Leiche nirgendwo Blut nachzuweisen war. Es war nie ein Messer aus der Küche der Lokale und Bars; und es wurden auch auf keiner Toilette, keinem Waschbecken und in keinem Abfluss Blutspuren gefunden, die auf eine Säuberung des Messers zurückzuführen wären, und auch in der Kanalisation, in den Abfalleimern und Müllcontainern war kein Messer zu finden. Das hier führte uns nicht weiter. Also versuchten wir, uns auf die Personenprofile zu konzentrieren. Alle drei waren auf ihre Weise verdächtig; allerdings nicht auf den ersten Blick. Man muss dazu wissen, dass der Schnitt, der den Opfern den Tod brachte, sehr präzise ausgeführt worden war; dass der Perlenmörder, so war sein Spitzname, pflegte, Zitate über Perlen zu hinterlassen, an den Tatorten manchmal, immer aber in seinen Briefen; und eins der Zitate wies darauf hin, dass der Mensch, der dieses Zitat ausspricht, keine Schönheit wäre; wörtlich lautete es: Sie lachten über mich und sagten, ich sei nicht gerade schön; ich gab ihnen zurück, in den Austern, die auch nicht schön wären, steckten Perlen. Die anderen waren: Perlen bedeuten Tränen. Wenn du dir eine Perle wünschest, Such sie nicht in einer Wasserlache. Denn wer Perlen finden will, muss bis zum Grund des Meeres tauchen. Ein Optimist ist ein Mensch, der ein Dutzend Austern bestellt, in der Hoffnung, sie mit der Perle, die er darin findet, bezahlen zu können. An der Krone funkeln die Perlen nur und freilich nicht die Wunden, mit denen sie errungen ward. Wie ein Meer sind Königsgnaden: Perlen fischt man, wo es ruht, aber hüte dich vor Schaden, wenn ein Sturm erregt die Flut. Das alles sind Zitate aus der klassischen Literatur. Nun ist es also so; einer der Verdächtigen hat Medizin studiert, was für die Tötungsart und deren Ausführung spricht; der andere hat Literaturgeschichte und Philologie studiert, was für die Zitate spräche; der dritte war nun… nicht besonders schön, wie ihn auch eins der Zitate beschreibt. Es galt also nun unter all diesen Verdächtigen den herauszufinden, der auch wirklich der Täter war. Und das ohne Tatwaffe. Wir recherchierten also, hauptsächlich Heiji und ich. Wir hielten unseren Verdacht, so gut es ging geheim, dass der Mörder ein Polizist war; schnüffelten ein wenig im Lebenslauf unserer Kandidaten herum. Dann kam der nächste Brief , nach dem Mord in der Bar, der den nächsten Mord ankündigte. Wir haben… diesmal unsere drei Männer beschattet, in Zweierteams. Shiho und Agasa, deine zwei Opas, Heiji und ich. Und nun… leider gingen unsere drei Beschattungsobjekte zusammen einen heben. Du kannst dir denken, wie wir geflucht haben. Wie sollten wir jetzt herausfinden, wer der Mörder ist? Das Lokal war proppenvoll, so dass wir unsere Verdächtigen sehr schnell aus den Augen verloren haben. An diesem Abend geschah auch tatsächlich wieder ein Mordanschlag. Allerdings konnten wir diesmal verhindern, dass die junge Frau starb; aber der Täter hatte sich in einen Mantel gehüllt, ein Kapuzencape. Das bewies, was wir ahnten; dass er sich so vor Blutflecken schützte, die ihn verraten konnten. Und… verhinderte auch gleichzeitig, dass man sein Gesicht sehen konnte. Ich war der, der ihm nachgelaufen war. Und ich sah das Messer… als er der Frau damit den Hals durchschneiden wollte. Das silberne Aufblitzen im Mondschein… wie die Frau plötzlich zusammenbrach… Ich werde das nie vergessen können. Ich hab nur noch auf sie gestarrt… mitbekommen, wie der Täter flüchtete, aber ich konnte nicht erkennen, wer es war, es war zu dunkel, das Cape hatte sein Gesicht verhüllt… es… ich konnte ihn nicht aufhalten, ich hab daran auch nicht gedacht, ich rannte zu der Frau. Sie lebte noch. Ich hatte ihn doch wohl soweit überrascht, dass er nicht richtig geschnitten hat, aber sie verlor dennoch viel Blut. So viel Blut… Ich… dieser Ausdruck in ihren Augen, diese Angst… Ich kümmerte mich um sie, versuchte, die Blutung zu stillen, wobei mir mein Vater half, der dann ebenfalls angerannt kam; irgendwann dann kam endlich auch der Krankenwagen. Eigentlich geb ich das nicht gern zu, aber ich stand wohl doch irgendwie unter Schock, an diesem Abend… es ist alles schief gelaufen, was schief laufen konnte, nur eines hatten wir doch geschafft… es gab kein neues Todesopfer. Die Frau überlebte. Sie trägt heute eine große Narbe; aber sie ist davongekommen. Sie lebt. Nun… nach diesem Abend ging es natürlich weiter mit Ermittlungen, fieberhafter als je zuvor, und im Zuge dessen stieß ich auf einen weiteren Hinweis. Einer unserer Verdächtigen hatte vor einem halben Jahr seine Freundin bei einer Messerstecherei in einer Bar verloren. Sie war die Bardame gewesen. Ich hatte so etwas in der Art schon lange vermutet, aber jetzt hatte ich den Beweis für das Motiv; und noch eine Entdeckung machte ich… derselbe Polizist hatte sich vor ein paar Monaten einer Operation unterzogen. Er hatte sich sein Gesicht verändern lassen. Es war der Mann, der das Literaturgeschichtsstudium beendet hatte. Er war vorher ‚nicht schön’ gewesen. Und die Methode, wie er seine Opfer umbrachte, war der angeglichen, wie seine Freundin ermordet worden war. Es passte alles. Einfach alles. Nur beweisen konnten wir es nicht. Ich erklärte es Heiji, was ich wusste; alles bis auf den Namen und die Sache mit der Operation. Das wusste ich zwar, aber das zu erzählen, dazu kam ich nicht mehr. Mich beschlich so ein Gefühl… Wir waren im Büro, ich war mitten in meinen Ausführungen, als mir auffiel, dass eigentlich deine Mutter mich hätte abholen kommen sollen; aber sie kam nicht. Sie kam nicht! Sie hätte schon längst da sein sollen, aber sie war es nicht. Und dann sah ich zur Tür; dort lag ein weiterer Brief. Vom Perlenmörder. In ihm stand das letzte Zitat. Es war klar, was es bedeutete… er hatte an der Tür gelauscht, und wusste, wie es um ihn stand. Er hatte Angst, und war zu allem fähig. Würde alles tun, was er tun musste, um sein Ziel noch zu erreichen. Der Mann hatte dich und deine Mutter entführt, als er erkannte, dass er so gut wie überführt war. Er war verzweifelt, er wollte sein kaputtes Leben dadurch aufwerten, indem er ein anderes Leben auch ruinierte. Meins. Wir fuhren also mit der Polizei zum Haus unseres Literaturfreundes um deine Mutter zu befreien… und dich. Als wir ankamen… als ich ins Wohnzimmer lief… stand er da… stand da… Ran… sie war gefesselt, geknebelt, und er hielt ihr dieses Messer… dieses Messer an den Hals. Er sagte, er hätte mich erwartet, und warf mir seine Waffe zu. Du musst wissen, ich trug nie eine Pistole, keinen Revolver, ich wollte keine Schusswaffe haben… ich konnte schießen, ja. Ich tat es auch, wenn ich musste, aber ich könnte nie jemanden umbringen damit, und deshalb wollte ich auch keine Waffe ständig bei mir haben. Der Perlenmörder… Officer Saijo, wie er eigentlich hieß… stellte mich vor die Wahl, entweder ihn zu erschießen oder zuzusehen, wie er Ran… und dich… tötet. Sayuri glitt das Buch aus den Händen. Sie saß da, ihr Brustkorb hob und senkte sich hektisch. Mittlerweile war ihr klar geworden, warum ihr Vater nicht einfach grenzenlos erleichtert sein hatte können, dass der Fall beschlossen war. Sie wusste zwar, dass sie es offensichtlich alle heil überstanden hatten, aber sie konnte sich ausmalen, wie diese Stunden für ihren Vater hatten sein müssen. Wie die Erinnerung ihn, als er das hier alles aufgeschrieben hatte, immer noch gequält hatte. Warum, so fragte sie sich jedoch, hatte es ihr dann eigentlich unbedingt erzählen wollen? Sie schluckte, merkte, dass ihre Kehle ausgetrocknet war, holte sich aber nichts zu trinken, sondern griff nach dem Buch, schlug es wieder auf. Sie biss sich auf die Lippen, als ihr Blick über die nächsten Zeilen glitt. Halte mich für wen oder was du willst, aber konnte ihn nicht erschießen. Nicht einmal dann. Nicht einmal, als er drohte, euch umzubringen. Ich frag mich selber, was mit mir los war… eigentlich sollte die Entscheidung doch klar sein, aber ich bin… bin einfach nicht zum töten gemacht. Abgesehen davon, dass ein Restrisiko für euch blieb… ein nicht zu verachtendes Restrisiko, dass er Ran doch noch umbringt… Ich sollte aufhören, mich zu verteidigen. Nun… natürlich konnte ich aber auch nicht zulassen, dass er euch tötet… Ich wusste nicht, was ich tun sollte, um ehrlich zu sein. Ich weiß nicht, ob ich ihn noch erschossen hätte, wäre dann nicht das passiert, was sich in den nächsten Minuten abgespielt hatte. Ich kann es dir wirklich nicht sagen. Ich will auch gar nicht darüber nachdenken… Ich hab ihn also gefragt, in meiner… Zerrissenheit, in meiner Verzweiflung, warum er das tat… warum er nicht einfach nur mich umbringen wollte, wenn er doch ein Problem mit mir hatte. Und dann erklärte er es mir. Erklärte mir, warum er das tat, warum er euch… umbringen wollte, warum er all die Mädchen ermordet hat. Er wollte wirklich, dass ich unglücklich bin, weil ich es seines Erachtens zu schön hab. Gefeiert, gebildet, berühmt, geliebt, geachtet… wohlhabend. Er wollte nur das. Nicht meinen Tod. Sondern mein Unglück. Mein Leid. Er wusste, ich könnte nicht mehr glücklich sein, wenn ich Ran sterben lasse, und dich, und er wusste, ein Mord würde mich ebenfalls zugrunde richten. Ich weiß nicht, wie man beschreiben kann, was in diesem Sekunden mit mir passiert ist. Hab ich die Nerven verloren, meinen Verstand? Auf alle Fälle die Kontrolle über beides… Als er mir das eröffnet hatte, ist es mit mir durchgegangen. Ich verlor die Beherrschung über mich, über das, was ich sagte und tat. Ich hab ihm seine Waffe entgegengeschleudert, ich war so wütend… ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben so wütend gewesen zu sein. Da stand er… dieser… dieser… Bastard… und behauptet, mein Leben wär zu gut für mich. Der Kerl hatte doch keine Ahnung! Nicht den blassesten Schimmer…! Wie das ist… wie das ist, wissen zu müssen, nicht nur, dass man stirbt, sondern wann man stirbt… Und das nicht so bald ist, dass man es gleich hinter sich hätte, sondern erleben darf, wie der Abschied, der Schmerz sich über Monate zieht… Wenn man richtig Zeit hat, zu sehen, zu erleben, was man alles hinter sich lassen muss, verliert, … und doch so bald schon, zu bald, dass man soviel nicht mehr erlebt. Wie kann er da… wie kann er es wagen, mir da mein Leben noch mehr ruinieren zu wollen… Er hat nur gesehen, wie erfolgreich ich bin… was für eine wunderbare Frau ich hab… dass ich mir keine finanziellen Sorgen machen muss… er sah nur das… Er hat tatsächlich geglaubt, er hätte so gut über mich recherchiert, aber das Wichtigste hat er nicht herausgefunden. Er stand da, mit einer Dreistigkeit, einer Ignoranz, in seinen Worten, setzte Ran ein Messer an die Kehle, ich hab echt geglaubt… ich dreh gleich durch… Das konnte doch nicht wahr sein… nach allem was ohnehin schon passiert, bleibt mir wohl wirklich nichts erspart. Nun… Ich... ich weiß immer noch nicht, wie das passieren konnte… warum ich so viel erzählt hab… warum ich so geschrien hab, so aus der Haut gefahren bin… wahrscheinlich tat ich es, weil es wohl wirklich die einzige Chance war, euch zu retten, ohne zum Mörder zu werden… ich… ich hab ihm erzählt, was ich allen anderen nie erzählt hab, meine Sichtweise zu meiner Situation, wie das alles ist für mich, ich hab viel zu tief blicken lassen. Ich hab mich so geschämt hinterher, ich hätte mich besser im Griff haben sollen, aber ich konnte nicht mehr… diese Angst um euch, die Wut auf ihn, die Frustration über mein Leben, das alles…gab mir den Rest, in diesem Minuten. Nun, damit hatte er nicht gerechnet. Das hat ihn so… überrannt… dass er die Geiselnahme aufgab. Ich glaube, ich tat ihm Leid. Makaber, oder? Er hat sich sogar entschuldigt hinterher… aber was bringt das noch? Die Mädchen werden davon nicht mehr lebendig. Rans Angst, die sie heute aushalten musste, kann man damit auch nicht mehr ungeschehen machen. Es hätte sonst was passieren können… sie hätte… hätte…dich… Sayuri sog scharf die Luft ein. Sie wusste genau, an was er gedacht hatte, als er das geschrieben hatte. Und offensichtlich nahm es ihn so sehr mit, dass er es nicht mal aufschreiben konnte. Nicht nur das Leben ihrer Mutter hatte auf dem Spiel gestanden. Auch… aber nicht nur. Sie fröstelte, dann las sie weiter. Und all die schlaflosen Nächte, all die Augenblicke, in denen ich in den Wochen während der Ermittlungen mir die Schuld gab für all das Leid… das wird dadurch nicht mehr gut gemacht. Ich kann ihm das nicht verzeihen. Glaub mir, eure Entführung… das waren die bisher schlimmsten Minuten meines Lebens. Es dauerte wahrscheinlich nur knappe zwei Stunden, bis alles über die Bühne war; aber es war furchtbar… einfach nur furchtbar. Ich hatte solche Angst, dass er euch etwas antun könnte. Der Mann war… ist… geistesgestört. Er leidet an einer Persönlichkeitsspaltung… er ist unberechenbar. Und das, weil er die Liebe seines Lebens verloren hatte. Den Fall bearbeiteten damals Meguré und Takagi. Allerdings war es unmöglich, den Täter zu bestrafen; er wurde nie gefasst. Das hat ihm wohl den Rest gegeben, und so suchte er wohl, neben seiner verzweifelten Suche nach Ersatz für seine Freundin, auch einen Weg, seiner Wut Ausdruck zu verleihen, seine Liebe zu rächen und irgendjemanden bezahlen zu lassen. Ich muss zugeben, ich hab an den Fall zuerst nicht gedacht… ich wusste nicht, dass es Saijos Freundin war, ich war darin nicht involviert gewesen, weil ich auswärts in Osaka Heiji bei einem anderen Fall geholfen hatte. Ich weiß nicht, warum er sich genau mich ausgesucht hat für meine Rache, abgesehen von der Tatsache, dass er wohl meinte, mir gings zu gut, nachdem er Heiji über meine Hochzeit hatte reden hören und sich die Mühe gemacht hatte, sich mich und meinen Hintergrund ein wenig genauer anzusehen. Ich weiß nicht, warum er mich bestrafen wollte. Ich frage mich, ob es etwas geändert hätte, wäre ich damals bei den Ermittlungen hier gewesen. Wenn man den Täter gefunden und bestraft hätte. Nun. Er verlor den Verstand, und wollte Rache, wollte seine Liebe zurück, und kam auf solche Abwege… das ist tragisch… irgendwo ist er wohl bemitleidenswert. Andererseits auch wieder nicht, er hatte ja mit mir auch keins… als er meinte, er müsse mich kaputtmachen. Ich bedaure so sehr, dass sie alle sterben mussten… wegen mir. Dass ich so langsam war… Und hätte ich damals den Fall seiner Freundin bearbeitet, wäre es vielleicht nie so weit gekommen, wer weiß... Er hätte sie nie umgebracht, diese Frauen, nie dich und deine Mama entführt, ich hätte nie so ausrasten müssen… Aber was hilft alles Spekulieren im Nachhinein… gar nichts. Um ehrlich zu sein, schäme ich mich immer noch gewaltig, da so die Nerven verloren zu haben… nicht so sehr vor ihm, aber vor den anderen. Vor Takagi, Meguré, Heiji und meinem Vater. Was müssen sie jetzt denken… diese Minuten werden sie wohl nie vergessen, egal was ich dagegen sage, es wird kaum Gewicht haben. Dabei will ich ihnen doch keine Sorgen machen… ich hätte mich ihretwillen besser im Griff haben sollen… aber was wäre dann aus euch geworden? Ich weiß es nicht. Eigentlich kann ich aufhören, mir Gedanken zu machen, es ist ohnehin vorbei jetzt. Es ist nicht mehr zu ändern. Aber mit ihnen reden will ich jetzt auch nicht. Sonst mach ich ihnen noch mehr Sorgen. Außerdem seid ihr wieder hier, das ist das Wichtigste… alles andere wird mit der Zeit wohl wieder etwas… abflauen. Ich werde morgen meine Kündigung unterschreiben… und dann muss mich wohl jetzt für den Rest meiner Tage zu Tode langweilen :) Zum ersten Mal huschte ein winziges Lächeln über Sayuris Lippen. Langsam schien er zur Ruhe gekommen zu sein, während er all das losgeworden war, was ihn an diesem Tag so schwer zu schaffen gemacht hatte. Ach ja; und die Letzte, die Frage aller Fragen, ist hiermit auch geklärt: wo war die Tatwaffe? Nun; da er ein Polizist war, konnte er sich gleich zu Beginn aus dem Täterkreis raushalten; er versteckte das Messer, das unbenutzte Messer, wohlgemerkt, am Körper; zumeist wohl in einer Scheide oder etwas ähnlichem gesichert im Schaft eines seiner Stiefel. Da er Kripobeamter ist, trug er bei solchen Einsätzen keine Uniform, konnte also tragen, was er wollte. Und hinterher… als wir ihn dann verdächtigten, konnten wir ihn nicht filzen lassen, denn sonst hätten wir Meguré damals schon gestehen müssen, dass die Briefe an mich waren, nicht an Heiji, und damit hätte man uns beiden erstens, den Fall entzogen und zweitens, Heiji wäre seinen Job wohl los gewesen, weil er für mich gelogen hatte. Er hatte gesagt, dass er die Briefe gekriegt hätte, was so nicht stimmte; sie waren alle an mich adressiert. Hätte aber Meguré das gewusst, hätte er mich aus den Ermittlungen ausgeschlossen, und das wollte ich nicht, egoistisch, wie ich bin. Ich… konnte es nicht, den Fall abgeben... ich fühlte mich verantwortlich, weil die Sache ja so persönlich wurde und außerdem… brauchte ich den Fall noch. Ich musste noch etwas haben, wo ich mich nützlich machen konnte… und so hat Heiji für mich den Kopf hingehalten. Auf eigene Faust. Und ich kann ihm das nicht hoch genug anrechnen, denn er hat wirklich viel riskiert… Meguré weiß es jetzt doch, aber er wird das nicht weitergeben. Wohl… mir zuliebe. Einer der letzten Gefallen, die er mir noch machen kann, ist meinen Freund, der mir geholfen hat, dafür nicht hinzuhängen. Nun, das ist also der Grund warum wir sie nur nach ihren ‚Alibis’ also ihren Aufenthaltsorten während der Tatzeit befragen konnten, und das brachte kein Ergebnis. Außerdem hätte man an ihm weder Blut in seiner Kleidung noch das Messer gefunden, denn wie er die Tatwaffe loswurde, gleicht einem Zaubertrick; er wickelte das Messer in das Cape, dass er trug, damit man sein Gesicht nicht erkannte und ihm kein verräterischer Blutstropfen auf die Kleidung fiel; das Cape war für einer dieser Plastikregenumhänge und passte zusammengefaltet in seinen Jackenärmel. Dann, und stell dir das mal vor… klemmte er es unter ein parkendes Auto… und davon fuhren unsere Beweise. Sie fahren wohl jetzt noch irgendwo in Tokio rum, wenn sie nicht irgendwo mal verloren gingen. Das muss man sich jetzt mal auf der Zunge zergehen lassen. Auf Ideen kam der Mann… irgendwo muss man fast seinen Hut ziehen. Tja. That’s life. Mein letzter Fall… gelöst und ad acta gelegt. Und nun… werde ich also mein Leben genießen, wie’s deine Mutter ausdrückt. Ach ja… ich hatte dir ja auch noch eine Erkenntnis versprochen, nicht wahr? Die Lösung des Falls und die Erkenntnis, die mich getroffen hat wie ein Schlag ins Gesicht. Nun. Tatsache ist, der heutige Tag hat mich wohl wenigstens eines gelehrt, was man als ‚gut‘ bezeichnen kann… mir ist klar geworden, wie viel du mir eigentlich schon bedeutest. Seit heute ist mir klar, wie gern gerne ich jemanden zumindest vom Aussehen her kennen lernen würde, und zwar dich, wie du dir wohl denken kannst… also dachte ich… Ich könnte ja versuchen, ob ich dich noch abwarten kann. Ein wenig Zeit schinden, im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten. Ich hab keine Lust, mir von meinem Schicksal alles nehmen zu lassen. Es ist so doch schon wirklich ungerecht genug zu mir. Irgendwo muss sich die Waage doch halten können… man kann mir doch nicht alles verwehren… Nein. Das kann so doch auch nicht angehen… Sayuri schaute auf. Sie meinte, den trotzigen Ton in seinen Worten, seinen Gedanken, fast herauslesen, heraushören zu können. Du wirst wohl jetzt wissen wollen… warum ich auf den Gedanken nicht früher kam? Ganz einfach… ich hab nicht daran zu denken gewagt. Ich gebe zu… auch wenn ich diese Bücher hier schreibe und all das drum herum… so hab ich doch bis jetzt versucht, zu dir ein wenig Abstand zu waren, ich bin da wohl ein wenig feige gewesen, ich habe Angst, ja… ich wollte mir den Abschied vom Leben nicht schwerer machen als nötig. Mir keine Hoffnung machen… auf etwas, das so unwahrscheinlich ist. Aber mir ist da jetzt durch die jüngsten Ereignisse eins klar geworden. Ihr wart nicht lange weg… du und deine Mutter… als er euch entführt hat. Als der Serienmörder mich erpressen wollte, mich ruinieren wollte, indem er mich vor die Wahl stellte, zuzusehen, wie er sie… euch… tötet, oder selber einen Mord zu begehen… Aber ich kann dir sagen… das waren die schlimmsten Momente meines Lebens. Ich hatte Angst; sehr, sehr große… unfassbar große Angst um deine Mutter… und auch um dich. Und da sah ich eins ein… dass das, was ich vermeiden wollte… nämlich, mich allzu sehr an… an den Gedanken zu gewöhnen dass du meine Tochter bist, oder mein Sohn… mein Kind… schon längst eingetreten ist. Ich wollt‘s nur nicht wahrhaben. Mir wurde klar, dass ich diesen Kampf schon längst verloren hatte. Du warst schon wesentlich präsenter in meinem Leben, als ich es je zulassen wollte, das mag sich jetzt hart anhören für dich, aber es ist so. Ich fürchte… fürchte mich vor dem Zeitpunkt, an dem ich Lebwohl sagen muss. Und ich will ihn für mich und auch für alle anderen nicht schrecklicher machen, als er unbedingt sein muss, indem ich mich in was hineinsteigere, etwas ersehne, erhoffe... Ich werde sterben, bald, mit dem Gedanken müssen wir uns abfinden. Egal wie sehr ich mich sträube, mich wehren will… das Ende wird kommen, und das in sehr absehbarer Zeit. Aber bevor ich gehe… will ich dich noch sehen. Ich will sehen, wie du hier ankommst, bevor ich diese Welt verlasse. Und ich merke, ich werde mal wieder schrecklich pathetisch hier. Nimms dir nicht zu Herzen, das machen die Umstände aus mir :) Und nun; wünsche ich dir einen schönen Tag... Ich... ich geh jetzt wohl besser mal zu deiner Mutter… ich glaub, das sollte ich wirklich, sie hat ja auch einen harten Tag hinter sich. Bis die Tage! Sayuri seufzte, legte das Buch beiseite, schlang ihre Arme um ihre Beine und legte ihr Kinn auf ihre Knie. Sie fröstelte. Das was sie gerade zu lesen bekommen hatte, war nicht leicht zu verdauen... schließlich ging es irgendwie auch um ihr Leben. Klar, es lag weit zurück und sie war ja hier. Sie existierte. Aber... Aber... Sie seufzte, strich sich über ihre Unterarme, merkte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. Und... dann kam noch dazu, was er alles durchmachen hatte müssen. Er tat ihr so Leid. Dieses Geständnis, dass ihm da wohl abgerungen worden war… schien ihm wirklich unangenehm zu sein. Er schien wohl nicht zu wollen, dass sein Elend… seine Gefühle… so sehr nach außen drangen, genau wie ihr alle bis jetzt immer erzählt hatten. Er wollte sein Leid für sich behalten, die anderen nicht belasten. Da hatte man ihm wohl gründlich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Hie und da konnte man zwischen den Zeilen lesen, dass es ihn ziemlich mitgenommen hatte… aber er hatte den Fall immerhin gelöst. Und so bitter sein Erfolg auch gewesen war, angesichts der vielen Opfer und der Tatsache, dass es sein letzter dieser Art gewesen war… so war es doch faszinierend, zu sehen, wie er seine Arbeit erfolgreich zu einem Abschluss gebracht hatte. Sie war sehr stolz auf ihn. Er war wirklich brillant gewesen. Passioniert und brillant. Noch mehr als der Fall interessierten sie allerdings die letzten paar Zeilen. Da war es also gewesen… das war das Ereignis, nachdem er sich entschlossen hatte, seine Prognose zu toppen und ihre Geburt erleben zu wollen. Eine Träne rollte über ihre Wange, ohne dass sie es verhindern konnte. Sie hatte ihn dazu gebracht, doch noch weiterzukämpfen… nicht aufzugeben. Es zu versuchen, seine Zeit zu verlängern… Sie wusste, dass ihm das gelungen war, ja; aber nicht, ob er sein Ziel erreicht hatte. Hatte er? Hatte er sie noch… ankommen sehen? Bevor er… bevor er… Sie schluckte, wollte das Wort nicht denken. Sie wusste, es war kindisch, aber sie wollte das Wort gestorben nicht mit ihrem Vater in einem Satz nennen. Dann wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als ihre Mutter ihren Kopf ins Zimmer streckte. „Sayuri?“, fragte Ran leise. „Kannst du nicht anklopfen?“, entgegnete ihre Tochter ihr unwirsch. Sie griff sich das Buch hastig, versteckte es hinter ihrem Rücken. Ran schluckte, schüttelte den Kopf. „Du brauchst es nicht zu verstecken. Hätte ich es lesen wollen, hätte ich sie alle schon während der letzten fünfzehn Jahre lesen können. Ich hab es nicht getan, weil Shinichi mich drum gebeten hat es nicht zu tun; er wollte gerne, dass es etwas gibt, das nur ihr beide teilt.“ Sie seufzte schwer. „Hör zu, ich kann verstehen, dass du wütend bist.“ Ran schaute ihre Tochter lange an. Die Ähnlichkeit war wirklich frappierend; diese Augen waren den seinen so ähnlich, dass es ihr manchmal schien… als würde er sie ansehen. Der Gedanke wühlte in ihr. Sie wusste, der Tag war nahe… der Tag, an dem es sich jährte… Shinichis Todestag. In ein paar Wochen würde es wieder soweit sein, und wie jedes Jahr graute ihr auch dieses Jahr wieder vor diesem Datum. Mehr, als je zuvor, wenn sie ehrlich zu sich war. Und plötzlich wusste sie nicht mehr, was sie ihrer Tochter hatte sagen wollen. Sie wusste nicht mehr, warum sie hier war, in der Tür stand. Sie schluckte, starrte sie an; Sayuri verzog das Gesicht, schaute sie grübelnd, nachdenklich an. Und dieser Anblick gab Ran den Rest. Das war Shinichis Gesicht, wenn er nachdachte, Shinichis Gesicht! Warum hatte sie ihm so ähnlich werden müssen? Sie wandte den Kopf heftig ab. Dann drehte sie sich wortlos um, ging. Eilte hinaus, raus auf die Straße, flüchtete fast. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich etwas überzuwerfen; sie hatte nicht vor, lange draußen zu sein. Sie wollte zu ihren Eltern. Sie brauchte jetzt jemanden, der sie auffing… denn sie merkte bereits, wie sie den Halt verlor. Zu fallen drohte. Und während Sayuri, einigermaßen verwirrt, im Wohnzimmer zurückblieb und ihr Buch wieder aufschlug, klingelte Ran bei ihren Eltern. Eri machte ihr auf, schaute sie erstaunt an, zog sie dann ohne ein weiteres Wort herein. „Schht. Sag nichts.“ Sie drückte sie an sich, streichelte ihr übers Haar, als Ran an ihrer Schulter zu weinen anfing, sich hilfesuchend an ihre Mutter klammerte. Kogorô, angelockt von der Türklingel, blieb abrupt stehen, als er seine weinende Tochter im Flur stehen sah. „Ich will ihn zurück…!“ Ihre Stimme klang heiser, schien eine ganze Oktave höher als sonst. „Ich will ihn wieder, ich halt das nicht aus, ich… warum…?“ Sie schluchzte, zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub. „Warum, warum, warum?“ Ihre Stimme verlor sich. Langsam begannen Rans Finger kalt zu werden, der Gedanke an ihn, der Gedanke, dass er nicht mehr hier war, auch nicht wieder kam, war nach fast fünfzehn Jahren immer noch genauso schmerzvoll, genauso schwer zu ertragen, wie damals. In ihr tobte es. Einerseits schämte sie sich, dass sie jetzt wieder so schwach war, nicht stark sein konnte, und andererseits quälten sie der Verlustschmerz und ihr schlechtes Gewissen gegenüber Sayuri. Eri drückte sie fester an sich, strich ihr über den Rücken, flüsterte beruhigend in ihr Ohr. „Sch… Ran…“ Sie warf Kogorô einen bekümmerten Blick zu. Es kam nicht oft vor, dass Ran zusammenbrach. Sie war so stark, so tapfer gewesen, die letzten Jahre, hatte die Aufgabe, ihre Tochter großzuziehen, sehr ernst genommen, war ihr eine fürsorgliche, liebevolle Mutter, stets; aber manchmal… üblicherweise einmal im Jahr… kam ein schwarzer Tag für Ran. Dann war für sie die Welt kein schöner Ort mehr; dann musste sie raus, aus ihrem Haus, und auch weg von ihrer Tochter, weil die Erinnerung und seine indirekte Präsenz ihr die Luft zum Atmen raubten, ihr ihren Verlust so deutlich machten, dass sie es nicht ertrug. Früher hatten sich dann Yukiko und Yusaku um die Kleine gekümmert; als sie älter wurde, war Ran auch mal unter einem Vorwand gegangen, hatte Sayuri zuhause, beim Professor oder mit ihren Freunden gelassen. Wer wusste, wie es heute, unter diesen neuen Umständen gelaufen war. „Rufst du bitte Yukiko an, damit sie bei Sayuri vorbeischaut?“, murmelte Eri leise. Kogorô nickte, wollte sich gerade umdrehen, als er sie schreien hörte. Ran. „Das ist nicht fair, nicht fair! Ich will ihn wiederhaben, warum hat man ihn mir weggenommen…?!“ Tränen strömten ihr über die Wangen, in ihren Augen lag so viel Unglück, soviel Schmerz, als sie sich immer noch an ihre Mutter klammerte. Kogorô starrte sie an, merkte, wie sich sein Magen zusammenzog. Und einmal mehr wurde klar… wie sehr… sie ihn vermisste. Wie sehr sie ihn immer noch liebte. Shinichi. Sie würde über ihn nie hinwegkommen. „Es ist nicht gerecht…!“ Ihre Stimme war wieder herabgesunken auf ein leises Flüstern. Eri zog sie mit sich ins Wohnzimmer, auf das Sofa, hielt sie fest, während ihre Tochter sich ausweinte; Kogorô ging in die Küche, telefonierte mit Yukiko, die ihm versicherte, sofort zu ihrer Enkelin zu gehen, dann kochte er Kaffee. Als er damit fertig war, hatte sich auch Ran wieder einigermaßen beruhigt. „Ich weiß nicht, was ich tun soll…“, murmelte sie gerade, als Kogorô mit dem Tablett das Wohnzimmer betrat. Ihre Augen waren immer noch rotgeweint, aber sie schniefte nur noch leise, ab und an. Dankbar nahm sie die Tasse, die er ihr reichte, nippte an dem heißen Getränk. „Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“, wiederholte sie heiser. Sie seufzte. „Ich wünschte, ich könnte mich endlich abfinden, damit… ich wünschte, ich hätte die Kraft, mit ihr mal vernünftig über ihren Vater zu reden. Ich kann ja verstehen, dass sie wütend ist, ja! Ich wäre es auch, an ihrer Stelle, und wie…“ Sie schluckte. „Aber ich konnte, kann nicht über ihn reden, das versteht sie einfach nicht… Ich würds an ihrer Stelle wohl auch nicht. Aber sie… sie weiß nicht, wie es ist, ihn verloren zu haben, denn wirklich hatte sie ihn nie. Sie kann nicht wissen, aber auch nicht nachvollziehen, wie ich mich fühle. Sie trauert, dass sie ihn nicht kennen lernen durfte, ja, dazu hat sie jedes Recht; sie findet es unfair, dass ich zuließ, dass sie so ein falsches Bild von ihm kriegt, und auch da hat sie Recht...“ Eri seufzte, legte ihr beruhigend eine Hand auf ihren Arm. Ran seufzte, warf ihr einen scheuen Blick zu, ehe sie wie gebannt in ihre Kaffeetasse starrte, als läge auf deren Grund die Lösung all ihrer Probleme. „Aber sie kann nicht abschätzen… nicht… ahnen… wie schwer es ist… immer noch… ihn gekannt zu haben, und verloren… wenn einem nichts weiter bleibt als die Erinnerung daran… wie es mit ihm war…“ Ran durchlief ein leises Zittern, dann hatte sie sich wieder im Griff. „Ich will ihn zurück.“, wisperte sie. „Mausebein…“ „Ich weiß, es ist albern.“ Sie runzelte ihre Stirn, schaute ihren Vater an. „Ich weiß, er ist tot, ich war dabei, als er starb, ich kann mich daran noch erinnern, als wäre es gestern gewesen…“ Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange, tropfte von ihrem Kinn. „Aber ich vermisse ihn. Ich vermisse, dass er nicht mehr neben mir liegt, wenn ich morgens aufwache. Ich vermisse, dass er mich anlächelt, den Blick in seinen Augen, wenn er mich ansah. Mir fehlt sogar, dass er nicht mehr in der Küche sitzt und Zeitung liest... und der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee, den er schon gemacht hatte, wenn ich kam. Ich vermisse den Klang seiner Schritte, die man immer hörte, wenn er in seinem Büro Kreise lief, weil er sich bewegen musste, wenn er grübelte… ich… ich vermisse, von ihm in den Arm genommen zu werden…“ Ihre Stimme wurde weinerlich. „Ich vermisse den Klang seiner Stimme… ich vermisse das Gefühl, dass ich empfunden hab, wenn er mich geküsst hat… ich vermisse die Wärme, die Nähe, die ich immer spüren durfte, wenn er mich an sich gedrückt hat… dieses Gefühl der Geborgenheit, des Schutzes, des sich-aufgehoben-Fühlens… ich vermisse es… ich vermisse es…“ Immer mehr Tränen verließen erneut ihre Augenwinkel, ihre Finger krampften sich um ihre Tasse. „Er war immer für mich da… und ich vermisse das… ich vermisse ihn… seit er weg ist, fühle ich mich nur noch halb… ich… er fehlt mir...“ Eri und Kogorô starrten sie an. Ihr Vater schluckte schwer, merkte, wie ihm langsam die Luft wegblieb. Es war unfair, was hier passiert war. Seine Frau neben ihm kämpfte mit den Tränen, er konnte es sehen, daran erkennten, wie sie ihre Kiefer aufeinander presste. Eri war keine Frau, die leicht zu Tränen zu rühren war, aber das Elend ihrer Tochter nahm auch sie unglaublich mit. Ran schluckte, versuchte, sich wieder zu fassen. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr er mir fehlt…“ Sie trank mehrere Schlucke Kaffee, kniff die Augen zusammen. „Und jetzt kommt sie, sie… die ihm so unglaublich ähnlich ist… und macht es mir noch schwerer… noch schwerer… macht mir diese Vorwürfe, und das Schlimme ist, sie hat Recht! Sie hat Recht… ich hab zugelassen, dass sie so von ihm denkt, ich hab euch allen den Mund verboten, weil ich damit zu kämpfen hab, damit klarzukommen, dass er nicht mehr wiederkommt, wie erbärmlich ist das… nach fünfzehn Jahren bin ich immer noch so kaputt…!“ Sie wischte sich unwillig über die Augen, ein Hauch von Wut klang in ihrer Stimme. „Sie hat so Recht… ich behaupte, ich liebe ihn, und dennoch verrate ich ihn so dermaßen…“ Sie setzte ihre Tasse ab, nahm ihren Ehering ab, hielt ihn auf offener Handfläche, schaute ihn sehnsüchtig an. „Ich hab ihn verraten… und jeden Tag verrat ich ihn aufs Neue…“ Yukiko schaute Sayuri lange an. Sie saß jetzt seit ein paar Minuten mit ihr in der Bibliothek, in den weichen Sesseln, sie hatten Kaffee gekocht und sich Kekse geholt, neben Sayuri lag eins seiner Notizbücher. Und gerade hatte sie damit geendet, ihrer Enkelin zu erzählen, was es mit Rans schwarzen Tagen auf sich hatte. Sayuri schwieg bedrückt, schluckte. „Er hat mich noch gebeten, nicht so hart zu ihr zu sein…“, murmelte sie beschämt, ihr Gesicht hatte eine hochrote Farbe angenommen. „Er meinte es wohl in einem anderen Zusammenhang, aber eigentlich hat er wohl auch in allgemeinerem Sinne Recht… ich hab nicht nachgedacht… ich…“ Yukiko schüttelte langsam den Kopf. „Sayuri… du hast in gewisser Hinsicht das Recht, wütend zu sein. Aber du solltest langsam… versuchen zu verstehen, was deine Mutter fühlt. Die beiden… kannten sich ihr ganzes Leben lang. Die Zeit, in der sie endlich wirklich zusammen waren, als sie sich wirklich lieben konnten, war für sie… zu schön, um wahr zu sein.“ Sie seufzte leise. „Du vermisst ihn, oder? Du vermisst ihn, obwohl du ihn nicht kanntest… du kennst ihn nur aus seinen Büchern und aus dem, was wir dir jetzt über ihn erzählen, aber das allein reicht dir, damit er dir fehlt.“ Sayuri nickte langsam. Yukiko griff ihre Hand. „Du kennst das Gefühl. Und nun… denk an deine Mutter.“ Yukiko lächelte melancholisch, strich ihrer Enkelin über ihr Haar. „Ran… Ran kannte ihn. Wirklich. Sie teilte ihr Leben mit ihm. Sie kannte ihn besser, als wir ihn kannten, wahrscheinlich sogar besser als er sich selbst; für sie war er ihre andere Hälfte, die beiden waren nur zusammen ganz; wenn sie getrennt waren, haben sie gelitten, sie waren nur mit sich im Reinen, wenn sie wussten, dem anderen geht es gut. Und sie musste ihn verlieren. Denk daran, wie sie sich fühlen muss…“ Das Mädchen biss sich auf die Lippen, ihr schlechtes Gewissen verursachte ihr Bauchschmerzen, so sehr brannte es in ihr. Ihre Großmutter schaute sie mitfühlend an. „Sie hat ihn geliebt, weißt du… das steht außer Zweifel. Als er ihr gesagt hat, dass er sterben wird… da waren sie ja noch nicht verheiratet, wie du weißt. Er wollte sich trennen von ihr, das wollte er wirklich. Er wollte, dass sie loslässt, dass sie sich jemand anderen sucht, schnell vergisst, wer er war, damit sie abschließen und mit einem anderen Mann glücklich werden kann… aber sie hat ihn nicht gelassen. Sie liebte ihn so sehr, dass sie ihn trotz allem geheiratet hat, ihn überredet hat, ihr Mann zu werden, so wie sie’s vorgehabt hatten. Für sie war es fast beleidigend, dass er ihr den Vorschlag gemacht hatte, er machte sie wütend und traurig zugleich; er hat schließlich klein beigegeben, er liebte sie ja schließlich. Genauso war es auch, als sie ihm schließlich eröffnet hatte, dass sie schwanger war. Sie hat ihn die letzten Monate seines Lebens zum Leben gezwungen, sie hat nicht zugelassen, dass er sich gehen lässt oder aufgibt. Einerseits, indem sie ihn immer wieder aufbaute, und andererseits, indem sie ihm immer zeigte, jederzeit spüren ließ, wie sehr sie ihn brauchte. Und das tat sie auch; sie brauchte ihn in dem Maße wie er sie. Es war ihm nicht Recht, er wollte nicht, dass sie sich so an ihn klammerte… er hatte Angst, sie würde, wenn er erst weg wäre, in ein Loch fallen… fallen und nicht mehr aufstehen können. Und zum Teil hatte er Recht. Ran war… sehr tapfer. Sie hat alles für dich getan, sie liebt dich mehr, als du dir vorstellen kannst, aber leider ist auch Shinichis Befürchtung wahr geworden; nämlich die… dass du sie Tag für Tag daran erinnerst, was… und wen… sie verloren hat. Und je älter du wirst, desto ähnlicher wirst du deinem Vater. Dir fällt es nicht auf, weil du ihn nicht kennst; aber uns allen… wird es umso deutlicher. Und so tapfer Ran auch war, so stark sie ist… so hatte sie doch… immer ihre schwachen Momente. Schwarze Tage, wie wir sie nannten. Tage, in denen die Erinnerung an Shinichi sie fast verrückt werden ließ und lässt, weil sie ihn immer noch so sehr vermisst… und diese Tage… kommen immer um diese Zeit… um seinen Todestag herum. Für gewöhnlich solltest du nichts mitbekommen…“ Sayuri riss die Augen auf. „Die Ausflüge?“ Yukiko nickte. „Ja. Wir haben mit dir dann etwas unternommen… Ran ging dann zu ihren Eltern, raus aus diesem Haus… ein Tag reichte ihr für gewöhnlich, und es war okay.“ Sie seufzte leise, nahm einen Schluck Kaffee. „Aber dieses Jahr sind die Umstände einfach anders…“ Yukiko wischte sich unwillig eine Träne aus den Augen. „Jetzt, wo du weißt… wer dein Vater war… sie damit konfrontierst… du machst es ihr nicht eben einfacher…“ Sayuri fing leise an zu weinen. Yukiko stand auf, setzte sich neben sie, zog sie an sich. „Du kannst nichts dafür, es ist einfach nur schwer für sie. Sie liebt dich, sie hat ihre Entscheidung für dich nie bereut… Glaub mir, sie wird sich wieder fangen, so wie sie sich noch immer wieder gefangen hat, aber… es wäre vielleicht… gut, wenn du nicht ganz so harsch zu ihr wärst. Sie kann damit nicht umgehen, dass sie ihn nicht mehr wiederbekommt. Das hat sie nie gelernt… in all den Jahren nicht.“ Als Ran gegen Abend wiederkam, fand sie ihre Schwiegermutter und ihre Tochter in der Küche, wo sie das Abendessen zubereiteten. Sie sagte nichts, drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Haare, wisperte ein leises Dankeschön zu Yukiko und fing an, den Tisch zu decken. Sie sprachen nicht darüber. So wie sie nie darüber gesprochen hatten. In dieser Nacht kehrte der Traum zurück. Lange, lange hatte sie nicht mehr von ihm geträumt, von Shinichi. Die ersten Wochen nach seinem Tod war es nahezu unerträglich gewesen, ihn jede Nacht so greifbar vor sich zu sehen nur um dann aufzuwachen, um neben sich niemanden zu finden. Er war nicht mehr da. In ihren Träumen suchte er sie heim, redete mit ihr; in ihren Träumen durfte sie noch einmal spüren, wie es war, bei ihm zu sein, seine Wärme, seine Nähe zu fühlen. In ihren Träumen… und nur in ihren Träumen. Es brachte sie an die Grenzen ihres Verstandes, weil es eben nur Träume waren, weil die Realität so grausam war. Er war nicht mehr da. Und in dieser Nacht, da träumte sie wieder von ihm. So intensiv, so real… es schien so wirklich. Es war Frühling, und die Luft war voller süßer Düfte, der Himmel fast schon unverschämt blau und das erste, zarte Grün zeigte sich hie und da. Sie ließ ihre Augen durchs Zimmer gleiten, fühlte eine tiefe Zufriedenheit, wie sie sie schon lange nicht mehr gespürt hatte, atmete tief durch. Sie wollte Sayuri suchen, um mit ihr zu reden, deswegen war sie ins Wohnzimmer gekommen. Und dann sah sie ihn. Er stand hinter einem der beiden großen Ohrensessel, die mit der Couch um den niedrigen Wohnzimmertisch gruppiert waren. Im Sessel saß Sayuri, las in einem seiner Bücher. Sie schien ihn nicht zu bemerken, und er tat nichts, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange. Er legte den Kopf schief, schaute sie traurig an, streckte die Hand aus, um sie zu berühren, ihr ein wenig Trost zu spenden, aber zögerte. Es war eine Geste, so voller Sehnsucht, dass es Ran einen Stich versetzte. Sie schluckte, musste mit ansehen, wie er die Hand wieder sinken ließ, sich darauf beschränkte, seine Tochter mit einem Ausdruck in den Augen anzusehen, der von unendlicher Traurigkeit zeugte, von Bitterkeit und Frustration; und doch glomm auch ein Funken Stolz in ihnen. Er liebte sie, und er war stolz auf sie. Auch wenn er es ihr nicht zeigen konnte. Ran seufzte leise und er schaute auf, sah sie; verließ seinen Platz hinter dem Sessel, trat an ihr vorbei auf den Gang hinaus. Sie folgte ihm. Draußen blieben sie beide stehen; er schloss die Tür leise hinter sich. Ran schaute ihn an, konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden. „Shinichi…?“ „Ich muss mit dir reden“, meinte er leise. „Ran…“ Sie starrte ihn an, hing an seinen Lippen, merkte, wie ihr Herz bis zum Hals schlug, spürte diese Sehnsucht… sie wollte ihn wieder haben, sie wollte ihm nahe sein… Er schien ihre Gedanken zu lesen, schüttelte langsam, bedauernd den Kopf. „Du weißt, dass das vergebens ist, Ran…“ Langsam streckte er seine Hand aus, doch anders als bei seiner Tochter, führte er die Bewegung zu Ende, strich ihr liebevoll über die Wange. Sie schmiegte ihren Kopf in seine Handfläche, berührte mit ihren Finger seinen Arm, strich langsam über den Stoff seines Hemdes, dann über seine Haut, griff nach der Hand, die immer noch auf ihrer Wange ruhte und presste sie fester an sich. Sie wollte ihn nicht loslassen. „Shinichi…“ Er schaute sie an, unglücklich. „Ran, das ist nicht echt… du weißt das doch. Tu dir das nicht an… ich wollte mit dir über etwas anderes…“ Weiter kam er nicht, weil sie ihre freie Hand in sein Hemd gekrallt hatte, ihn an sich zog, seine Hand losließ und in seinen Haaren vergrub, seinen Kopf nach unten zog, sich ihm entgegenstreckte… „Ran, du weißt, du träumst das nur…“, wisperte er atemlos. Sie hörte ihn nicht, berührte mit ihren Lippen sanft die seinen, presste sich an ihn, wollte ihn spüren, wollte seine Nähe fühlen, dieses Gefühl von Geborgenheit wiedererwecken, dass er ihr immer vermitteln konnte… Dann drückte er sie weg, hielt sie auf Abstand, atmete schwer. „Ran, hör auf damit! Du tust dir weh…!“ Er wich zurück, schaute sie gramerfüllt an. „Ich kann nicht… hier bleiben, wenn du dir das antust…“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein…!“ Immer heftiger schüttelte sie den Kopf, wollte sich krampfhaft an ihm festhalten, als er ihre Finger von seinem Hemd zu lösen versuchte. „Nein…!!! Geh nicht! Bitte, geh nicht! Bitte…! Bitte!!!“ Er schaute sie ein letztes Mal traurig an. Dann drehte er sich um, verschwand. „Shinichi!“ Sie wachte schlagartig auf. Fuhr hoch, saß kerzengerade in ihrem Bett, ihr Herz raste; sie zitterte am ganzen Körper, fing leise an zu weinen, als er sich einstellte, derselbe stechende Schmerz über diesen Verlust wie damals, am Tag, nachdem er gestorben war. Der Ruf klang immer noch in ihren Ohren, fast so als hätte sie seinen Namen tatsächlich geschrien. Die Wirklichkeit schien über ihr zusammenzubrechen. Sie tastete neben sich, fühlte nur den kalten Stoff des seit fünfzehn Jahren leeren Bettes. Er war nicht mehr da. Er war nicht da. Nicht da. Sie drehte sich auf die Seite, zog seine Bettdecke an sich, hielt sich fest, krallte ihre Finger in den Stoff und brach vollends in Tränen aus. Es tat so weh. Es war so real gewesen, sie hatte ihn anfassen können, sie hatte ihn geküsst, aber er hatte sie weggeschickt… Shinichi hatte ja recht gehabt, aber… wenigstens in ihren Träumen hätte er ihr doch ein wenig Seelenfrieden gewähren können… Sie schrie in das Kissen, ihr ganzer Körper bebte. Lange, lange war es nicht mehr so schlimm gewesen. Meistens gelang es ihr, den Schmerz auf ein dumpfes Pochen zu reduzieren, ihn zu betäuben; aber diesmal gelang es ihr nicht. Es war so echt gewesen. So echt. Er war doch im Wohnzimmer gewesen, hatte seine Tochter angesehen. Er hatte sie doch angefasst… sie hatten geredet… sie hatte seine Stimme gehört, ihn gerochen, ihn gefühlt, wie konnte er jetzt weg sein, wie konnte er… Wie konnte er? Sie merkte nicht, wie die Tür leise aufging, und sich ihre Tochter sich langsam näherte. Sayuri war geweckt worden vom lauten Schreien ihrer Mutter; ihre Zimmer lagen nebeneinander, sie war nicht umhin gekommen, es zu hören. Langsam schlich sie sich näher, blieb vor ihrem Bett stehen, starrte sie unbewegt an, wagte kaum zu atmen. Was sie sah, machte ihr zu schaffen. Sie schalt sich in Gedanken, machte sich Vorwürfe, dass sie in letzter Zeit so egoistisch, so blind gewesen war. Ran lag immer noch im Bett, ihre Arme in seine Bettdecke gekrallt und weinte. Dann fiel die Tür, verursacht durch einen Luftzug, zu; und Ran schaute erschrocken auf, sah sie im Zimmer stehen. Sie sah nur die Augen. Seine Augen. Shinichis Augen. Und sie konnte sie nicht ertragen, nicht jetzt. Nicht jetzt. „Geh!“, wisperte sie. Sayuri blickte sie erschrocken an. Die Haare ihrer Mutter waren zerzaust, ihre Augen rotgerändert, ihre Lippen blutleer, ihr Gesicht kalkweiß. Das fahle Mondlicht tat das seinige, um sie noch mehr wie ein Gespenst aussehen zu lassen. Sie wich zurück. „Geh!“, wiederholte Ran, nun doch etwas lauter. „Nun geh endlich, geh, geh, geh! Verschwinde!“ Ihre Stimme kippte, brach. Sayuri starrte sie an, blinzelte, dann rannte sie aus dem Zimmer. Sie hörte, wie hinter ihr die Tür zuschlug, hörte, wie ihre Mutter weinte, und merkte, wie ihr selber die Tränen übers Gesicht rannen, lange noch, als sie bereits wieder unter ihren Kissen vergraben in ihrem Bett lag. Sie wusste, warum ihre Mutter so außer sich war. Sie wusste, sie hatte geträumt, und sie wusste auch von wem. Von ihrem Vater. Sie hatte sie seinen Namen rufen hören. Was Ran glaubte, geträumt zu haben, war kein Traum gewesen. Sie hatte wirklich nach ihm gerufen. Shinichi. Dieb und Diebstahl ------------------ Guten Tag, meine lieben Leser! Vielen Dank für eure Kommentare zum letzten Kapitel! Freut mich, wenns gefallen hat... und es tut mir Leid, wenn ich euch überrascht hab *schluck* *NachträglichTaschentücherhinstell* Für all die, denen ich welche schulde. Dieses Kapitel wird nicht ganz so traurig. ^.^ Ein bisschen vielleicht am Anfang... Nun denn. Lasst euch überraschen ;D Was die erneute Darstellung des Mordfalls im Tagebuch betrifft, weil die Frage auftauchte... ich dachte, und denke immer noch, das musste sein. Sonst wäre der Fall im Eintrag unvollständig und für Sayuri keine große Hilfe. Viel Spaß beim Lesen! Bis nächsten Dienstag! Viele Grüße, Eure Leira ;D PS: Ich wünsche schon mal allen, die das hier lesen, frohe Ostern!!! ________________________________________________________ Kapitel 10: Dieb und Diebstahl Vergangenheit Meguré schaute auf, als die Tür zu seinem Büro aufging. Er hatte auf das kurze Klopfen nicht reagiert, bewusst; denn eigentlich wollte er das, was jetzt kommen würde, das, was dieses Klopfen ankündigte, vermeiden… allerdings hatte das den Klopfenden nicht daran gehindert, sich trotzdem Einlass zu verschaffen. Langsam betrat Shinichi das Zimmer, stellte die Kiste mit seinen Habseligkeiten auf dem Boden ab. Hinter sich schloss er leise die Tür. Man sah ihm an, wie sehr es ihn mitnahm. Wie schwer es ihm fiel, das alles hinter sich zu lassen. Gerade eben hatte er sein Büro ausgeräumt, Takagi hatte seinen Boss darüber informiert… doch Meguré selber hatte ihm nicht dabei geholfen. Er wollte ihn damit allein lassen… seine Fotos, seine Sachen… alles, was nicht dem Revier gehörte, sondern was er mit eingebracht hatte… einzupacken. Es passte in eine Schachtel. Und wiederum auch nicht. Was er an… privaten Sachen mitgebracht hat, fand darin locker Platz; was er an Geist, an Wissen, an Humor und Engagement hierher gebracht hatte… würde in keinem Raum der Welt Platz finden. Meguré hatte das nicht sehen wollen… wie er seine Habseligkeiten zusammensuchte und seinen Schreibtisch ausräumte. Es reichte ihm, zu sehen, wie einer seiner besten Männer, wenn nicht sogar der beste Mann, seine Kündigung unterschrieb. Es reichte ihm zu wissen, warum er das tat. „Hallo Shinichi.“ „Kommissar.“ Shinichi nickte ihm steif zu. Er war sehr bleich im Gesicht, warf einen Blick in die Kiste mit seinen persönlichen Sachen. „Mein Büro ist… fertig.“, murmelte er dann, steckte seine Hände unsicher in die Hosentaschen. Meguré seufzte, dann nickte er. „Komm, setz dich. Wir müssen das nicht im Stehen… abwickeln.“ Er deutete auf einen Stuhl vor sich. Shinichi schritt langsam näher, ließ seinen Blick kurz durchs Zimmer schweifen. Vorsichtig setzte er sich, seufzte leise, berührte mit den Fingern kurz die Armlehnen, erinnerte sich an die letzte Situation zurück, als er in diesem Zimmer gewesen war. Damals… es waren kaum ein paar Wochen, aber es schien ihm schon so lange her… damals hatte er hier den Anfang vom Ende seiner Karriere bei der Kriminalpolizei eingeläutet. Meguré verschränkte seine Finger, während Shinichi seine Hände vor sich auf den Tisch legte, die Handflächen auf die kühle Kunststoffoberfläche presste. „Damit wäre der Fall abgeschlossen.“, bemerkte Meguré; seine Stimme klang heiser, und etwas unwillig räusperte er sich. „Ja.“ Shinichi starrte auf die Tischplatte. „Das war ein turbulenter Fall, nicht wahr? Aber nun haben wir ihn ja. Wie geht’s Ran? Ich hoffe, ihr und dem Kind ist wirklich nichts passiert? Ich kann immer noch nicht glauben, was Saijo da getan hat, wie sehr wir uns getäuscht haben, nie etwas gesehen, bemerkt haben und…“ Meguré blickte ihn freundlich an, redete munter weiter, doch Shinichi merkte, dass das Lächeln auf seinen Lippen gezwungen war. Er wollte Zeit schinden, das war alles. Der alte Kommissar wollte der Wahrheit nicht ins Auge blicken. Aber so lief das nicht. Und er wollte sich das auch nicht antun. Er holte tief Luft, unterbrach seinen Vorgesetzten. „Wo soll ich unterschreiben?“ Meguré zuckte zusammen. „Shinichi…“ Der Angesprochene blickte auf. „Herr… Kommissar… wie, dachten Sie, läuft das ab? Machen wir es doch nicht schlimmer als es ohnehin schon ist. Und so eine große Sache… ist es doch nun auch nicht. Lassen Sie mich doch einfach unterschreiben, und dann verschwinde ich… es lässt sich nicht verhindern, also warum sollten wir es länger hinausschieben als nötig?“ Bedächtig nahm Meguré seinen Hut ab, legte ihn vor sich auf den Tisch, fing an, ihn mit den Fingern platt zu drücken. „Eigentlich hast du Recht.“ „Ich weiß.“ Der Kommissar riss seine Augen von seinem Hut los. „Willst du nicht… noch einen…?“ Shinichi starrte ihn fassungslos an. „Es geht nicht darum, was ich will…“, flüsterte er scharf. „Also, wo soll ich unterschreiben…?!“ Meguré schien ihm nicht zuzuhören. „Aber du siehst doch noch… gut aus… einen… einen Fall… könntest du doch noch...“ Der junge Mann schüttelte energisch den Kopf. „Nein. Nein. Und Sie wissen das auch…“ Er lächelte ihn traurig an. Es war wirklich fast schon tragisch, was sich hier abspielte. Wie sehr Meguré versuchte, zu verdrängen, was passieren würde, erstaunte und entsetzte Shinichi gleichermaßen. „Sie wissen, dass ich alles andere als gut aussehe. Vielleicht nicht gerade wie ein Wrack, noch nicht, aber es ist doch… ein Unterschied zu sehen. Es ist nett von Ihnen, dass Sie darüber hinwegsehen wollen, aber machen wir uns nichts vor, es geht nicht. Ich… ich kündige…“ Seine Stimme brach. „Komm schon, Kudô, das willst du doch gar nicht…“ Meguré blinzelte, schaute ihn ernst an. Ein harter, verzweifelter Ausdruck trat in Shinichis Augen. Er konnte das nicht länger mitmachen, das musste ein Ende finden. Es war auch ohne dieses Gespräch schon schlimm genug, das alles hinter sich zu lassen. Er holte Luft. „Es geht nicht um das was ich will. Das habe ich Ihnen gerade gesagt. Lassen Sie mich bitte jetzt endlich unterschreiben?!“ Shinichi klammerte sich an die Tischplatte, dass seine Knöchel weiß hervortraten. „Bitte! Lassen Sie es mich doch endlich hinter mich bringen…!“ Ein leicht flehender Ton schwang in seiner Stimme mit. Der alte Kommissar schaute seinen jungen Freund betroffen an. Langsam dämmerte ihm sein Fehlverhalten. Er war hochgradig unprofessionell gewesen… er hatte gar nicht daran gedacht, wie schwer es wohl für ihn überhaupt war. Shinichi wollte ja nicht kündigen. Er musste. Schuldbewusst räusperte er sich. „Es… es tut mir Leid, Shinichi. Ich hätte dich das nicht fragen sollen. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist…“ Er setzte seinen Hut wieder auf, musste ihn dafür aber erst wieder ausbeulen; dann ging er zu einem Aktenschrank, suchte nach dem Kündigungsschreiben. Shinichi beobachtete ihn dabei. Er wusste genau, was den Kommissar zu seinem Vorschlag getrieben hatte. Mitleid. Und der Wunsch, alles zu verdrängen, nicht wahrhaben zu wollen. Mitleid… Kurz schloss er die Augen, wartete geduldig, bis Meguré wieder kam, ihm das Formular auf den Tisch legte, einen Kugelschreiber suchte und ihn auf dem Papier deponierte. Er schaute ihn betrübt an, als der junge Mann nach dem Stift griff, bedächtig die Mine herausdrehte und mit dem Ausfüllen begann. Er schaute ihm zu, wie er schrieb. Wie er die weißen Flächen mit ordentlichen Schriftzeichen füllte. Wie er die Lücken ausfüllte… genauso wie er sonst auch immer - im übertragenem Sinne - ihre Lücken gefüllt hatte. Wo immer sie nicht weiter wussten, wo immer man nicht in der Lage war, ein Verbrechen weiter aufzuklären, einen Ermittlungsstrang zu verfolgen, hatte er das Puzzle komplettieren können. Er war ein Meister seines Fachs. Er war brillant… er war besser als Sherlock Holmes, denn er war real. Und nun kündigte er, weil er in absehbarer Zeit sterben würde. Er biss sich auf die Lippen, zog sich seinen Hut erneut vom Kopf, begann ihn gedankenverloren mit beiden Händen zu kneten. Sterben. Shinichi Kudô war vierundzwanzig Jahre alt und würde sterben… würde nicht älter werden. Immer mehr Schriftzeichen füllten das Blatt. Meguré schaute der Spitze des Stiftes zu, bis sie bei dem Kästchen angelangt war, wo die Unterschrift hingehörte; hier verharrte sie. Der Kommissar blickte auf, schaute in das Gesicht seines jungen Kollegen, wurde gewahr, wie er um Fassung rang. Die Kugelschreiberspitze schwebte immer noch keinen Millimeter über dem Papier. Langsam ließ Shinichi den Kopf sinken, stützte seine Stirn auf seine Hand, krallte seine Finger in sein Haar. Seine rechte Hand hielt den Stift, verkrampft; so verkrampft, dass sie zitterte. Er biss sich auf die Lippen, schmeckte langsam Blut, stierte auf das Blatt, als wolle er seinen Blick durch die Tischplatte bohren. Meguré schaute ihn traurig an. Dann ergriff er mit seiner Hand die von Shinichi, drückte damit den Stift aufs Papier, ließ sie dann wieder los. Er hörte, wie Shinichi Luft holte, dann sehr, sehr langsam den Schriftzug seines Namens auf das Papier malte. Als er fertig war, hielt er kurz inne. Dann legte er den Stift neben das Blatt, schob seinem Vorgesetzten das Papier zu, lehnte sich langsam zurück, schaute an die Decke. „Das ist dann wohl das Ende.“, murmelte er. Jûzô Meguré nickte bedächtig. „Ja, das ist es.“ Auch er rang mit sich, mittlerweile. „Hör zu, Shinichi, ich weiß nicht, was ich sagen soll, es, es… es tut mir so unendlich Leid, ich…“ Shinichi stand langsam auf, schüttelte langsam den Kopf. „Das muss es nicht. Leben… Leben Sie wohl, Kommissar. Es war… war schön hier. Ich hab gern mit Ihnen gearbeitet.“ Meguré erhob sich ebenfalls aus seinem Stuhl. „Es war mir eine Ehre mit dir…“ Shinichi lächelte traurig. „Na, na… nicht doch.“ Er grinste ein wenig. „Sie werden doch nicht auf Ihre alten Tage melodramatisch?“ Ein leises Lachen stahl sich auf Megurés Lippen. „Werd’ bloß nicht frech.“ Dann wurde er wieder ernst. „Warte, ich bring dich…“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Nein, ich danke… aber nein. Sie müssen mich nicht nach draußen bringen. Ich finde… alleine raus.“ Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden, machte einem Ausdruck von Traurigkeit Platz. „Machen Sie’s gut, Herr Kommissar.“ Damit drehte er sich um, packte seinen Karton und wollte das Büro verlassen, als er inne hielt. Gedankenverloren schaute er auf den Inhalt seines Kartons, dann griff er hinein, holte etwas heraus, trat auf Meguré zu, drückte es ihm in die Hand. „Behalten Sie das, vielleicht bringt es Ihnen Glück. Ich brauch… es wohl nicht mehr.“ Seine Stimme klang etwas heiser, und er sah seinem ehemaligen Vorgesetzen nicht in die Augen. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich dann wieder um, verließ das Büro endgültig, beinahe fluchtartig. Ihm war es, als würde er langsam ersticken, als würde die Luft zum Atmen in diesem Raum immer weniger. Als die Tür zugefallen war, ließ sich Meguré schwer in seinen Stuhl fallen, konnte nicht verhindern, dass seine Augen zu brennen anfingen, als er auf das Vergrößerungsglas in seinen Händen starrte. Sie wartete auf sein Auto. Ran wusste, was er heute für einen Gang zu erledigen hatte; und sie wollte für ihn da sein, wenn er heimkam. Als er dann endlich vorfuhr, öffnete sie die Tür, sah ihn aussteigen, vom Beifahrersitz seinen Karton holen, und wusste… wusste, dass er es wirklich getan hatte. Shinichi hatte gekündigt. Er war kein Detektiv mehr. Seine Miene war steinern, als er den Weg herauf ging, und als er hereinkam, ging er an ihr vorbei, schaute sie nur kurz an, scheu; verschwand dann in seinem Büro. Sie wusste, es war vorbei jetzt… und es erleichterte und bedrückte sie gleichermaßen. Sie wusste, er hatte etwas aufgegeben, das ihm viel bedeutet hatte. Dass er jetzt nicht darüber reden wollte... war ihr klar gewesen. Ein Abschnitt seines Lebens war hiermit vorbei. Endgültig. Damit musste er erst einmal klarkommen. Ran stand im Türrahmen zur Bibliothek, betrachtete ihren lieben Göttergatten, der mit einem Buch in einem Sessel mehr hing als saß. Irgendwie stimmte der Anblick sie traurig. Leise seufzte sie, beobachtete ihn weiter unbemerkt; das hieß, wenn er sie bemerkt hatte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Tatsache war… das Bild, das ihr geliebter Ehemann da abgab, war irgendwie schon bemitleidenswert. Er schien die personifizierte Langeweile zu sein. Nie hatte sie jemanden lustloser ein Buch lesen sehen. Zwei Wochen war es her, seitdem er gekündigt hatte, sich aus dem Dienst zurückgezogen hatte. Seinen "Ausstand" hatte er nicht gefeiert, das war ihm... und auch allen anderen als zu makaber erschienen. Sie wussten ja, um was es ging. Und denen, die es nicht wussten, wollte er auch nichts vorheucheln. Ein so junger Kollege, der einfach so ging? Wer hätte das geglaubt? Andererseits... sie würden auch ohne Feier rätseln, warum Shinichi weg war. Aber er musste sich die Feier nicht antun. Shinichi hatte sein Versprechen gehalten, keinen neuen Fall angenommen, sich nicht hinreißen lassen; er blieb bei ihr zuhause und benahm sich vorbildlich. Was auch immer vorbildlich in diesem Zusammenhang bedeutete; Ran wusste es selber auch nicht mehr ganz genau. Sie hatten sich während der Zeit Gardinen und Möbel fürs Kinderzimmer angesehen, gekauft und es einzurichten begonnen; sie hatten sich über Babysachen schlau gemacht, über Kindererziehung, über dieses und jenes geredet, er zeigte sich als begeisterter werdendender Papi... aber sie sah ihm an, dass seine Tage wohl von Zeit zu Zeit nicht genug ausgefühlt schienen. Shinichi langweilte sich. Das Leben ohne Fall schien ihn ab und an doch anzuöden, auch wenn er es in ihrer Gegenwart nicht erwähnte. Er vermisste es, das war ihr klar. Stattdessen tat er brav, was sie verlangte, weil er es ihr versprochen hatte; aber sie wusste nicht, ob das so gut war. Dann schob sie den Gedanken von sich; natürlich war ein ruhiges Leben gut für ihn. Und doch schlich sich… langsam, aber doch deutlich… die Erinnerung an zwei oder drei weiße Umschläge in ihren Kopf. Es raschelte, als er sich tiefer in den Sessel drückte. Sie schaute ihn an, versuchte zu ergründen, was tatsächlich das Beste für ihn war. Die Umschläge gingen ihr nicht aus dem Kopf. Weiße Umschläge, die außen mit der Zeichnung eines lachenden, zylindertragenden Kopfes versehen waren. KIDs Markenzeichen. Shinichi hatte die Briefe nicht gesehen; sie hatte sie ihm nicht gezeigt, sich nach dem ersten Brief, den der Zufall ihr zugespielt hatte, angewohnt, vor ihm die Post zu holen. Er sollte gar nicht erst in Versuchung kommen. Dann riss sie ein leises Räuspern aus ihren Gedanken. Sie fixierte ihn wieder mit ihren Augen, zog fragend die Augenbraue hoch. Seinem leicht erstaunten Blick konnte sie entnehmen, dass er sie wohl schon ein paar Mal angesprochen hatte, bevor sie reagiert hatte. Sie schluckte, lächelte ihn an. „Langweilig?“ Er nickte. Es war ein kaum wahrnehmbares Nicken. Dann stand er auf, langsam, ging zu ihr hin. „Aber was will man machen? Ich sollte mich langsam dran gewöhnen…“ Shinichi legte den Kopf auf die Seite, streckte eine Hand aus, fuhr mit seinem Zeigefinger ihren Unterarm entlang. „Ich muss mir ein neues Hobby suchen, meint Mama. Die is gut... neues Hobby…“ Er verdrehte skeptisch die Augen gen Himmel, entlockte ihr ein sanftes Schmunzeln; dann zog er die Augenbrauen zusammen. „Apropos, Mama. Musst du heut nicht zur Untersuchung?“ Sanft streichelte er ihr über ihren Bauch, der immer runder wurde. Sie nickte. „Ja. Willst du mitkommen? Dir dein Baby anschauen?“ Shinichi überlegte nur kurz. „Na, da fragst du noch? Ganz davon abgesehen… hab ich ja sonst nichts zu tun…“ Er grinste sie an; sie seufzte, ignorierte ihr schlechtes Gewissen und kuschelte sich in seine Arme. Sein weißer Umhang flatterte ihm Wind, als er sie beobachtete. In seiner Hand hielt er einen Brief. Zu zweit verließen sie das Haus, stiegen ins Auto. Seine Augen verengten sich, als er ihm nachschaute, das Auto mit seinen Blicken verfolgte, bis es um die Kurve verschwunden war. Kudô sah nicht gut aus. Irgendwie krank. Er fragte sich, ob das der Grund war, dass er noch nicht auf seine Herausforderung geantwortet hatte. Ob er krank gewesen war, oder immer noch kränkelte, und sich nicht fit genug fühlte. KID zog die Augenbrauen zusammen, dachte nach. Das Gesicht seiner Freundin… nein, Frau… ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie hatte ihn besorgt angeschaut, ihren Liebsten, als sie aus der Haustür getreten waren. Und sie hatte sich nervös umgeschaut, als suche oder befürchte sie etwas. Sie sucht doch nicht etwa mich? Ein Gedanke drängte sich ihm auf. Hatte Ran seine Briefe abgefangen? Er konnte sich kaum vorstellen, dass Kudô, selbst wenn er krank wäre, seine Herausforderung einfach ignorieren würde. Irgendwie hätte er doch reagiert… „Hm.“, murmelte er leise, wartete, bis die alte Oma mit ihrem Gehwägelchen unter ihm auf dem Bürgersteig außer Sichtweite verschwunden war. Dann stieß er sich vom Dach, auf dem er stand, ab, segelte mit seinem Gleiter leicht wie eine Feder auf die andere Straßenseite, landete auf den Balkon und verschaffte sich mittels eines Glasschneiders Zutritt, indem er zuerst ein Loch in die Scheibe schnitt, durch das seine Hand passte, und sich dann selber die Balkonfenstertür öffnete. Sorry, Kudô. Aber ich muss doch wissen, was mein Lieblingsdetektiv neuerdings Besseres zu tun hat, als sich meinen Rätseln zu widmen. Wo ich mir doch so große Mühe gegeben hab! Kurz schaute er sich um, ob jemand ihn gesehen hatte; als alles ruhig blieb, ging er hinein, durchmaß das Schlafzimmer, wie er erkannte, mit großen Schritten. Er wollte gerade gehen, als er innehielt. Sollte Ran… sollte Ran tatsächlich seine Briefe abfangen, wo würde sie sie verstecken? Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie sie vernichtete; es war das eine, dem Gatten seine Korrespondenz vorzuenthalten, aber sie vernichten oder selber öffnen… nein, das würde Ran nicht tun. Sie hatte sie bestimmt versteckt, und auf der Suche… durfte er das Schlafzimmer nicht außer Acht lassen. Gelassen marschierte er zu ihrer Seite des Bettes, die sich dadurch kennzeichnete, dass ein Foto von ihm auf dem Nachtkästchen stand, und zog die Schublade auf. Ein breites Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als er dort ihre Unterwäschesammlung erblickte. Nett… Allerdings war außer einer Menge hübscher Unterwäsche sonst nichts in der Schublade zu finden. Fast ein wenig enttäuscht zuckte er mit den Schultern und schob die Schublade wieder zu. Fehlanzeige, also. Nun. Sie war die Freundin eines Detektivs. Um ihn zu hintergehen, musste sie sich ein gutes Versteck einfallen lassen… Er musste nachdenken; er wusste nicht, wie lange die beiden weg sein würden, und er hatte nicht Zeit, das ganze Haus auf den Kopf zu stellen, dazu war es bei weitem zu groß und viel zu voll gestopft mit jeder Menge Kram. Wo fällt ein Brief nicht auf… wo würde er nicht suchen… wo würde er auch nicht durch Zufall drauf stoßen…? Er musste Rans Versteck erraten. Gedankenverloren legte er einen Zeigefinger neben seine Nase. Wo versteckt man am besten ein Blatt? Im Wald, genau… und am Besten wohl in einem Wald, den der Wanderer meidet, weil das Terrain fremd ist… und uninteressant. Also versteckte man ein Blatt Papier am besten in einem Haufen Papier. In seiner Post, seinen Akten, wären sie schlecht aufgehoben, dort könnte er drüber stolpern. Also lag Kudôs Büro schon mal nicht in seinem Suchradius. Aber so einen Brief konnte man prima zwischen die Seiten eines Buchs klemmen. KID setzte sich langsam in Bewegung, verließ das Schlafzimmer, ging die Treppe hinunter bis ins Erdgeschoss. Fröhlich pfeifend betrat er das Wohnzimmer, immer noch grübelnd, als ihm auffiel, dass im Wohnzimmer keine Bücher standen. Hie und da lag vereinzelt eins rum; aber es gab kein Bücherregal. Wozu auch. Sie hatten ja eine Bibliothek. Eine ganze Bibliothek. Ein ideales Versteck für Briefe! Einfach zwischen die Seiten eines Buches stecken, irgendwo in den oberen Regalen verschwinden lassen… Zielstrebig begann er durch das Wohnzimmer zu gehen, als er innehielt. Die Sache hatte einen Haken. Er wusste, denn es war kein offenes Geheimnis, hatte Yusaku Kudô es doch oft genug in diversen Interviews erwähnt, dass in der Kudôbibliothek nur Krimis standen; eine Sorte Buch, die auch der derzeitige Hausherr oft in die Hand nahm. Dort ein paar Briefe zu verstecken wäre zu riskant. Aber… Ran las bestimmt keine Krimis. Also würde sie wohl… ihre Bücher in einem anderen Zimmer haben. Er zog interessiert eine Augenbraue in die Höhe, wandte sich auf den Hacken wieder herum, dass sein Umhang nur so flatterte und schritt wieder hinaus, zurück in die Eingangshalle, und von dort besuchte er dann jedes Zimmer; unten waren nur die Küche, Kudôs Büro, das Wohnzimmer, die große Bibliothek, eine Abstellkammer, eine Speisekammer und ein kleiner Salon. Also ging er die Treppe wieder hinauf. Als er das erste Zimmer betrat, stutzte er. Gelbe Farbe schien ihm von den Wänden entgegen. Auf einer Seite des Raumes stand ein Kinderbettchen, Babykleidung und Spielzeug lag darauf verteilt, zum Teil schon im Schrank einsortiert, der offen stand. Das war ein Kinderzimmer. Die Familie Kudô bereitete sich auf Zuwachs vor. Ein fröhliches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Shinichi Kudô, sein allerliebster Lieblingsdetektiv, wurde Papa, wer hätte das gedacht?! Kein Wunder, dass Ran ihn für sich haben wollte. Frauen in der Schwangerschaft neigten ja bekanntlich zu komischen Launen. Er hätte vorhin besser aufpassen sollen, wie rund ihr Bauch schon war; aber sie hatte einen dicken Mantel angehabt, und das Auto stand gleich vor der Tür. Er hatte sie nicht lange gesehen. Warum aber war er so blass gewesen? Er hatte zwar gelacht, aber sein Teint war alles andere als rosig oder gesund gewesen. Kaito grübelte, als er sich selber zur Raison rief. Er würde ihnen eine nette Glückwunschkarte schicken, wenn das Baby da war; und Kudô konnte so krank nicht sein, wenn er in der Gegend rumlief. Jetzt aber musste er die Briefe finden. Denn egal ob Papa oder nicht, ob kränkelnd oder nicht; er wollte seine kleine Vorstellung auf keinen Fall abblasen, und er brauchte Publikum, das ihn zu würdigen wissen würde. Also verließ er das Zimmer wieder, ging zurück auf den Gang, am Schlafzimmer vorbei, stieß die nächste Tür auf. Badezimmer. Fehlanzeige. Das nächste Zimmer war Shinichis altes Zimmer; ebenfalls Fehlanzeige. Dann kam ein weiteres Schreibzimmer; und dann das, wonach Kaito gesucht hatte. Rans private, kleine Bibliothek. Er trat ein, drehte sich einmal um die eigene Achse. Sein Mantel flatterte leicht, als Kaito während der Drehbewegung seine Augen über die Regale an der Wand gleiten ließ. Man musste Ran zu gestehen, sie hatte auch schon beachtlich gesammelt. Jedes Buch herauszuziehen würde zu lange dauern. Also suchte er gezielt nach Bänden, die nicht genau in Reih und Glied standen… deren Seiten etwas ungeordnet schienen; und sein geübtes Auge wurde bald fündig. Einer der Romane stand ein wenig schräg im Regal, so als wäre er nicht mehr ganz in seine Lücke zurück geschoben worden. Er zog ihn heraus, und in seinen Händen fiel das Buch nahezu von selbst auf. Er zog den Umschlag heraus, steckte ihn ein. Er würde ihn später an geeigneterer Stelle neu positionieren. Dann ließ er seine Augen weiter über die Bücherrücken schweifen. Er begann, bereits nervös zu werden, als er es fand; eine Spur in der dünnen Staubschicht im Regal zeigte ihm das Buch, das er suchte. Auch ihm entnahm er sein Geheimnis, dann drehte er sich um, begann wieder ins Erdgeschoss zu laufen, schaute sich hektisch um, eilte ins Büro seines Lieblingsdetektivs. Darin angekommen, zog er die alten Umschläge sowie einen neuen Brief aus seiner Jacke, hielt sie sich vors Gesicht, grinste sie zufrieden an. „Nun, wohin mit euch… damit er euch findet, aber sie nicht?“ Er drehte sich leise pfeifend um, wanderte im Zimmer umher, als sein Blick auf einem Notizbuch hängen blieb, auf dem ein Füller lag. Wie war das noch mal mit dem Blättern und dem Wald? Wie du mir, so ich dir, Ran… hier suchst du bestimmt nicht. Er kniff die Augen zusammen. Eigentlich widerstrebte es ihm, in das Buch zu sehen; aber er würde ja nichts lesen. Nur die Stelle suchen, wo er zu schreiben aufgehört hatte, und dort zwischen die Seiten seine Briefe hinterlassen. Er hob es auf, legte den Füller auf den Tisch, und fing an zu blättern. Daten schwammen an seinen Augen vorbei; anscheinend führte Kudô eine Art Tagebuch? Das hätte er ihm gar nicht zugetraut. Aber er besiegte seine aufkeimende Neugier, las nichts; das wäre nicht fair gewesen, und er wollte doch nicht irgendwelche unfeinen Dinger gegenüber seinem geschätztesten Gegner drehen. Er gab sich damit zufrieden, seine Briefe zwischen die Seiten zu legen, an denen er geendet hatte, schlug es wieder zu und legte es zurück, platzierte sorgfältig den Füllfederhalter wieder darauf. Dann eilte er wieder hinauf, hinaus, auf den Balkon, keinen Moment zu früh. Das Auto fuhr gerade wieder vor. Er musste warten, bis sie im Haus waren, sonst würden sie ihn möglicherweise am Himmel sehen. KID legte sich flach auf den Bauch, hielt den Atem an. „Ist das nicht Wahnsinn?“ Ran hielt immer noch die kleine schwarz-weiße Ultraschallfotographie in ihren Händen, starrte voller Begeisterung auf das Bild. „Ja, ist es.“ Er schenkte ihr einen liebevollen Blick, konzentrierte sich dann wieder auf die Suche nach den Hausschlüsseln in seiner Jacke. „Wahnsinn…“, hauchte sie. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen strahlten. Schließlich hatte Shinichi den Schlüssel gefunden, sperrte auf, legte seiner schwangeren Frau eine Hand in den Rücken, drückte sie sanft ins Haus, als ihn ein seltsames Gefühl beschlich. Er fühlte sich beobachtet, spürte Blicke in seinem Nacken. Shinichi kniff die Augen zusammen, schaute sich um; aber ihn sah er nicht, konnte er nicht sehen. KID jedoch sah ihn, zwischen dem Spalt der Balkonbrüstung spähte er hindurch; und lächelte zufrieden. Ahhhh… du bist wie früher. Ran legte sich auf die Couch, wollte ein kleines Nickerchen machen. Shinichi ging in sein Büro, das Ultraschallfoto in den Händen, mit der Absicht, seine Aufzeichnungen weiterzuführen. Gedankenverloren nahm er das Buch, in dem er gerade schrieb, zur Hand, ließ es aufklappen, und riss erstaunt die Augen auf. Sein Herz schien fast stehen zu bleiben, hektisch sah er sich um, kontrollierte das Fenster in seinem Büro. Es war geschlossen. Kein Loch. Wie konnte das dann sein? Zwischen den Seiten seines Notizbuches lagen Briefe von KID. Drei Stück. Unverkennbar. Wie kamen die hier rein? Und… hatte der, der sie hier reingelegt hatte… etwas… gelesen…? Er merkte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Nicht doch! Er schluckte, dann ging er los, beschloss, Ran davon zu erzählen. Dass KID bei jemandem einbrach, um seine Post abzuliefern, war neu, und mehr als dreist. Ob er etwas gelesen hatte… würde er noch herausfinden. Und wenn ja, dann gnade ihm Gott… denn er selbst würde sich nicht besonders gnädig erweisen. Er presste die Lippen grimmig zusammen, verließ sein Büro und eilte ins Schlafzimmer. Ran war gerade dabei einzudösen, als sie seine Bürotür zuknallen hörte, wahrnahm, wie sich eilige Schritte näherten. Kurz darauf erschien Shinichi in der Tür, hielt ein paar weiße Umschläge in der Hand. Rans Augen weiteten sich vor Entsetzen. Dann rannte sie ihm mit einer Geschwindigkeit, die er ihr nicht zugetraut hätte, entgegen, entriss ihm die Briefe, stürmte die Treppe nach oben. Ihr Herz raste. Ihre Gedanken überschlugen sich. Er war hier…! Kaito KID war eingebrochen! In ihr Haus! Anders konnte kein Umschlag in seine Hände gefallen sein. Um in ihr Bücherzimmer zu gehen und sie zufällig zu finden, waren sie noch nicht lange genug hier. Und was würde Shinichi da auch wollen. Sie merkte gar nicht, wie er ihr hinterherhetzte, im Türrahmen stehen blieb, sie beobachtete, als sie Bücher suchend aus den Regalen zog. Es war ihm sofort klar, was das zu bedeuten hatte. Sie suchte ihre Verstecke ab. Die Briefe waren offensichtlich nicht heute erst hier angekommen. Zumindest nicht alle. Ihr fast panischer Blick verriet sie. Ran klappte die Bücher auf, starrte fassungslos in die Seiten. Leer. Sie waren leer. Er war hier gewesen, hatte die Umschläge geklaut, die sie versteckt hatte, und zusammen mit einem neuen bei Shinichi im Büro deponiert. Dann drehte sie sich um, als sie hinter sich eine Bewegung hörte. Shinichi stand in der Tür, starrte sie einigermaßen wütend an. „Du fängst meine Post ab?!“, fuhr er sie an. Er war ungehalten, ohne es wirklich sein zu wollen… aber er hätte nicht gedacht, war von ihr nicht gewohnt, dass sie sich derart in seine Privatsphäre einmischte, und das machte ihn auf gewisse Weise schon wütend. „Meine Post?!“, wiederholte er. Ran schluckte, erwiderte nichts, umklammerte nur die Briefe umso fester, je näher er kam. „Ran, wie kommst du dazu?! Warum fängst du meine Briefe ab?!?“ Sie schaute zu Boden, kniff die Augen zusammen. Sie zitterte ein wenig, hatte Angst vor seiner Reaktion, wenn sie jetzt gestand, was sie getan hatte. Schließlich fing sie an zu sprechen, alles andere hatte keinen Sinn. Sie war mit einem Detektiv verheiratet, früher oder später würde er ihren Schwindel herausfinden. „Das ist keine gewöhnliche Post. Das ist eine Herausforderung, du weißt, von wem die Briefe sind, du hast das Logo gesehen, und genauso weißt du auch, dass KID dir nicht nur einfache Briefchen schreibt. Und da du versprochen hast, keinen Fall mehr anzunehmen, dachte ich, ich räum sie beiseite, damit du gar nicht erst in Versuchung kommst.“ Shinichi schaute sie entgeistert an. Er konnte das gerade überhaupt nicht glauben. „Wie fürsorglich von dir. Warum hast du sie dann nicht gleich verheizt?!“ Ran schaute wieder auf, sah in sein verärgertes Gesicht. Es war klar, dass der letzte Kommentar zynisch gemeint war. Aber er hatte Recht; sie hätte sie verbrennen können. Die Idee war ihr auch gekommen; aber irgendetwas in ihr hatte sich dagegen gesträubt, Post an ihren Mann zu verbrennen. Sie hatte es als falsch empfunden. Nervös trat Ran von einem Bein auf das andere. „Ich weiß nicht, warum du dich so aufregst.“, murmelte sie trotzig. „Es ändert nichts am Resultat. Du nimmst keine Fälle mehr an, du hast es mir geschworen. Also brauchst du die hier auch gar nicht lesen.“ Sie hielt die Briefe in die Höhe. Shinichi starrte sie an. Ran konnte ihm ansehen, wie sehr es ihn reizte, sie zu öffnen, einzutauchen in die Welt von KIDs Diebstählen und Rätseln, sich durchzuwühlen durch Codes und Chiffren und wieder einmal versuchen, einen Schritt schneller zu sein als der Meisterdieb. „Gib sie mir! Du hast kein Recht…“ Er brannte darauf. Das Glühen in seinen Augen war untrüglich. Ran schluckte. Sie waren also wieder soweit. Aber diesmal würde sie nicht klein beigeben. „Du hast es versprochen.“ Sie fixierte ihn mit ihren blauen Augen. „Ich hab weiß Gott genug mitgemacht beim letzten Fall, und du auch. Wir hatten abgemacht, dass das der Letzte wäre. Du hast es versprochen!“ Ihre Stimme war lauter geworden. Er kniff die Lippen zusammen, vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen. Lange, lange schwieg er. „Aber mir ist langweilig.“, murmelte er schließlich leise, schaute fast beschämt zur Seite. „Ran, mein Kopf braucht etwas zu tun…“ „Dann überleg dir einen Namen für unsere Tochter, seit heute weißt du ja, dass es ein Mädchen wird, wenn du deinem Kopf Arbeit geben willst. Aber du nimmst den Fall nicht an. Du hast es versprochen!“ Sie schaute ihn an; schlechtes Gewissen loderte in ihr, aber sie hielt es zurück. Sie wollte ihn nicht schon wieder an einen Fall verlieren. Zwar war KID bei weitem nicht so schlimm wie der Serienmörder, aber hatte ihr geliebter Gatte sich einmal in ein Rätsel vertieft, tendierte er dazu, wieder mal alles andere, inklusive Essen, Schlafen und seine schwangere Frau, zu vergessen, bis er die Lösung gefunden und KID optimalerweise dingfest gemacht hatte. Das war wieder Stress… Stress, der ihn Zeit kosten könnte. Und davon hatte er ohnehin nur noch begrenzt, und die, die er noch hatte, gebührte ihr. Er hatte es versprochen. „Ran!“ „Nein!“ „Aber das ist doch kein Mordfall… es ist ein Rätsel… bitte… das bringt mich nicht um…“ „Nein, aber etwas anderes tut es.“, flüsterte sie leise, krampfte ihre Finger um die Briefe, schaute zur Seite; dann legte sie die Umschläge auf einen Tisch. „Schön.“, murmelte sie verbissen. Sie wusste, was sie jetzt tat, war unfair. Sie wusste, wenn sie ihn so anfasste, dann würde sie ihn brechen, aber nur so würde sie verhindern, dass er sich wieder einem Fall widmete. Sie starrte ihn fest an, Entschlossenheit lag in ihren Augen. „Schön, Shinichi. Hier sind sie. Nimm sie.“ Shinichi schluckte, schaute sie betrübt an. Er ahnte, was sie tun würde. Und es war nicht gerecht. „Tu’s ruhig; mach schon, brich dein Versprechen.“, wisperte sie. Er zuckte zurück, obwohl er es hatte kommen sehen. Ihn damit zu konfrontieren war nicht fair. Mit seinem Moralgefühl zu spielen war nicht fair. Er schaute sie traurig an. Lange. Dann drehte er sich um und ging. Er wollte sein Versprechen nicht brechen; aber er verstand auch nicht, warum sie ihn vor die Wahl stellte. Ran schaute ihm nach, in ihrem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit. Sie wusste, es war nicht anständig von ihr gewesen, das zu tun; aber sie hatte sich nicht anders zu helfen gewusst. Er würde ihr das so schnell nicht vergessen, das wusste sie. Unwillig räumte sie die Briefe auf einen Haufen, ließ sie liegen, wo sie waren. Sie wusste, Shinichi würde sie nicht öffnen. Er würde sein Versprechen nicht brechen. Shinichi ging einigermaßen frustriert ins Schlafzimmer, um sich einen Pullover zu holen, als er den leisen Luftzug merkte. Er näherte sich langsam dem Fenster, zog die Gardine beiseite, bemerkte das Loch in der Scheibe und lächelte traurig. Entschuldige KID… diesmal musst du wohl ohne mich spielen. Zugeständnisse -------------- Hallo, ihr Lieben :D Ich hoffe, eure Osterhase war fleißig, und hat massig Süßes da gelassen :D Nun… zu dem Kapitel gibt’s nicht viel zu sagen; ein Sayurikapitel, wieder mal… worum‘s geht, werdet ihr ja bald erfahren. Ansonsten bleibt mir an dieser Stelle eigentlich nur übrig, mich herzlich für eure Kommentare zu bedanken :) und euch viel Vergnügen beim Lesen zu wünschen, Liebe Grüße, eure Leira :3 PS: Danke fürs Aufmerksammachen auf meine Fehler! Habs ausgebessert. ____________________________________________________ Kapitel 11: Zugeständnisse Gegenwart Der Kaffee dampfte in der Tasse, die Hitze wärmte ihre Finger. Sein Aroma stieg ihr in die Nase, als sie den Becher vorsichtig die Treppe hinauf und in ihr Zimmer trug, um ihn dort auf ihrem Nachttischchen abzustellen. Dann kramte sie leise summend das Notizbuch, in dem sie gerade schmökerte, hervor, schlug es auf und blätterte zu der Stelle, an der sie geendet hatte. Während sie am Blättern war, dachte sie an ihre Mutter; sie hatte heute Morgen beim Frühstück nicht mit ihr über den gestrigen Vorfall geredet. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und ihre Mama hatte ebenfalls kein Wort über ihren Alptraum verloren. Auch nicht über den Rausschmiss aus ihrem Schlafzimmer. Eigentlich hatten sie außer „guten Morgen“, als Sayuri die Küche betreten hatte und „bis nachher“, als ihre Mutter in die Kanzlei gefahren war, kein Wort gesagt. Also würde sie warten müssen... bis sie wieder heimkam. Sayuri genoss an diesem Tag den ersten Tag ihrer Frühlingsferien und war wahrhaftig glücklich darüber. Sie wusste auch schon ganz genau, wie sie den ersten Tag verbringen würde. Nämlich lesend, in ihrem Zimmer. Tatsache war allerdings, dass Sayuri das schlechte Gewissen plagte, seit sie ihre Mutter gesehen hatte, wie sie sich verzweifelt an die Bettdecke klammerte, die einst seine gewesen war; gehört hatte, wie sie seinen Namen rief, so voller Sehnsucht. Es hatte sie zutiefst erschreckt und verstört. Und es machte sie traurig. Als sie sie dann auch noch hinausgeschickt hatte… war ihr dann so richtig klar geworden, was ihre Anwesenheit eigentlich für ihre Mutter bedeutete. Sie war da… war ihm angeblich ja so ähnlich… und er, den sie eigentlich an ihrer Seite haben sollte, er war weg, und würde nie wieder zurück kommen. Ihre Mutter liebte ihren Vater wirklich; und zwar immer noch, soviel war ihr jetzt endlich klar. Sie war die ganze Zeit so blind gewesen… und so egoistisch. In Sayuri wühlte ihr schlechtes Gewissen. Es brannte regelrecht, sie merkte, wie ihr die Hitze in den Kopf stieg, so sehr schämte sie sich. Hatte sie tatsächlich gedacht, nur sie hätte es schwer? Das war wohl noch lange kein Vergleich zu dem Leben, das ihre Mutter führte. Sie war nie über ihn hinweggekommen, und wie es aussah, hatte ihr Opa Kogorô Recht; ihre Mutter vermisste ihn heute noch. Nach fünfzehn Jahren immer noch. Und alles vermissen, alles träumen und rufen würde ihn ihr nicht zurückbringen. Stattdessen tanzte sie ihr vor der Nase rum und machte Anschuldigungen. Sayuri stöhnte leise auf und fuhr sich übers Gesicht. Irgendwann musste sie mit ihrer Mutter reden. Bald. Sie schluckte schwer und fragte sich insgeheim… was ihre Mutter für ein Mensch wäre, wäre ihr Vater noch hier. Sie war ihr eigentlich immer recht glücklich vorgekommen; aber wie sie in den letzten Tagen festgestellt hatte, hatte sie sich da wohl gründlich geirrt. Sie vermisste ihren Mann. Sie vermisste ihn, den Vater ihrer Tochter, ihren Lebensgefährten, Partner, Freund. Und sie selbst, die jetzt in seiner und damit auch ihrer Vergangenheit wühlte, Fragen stellte und Vorwürfe machte, riss bei ihr wohl alte Wunden auf, Wunden, die nie verheilt waren, und das tat ihr Leid. Entsetzlich Leid. Allerdings wusste sie auch nicht, wie sie das ändern könnte; sie wollte ihn kennen lernen, ihren Vater, so gut es eben ging; sie wollte wissen, wie der Mann gewesen war, der daran maßgeblich beteiligt gewesen war, dass sie existierte. Sie hatte ja nicht wissen können, dass sein Schicksal so bitter gewesen war; und damit auch das Los ihrer Mutter so grausam. Bekümmert schüttelte sie den Kopf. Nie hätte sie gedacht, dass in ihrem Leben dieses Ausmaß von Tragik vorhanden war. Langsam nahm sie die Tasse vom Nachttisch, trank ein Schlückchen Kaffee und stellte sie wieder zurück. Man würde sehen, wie es heute Nachmittag lief, wenn ihre Mama wieder heimkam. Dann fing sie an zu lesen. Stell dir vor, wir wissen jetzt, was du wirst! :))))) Entschuldige, Hallo erst mal… Also, wir wissen jetzt, was du wirst! Du wirst ein Mädchen! :) Gut, das ist jetzt keine Neuigkeit für dich, und wahrscheinlich ist dir das jetzt eher peinlich, aber für uns war’s eine Neuigkeit, und wir freuen uns wahnsinnig. Sayuri warf das Buch fast weg, bereute es schon fast, es hervorgeholt zu haben. Ihre Augen fingen an zu brennen, ihre Hände zitterten. Sie lehnte sich zurück, zog ihre Nachttischschublade auf, zog eine Tafel Schokolade heraus und brach sich ein Stückchen ab. Während sie sich dich Schokolade auf der Zunge zergehen ließ, versuchte sie, sich wieder in den Griff zu kriegen. Sie hatten sich gefreut. Das war doch kein Grund, gleich so hysterisch zu reagieren. Sie sollte sich freuen, dass man sich auf sie gefreut hatte. Dass sie willkommen gewesen war, dass sogar er sich gefreut hatte, trotz allem, was ihn erwartete. Und irgendwo tat sie das auch… aber es tat weh… gleichzeitig tat es sehr, sehr weh. Gerade auch ganz besonders, wenn sie bedachte, was sie ihrer Mutter mittlerweile mit ihrer bloßen Anwesenheit anzutun schien. Sie schluckte hart, biss noch ein Stück Schokolade ab, kaute energisch. Heute haben wir dich zum ersten Mal auf einem Foto gesehen. Das heißt, eigentlich ist es nicht das erste Bild, aber auf dem Foto sieht man mal wenigstens etwas. Ich seh zu, dass ich es Ran klaue, dann kleb ich es dir hier herein, damit du weißt, wovon ich rede. Nun- man hat deinen kleinen Kopf gesehen - und deine Hände und Füße, so winzige Fingerchen und Zehen :) Du wirst dir jetzt denken, was für ein sentimentaler Trottel ich bin, vielleicht ist dir das jetzt einfach nur peinlich und unangenehm, das Risiko geh ich ein... denn… so was zu sehen ist faszinierend. Du wirst es selber merken, wenn du mal Kinder kriegen solltest. Solltest du dich für Kinder entscheiden. Was selbstverständlich allein deine Sache ist. Aber ich finds Wahnsinn!!! :D Offensichtlich war es ihm gelungen, das Foto zu stibitzen; auf der nächsten Seite klebte ein schwarzweißes Foto, ein Ultraschall… sie seufzte, stierte auf das Blatt, versuchte herauszufinden, was ihren Vater da so entzückt hatte, drehte und wendete das Buch, um vielleicht aus einem anderen Blickwinkel etwas zu sehen. Irgendwelche Schatten… sie hob das Buch näher ans Gesicht, studierte die Formen etwas genauer, meinte, langsam einen Kopf ausmachen zu können. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Dann las sie weiter, ließ sich von ihm wieder einfangen und hinein ziehen, in seine Welt. Nun… ansonsten fällt mir ein, könnte ich dir mal ein wenig über einen gewissen Herrn erzählen… der aus aktuellem Anlass wohl wieder eine kleine Nebenrolle in meinem Leben spielt. Es kann sein, dass du ihm nie begegnest; es kann aber auch sein, dass ihr euch früher oder später über den Weg lauft, vielleicht schon gelaufen seid, und wenn du noch nicht weißt, wer er ist… dann weißt du’s jetzt. Sein Name ist Kaito KID, besser gesagt, sein Künstlername lautet so; oder, wie er vielleicht jetzt, sollte er sich mal zur Ruhe gesetzt haben heißt… Kaito Kuroba. Warum ich denke, dass du was über ihn wissen solltest? Weil es für dich sehr… makaber… werden könnte, solltest du ihm unvorbereitet begegnen. Du solltest ihn ganz leicht erkennen. Der Mann sieht nämlich aus wie ich… er könnte mein Zwilling sein, aber ich versichere dir, er ist es nicht. Nun… solltest du ihn sehen… du weißt jetzt, wer er ist. Nicht dass du… was anderes glaubst. Sayuri blinzelte. Sie konnte fast sehen, wie er am Ende dieses Satzes geschluckt hatte. Es war klar, woran er gedacht hatte; dass sie diesen Kaito auf der Straße für ihn halten könnte. Allerdings… sie war noch nie jemandem namens Kaito Kuroba vorgestellt worden; und einen Menschen namens Kaito KID kannte sie auch nicht. Und außerdem… sie hatte ihren Vater auch noch nie auf Fotos gesehen, wie ihr schlagartig bewusst wurde. Sie hatte keine Ahnung, wie er aussah. Sie wusste, sie sah ihm wohl ähnlich, aber ihn hatte sie noch nie gesehen. Ihr wurde auf einmal sehr heiß. Wie kam es, dass sie noch nie ein Foto von ihm gesehen hatte? Und vor allem: Wie kam es, dass sie immer noch keins gesehen hatte, jetzt, wo sie diese Bücher las?! Unwillig verzog sie die Lippen. Daran würde sie bald was ändern müssen, sehr, sehr bald. Aber nicht jetzt; jetzt war dieser Kaito wichtiger. Ihr Vater würde ihn nicht erwähnen, wenn er nicht in irgendeiner Weise etwas mit ihm zu schaffen gehabt hatte. Kaito KID war zumindest zu meiner Zeit der wohl außergewöhnlichste Dieb ganz Japans. Sayuri zog die Augenbrauen hoch. Ein Dieb? Das klang in der Tat interessant. Nun; also. Kaito Kuroba ist in etwa so alt wie ich, sieht aus wie ich und hat sich netterweise auch schon ab und an für mich ausgegeben. Ich nehme allerdings an, dass er heutzutage doch soviel Taktgefühl in sich hat, dass er es nicht mehr macht. Für so unsensibel und geschmackslos halte ich ihn eigentlich nicht. Sayuri grinste breit. Dieser KID schien ein wirklich außergewöhnlich humorvoller Zeitgenosse zu sein. Nun. Er ist ein Dieb, wie ich sagte, und zwar auf seine Weise interessant; ich muss zugeben, für mich waren Diebe von jeher jenseits meiner Interessenssphäre – Kleinkriminelle interessierten mich eher weniger, ich hab mich mit ihnen nur beschäftigt, wenn sie mir wirklich förmlich vor die Füße fielen. Allerdings hatte Kaito so seine Methoden, selbst jemanden wie mich, der sich eigentlich nur den Kapitalverbrechen widmete, anzulocken. KID klaute grundsätzlich nur wertvolle Steine; und nach einiger Zeit gab er sie zurück. Warum, erkläre ich dir vielleicht ein andermal, das ist eigentlich unwichtig hier; ich weiß es, allerdings hat das was mit seiner eigenen Geschichte zu tun, und das Recht, dir darüber etwas zu sagen, hat, denke ich, eigentlich nur er selbst. Der gute Kaito verstand es jedenfalls sich und seine Raubzüge in Szene zu setzen. Er verteilte im Vorfeld Warnungen, stets dekoriert mit einer kleinen Karikatur seiner selbst, die er immer eigenhändig darunterkrakelte; kündigte immer an, was er stehlen wollte, wann und wo, damit ja die ganze Polizei Bescheid wusste. Manchmal verschlüsselte er die Nachricht, manchmal nicht; man muss wohl sagen, er passte seine Herausforderungen denen an, die er herauszufordern gedachte. Bei seinem Erzfeind, Kommissar Nakamori, machte er es wohl nicht allzu schwer; wusste er, dass ich oder Hakuba (ein anderer 'special friend' von KID; er war ebenfalls Oberschülerdetektiv wie ich) mit von der Partie sein würden, ließ er sich ein wenig mehr einfallen. Mit mir kriegte er es das erste Mal zu tun, als ich… noch nicht Conan war. Allerdings wusste er da wohl noch nicht, dass ich es war, denn er bekam mich nicht zu Gesicht. Ich saß mit Meguré in einem Polizeihubschrauber und erriet seine nächsten Schritte, seine Tarnung, während er versuchte, einen Stein aus einer Turmuhr zu klauen, wofür er wie Christo, der große Verpackungskünstler, allerdings unbemerkt, die Turmuhr verhängte und darauf das Bild einer Uhr ohne Zeiger abbildete. Er hatte ja, Großmaul, das er war, angekündigt, er werde die ganze Uhr stehlen. Nun glaubte jeder voller Schreck, dass KID seine Drohung wahr gemacht hatte, und die Uhr geklaut hatte, was selbstverständlich Schwachsinn war. Er war nur hinter dem Stein her, aber hierfür kam er zu spät; er war längst durch ein wertloses Duplikat ersetzt worden. Der zweite Fall, bei dem wir uns kennelernten, er aber immer noch nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte, war auf einem Schiff, das die Suzuki-Familie gechartert hatte; er wollte dort eine Perle stehlen, den Black Star. Zu dem Zweck verkleidete er sich, man möchte es kaum glauben und dafür könnt ich ihm heut noch den Hals umdrehen, als deine Mutter. Er legte sie in ein Rettungsboot, wo sie den Abend verschlief, verkleidete sich als sie (er war ein exzellenter Verkleidungskünstler, das musste man ihm lassen… er konnte sogar Stimmen imitieren und gab daher ein wirklich glaubhaftes Double von Ran ab) und verbrachte den Abend mit deinem Opa und mir. Nun. Irgendwann hatte ich ihn enttarnt… als ich ihn dann stellte, entwischte er mir allerdings wieder… aber ohne die Perle gestohlen zu haben, immerhin. Du fragst dich jetzt vielleicht, warum er nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte… nun, denk nach, dann kommst du selber drauf. Genau. Ich war gerade dabei, meine zweite Kindheit zu verleben. -.- So ein Mist war das… was hab ich geflucht, er ist mir so oft entwischt, weil ich einfach zu klein, zu kurz, zu kraftlos für Verfolgungsjagden war. Ich hab mir immer wieder was Neues einfallen lassen, aber leider kam ich als Conan nicht hinterher. Ich verhinderte regelmäßig, dass er klaute, was er zu klauen gedachte, aber dingfest machen konnte ich ihn nie. Später dann fand er es heraus… wer Conan war. Er war einer der wenigen Personen, die es wussten. Und er hielt dicht, was ich ihm hoch anrechne. Du musst wissen, Kaito KID war nicht wie alle anderen Diebe. Nicht nur, dass er seine Diebstähle immer ankündigte… nein. Er schlich sich nicht in dunklen Klamotten durch die Straßen, klebte nicht wie eine Spinne an einer Wand, versuchte nicht, um jeden Preis nicht gesehen zu werden. Nein. Für seine Aktionen verkleidete er sich zwar, als Polizist, deine Mutter, als Schauspieler oder sonst wer… aber er zeigte sich bei jedem Raubzug in seiner klassischen Montur, wenn er sich dem Finale näherte, und er pflegte auch immer in seinem Kostüm seinen Abgang zu machen, vorzugsweise eben, wie gesagt, davonzuschweben in die Nacht. Wenn nicht gerade irgendwas ihm vom Himmel holte. ;D Er hat was übrig für dramatische Auftritte, oh ja… Er trug in der Regel einen weißen Anzug, weiße Handschuhe, einen weißen Zylinder und ein Monokel; abgerundet wurde das ganze von einem weißen Umhang, den er, wenn die Umstände es verlangten, zu einem Gleitschirm umbauen konnte, um von Dächern oder ähnlichem zu flüchten. Er war dreist, ja. Er war schadenfroh, frech, manchmal hinterhältig, aber er hatte seinen eigenen Charme. Man duellierte sich gern mit ihm, auch wenn er oft mal mit gezinkten Karten spielte. Und er macht das immerhin schon in zweiter Generation. Der erste Kaito KID war sein Vater- und der führte seine Fehde, genau- mit deinem Opa, meinem Vater. Das Ganze ist also durchaus generationenübergreifend, sozusagen. :) Sayuri grinste, konnte sich denken, dass irgendein Geschoss, wohl ab und an von ihrem Vater wohl abgefeuert worden war, um den großen, weißen Vogel vom Himmel zu holen. So; warum ich davon jetzt erzähle, hat folgenden Grund. Dieser Taschendieb hat mal sich wieder gemeldet. Bei mir. Bis jetzt hat er drei Briefe geschickt, und ich kann keinen öffnen. Nachdenklich zog Sayuri ihre Augenbrauen zusammen. Warum konnte er die Briefe nicht aufmachen? Waren sie aus reißfestem Papier oder so? Ich hab deiner Mutter im Zuge des letzten Falls, der mich ja stellenweise zugegebenermaßen etwas sehr mitgenommen hat, versprochen, dass das mein letzter war. Und jetzt meldet sich KID! Du kannst nicht glauben, wie’s mir in den Fingern juckt >.< Irgendwie ist mir langweilig, ich würd mich so gern ein wenig geistig duellieren… aber deine Mutter ist da leider kompromisslos. Deshalb bin ich gerade eben auch ein wenig sauer auf sie. Ich kann sie ja verstehen. Wahrscheinlich will sie nur konsequent sein, und hat Angst, wenn sie mir den einen lässt, dann wird diese ganze Sache wieder von vorne anfangen… Sie fürchtet wohl, ich werde rückfällig und nehme wieder einen Fall nach dem anderen an. Das ist doch Quatsch. Wie gesagt, das ist es nicht, was mich so ärgert. Sie hat meine Post abgefangen und versteckt, ist das zu fassen? Damit hätte ich nicht gerechnet... und sie nimmt mich bei meinem Versprechen… sie weiß ganz genau, dass ich es nicht brechen würde… aber ich hätte diesen Fall so gern… ich würde sein Rätsel ehrlich gern lösen. Vielleicht krieg ich ihn diesmal dran… Aber das wird wohl eher nichts, weil deine Mutter mich nicht lässt. Das ist unfair von ihr, irgendwie, zumindest die Methode, wie sie sich durchsetzt. Eigentlich will ich nicht petzen oder schlecht reden über Ran… bitte, versteh das nicht falsch. Ich liebe sie. Über... über alles. Wirklich. Ich weiß, sie hat Recht, und ich habs ihr auch versprochen. Ich weiß, sie will nur das Beste für mich, und ich ahne, wie schwer das alles ist für sie. Eigentlich gibt es dazu nichts weiter zu sagen, ich kann sie so gut verstehen... es war wohl wirklich nicht leicht mit mir in letzter Zeit... und ich weiß nicht, wie ich an ihrer Stelle handeln würde. Vielleicht genauso. Aber… Geht es hier denn gar nicht mehr darum, was ich noch will? KID bringt keinen um… er amüsiert mich eher, als dass er mich irgendwie runterzieht. Das was er veranstaltet ist eine Art sportlicher Wettkampf… kein Rennen um Leben und Tod. Und ich nehm danach auch wirklich keinen anderen Fall mehr an. Aber solange deine Mutter nicht abrückt von ihrer Meinung, muss ich mich wohl geschlagen geben. Nun. Jetzt weißt du, wer er ist; also wenn du ihn mal siehst, nicht erschrecken… du kannst ihn ja grüßen von mir, da wird er wohl nicht schlecht staunen. Also dann… ich seh mal, ob ich deine Mum nicht doch noch weich klopfen kann… wenn nicht, muss ich mir ein neues Hobby suchen, denn ich geh hier ein vor Langeweile… Nun denn… einen schönen Tag wünsch ich, bis demnächst, Töchterlein! Unwillkürlich musste Sayuri grinsen. Da sah er sich mit seinem nahenden Tod konfrontiert, und was machte ihr Vater, mit der Zeit, die ihm noch blieb? Er langweilte sich. Sie zog die Augenbrauen hoch. Ohne bitteren Unterton war das alles allerdings auch nicht gewesen. Er entwickelte wohl eine gehörige Menge Galgenhumor. Aber… Warum hatte ihre Mutter ihm nicht erlaubt, den Fall noch zu bearbeiten? Nun gut, die Gedankengänge ihrer Mutter glichen manchmal einem Labyrinth, also würde sie schon irgendwie ihre Gründe gehabt haben… Inkonsequenz, Angst für Rückfällen, wa auch immer. Allerdings schien sie ihm da keinen Gefallen getan zu haben. Dann schlug sie das Buch sanft zu, legte es auf ihren Nachttisch. Gedankenverloren wanderte sie aus ihrem Zimmer, stieg die Treppe nach unten, fand ihre Mutter in der Küche mit einem Haufen Akten, die sie gerade durchsortierte, und erstarrte. So früh hatte sie sie nicht zurückerwartet. Ran fuhr hoch, als sie die Tür knarren hörte, sah ihre Tochter, die sie etwas reserviert anschaute. Ihre Augen waren leicht gerötet. Schüchtern trat Sayuri ein. „Wegen… den letzten Tagen… Es… es tut mir Leid. Vor allem… gestern. Ich…“, murmelte das Mädchen leise. Ran seufzte, schaute sie an, lächelte sanft. „Das muss es nicht. Du hast ja Recht, ich hätte dir was erzählen sollen. Aber ich brachte es einfach nicht über mich…“ Sie schob einen Stuhl zurück, winkte ihre Tochter her. Sayuri trat langsam näher, setzte sich zögernd. Lange blickte Ran sie an, legte den Kopf schief. „Entschuldige, wenn ich dich gestern erschreckt hab…“, flüsterte sie langsam. „Das war… nicht auf dich bezogen. Es ist nur… du… er…“ „Du hast…“, begann Sayuri, wurde von ihrer Mutter unterbrochen. „…von deinem Vater geträumt, ja.“ Sie nickte kaum merklich, stützte ihren Kopf auf beide Hände, schaute die Tischplatte an. „Es ist Jahre her, das ich das letzte Mal von ihm geträumt hab. Aber letzte Nacht musste er wohl mal wieder vorbeischauen…“ Eine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel, rann an ihrer Nase entlang, perlte auf ihre Lippen. Ran presste ihre Kiefer zusammen, versuchte, sich zusammenzunehmen. „Hast du schon mal geträumt, und geglaubt, es wäre real? So geht’s mir mit jedem Traum, in dem er vorkommt… und es ist immer das gleiche. Er ist hier, in diesem Haus, wir sind alle hier… und immer wieder geht er… immer wieder verlässt er mich. Und jedes Mal sieht er mich dabei so traurig an.“ Sie seufzte tief. „Wenn ich nur wüsste, was er mir sagen will. Ich will ihn einerseits gar nicht mehr sehen… nicht mehr sehen, weil ich weiß, wenn ich aufwache, wird er wieder weg sein. Ich will, dass er mir fernbleibt. Damit ich vielleicht mal meinen Frieden machen kann. Und andererseits würde ich am liebsten auf ewig weiterschlafen, bleiben, in diesem Haus meiner Träume, mit meiner Familie, mit dir und mit… Shinichi… ich weiß nicht, warum ich von ihm träume…“ Gedankenverloren runzelte sie die Stirn. „Er sagt, er müsse mit mir reden, aber wenn er merkt, dass ich… beginne, mich reinzusteigern… dann geht er. Und ich schaffs aber jedesmal, mich reinzusteigern, verdammt, es fühlt sich alles so echt an…“ Ran schluckte, schaute nach oben, an die Decke, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, schniefte, holte Luft. „Er will… will wohl den Schmerz so gering wie möglich halten. Ach, was rede ich…“ Sie warf ihrer Tochter ein ironisches Lächeln zu. „Natürlich ist nicht er es, der mich aufwachen lässt, wenn ich anfange, mich an ihn zu klammern, sondern mein Unterbewusstsein. Aber es kommt doch aufs Gleiche raus.“ Ran begann, einen Stoß Akten zusammen zu schieben. „Ich bin albern… ich weiß.“ „Nein, bist du...“ „Lass gut sein, Sayuri.“ Sie legte die Blätter beiseite, dann schaute sie ihre Tochter an, streckte die Hand aus, streichelte ihr über die Wange. „Du hast seine Augen. Deswegen… deswegen konnte ich dich gestern nicht… nicht sehen… es… es tut mir wirklich Leid.“, flüsterte sie, schniefte erneut. „Was bin ich für eine Mutter… Aber es ist… es ist so schwer…“ Sie seufzte, holte Luft. „Manchmal, wenn du mich ansiehst, glaube ich, er sieht mich an. Und das ist genau das, was er befürchtet hat. Dass du mich Zeit meines und deines Lebens an ihn erinnerst. Er hatte wieder mal Recht, wie so oft… Es ist unfair, dass er so oft Recht behielt…“ Sie setzte sich auf, straffte ihre Schultern, strich sich eine weitere Träne aus dem Auge. „Aber egal, wie schwer es manchmal ist, ich will, dass du weißt, dass ich dich sehr, sehr lieb hab. Du bist das Beste, neben ihm, was mir in meinem Leben je passiert ist. Und ich hab nie bereut, dass ich ihn damals reingelegt hab.“ Sie lächelte verhalten. „Oh meine Güte, das war unschön, als er es herausgefunden hat…“ Sie lachte leise. Sayuri schaute sie interessiert an. „Wie hat er es denn…?“ „Du… weißt… hat er dir gesagt…?“ „Dass er eigentlich gegen ein Kind war, ja.“ Sie nickte. „Und ich nehm ihm das nicht übel, echt nicht. Es… ist aus seiner Situation heraus sehr verständlich. Außerdem entschuldigt er sich hundertmal dafür… Aber jetzt erzähl, wie hat er es denn dann herausgefunden? Hast du ihm keine Kindersachen gekauft?“ Ran legte ihren Kopf in den Nacken. „Nein. Nachdem er so ablehnend reagiert hat, hab ich immer weiter rausgezögert, es ihm zu sagen. Und eines Morgens hat er mich im Bad gefunden. Über der Klobrille. Mehr muss ich wohl nicht sagen…“ Sayuri grinste. „Nein, musst du nicht. War er sauer?“ „Oh ja.“ Ran schaute sie aus ihrem Augenwinkel heraus an. „Oh ja, das war er. Und zu Recht, ich hab ihn dreist angelogen, und das war es, was ihn wütend machte. Nicht dass ich schwanger war, das machte ihm nur das Leben schwer, weil er sich jetzt noch um ein paar Dinge mehr sorgen konnte, und er sorgte sich wirklich. Nein. Er war sauer, weil ich ihn angelogen hab. Aber er hatte sich bald wieder im Griff…“ Sie seufzte. „Was wohl allein der Tatsache zu verdanken war, dass er sich sehr wohl bewusst war, wie knapp bemessen seine Zeit war, und dass er sie nicht mit Streiten verbringen wollte. Und ich muss zu meiner Schande gestehen, ich hab das auch ab und an ausgenutzt.“ „KID?“ Ran zog die Augenbrauen hoch. „Ja, KID; aber den Fall hat er doch noch gekriegt. Alles andere wäre auch… unfair ihm gegenüber gewesen…“ „Du hast ihm den Fall dann doch gelassen?“ „Was? Soweit bist du noch gar nicht?“ Sayuri schaute ihre Mutter an, schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht. Warum?“ Ran schluckte, schaute auf die Tischplatte. „Warts ab, das war lustig… ich hätte mich da echt nicht so zieren sollen, vielleicht wär er dann nie auf so dumme Gedanken gekommen… vielleicht hätte ihn das genug abgelenkt, vielleicht hätte er dann einfach nicht drüber nachgedacht, seine… Situation und die Probleme ignoriert, so wie er es auch vorher zu tun pflegte…“ „Dumme Gedanken?“ Das Mädchen beugte sich vor, schaute ihre Mutter mit schiefgelegtem Kopf an. „Ja…“ Rans Stimme verlor sich, ihr Blick schweifte in die Ferne, aus dem Fenster. „Sehr, sehr dumme Gedanken…“ Dumme Gedanken -------------- So… bevor ich euch diesem Kapitel überlasse, muss ich ein wenig vorwegschicken. Erstens fiel es mir unheimlich schwer, mich durchzuringen, das hier zu laden, und ich schwitze in diesem Moment wahrlich Blut und Wasser, was ihr dazu sagt. Ich möchte euch nur um eines bitten… ich weiß, man kennt Shinichi als starke Persönlichkeit, als jemandem, der in der größten Krise standhaft bleibt, jemand, der nie die Nerven verliert, der immer mutig ist und Hoffnung hat, nie aufgibt, sich vor fast nichts fürchtet. Jemand, der Prinzipien hat, und danach lebt, und das Leben schätzt. Das will ich ihm nicht absprechen. So ist er, das macht ihn aus. Aber man muss sich jetzt auch mal in seine Situation versetzen; kann es da nicht sein, dass er mal… einbricht? Dass er nicht mehr will oder kann… diese Frage hab ich mir gestellt. Welchen Lichtschimmer kann er noch sehen, wenn es keinen mehr gibt...? Kann er da nicht mal auf… sehr, sehr dumme Gedanken kommen, weil er denkt, es wär zum Wohle aller? Weil er wie immer an das Leid denkt, dass er anderen verursacht, und es einfach nur beenden will? Ist ein Tief in dieser Situation nicht fast vorprogrammiert... eine Situation, in der er sich selber nicht mehr helfen kann... Mit diesen Gedanken lass ich euch nun allein. Ich wünsche… gute Unterhaltung. Viele Grüße, bis zum nächsten Mal, eure Leira ____________________________________________________________________ Kapitel 12: Dumme Gedanken Vergangenheit Kaito Kuroba wusste nicht, was los war. Sein geschätzter Konkurrent hatte immer noch nicht geantwortet, und langsam machte er sich doch Gedanken, woran das lag. Ob es wirklich nur Ran war, die ihn bremste, oder ob das mit seiner gesundheitlichen Konstitution zusammenhängen könnte. Leider konnte er ihn das kaum fragen, und auch sonst niemanden, der ihm darüber Auskunft geben könnte… Und so wartete er. So wartete der Dieb im Mondschein, auf sein Publikum; versuchte, es mit immer neuen Einladungen zu locken und übte sich in Geduld. Auch wenn ihn wachsende Unruhe immer mehr zu schaffen machte. Ran seufzte, schaute ihn an. Langeweile war ihm quer übers ganze Gesicht geschrieben. Zwar schrieb er fleißig an seinen Büchern weiter, überlegte sich Namen für ihre Tochter, traf sich mit seinen Eltern und mit Heiji… verbrachte mit ihr eine schöne ruhige Zeit, um es mal grob zusammen zu fassen. Schön und ruhig… Aber sie sah ihm an, dass es Momente gab, in denen ihm das nicht genug war. Gute zwei Wochen waren vergangen, seit er die Briefe gefunden hatte. Zwei Wochen, in denen täglich mehr und mehr Briefe mit dem Logo KID’s eingetroffen waren. Jedes Mal, wenn er einen fand, händigte er ihn ihr aus, mit einem zuweilen sehr sauren, aber immer enttäuschten Ausdruck auf dem Gesicht. Sie hatten sich nicht mehr gestritten, aber sie wusste, er nahm es ihr übel. Und gleichzeitig konnte er es ihr nicht übel nehmen. Er liebte sie. Auf dem Schreibtisch in ihrem Bücherzimmer häufte sich der Berg an ungeöffneten Briefen; KID schien es wohl momentan als hinreichendes Überzeugungsmittel anzusehen, die Menge der Umschläge beständig zu erhöhen. Eingebrochen war er seither nicht mehr… anscheinend brütete er über eine andere Idee, sie zu kontaktieren. Aber Shinichis Frustration und seine gelegentlichen Meckereien waren nicht alles, was sie störte, beunruhigte. Klar klang er genervt, gelangweilt; aber er gab sich immer noch Mühe, für sie da zu sein, er schnitt sie nicht, obgleich er wohl verärgert war… aber er war sich immer noch allzu deutlich bewusst, dass… vergeudete Zeit, verschenkte Zeit, auf ewig verlorene Zeit war, und was ihm blieb, wollte er nicht durch Streitereien mit ihr verlieren. Er liebte sie, und er zeigte es auch. Auch wenn er gelegentlich etwas verärgert war, so liebte er sie dennoch. Liebte sie mehr, als er wütend auf sie war. Er lebte für sie. So wie sie für ihn. Nur deshalb war er wohl, was KID betraf, noch einigermaßen erträglich. Würde dieses Damoklesschwert nicht über ihren Köpfen pendeln, wäre er ihr wohl schon längst ganz anders aufs Dach gestiegen, aber so unterließ er es. So kümmerte er sich um sie und um sein Baby, so gut es ging. Er wollte seine Zeit wohl nutzen. Was ihr viel mehr Sorge bereitete, war sein Gesundheitszustand. Es war unübersehbar, er baute ab. Ran wusste, er ertrug es stoisch. Er bekam Schmerzmittel, also musste es auch erträglich sein, das hoffte sie. Sie bekam es nicht mit, weil er sich für gewöhnlich verzog, wenn es anfing, wenn doch mal einer dieser Anfälle kam und ihn niederwarf. Meistens merkte sie es nicht mal, wenn er ging, er verbarg es so geschickt; sie erkannte nur gelegentlich hinterher, was los gewesen war, weil er einfach blasser im Gesicht war… und etwas atemlos. Aber es war frustrierend, zu sehen, wie er immer mehr Zugeständnisse machen musste. Wie er, der doch früher vor Elan und Dynamik nur so sprühte, immer mehr Gänge zurückschalten musste. Manchmal war es schlimmer, dann gab es Tage, da merkte man seinen Zustand gar nicht, aber sie alle wussten, was los war… es ließ sich nicht aufhalten. Sie wusste, ihn störte das genauso wie sie, denn es schränkte ihn ein. Aber in letzter Zeit waren diese Phasen, in denen er… immer wieder mal verschwand… häufiger geworden… und die letzten drei Tage, ungefähr, stand er fast gar nicht auf. Er hatte keinen Appetit, aß kaum, schlief viel und redete wenig. Sie wusste nicht, ob es nur eine Phase war, oder ob es Verhängnisvolleres bedeutete. Sie hatte Angst, aber immer, wenn sie ihn darauf ansprach, wiegelte er ab. Tatsächlich war es viel schlimmer, als sie ahnte. Er ließ es sie nicht wissen, nicht einmal ahnen, aber in letzter Zeit fühlte er sich nur noch schrecklich. Zwar waren die Schmerzen noch im Rahmen des Erträglichen, aber es kostete ihn Kraft. Er verschlief seit ein paar Tagen Stunden, halbe Tage, nur um danach genauso müde, erschöpft, zu sein. Er wusste, vier Monate waren bereits vorüber. Prognostiziert waren im noch ungefähr zwei. Langsam zweifelte er daran, ob er die zwei noch schaffen würde. Er wollte, wollte unbedingt; aber die letzten Tage zwangen ihn in seine Schranken, machten ihm das Leben nicht mehr lebenswert, und zeigte ihm nur zu deutlich, dass er nicht mehr Herr über sein Leben war. Und er wusste, die anderen sahen das. Er wusste, sie litten mit ihm. Gerade eben war er allein zuhause; Ran war kurz einkaufen, und er ging im Zimmer auf und ab, wusste nicht wohin mit sich. Shinichi seufzte, strich sich mit zitternden Fingern über die Augen. Er war erschöpft. Müde, kraftlos… Er dachte nach, machte sich Sorgen. Shinichi wusste ja, merkte es, sie alle sahen es, bekamen mit, wie es um ihn stand. Sie alle wussten es. Seine Eltern kamen fast täglich, Agasa uns Shiho ebenso. Und ihre bedauernden, mitleidigen, besorgen Blicke machten es für ihn nur noch schlimmer. Es erinnerte ihn ständig daran, wie kurz sein Leben nur noch war. Es fühlte sich an für ihn, als würden sie alle nur drauf warten, dass er endlich umfiel. Shinichi wusste, dem war natürlich nicht so; aber sie alle behandelten ihn wie ein rohes Ei. Sie fingen schon an, gelegentlich in seiner Gegenwart zu flüstern, wenn sie glaubten, er höre es nicht, und das gab ihm den Rest. Für ihn fühlte es sich an, als glaubten sie, dass er gar nichts mehr aushalten könnte. Langsam atmete er aus. Was bringt das noch? Vor wenigen Wochen noch war er so euphorisch gewesen; hatte sich vorgenommen, durchzuhalten, zu versuchen, die Geburt seiner Tochter noch zu erleben, aber momentan driftete das alles ab in so weite Ferne… in so unendlich weite Ferne. Es schien einfach nicht möglich. Drei bis vier Monate länger waren auch utopisch, wenn er sich so ansah… er konnte es ja im Spiegel sehen, wie es um ihn stand. Was hatte er sich dabei gedacht, sich der Versuchung hinzugeben, zu glauben, er könnte das schaffen, irgendwie? Ran die Hoffnung zu machen, ihr Kind doch nicht allein auf die Welt bringen zu müssen? Was zum Teufel hatte ihn geritten?! Er stöhnte leise auf, ließ sich in einen Sessel sinken, genoss die Stille. Das Letzte, was er jetzt hätte gebrauchen können, wäre wieder jemand gewesen, der versuchte, ihn dazu zu bringen, sich hinzulegen und eine Tasse Tee zu trinken. Ruhe und Tee lösten seine Probleme schon lange nicht mehr. Shinichi vergrub den Kopf in seinen Händen. Schmerzen. Sie beherrschten sein Denken. Den ganzen Tag war ihm schon schlecht, schwindelig… Er fühlte sich zum Kotzen. Wahrscheinlich wäre es mal wieder Zeit gewesen für einen Besuch beim Arzt, der dann wohl versuchen würde, ihm ein anderes Mittel zu geben, das ihm vielleicht helfen konnte. Aber sie beide wussten doch, wenn er kam… sie kämpften beide gegen Windmühlen. Jedesmal dieser Blick voller Mitleid. Er verabscheute es. Verabscheute sich. Verabscheute das Mitleid. Hasste es. Noch schlimmer war allerdings, wenn er Ran in die Augen sah. Denn was sie empfand, ließ sich mit Mitleid schon lange nicht mehr beschreiben. Er litt darunter, weil er wusste, es war echt; und er wollte nicht, dass sein Leiden ihr wehtat. Er stand wieder auf, begann wieder auf und ab zu gehen, seine Gedanken drehten sich im Kreis. Er würde sterben. So bald schon sterben. Aber was war das denn noch für ein Leben, das er führte? Shinichi verzog das Gesicht. Das war kein Leben mehr… er hatte nichts, auf das er sich noch freuen konnte. Ihm war keine ruhige Minute vergönnt. Er konnte sein Essen nicht mehr genießen, er konnte nicht ruhig schlafen, weil die Schmerzen ihn hochfahren ließen, oder wenn sie es nicht wahren, ihm seine Zukunftsängste, die Ran und das Baby betrafen, den Schlaf raubten. Und weil er so schlecht träumte, so schlecht schlief, war er gereizt. Er ertrug keine Berührung, weil es wehtat, und er ertrug keine Gesellschaft, weil er wusste, er tat ihnen weh. Er fügte ihnen Leid zu. Tag für Tag. Shinichi fröstelte, ein Schauer lief ihm über den Rücken. Leise seufzte er, starrte an die Decke. Es war die Hölle auf Erden. Seit drei Tagen schauten ihn alle so an… Sie warteten, er wusste es ja. Sie warteten. Und er fragte sich, ob er sich das bis zum bitteren Ende antun musste. Ob er ihnen allen das antun musste. Ob er nicht lieber gleich… seine Gedanken drifteten ab in dunkle Sphären. Schon seit einer Weile dachte er daran. Jedes Mal, wenn er Ran sah. Wenn sie sich an ihn schmiegte. Es tat so weh. Es war so furchtbar, sie so zu sehen, diese Trauer in ihren Augen… Sie fürchtete sich jetzt schon vor der Minute, in der er Lebwohl sagen musste, und dieser Tage schien sie zu glauben, dass dieser Moment nicht mehr fern sein konnte. Es war ein Wunder, dass sie ihn überhaupt einmal allein gelassen hatte, und dazu auch noch ohne den Professor, ohne Shiho, ohne Heiji oder seine Eltern, die auf ihn aufpassten. Er wollte ihr das sparen. Er wollte sie nicht mehr so sehen. Und er wollte diese Schmerzen nicht mehr spüren. Seine nicht, und nicht die der anderen. Tag für Tag stopfte er sich mit Pillen voll und wofür? Er spürte die Blicke seiner Mutter, seines Vaters, jedes Mal wenn sie da waren. Dieses Mitleid. Diese Trauer. Dieser Schmerz. Sie nahmen ihn doch alle gar nicht mehr als Lebenden wahr. Sie alle betrauerten schon seinen Tod. Er würde es nicht schaffen. Dieses letzte Ziel, das er sich gesetzt hatte, er würde es nicht erreichen; alles was er erreichte, war, das Leid für seine Familie nur noch zu vergrößern, indem er ihnen seine Anwesenheit antat. Was bringt das dann noch? Shinichi stöhnte unterdrückt auf. Das muss ich mir doch nicht antun… das muss ich ihr nicht antun… ihnen allen nicht. Ich wollte leben bis zu Schluss, aber was ist mein Leben denn noch? Eine Ruine, ein verdorrtes Stück Land, eine Wüste… Es ist schwarz… Er lächelte bitter. Schwarz, in der Tat. Wäre es nicht besser, er würde einfach einen klaren Schlussstrich ziehen…? Ein für alle Mal das Leid aller beenden…? Welches Recht hatte er, ihnen das anzutun, zu warten, bis er ging…? Sie mehr oder weniger zu zwingen, so mit ihm mit zu leiden? Seien wir ehrlich… ich bin doch schon tot. In ihren Augen bin ich kein Mensch mehr, kein richtig lebender, zumindest… Ich bin tot… aber ich bin dazu verdammt, in dieser Hülle noch weiter über diese Erde zu wandeln, die für mich keine Gnade mehr bereithält… Das ist unfair… Unfair… Ich darf nicht leben, aber endlich gnadenvoll sterben darf ich auch nicht… Warum nicht…? Warum tut man mir das an… ich will das nicht. Ich will ihnen nicht länger wehtun… In dem Moment hörte er, wie die Haustür aufgesperrt wurde. Er ging zur Wohnzimmertür, gerade als Ran ins Zimmer kam; sie sah diesen Blick in seinen Augen sofort. Und deutete ihn korrekt. „Vergiss es.“ Sie schaute ihn an, näherte sich ihm, nahm seine Hände, zog ihn an sich. Er ließ es geschehen, rührte sich nicht. „Ich weiß es ist schwer, aber das ist keine Lösung…“ Lange schwieg er. „Du weißt nicht, wie das ist…“, murmelte er schließlich tonlos. „Stimmt. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, wie es wäre, wenn du das tust, an was du gerade denkst.“ Wenn du aufgibst... Sie schaute ihn starr an. Er verzog gequält das Gesicht. „Ich will nicht mehr. Was hat das noch für einen Sinn…“ Seine Stimme klang ausdruckslos, sein Blick war starr. Sie schob ihn weg von sich. „Du willst hinschmeißen?! Wer hat da noch mal gesagt, er wolle leben, jeden Tag nutzen?! Hast du das alles vergessen, Shinichi?!“ Bei dem harschen Tonfall, den sie plötzlich an den Tag legte, fuhr er unwillkürlich zusammen. Wandte beschämt den Kopf ab, lehnte sich an den Türpfosten, atmete tief durch. Sie sah seine Lippe zittern, sah wie weiß sein Gesicht war, und wusste, dass es nur die Schmerzen und seine Sorgen waren, die seinen Geist zu solch dunklen Orten führten. Die Hoffnungslosigkeit, die sie mit sich brachten. „Ich will nicht sterben, Ran. Ich will nicht drauf warten. Ich pack das nicht. Allein der Gedanke daran macht mich fertig mittlerweile, ich dachte nie, dass das so ein Problem für mich ist, bedenkt man… bedenkt man, wie oft ich dem Tod schon ins Auge gesehen hab, und es akzeptiert hab, es in Kauf genommen habe, ohne zu zögern oder zu klagen, aber…“ Sie schluckte, lehnte ihre Stirn gegen seine Brust. „… das hier ist anders. Ich komm nicht klar damit. Und es… es… ich weiß, der Zeitpunkt rückt näher. Die Anfälle sie… sie kommen immer häufiger. Dauern länger. Tun mehr weh…“ Sie schaute ihn bekümmert und erschrocken gleichermaßen an. Also doch… Ihr Herz schlug schmerzhaft gegen ihren Brustkorb. Er schien sie gar nicht wahrzunehmen, fuhr geistesabwesend fort. „Sag mir, was ist das für ein Leben, in dem alle mich schon wie einen Toten behandeln? Was ist es denn noch wert?“ Rans Mund öffnete sich leicht, etwas verletzt schaute sie ihn an. Allerdings konnte sie seinen Vorwurf nicht ganz von der Hand weisen. Es war so. Sie alle… sie alle konnten schon seit Tagen nicht mehr ruhig schlafen. Machten sich Sorgen. Jede Nacht schlief sie voller Angst ein… jeden Morgen durchströmte sie eine heiße Welle der Erleichterung, wenn sie in seine klaren blauen Augen schauen konnte. Shinichi hatte Recht. Sie alle standen momentan unter Strom. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Ich will das nicht mehr. Ich weiß, es ist... verwerflich, ich weiß, wie ich immer darüber gedacht hatte. Ich weiß das. Aber... Ich darf nicht weiterleben, aber einen gnadenvollen Tod vergönnt man mir auch nicht. Und ich will nicht… ich will dich nicht so mitleiden sehen. Ich frage mich, ob... ob..." Shinichi schluckte hart. "Ich will, dass du abschließen kannst. Und ich… manchmal denke ich… es wäre einfacher, wenn… einfacher für uns beide, für alle… wenn ich nur…“ Sie hielt ihm entsetzt den Mund zu, schüttelte den Kopf. „Nein, nein, nein!“ Tränen begannen, über ihre Wangen zu rollen. „Nein, nein, nein…! Sowas… so etwas darfst du nicht mal denken…! Wir werden den Arzt bitten, die Schmerzmittel zu erhöhen, oder dir was anderes zu verschreiben...! Und ich... hör doch endlich auf, dir wegen mir auch noch den Kopf zu zerbrechen... ich ertrag das... ich will... bei dir bleiben, dir helfen, ich... bitte, glaub mir doch!" Er schluckte, schaute sie an. Sein Blick war ernst, seine Augen voll Bitterkeit. Rans Lippen zitterten. Sie wusste nicht, was sie sagen konnte, um ihm zu helfen. Sie wusste, ihn zerfraßen seine Sorgen, und sein Selbstvorwurf. "Shinichi...", flüsterte sie leise. "Du wolltest doch die Kleine noch sehen! Dafür musst du kämpfen! Du kannst doch nicht… ernsthaft… daran denken…“ Langsam nahm sie ihre Hand von seinem Mund, berührte mit ihren Fingern sacht ihre Lippen, krallte dann beide Hände in sein Hemd, starrte ihn mit verzweifelter Entschlossenheit in den Augen an. Er lächelte ob ihrer Sturheit traurig, schüttelte langsam den Kopf. „Ran, ich werd’ das nicht schaffen… ich wollte wirklich, aber...“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie starrte ihn an, Entsetzen spiegelte sich in ihren Augen. Und jetzt erst begriff sie, was passiert war. Er hatte die Hoffnung verloren. Sie atmete scharf aus, schüttelte fassungslos den Kopf. „Shinichi… wann ist das passiert…?“ Wann hast du dich aufgegeben? Traurig ließ er den Kopf sinken, ging auf ihre Frage nicht ein. „Wir… müssen realistisch sein… es tut mir Leid, wenn ich dir Hoffnungen gemacht hab, Ran…“ „Aber…“ Langsam schaute er auf. „Ran… es hat keinen Zweck, auf etwas zu hoffen, das unmöglich ist. Es tut mir Leid… es… tut mir wirklich Leid. Und wenn es ohnehin schon… nicht sein soll… seh ich auch keinen Sinn… da noch mit aller Gewalt gegen etwas zu kämpfen, was unvermeidbar ist, und wo ein Kampf immer sinnloser wird, weil er nie gewonnen werden kann.“ Shinichi schluckte erneut, merkte, wie sein Hals immer trockener wurde. Er wusste genau, dass er nie über solche Dinge in der Art nachgedacht hatte. Nie... niemals. Er hatte es als verwerflich empfunden, schlecht... hatte immer geglaubt, es gäbe immer eine bessere Option als einfach aufzugeben. Aber was derzeit geschah... brachte ihn dazu, in Richtungen zu denken, in die seine Gedanken vorher nie gewandert waren. Ran schüttelte verzweifelt den Kopf, begann, mit einer Hand gegen seinen Brustkorb zu schlagen. „Du darfst mich nicht früher verlassen, als du musst, hörst du! Du musst mir versprechen, dass du nicht…!“ Sie starrte auf den Boden, kniff die Augen zusammen, Tränen perlten von über ihre Wangen, tropften von ihrem Kinn auf den Boden. „Versprichs mir!“ Er starrte sie nur an, sagte nichts. Löste ihre Finger von seinem Hemd, ging in sein Büro. Ran blieb stehen, zur Salzsäule erstarrt. Dann griff sie zum Telefon. Eine halbe Stunde später standen Heiji und Yusaku neben Ran im Gang vor seinem Büro. Sie war immer noch in Tränen aufgelöst. Yusaku schaute seine Schwiegertochter lange an. Er hatte nicht glauben können, was Ran ihm am Telefon erzählt hatte; Yukiko hatte er es verschwiegen, es hätte sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs getrieben, wenn sie wüsste, dass ihr Sohn… Er unterbrach seine Gedanken. „Bist du sicher…?“, murmelte er leise, schaute sie fragend an. Sie nickte bekümmert, ihre Lippen zusammengepresst. „Er… denkt zumindest daran… ich weiß nicht wie weit…“ Yusaku seufzte. „Nun… das musste doch auch kommen… eigentlich hätten wir es kommen sehen müssen. Es war doch klar, dass der Punkt mal erreicht ist, an dem er keinen Sinn mehr sieht…“ Er warf einen unglücklichen Blick zur Tür. „Na gut, Heiji… gehen wir zusammen rein?“ Der Detektiv aus Osaka nickte nur, schwieg. Zuerst hatte er es fast für einen Witz gehalten, als sie ihn angerufen hatte. Wie es aussah… war es wirklich keiner. Er machte die Tür auf ohne zu klopfen, trat nach Shinichis Vater ein. Shinichi schaute auf, als er sie hereinkommen hörte, seine Gesichtszüge entgleisten ihm kurzzeitig. Dann fragte er sich, warum er eigentlich überrascht war; es war offensichtlich gewesen, dass Ran jemanden anrufen würde. Heiji starrte ihn an. Die Veränderung war unübersehbar. Er stand er vor ihm, schaute ihn an, seinen besten Freund; schaute geradewegs in das Gesicht eines Menschen, der jeglichen Lebenswillen verloren hatte. Und das erschreckte ihn zutiefst. Er merkte, wie Yusaku neben ihm unwillkürlich erstarrte. Er empfand wohl genauso wie er. Heiji konnte kaum glauben, dass es wirklich Shinichi Kudô war, der da vor ihm saß. Er wollte das nicht glauben. Das konnte nicht wahr sein, das war nicht richtig. Das war so falsch, so sollte sein Freund nicht aussehen, so sollte er nicht fühlen, so sollte er nicht mal denken… Und doch war es offensichtlich, dass er abgeschlossen hatte, mit sich, mit der Welt. Heiji atmete scharf ein, bevor er zu schreien anfing. Er konnte sich einfach nicht mehr beherrschen, dachte nicht daran, dass Shinichis Vater neben ihm stand, es brach einfach aus ihn heraus, es ging nicht anders, er konnte sich einfach nicht zurückhalten. „Sag mal, spinnste jetzt total?!“ Heiji kam näher, unter seinem dunklen Teint leichenblass, starrte ihn geschockt und wütend gleichzeitig an. Dann knallte er mit der Faust auf den Tisch. „Das kann nicht dein Ernst sein! Darüber kannst du nicht mal nachdenken, geschweige denn, es ernsthaft in Erwägung ziehen…!“ Er schrie sich fast heiser. Yusaku starrte immer noch auf seinen Sohn, der vor ihnen saß, ein Schatten seiner selbst. Es war fast nicht zu ertragen für ihn. Er musste an sich halten, um es nicht Heiji gleich zu tun, aber im Gegensatz zu dem jüngeren Mann, wusste er, dass Schreien bei Shinichi gar nichts half. Schrie man Shinichi an, schaltete er grundsätzlich auf stur; das war so, war immer schon so gewesen. Shinichi unterdessen schaute Heiji fast mitleidig an. „Heiji, lass gut sein. Und was geht dich das eigentlich an?“ Heiji hielt kurz die Luft an, starrte ihn an. „Das haste jetzt nich’ gesagt… das will ich mal schön überhört haben… gerade du, der doch für alles den moralisch allerhöchsten Standard anlegt…“ „Das hat nichts mit Moral zu tun, Hattori…“ „Und ob das was mit Moral zu tun hat…!“ Shinichi stand auf, blitzte ihn ärgerlich an. „Hattori, hör auf, mit mir darüber zu diskutieren, denn du hast, bitteschön, keine Ahnung…!“ „Aber ich hab eine Ahnung davon, wer du bist! Beziehungsweise, wer du einmal warst…“, fauchte Heiji zurück. Shinichi zog die Augenbrauen zusammen. „Was zum Geier…“ „Das weißte ganz genau.“ Heiji stützte sich auf die Tischplatte. „Der Shinichi Kudô, den ich kannte - der hätt’ nich’ im Traum daran gedacht, sich… sich…“ Er konnte es nicht einmal aussprechen, so sehr entsetzte ihn der Gedanke. „Du hättest früher nie daran gedacht, deiner Ran damit so weh zu tun… der Shinichi, den ich mal kannte hätte nie auch nur daran gedacht!!!“ „Vielleicht bin ich aber nicht mehr der Shinichi, den du mal kanntest?!“, brauste nun Shinichi auf, starrte ihn wütend an. „Und wo wir schon beim Thema Ran sind, was glaubst du, tu ich jetzt? Schau sie dir doch an! Sieht sie etwa nicht so aus, als würde sie leiden? Sieht sie glücklich aus? Bist du’s? Oder seid ihr’s?“ Er wandte sich seinem Vater zu, nur kurz. Yusaku zuckte unmerklich zusammen. „Der Shinichi, den du mal kanntest, den ihr alle kanntet, der musste sich nicht damit konfrontiert sehen, dass er in zwei oder drei Monaten sterben wird! Dass er die Geburt seiner Tochter nicht mehr erleben wird! Er musste nicht ständig Tabletten schlucken, um seine Tage wenigstens einigermaßen erträglich zu machen, er sah nicht ständig in die Gesichter der Menschen, die er liebte, und die ihn ansahen, als ob er schon im Sterben läge! Der Shinichi, den du kanntest, der hatte ein schönes Leben! Aber was hab ich denn?! Sag mir, was bleibt mir noch? Trauer und Schmerz, eine verkohlte Ruine dessen, was mal ein strahlender Palast gewesen ist. Ihr alle nehmt mich doch gar nicht mehr für voll. Ihr seht in mir doch gar nicht mehr den Menschen, der ich war… also verlangt nicht von mir, mich wie er zu verhalten, das ist unfair von euch. Und nun lass mich in Ruhe, Hattori, ich will jetzt keinen haben, hier.“ Er drehte sich weg, schaute noch mal kurz zu seinem Vater. „Und für dich gilt das Gleiche. Ich will alleine sein, versteht das denn keiner…?“ Yusaku drehte den Kopf weg, fühlte sich wie ein Versager. Er war unfähig ein Wort zu sagen, unfähig irgendetwas zu tun. Das Schlimme war, er konnte Shinichi verstehen. Er wusste nicht, wie er an seiner Stelle reagieren würde. Er wusste es wirklich nicht… spätestens seit Shinichi vor Saijo sich so sehr vergessen hatte, wussten sie alle, dass sein Leben die Hölle war. Und es war nicht besser geworden. Yusaku wusste, dass er Schmerzen hatte. Er wusste, dass er jetzt in diesem Moment welche hatte… er sah es an seiner Haltung, merkte es an seiner linken Hand, die er ballte bis die Knöchel weiß hervortraten, damit keiner sah, wie ein Krampf ihn quälte. Und deswegen sagte er nichts. Er hätte ihn gern angeschrien wie Heiji. Er hätte ihn gerne angebrüllt. Aber er konnte es nicht. Weil er wusste… dazu hatte er kein Recht. Und so sah er ihn nur an, unendlich traurig. Unfähig, irgendetwas zu tun. Er wusste, er konnte ihm nicht helfen. Und diese Tatsache trieb ihn an die Grenze dessen, was er aushalten konnte. Heiji schwieg lange. Starrte ihn an, wie er dastand, die Arme herab hängen lassend und gleichzeitig verkrampft, leichenblass im Gesicht. Er zitterte, trotz der Tatsache, dass es warm war in seinem Zimmer, er sah, dass seine Haltung verspannt war, und wusste, dass ihn die Schmerzen dazu zwangen. Er hatte die Lippen zusammengepresst und in seinen Augen lag ein Ausdruck von Hoffnungslosigkeit, der den jungen Polizisten fast verrückt werden ließ. „Shinichi…“, begann er langsam. „Du musst kämpfen. Du darfst nich’ aufgeben…“ Shinichi schluckte schwer, schaute ihn geschlagen an. „Heiji, ich kann aber nicht mehr…“ Seine Worte waren kaum zu hören, so leise war seine Stimme geworden. Er setzte sich wieder, ließ seinen Kopf auf seine Arme auf der Tischplatte sinken. „Ich kann nicht mehr…“ Yusaku starrte ihn an. Sein Gesicht verzerrte sich vor Gram… als er geschrieen hatte, war er ihm lieber gewesen… diesen geschlagenen Ausdruck auf seinem Gesicht ertrug er fast nicht. Shinichi schluckte, starrte auf einen Kratzer auf dem Tisch vor seiner Nase. „Und ich kann nicht mehr mit ansehen, wie ihr alle leidet. Wie sie leidet… Ran. Sie… manchmal wacht sie nachts auf, weint… Heiji… wenn es dir so ginge, würdest du das für Kazuha wollen?“ Heiji zuckte zusammen. Shinichi starrte ihn an, schluckte, biss sich auf die Lippen. Dann suchte er die Augen seines Vaters. „Ich kann nicht mehr… ich will nicht mehr… es geht nicht mehr…“ Er vergrub seinen Kopf in seinen Händen. „Es tut mir ja Leid, ich weiß, es ist feige von mir, aber ich… ich kann ihr das nicht länger antun… ich werd das nicht schaffen, ich kann einfach nicht mehr. Ich hatte es gehofft, aber es geht nicht. Ich will auch nicht mehr, was für einen Sinn hat das, immer wieder falle ich, immer wieder steh ich auf, nur um wieder zu fallen, ich kann das nicht mehr mitmachen, es geht nicht mehr, ich…“ Er fuhr sich über die Augen. „Ich schäme mich dafür, aber ich kanns nicht ändern. Ich will einfach nicht weiter diesem Leid zusehen. Ich will nicht weiter leiden, Leid zufügen. Ich will wenigstens einmal im Leben noch was richtig machen… ihr solltet endlich abschließen können…“ Heiji starrte ihn an, schüttelte voller Entsetzen den Kopf. „Ich kann nich’ glauben, dassde das sagst… Du hältst das für das Richtige? Du, der doch immer so moralisch warst? Du weißt, kein Mensch hat das Recht… Gott hat…“ „An den glaube ich nicht mehr.“, murmelte Shinichi bitter. „Und wenn es ihn gibt, kann ich auf ihn verzichten, wenn er mir das antun muss… wenn er mir nicht einmal mal mehr soviel Zeit lassen will, mein Kind noch zu sehen… was für ein grausamer Gott muss das sein.“ Heiji wollte ihm etwas entgegnen, aber Shinichi schnitt ihm das Wort ab. „Du kannst dir das nicht vorstellen, Hattori, also bitte rede nicht. Es spielt keine Rolle, ob ich in die Hölle komme oder nicht; das hier ist schon die Hölle, schlimmer kann es nicht mehr werden.“ Er schluckte, stöhnte leise auf. „Und jetzt geh, bitte. Du solltest mich anders in Erinnerung behalten, ich will nicht, dass du dir mich noch länger antust, jetzt.“ Heiji fehlten die Worte. Er schaute ihn nur bekümmert an, dann ging er tatsächlich. Er konnte hier nichts ausrichten, das hatte er festgestellt; Ran liefen die Tränen über die Wangen, als er auf den Gang trat, wo sie gewartet hatte. Yusaku blieb vor ihm stehen, schaute ihn gequält an. Dann beugte er sich nach vorn, griff nach seinen Händen, berührte mit seiner Stirn die seines Sohnes. „Gib nicht auf…“, flüsterte er. „Noch ist nicht aller Tage Abend… lass nicht zu, dass es dich klein kriegt…“ Er drückte seine Finger, ließ ihn dann wieder los. „Tu nichts, was du bereuen könntest… oder nicht… bereuen könntest…“ Sein Vater warf ihm einen letzten, ernsten Blick zu, dann ging er. Shinichi starrte ihn an, schluckte schwer; schaute zu, wie er das Zimmer verließ. Yusaku trat auf den Gang, stellte sich neben Heiji und Ran. Er wusste, dass sie kein Stück weiter gekommen waren. Das Dumme war… dass Shinichi nicht mal wirklich verbohrt war. Er war nicht stur. Er wog das Für und Wider logisch ab und fällte seine Entscheidung, wie immer. Und momentan hatte er einfach mehr Argumente auf seiner Seite… und sie alle hatten nichts, was sie dagegen setzen konnten. Shinichi hatte keine Hoffnung mehr. Und sie alle konnten ihm keine geben. Es war zum aus der Haut fahren. „Er is furchtbar drauf.“, murmelte Heiji leise. Ran nickte nur. Sie schluckte, schloss die Augen, atmete tief durch. „Wer könnt’ in dem Fall denn Zugang zu ihm haben…?“, fragte Heiji leise. Ran dachte nach; dann blinzelte sie. „Ich weiß nicht, ob das klappt. Aber vielleicht… wäre sie eine Person, die damit umgehen kann.“ Gedankenverloren fragte sie sich, warum sie auf die Idee nicht schon früher gekommen war. „Wer?“, hakte Heiji nach. „Shiho.“, flüsterte Ran, schaute aus dem Fenster rüber zu Professor Agasas Haus. Heiji schaute sie verwundert an. „Warum gerade sie?“ Ran wandte den Blick ab, starrte zu Boden, bevor sie ihn anschaute und antwortete. „Weil auch sie ihr Leben einst nicht mehr für lebenswert hielt. Damals war er es, der ihr neuen Mut gab. Es wird Zeit, dass sie sich bei ihm revanchiert.“ Damit schnappte sie sich den Hausschlüssel und eilte los. Der Osakaer Detektiv starrte ihr nach; aber zog es vor, zu warten. Nach ein paar Minuten ging die Tür wieder auf, und herein eilten, in einer Wolke kalter Luft und Schneeflocken, Shiho, die sehr blass um die Nase war, und Ran. Die rotblonde Forscherin wandte sich an Heiji. „Ist es wirklich so schlimm…?“, wisperte sie erschrocken. „Schlimmer.“ Heiji schluckte. „Mach dir selber ein Bild.“ Er seufzte, gestikulierte zur Tür. Shiho wandte sich noch einmal zu Ran um, nickte ihr zu, dann öffnete sie die Tür, trat ein. Er saß nicht mehr am Tisch, war aufgestanden und zum Fenster gegangen. Als sie eintrat, wandte er sich nicht um; das musste er nicht, er musste gesehen haben, dass sie kam, wusste, dass nur sie es war, die jetzt in seinem Zimmer stand. „Falls du glaubst, mir eine Moralpredigt halten zu müssen, schluck sie runter, ich bitte dich.“ Shinichi wandte sich immer noch nicht um. Shiho starrte ihn an. Seine Haltung war angespannt, seine Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben, sein Gesicht immer noch sehr bleich, sie konnte es in der spiegelnden Glasscheibe erkennen. Shinichi schaute hinaus. Schneeflocken tanzten durch die Luft. Er sah sie nicht, das wusste sie. Er hatte keinen Blick für die Schönheit dieses Schauspiels. Lange stand sie da, wusste nicht, wie sie beginnen sollte. Alles, was sie wusste, war, das Ran Recht gehabt hatte; es stand schlimm um ihn. Er hatte wirklich aufgegeben. Schließlich seufzte sie leise, ging federnden, fast lautlosen Schrittes näher. Ein paar Schritte hinter ihm blieb sie stehen, so, dass er sie in der Fensterscheibe sehen konnte, schaute in die Augen seiner Spiegelung. Er blickte weiterhin mit leeren Augen hinaus, versuchte, ihre Anwesenheit zu ignorieren. Er wollte allein sein. Sie tat ihm den Gefallen nicht, obgleich sie ihn erriet. Stattdessen begann sie zu sprechen. „Es ist alles schwarz, nicht wahr?“ Ihre Stimme klang sanft, melancholisch. Er zuckte zusammen. Sie lächelte. Also hörte er ihr zu. Gut. „Shinichi, dein Leben ist noch nicht vorbei. Du darfst dein Ende nicht in die eigene Hand nehmen, das weißt du. Ich weiß, dass du es weißt.“ „Spar dir den Atem, Shiho…“ Seine Stimme war kaum zu hören. Shiho schluckte. So leicht würde sie nicht aufgeben. Es fing gerade erst an. „Ich weiß, an welchem Ort du stehst. Ich weiß, an welchem Abgrund du dich befindest. Du brauchst nur noch den Schwerpunkt verlagern und du wirst fallen. Das weißt du. Aber du wirst es bereuen, das sage ich dir.“ „Was weißt du schon!“ Nun klang er wütend. Sie lächelte. Genau so weit hatte sie ihn bringen wollen. Sie wollte, dass er seine Fassung verlor, seinen Schutz sinken ließ. Er sollte seine Gleichgültigkeit ablegen. „Alles, mein Lieber. Denn den Weg, den du beschreitest, bin ich schon lange vor dir gegangen. Und das weißt du.“ Er fuhr herum. „Aber…!“ „Ich habe überlebt, ja. Aber ich wollte nicht!“ Sie schluckte, fing an zu zittern. Sie hatte gewusst, auf was sie sich einließ, wenn sie mit ihm über ihren Selbstmordversuch reden würde. Sie war sich bewusst, dass sie damit alte Wunden aufreißen würde. Aber sie wusste, sie wollte es tun. Wenn sie ihn dafür abhalten konnte, dann war es das wert. „Ich wollte nicht…“ Er war es ihr wert. „Ich wollte sterben.“ Sie flüsterte es, kniff die Augen zusammen, als dieses Gefühl der Machtlosigkeit, des Schmerzes und der Trauer erneut von ihr Besitz ergriffen… wie damals, als man ihr sagte, dass Akemi tot sei… wie damals, als sie beschlossen hatte, dass ihr Leben es nicht mehr wert sei, noch weiter gelebt zu werden. Sie fing an zu zittern. „Ich wollte sterben. Auch danach noch, als ich schon beim Professor wohnte. Du hast keine Ahnung… nun, vielleicht hast du sie ja. Aber ich sage dir… damals… als ich gefangen war… stand ich auch am Abgrund, schon seit Tagen. Und dann bin ich gesprungen, in die Tiefe. Ich wollte sterben… so gerne… das Leben machte für mich keinen Sinn mehr, so wie es nun auch dir keinen Sinn mehr zu machen scheint. Aber du irrst dich. Ich hab mich damals auch geirrt.“ Sie trat näher. „Shinichi… wirf nicht weg, was du hast. Wenn du Probleme hast, dann rede mit uns, aber denk nicht daran, uns zu verlassen… nicht eher, als du musst, denn du bist uns wichtig. Sehr wichtig… siehst du das denn nicht…?“ Sie bebte, eine Träne verließ ihren Augenwinkel. „Nach… nach Akemis Tod schien es mir, als könnte ich nie wieder glücklich sein. Ich gab mir die Schuld, dass sie sterben musste. Ich hielt mich für ihre Mörderin! Ich war Schuld! Es war so furchtbar… ich konnte nicht mehr atmen, nicht mehr… leben, ich… dass sie mich einsperrten, mir mit dem Tod drohten, war mir nur Recht. Das bekräftigte mich nur in dem Entschluss, das zu tun, was ich schon vorher geplant hatte… zu sterben. Ich wollte es wirklich, Shinichi.“ Sie schlang ihre Arme um ihren Oberkörper, sie begann zu frieren, die Kälte kroch aus ihrem Inneren bis unter ihre Haut. „Ich wollte es so sehr, dass ich enttäuscht war, als es nicht klappte. Und dann kamst du.“ Sie lächelte ihn traurig an. „Du hast mir gezeigt, was es heißt, zu leben. Ich war vorher tot, doch dank dir… dank dir…“ Ihre Augen fingen sanft an zu strahlen. Sie sah ihn mit so viel Zuneigung an, dass ihm fast die Luft wegblieb. „Du hast mir soviel beigebracht, mich soviel gelehrt. Du hast mir gezeigt, wie man lebt. Und selbst jetzt, wo du… stirbst, lebst du… du lebst immer noch mehr, als ich, in all den Jahren bei der Organisation…“ Sie trat noch näher an ihn heran, nahm seine Hände in ihre. „Du hast noch so viel vor dir… wirf das nicht weg… wenn dich unser Verhalten stört, sag es. Wenn du Probleme hast, sag es! Wenn du Schmerzen hast, was immer es ist, bitte rede mit uns, aber nimm dich uns nicht weg, dazu hast du kein Recht! Denn all den Schmerz, den wir spüren, macht dein Lächeln, das Gespräch mit dir… wieder wett… es wiegt das alles hundertmal wieder auf…“ Sie schluckte, schaute ihn bittend an. „Lass uns doch die Zeit mit dir… wir wollen dich noch nicht hergeben, verstehst du das denn nicht? Das darfst du nicht… das darfst du nicht…“ Ihre Stimme war kaum mehr ein Flüstern. „Du musst kämpfen, für das was du erreichen willst, es war schon immer so, das kennst du doch… Dir wurde doch noch nie was geschenkt…“ Shiho ließ seine Hände los, berührte sein Gesicht mit ihren Fingern. „Spring nicht in den Abgrund… er hält nichts Schönes für dich bereit, glaub mir. Ich weiß es… ich war unten…“ Sanft berührte sie seine Wangen. Sie wusste, sie hatte ihn erreicht. Sie wusste… sie war durchgedrungen zu ihm. Lange schaute sie ihn nur an, dann seufzte sie ganz leise, holte Luft. „Nun sieh mir in die Augen und sag mir, dass du sterben willst, und ich werde dich nicht aufhalten.“ Sie blinzelte nicht. Er sah sie an, schluckte schwer. Lange, lange schwieg er. Sie sah ihm an, wie sehr er kämpfte. Dann… „Verdammt… Shiho, ich will doch nicht… aber…“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie zog ihn an sich, merkte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. „Aber…!“ „Schon gut. Schon gut, du brauchst nichts sagen, es ist schon gut…“ Tränen strömten über ihre Wangen. Sie merkte, wie seine Schultern bebten, und drückte ihn noch fester an sich. „Schhh….“ „Ich will doch nicht sterben…“ „Ich weiß…“ Sie schniefte leise. Wie lange sie so dastanden, wusste sie nicht. Irgendwann schob er sie weg von sich. Er war rot im Gesicht, sie sah ihm an, er schämte sich. Und zwar ziemlich. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Mach dir keine Gedanken. Es ist natürlich, dass auch du nicht immer stark sein kannst…“ Er seufzte, fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. „Es tut mir Leid.“ Seine Stimme klang heiser. Er räusperte sich. „Was denn?“ „Alles. Das gerade eben und meine… ich… die Sorgen, die ich euch… gemacht hab…“ Die blonde Forscherin schüttelte sachte den Kopf. „Es ist schon gut.“ Sie nickte zur Bekräftigung. Dann drehte sie sich um. „Ich hole jetzt Ran. Wenn du dich entschuldigen musst, dann bei ihr. Aber sicher nicht bei mir… und es muss dir nichts peinlich sein…“ Sie wandte ihren Kopf noch einmal um, schaute ihn voll Bedauern an. „Shinichi… es tut mir so… so Leid… Könnte ich tauschen mit dir, ich würde es tun… Wirklich, das würde ich…“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. Damit ging sie. Kurz darauf trat eine sehr verheulte Ran ein. Unsicher schaute sie ihn an. Ein Gefühl von Reue kroch in ihm hoch. Es tat ihm Leid, ihr solche Schmerzen, solche Angst gemacht zu haben. „Ran, ich… ver- verzeih mir, ich war dumm… so…“ Sie schluchzte auf, rannte zu ihm, klammerte sich an ihm fest, drückte sich an ihn. Sagte gar nichts, hielt ihn nur fest. „Ich machs nicht. Ich werde nicht einmal mehr dran denken… wirklich…“ Er seufzte. „Es tut mir Leid…“ Dann nahm er ihre Hand, hielt sie fest. Beugte sich runter, drückte seine Stirn mit seiner nach hinten, fand mit seinen Lippen die ihren und küsste sie sacht. „Ich versprechs. Aber bitte… bitte beruhige dich wieder… Ran… bitte…“ Sie atmete tief durch. Dann schaute sie in seine Augen. „Es tut mir Leid, dass… dass ich…“ Shinichis Stimme brach. „Schon gut… schon gut…“ Sie griff mit einer Hand in seinen Nacken, zog seinen Kopf an ihre Schulter, dann umarmte sie ihn mit beiden Armen. Und merkte, wie sie ebenfalls langsam an sich zog, sie an sich drückte, so fest, als hinge sein Leben davon ab. Ran schloss die Augen. Sie spürte die Qualen, die er litt, und es schnürte ihr die Luft ab. „Denk doch an die Kleine. Du musst durchhalten, für sie…“ „Ich versuchs ja…“ Ich versuchs… Happy birthday -------------- Hallo, liebe Leserinnen und Leser, die bei dieser Monumentalfic immer noch am Ball sind! Ich muss sagen, ihr seid echt tapfer ;D Und ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich mich über die Kommentare freue, an dieser Stelle also auch noch mal meinen allerherzlichsten Dank an all jene, die immer noch die Nerven, die Lust und die Zeit haben, mir ihre Meinung schriftlich zu hinterlassen. Ihr mögt es mir vielleicht nicht glauben, aber euer Feedback hilft mir sehr. Ich muss hier wohl noch erwähnt haben, dass mich die Tatsache, dass ihr mich nach dem letzten Kapitel nicht lynchen wolltet, sehr beruhigt. Ich hab mir wirklich Mühe gegeben, das alles nachvollziehbar zu schreiben. Ein Punkt noch, was Rans momentane Beschäftigung betrifft: ja, man sieht ihr die Schwangerschaft langsam an, und nein, sie geht nicht mehr arbeiten. Das wohl nicht so sehr wegen ihren ‚Umständen‘ sondern wegen Shinichi. Sie will einfach bei ihm bleiben, so viel Zeit mit ihm verbringen, wie es einfach geht. Aber ab und an muss man einkaufen gehen ;D In diesem Sinne, viel Vergnügen mit dem Rapport vom Vater an die Tochter; heute wird außerdem noch ein anderes Kapitel angeschnitten ;D Es mögen einige wohl einwenden, warum zur Hölle er ihr das sagt… nun; er will offen sein zu ihr. Sich ihr zeigen, mit seinen Stärken und Schwächen, ohne Kompromisse. Aber das seht ihr gleich. Liebe Grüße, eure Leira __________________________________________________________________ Kapitel 13: Happy birthday Gegenwart Sayuri pfiff leise vor sich hin, als sie mit einem der Notizbücher wieder mal in ihrem Zimmer auf ihrem Bett flegelte und sich auf einen weiteren Nachmittag des Lesens vorbereitete. Seit sie mit ihrer Mutter geredet hatte, zumindest ein wenig, war ihr deutlich leichter ums Herz, und so hatte sie die letzten Tage in schönem Schmökern verbracht. Fast die Hälfte der Bücher hatte sie mittlerweile durchgelesen. Eigentlich, ja, eigentlich hatte sie sich ja Fotos suchen wollen, von ihrem Papa… entweder hier im Haus, oder bei ihren Großeltern… oder anderen Quellen, denn schließlich hatte er ja existiert, auch wenn bisher sie niemand auf ihn angesprochen hatte… er war nicht unbekannt gewesen, und deshalb musste es wohl auch Bilder oder Berichte geben. Allerdings, so gestand sie sich ein, war sie sentimental genug, ihn nicht einfach zu googeln. Sie wollte hier, in seiner Familie, herausfinden, wer er war… wie er ausgesehen hatte… von denen, die ihn wirklich kannten, und nicht ein Foto anschauen, dass irgendein Reporter geschossen hatte, oder einen Bericht lesen, den irgendein Journalist über ihn verfasst hatte. Sie wollte sich ihre Meinung nicht über die Medien bilden. Sie wusste nicht, wie viel davon wahr war, und sie wollte sich nicht beeinflussen lassen. Der Grund, warum sie allerdings auch nicht gleich hier daheim gesucht hatte, war die seltsame Abschlussbemerkung ihrer Mutter gewesen. Dumme Gedanken? Welche Art von dummen Gedanken sollte das gewesen sein? Diese Aussage hatte ihr keine Ruhe mehr gelassen, und deshalb hatte sie weitergelesen, und gelesen… aber bisher hatte sie noch nichts gefunden, was darauf hingewiesen hätte, dass er irgendwelchen Mist gebaut hatte. Bis jetzt. Sie schlug das Buch auf und stutzte. Weißt du, dass ich ein Dummkopf bin? Ein schrecklicher Idiot, so richtig blöd… ich denke, es gibt fast keinen Begriff, um das zu beschreiben, was ich grad von mir halte. Ich frag mich, wie das passieren konnte. Nun, eigentlich weiß ich es, irgendwo ist es wohl doch logisch und nachvollziehbar… aber trotzdem… es ist mir unbegreiflich. Ich versteh mich selbst nicht. Sayuri schaute irritiert auf. Dieser Tagebucheintrag fing ja mal komisch an. Ein sehr seltsames Gefühl breitete sich in ihr aus. Ihr Vater sollte ihr die Ursache für ihre Verwirrtheit ob seiner seltsamen Einleitung nicht lange schuldig bleiben... Eigentlich traue ich mich gar nicht, dir das hier hinzuschreiben, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist… Ich hab lange überlegt, und mich dann doch dazu entschlossen, es dir hier aufzuschreiben. Es gehört wohl auch… dazu, um mich zu verstehen… auch wenn eigentlich nur diese Situation mich überhaupt soweit gebracht hat. Aber ich werds kurz fassen… und als Möglichkeit nutzen, um dir hier eine kleine Lektion zu erteilen. Vor… ein paar Tagen… nun… Wie fang ich an… Ich… nun… Hab mir Gedanken gemacht… Gedanken, die in eine ziemlich… gefährliche Richtung gingen… weil ich die Hoffnung verloren hatte, irgendwie keinen Sinn mehr sah. Mir gings ziemlich… ziemlich schlecht, und ich sah nur noch, dass es allen anderen deswegen schlecht ging… Sayuri schlug das Buch zu. Ihr Herz hämmerte, in ihren Augen stand der Schock. Jetzt konnte sie sich auch erklären, was ihre Mutter gemeint hatte, als sie sagte… hätte sie ihn nicht so eingeschränkt, ihn sich beschäftigen lassen, wäre er nie auf dumme Gedanken gekommen. Sie schluckte. Sie wollte das gar nicht wissen. Sie wollte nicht wissen, was er vorgehabt hatte. Woran er gedacht hatte. Diese Tatsache ließ sich einfach nicht mit dem Bild verbinden, das sie von ihm gewonnen hatte. Das Bild eines Menschen, der so unglaublich stark war… so viel ertragen konnte, soviel aushielt… Und nun das. Sie zitterte leicht, dann schlug sie das Buch wieder auf, las zögernd weiter. Einerseits sträubte sie sich… andererseits wollte sie seine Erklärung dafür wissen. Nun. Ich kann dir versichern, mir wurde diesbezüglich gründlich der Kopf gewaschen, und ich hab… schon kapiert, dass es so nicht geht. Tatsache ist wohl einfach, dass Weglaufen auch keine Option ist. Das wusste ich vorher auch, ich meine… ich weiß, dass das keine Lösung ist. Aber ich… ich dachte dabei gar nicht so sehr an mich. Ich dachte eher an alle anderen. Ich wollte ihnen einfach meine Anwesenheit nicht länger antun, wo ich ohnehin mehr oder weniger vor mich hinvegetiert hab. Ich hab einfach nicht mehr geglaubt, dass ich noch irgendetwas schaffen könnte… ich hab mich aufgegeben, und wo ich schon mal dabei war… dachte ich, ich könnte den anderen, also meinen Eltern, deiner Mutter, ihren Eltern, Heiji… ein wenig helfen, indem ich… Es ihnen etwas leichter machen… Ich wollte sie nicht länger mitleiden sehen. Ahhh ja. Mehr muss ich wohl nicht sagen, oder? Diejenige, die mir so extrem meinen Kopf wieder gerade gerückt hat, war übrigens Shiho. Du kannst sie ja mal fragen, was sie da gesagt hat. Ich spars dir an der Stelle, sonst wirst du dich noch fragen, wie viele kranke und kaputte Gestalten in deinem Umfeld noch so rumlaufen, außer deinem Dad ;) Aber ich lauf ja zu deiner Zeit schon nicht mehr… Wie dem auch sei, im hier und jetzt leb ich ja noch. Was ich sagen wollte, obwohl’s… sinnlos ist… mach dir keine Sorgen, das ist vorbei. Ich versprech’s. Soweit wird’s bei mir nie mehr kommen. Mittlerweile geht’s mir auch wieder besser, mal davon abgesehen. Ich muss ehrlich gestehen, hab ich da auch ein richtig schlechtes Gewissen… ich schäme mich in Grund und Boden. Ich hab deiner Mutter solche Sorgen gemacht, richtig Angst eingejagt, fürchte ich. Das ist unverzeihlich. Was ich dir eigentlich sagen will ist… solltest du jemals… jemals… in eine Situation kommen, in der du denkst, es hätte alles keinen Sinn mehr (was ich nicht hoffe!!!)… dann… denk daran, nichts ist ohne Sinn, so sinnlos es zuerst auch scheint. Nichts ist sinnlos… und es gibt immer einen Grund, um doch noch weiterzukämpfen. Um doch noch mal aufzustehen, sich hochzurappeln, dem Schicksal vor die Füße zu spucken und weiter zu machen. Glaub mir. Das ist so. Keiner weiß es besser, als ich. Man kann ruhig einmal schwach sein… man darf mal fallen. Das ist menschlich, keiner kann perfekt sein, kein Mensch kann immer aufrecht stehen und seinem Schicksal mutig ins Gesicht blicken… das kann keiner. Ach wenn man den Anspruch an sich stellt, das ist einfach nicht möglich. Es wird immer Momente geben, im Leben eines jeden Menschen, in denen er eine helfende Hand braucht. Unterstützung, Fürsorge. Glaub nicht, du müsstest immer stark sein. Das kannst du nicht, du würdest zugrunde gehen daran. Menschen haben Grenzen… sie sind nicht unendlich belastbar. Auch ich musste das erst lernen… ich hab zu spät erkannt, wie viel mir zuzumuten ist. Ich würde mich nun nicht als schwächlich bezeichnen… aber nun… auch ich hab wohl irgendwo meine Grenzen, an denen ich nicht mehr weiter kann, nicht mehr weiter weiß. Aber hör nie auf zu glauben, dass das Leben einen Sinn hat! Wenn es dir schlecht geht, dann lass dir helfen… es wird immer jemanden geben, der dich unterstützen will… und auch wenn ich nicht da sein werde, um dir unter die Arme zu greifen, so bitte denk daran… ich hätte es getan. Immer. Ich will, dass du tapfer bist… und mutig. Aber lass dich ruhig auch mal fallen, in die Arme derer, die hinter dir stehen und dich auffangen. Lass dir aufhelfen, wenn du am Boden liegst… komm nie auf den Gedanken, liegen zu bleiben, denn das wäre falsch. Lass dir aufhelfen… und geh hoch erhobenen Hauptes weiter. Zeigs der Welt… Apropos Welt. Wir haben nun einen errechneten Termin, wann du auf die Welt kommen solltest… und zwar wäre das der 12. April, nächstes Jahr! :) Ich bin ja mal gespannt, ob du daran denken wirst, ich hab meinen Geburtstag immer vergessen… nu, das hat sich ja jetzt auch erledigt… Ja, rabenschwarzer Humor ich weiß -.- Entschuldige… ;) Sayuri schaute auf. Der Tag war sehr korrekt berechnet; sie hatte wirklich am 12. April Geburtstag. Und der zwölfte… der zwölfte… Sie schaute auf den Kalender, als ihr die Kinnlade nach unten fiel. Heute war der zwölfte April. Sie hatte Osterferien, und die ganzen Tage mit seinen Notizbüchern zugebracht, so dass sie das Datum total vergessen hatte. Langsam ließ sie ihren Blick zum Schrank schweifen, wo der Karton stand. Der Karton mit den Geschenken und den anderen Büchern. Zwanzig Geschenke. Fünfzehn durfte sie aufmachen. Ein leichtes Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie das Buch liegen ließ, wo es war, und sich zu Boden sinken ließ, den Karton an sich zog und nach Päckchen eins fahndete. Spannung umfing sie wie ein Netz, nahm sie gefangen und ließ sie nicht mehr los. Sie zerrte es aus der Kiste heraus, betastete es vorsichtig, drückte es; es war weich, gab nach. Keine Schachtel… kein Buch. Es war etwas Weiches eingepackt worden. Langsam zog sie das Schleifenband auf, wickelte es aus und entblätterte einen hellbraunen Plüschbären. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie ihre Finger durch das weiche, flauschige Fell des Bären gleiten ließ, ihn an ihre Lippen drückte, ihre Nase gegen den Kopf des Bären presste. Er roch frisch. Das Papier hatte den Geruch konserviert. Seit fünfzehn Jahren wartete er, dass ihn jemand ans Licht holte. Sie seufzte, blickte in die Knopfäuglein des Teddys und setzte ihn neben sich, lehnte ihn an den Karton, von wo er sie zu beobachten schien. Dann begann sie erneut zu wühlen, zog das zweite Päckchen heraus. Dieses war nun hart, unnachgiebig. Sie schüttelte es, aber es rührte sich nichts. Dann packte sie es aus, und hob aus einer Schachtel eine Spieluhr. Sie hatte die Form einer kleinen Schatztruhe. Gedankenverloren drehte sie den Schlüssel herum, klappte den Deckel auf. Durch eine Feder gestützt, richtete sich eine Tänzerin auf, begann, ihre Pirouetten zu tanzen zu Debussys Clair de lune. Das Innere war mit grünem Samt ausgeschlagen, die Truhe an sich war aus Holz; die Spieluhr selbst war versteckt unter dem kleinen Podest, auf dem die Elfe stand. Lange beobachtete sie sie, wie sie sich drehte, ihren schlanken Körper im Kreise drehte, bis die Melodie endete. Eigentlich war sie kein Fan von Kitsch, aber die Uhr war einfach schön. Sayuri stellte sie beiseite, immer noch lächelnd, griff nach der Drei. Es war sehr flach; und wie sich herausstellte, befand sich darin ein Kinderbuch, ein Bilderbuch. Sie ließ die Seiten durch ihre Finger gleiten, legte es dann beiseite, griff sich, von Neugier getrieben das vierte Geschenk. Darin befand sich eine Kette. Ein Armband, mit einem Anhänger, einer Blume. Und so ging es weiter. Mit jedem Päckchen kam ein neuer Schatz ans Licht; weitere Bücher, Anhänger für das Armband, eine Puppe und dergleichen reihten sich neben ihr auf dem Boden aneinander. Päckchen Nummer vierzehn schließlich enthielt das, worauf sie insgeheim schon lange gewartet hatte; ein Tagebuch. Keins von denen, die irgendwie süßlich aufgemacht worden waren, sondern ein in dunkelrotes Leder gebundenes Buch, das mit einem Vorhängeschloss verschlossen werden konnte. Erst auf der ersten Seite stand der Titel: Tagebuch. Und er war handgeschrieben; sie erkannte die Handschrift ihres Vaters. Gedankenverloren betrachtete sie das Schloss genauer; es war keins von denen, die für gewöhnlich diese Bücher mehr zierten als verschlossen; dieses Schloss war ein Profischloss. Sie klopfte mit den Knöcheln gegen den Einband, gegen den Buchrücken, stellte fest, dass es außergewöhnlich hart war… sehr stabil. Selbst wenn jemand mit Gewalt versuchen würde, es zu öffnen, würde er sich schwer tun. Die Seiten des Buches waren aus schwerem, gelblichem Papier; das Buch war eindeutig eine Sonderanfertigung. In diesem Buch würden Geheimnisse auch gewiss geheim bleiben. Sie lächelte, legte das Buch und den Schlüssel beiseite. Schließlich saß sie vor ihrem fünfzehnten Geschenk. Es war ebenfalls lang und schmal. Sie wickelte es auf und eine dunkelgrüne Lederschatulle kam zum Vorschein. Als sie diese aufklappte, fiel ihr die Schatulle fast aus der Hand, als sie erkannte, was sich darin befand. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie atmete langsam ein, ließ ihre Augen über den Gegenstand gleiten, der im schwarzen Samtbett ruhte. Heiji und Kazuha schritten den Gehweg entlang, die Straße runter zur Villa Kudô, als sie hinter sich Stimmen hörten. „Heiji!“ Der Polizeichef blieb stehen, schaute sich um. „Herr Mori? Hallo!“ Er ging auf ihn zu, reichte ihm die Hand. „Ich nehme an, Sie sind auch zu Sayuri und Ran unterwegs?“ Eri, die neben ihrem Mann her spazierte, hob ein Päckchen hoch. „Ja, das sind wir. Yukiko und Yusaku wollten auch kommen…“ Kogorô brach ab, schaute gedankenverloren in den Himmel. „Das könnte trüb heute werden…“ Heiji schaute ihn lange an, blinzelte. „Das könnt’s nicht nur, das wird’s…“ Ein Füllfederhalter. Sie brauchte nicht lange nachzudenken, um zu wissen, dass es derselbe Federhalter war, mit dem er all die Bücher geschrieben hatte. Im Deckel klemmte ein zusammengefalteter Zettel, aber sie schenkte ihm fürs erste keine Beachtung, sondern hob mit zitternden Fingern den Stift heraus. Er war schwarz, die Kappe war blaugrau, und die Spitzen, sowie der Rand der Kappe waren silbern. Langsam schraubte sie ihn auf, sah an der golden glänzenden Feder eingetrocknete schwarze Tinte kleben. Dann zog sie den Zettel aus dem Deckel, faltete ihn auseinander. Hallo Töchterchen! Ich wünsch dir hiermit alles, alles Liebe zum Geburtstag! Eigentlich weiß ich gar nicht so recht, was ich hier hinschreiben soll… nun… da ich mit dem Schreiben deiner Bücher, zu diesem Zeitpunkt, wo ich deine Päckchen einpacke, schon fertig bin, dachte ich… ich vermach dir mal auch was von ideellem Wert. Ich selber habe diesen Füller zu meinem Fünfzehnten von meinem Vater geschenkt gekriegt… und ich muss sagen, ich war damals eher enttäuscht. Nunja, fast beleidigt triffts eher, ich denke, ich hab ein ziemlich dummes Gesicht gemacht ;) Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte; mein Vater hat wohl geglaubt, er könnte mich damit ein wenig zum Schreiben animieren. Hat damals nicht so wirklich gefruchtet… ich hab ihn dennoch behalten, in Ehren gehalten, und ihn mit der Zeit immer mehr zu schätzen gewusst; mit ihm hab ich meine Formulare ausgefüllt, jede Unterschrift auf diversen Urkunden geschrieben… mit ihm hab ich die Notizen zu den meisten meiner Fälle gemacht, mit ihm habe ich deine Bücher verfasst… und mit ihm schreibe ich nun diese Zeilen hier, das letzte, was seine Feder in meiner Hand zu Papier bringen wird… In all den Jahren wurde er mein ständiger Begleiter. Nun gehört er dir. Ich will ihn dir, wie einst mein Vater mir, zu deinem 15. Geburtstag schenken. Halt ihn in Ehren, er ist älter als du! :) Nun… wünsche ich dir noch einen recht schönen Geburtstag, lass dich feiern! Viel Glück, Gesundheit und Erfolg für dein weiteres Leben wünscht dir Dein Vater Shinichi Kudô Sayuri schluckte, schaute um sich. Um sie herum türmte sich ein Berg von Geschenkpapier und Schleifenband; vor ihr waren aufgereiht ihre Geburtstagsgeschenke, sauber eins neben dem anderen. Das Mädchen hielt den Füller immer noch in der Hand; ihre Finger zitterten. Der Brief lag vor ihr auf dem Boden. Sie merkte, wie sie wieder hochkroch. Die anfängliche Euphorie, die Freude und die Neugier vermochten dieses eine Gefühl nicht mehr länger zu unterdrücken. Trauer. Eine Träne perlte ihr aus dem Augenwinkel, aber sie versuchte, sich zusammenreißen. Sie wollte nicht weinen. Wollte nicht. Ihre Augen glitten über die Geschenke, die er mit soviel Sorgfalt ausgesucht hatte. Ran eilte zur Tür, als sie ihre Schwiegereltern durchs Küchenfenster kommen sah. Sie öffnete, lächelte sie an und begrüßte sie, wartete dann noch auf Heiji und Kazuha, sowie ihre eigenen Eltern, die ebenfalls gerade ankamen. Sie hielt ihnen die Tür auf, wies ihnen den Weg ins Wohnzimmer, entschuldigte sich noch mal kurz in die Küche, wo sie den Kaffee aufsetzte und die Geburtstagstorte für ihre Tochter holte. „Wo ist denn das Geburtstagskind?“, fragte Kazuha, nahm Ran die Torte ab, und stellte sie auf den Tisch. „In ihrem Zimmer, nehme ich an.“, murmelte Ran leise. „Seit Tagen dreht sich ihre Welt nur noch um eine Person, wie ihr ja mitbekommen habt... Würde mich nicht wundern, wenn sie ihren Geburtstag verplant hat.“ Heiji starrte auf seine Finger, nickte langsam. „Haste mit ihr denn schon geredet… über Shinichi?“, fragte er langsam. Ran schüttelte den Kopf, goss mit leicht zittrigen Händen Kaffee in die Tassen. „Nein. Nicht wirklich. Also, ein wenig, aber…“ „Findste nicht, du solltest das mal machen? Herrgott Ran, das hat er doch auch nich’ verdient… ihn auch noch totzuschweigen...“ Ran zuckte zusammen, starrte ihn an, bemerkte nicht, dass sie die Kanne immer noch gesenkt hielt. „Heiji, das ist meine Entscheidung. Es geht dich nichts an.“ „Er wird nicht vergehen, der Schmerz, nur weilste nich’ an ihn denken willst.“ Heijis Stimme klang aufgebracht. „Es wird nich’ besser werden. Du darfst ihn nich’ verleugnen, er gehört doch zu euch…“ Ran schloss die Augen, atmete langsam, vergaß, dass sie immer noch Kaffee einschenkte, sah nicht, wie sich die Tasse immer mehr füllte, langsam überlief. „Nein. Tut er nicht. Tut er nicht mehr, Heiji, denn er ist tot. Tot! Versteh es bitte endlich mal. Er wird nicht wiederkommen, nur weil wir fest an ihn denken…!“ Wut flackerte in ihrer Stimme auf, die gegen Ende des Satzes immer lauter geworden war; Wut, aber doch auch Verzweiflung. Heiji schluckte, schaute sie nur an, sagte nichts mehr. Dann riss ein leiser Schrei sie aus ihren Gedanken; er kam von Yukiko, die die überlaufende Kaffeetasse bemerkt hatte. Erschrocken beugte sich Ran über den Tisch, versuchte mit Servietten das Gröbste aus der Tischdecke zu saugen, als sie einen Blick auf sich ruhen spürte. Sie wandte den Kopf, schaute geradewegs in das Gesicht, das unverwandt auf sie gerichtet war. Yusaku starrte sie an. Sie wusste, was er dachte. Sie wusste, er verurteilte sie, und sie wusste auch, er hatte Recht damit. Aber sie konnte nicht mehr. Spätestens seit dem Traum, seit dem kurzen Gespräch mit ihrer Tochter, hatte sie begriffen, dass sie ihn endlich vergessen musste. Vergessen. Sie hatte es nicht gezeigt, aber dieses scheinbar lockere Plaudern hatte sie mehr getroffen, als sie je geahnt hatte. Sie wusste, Sayuri hatte das gutgetan- sie selber hatte sich hinterher einfach nur schrecklich gefühlt. Über ihn zu reden tat weh. An ihn zu denken tat weh. Wenn jeder Gedanke an ihn sie so quälte, er sie in ihre Träume verfolgte, sie seine Tochter nicht ansehen konnte weil sein Bild sie so quälte, er nach seinem Tod noch so eine Anziehungskraft auf sie ausübte, musste sie etwas dagegen tun… und ihr einziger Ausweg, so hatte sie für sich beschlossen, bestand darin, nicht mehr zu verdrängen, wie bisher… sondern vergessen. Jede dieser schmerzvollen Erinnerungen an ihn vergessen. Sie merkte, wie ihr jemand die Servietten aus der Hand nahm, blickte auf, sah in die Augen ihrer Mutter. Sie ließ die Servietten los, stand auf, starrte ins Leere. Sayuri kauerte am Boden, zog den Teddy an sich, stierte angestrengt an die Decke, versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie wusste, den Kampf hatte sie längst verloren. Langsam stiegen sie ihr in die Augen, quollen aus ihren Augenwinkeln, füllten ihre Augen und perlten als salzige Tropfen über ihre Wangen. Ein leiser Schluchzer entfloh ihrer Kehle, als sie den Bären immer fester an sich drückte, ihre Geschenke anschaute. Es war zu unfair. Warum hatte er sie ihr nicht selber geben können? All die schönen Sachen… er hatte sich wirklich Mühe gegeben. Warum war ihr und ihm das alles versagt worden? Ihre Wangen wurden immer nasser, als eine Träne nach der anderen über ihr Gesicht rollte, immer mehr Tränen… immer schneller. Sie merkte, wie ihre Wimpern zusammenzukleben begannen, presste ihre Augen zusammen, fühlte, wie ihre Mundwinkel sich nach unten zogen… Ihre Finger krampften sich in das plüschige Fell des Stofftiers, als sie ihre Beine anzog, sich so klein wie möglich machte, sich ihren Tränen, ihrer Trauer, ihrem Schmerz schließlich hingab. Und so saß sie am Boden und weinte. Weinte. „Ich geh sie holen.“, meinte Ran ausdruckslos, verschwand aus dem Wohnzimmer. Yusaku stand auf, folgte ihr langsam, sie schien es nicht zu merken. Fast lautlos ging er ihr nach, stutzte, als sie vor der Zimmertür ihrer Tochter stehen blieb, lauschte. Er trat näher, horchte ebenfalls. Und es war nicht zu überhören. Leises Weinen. Ran hörte sie schluchzen. Sie stand vor der Tür, wagte fast nicht, sie aufzumachen. Sie spürte neben sich einen Lufthauch, bemerkte erst jetzt, dass ihr Yusaku gefolgt war. Mit zitternden Lippen starrte sie ihn an; er nickte ihr zu, öffnete dann sanft die Tür. Der Anblick, der sich ihnen bot, brach ihnen das Herz. Sayuri saß auf ihrem Teppich, inmitten eines Bergs von Schleifen und Geschenkpapier; drückte einen Plüschbären an sich und schluchzte herzzerreißend. Yusaku schluckte, setzte sich neben sie, zog sie an sich. Ran lehnte sich an die Tür, schnappte nach Luft, kämpfte ihrerseits mit den Tränen. Das Mädchen zitterte, bebte unter immer mehr Schluchzern, krallte sich an ihrem Großvater fest, den Bären immer noch umklammert, bekam fast keine Luft mehr. „Es ist so ungerecht…!“, presste sie schließlich hervor. „Schhhht… Sayuri… schh…“, murmelte Yusaku, strich ihr übers Haar. „So ungerecht…“ Immer und immer wieder wiederholte sie diesen Satz, jammerte ihn in das Jackett ihres Großvaters, konnte nicht aufhören. Das Gefühl der Ungerechtigkeit, des Verlusts wühlte und tobte in ihr, suchte ein Ventil. Trauer spiegelte sich in seinen Augen, als er all die Geschenke sah, die Shinichi damals ausgesucht und sorgfältig eingepackt hatte. Er hatte es manchmal gesehen, wenn sein Sohn wieder nach Hause gekommen war, ein weiteres Päckchen in einer Tüte mit sich trug, hatte ihm manchmal geholfen bei der Auswahl, hatte ihn begleitet. Er hatte ihr unbedingt etwas schenken wollen. Und ihm war nicht egal gewesen, was. Er konnte sie verstehen, seine kleine Enkelin, die jetzt zitternd in seinen Armen lag, ihren Kopf an seiner Schulter vergrub und weinte, so unendlich traurig war, wo sie doch an ihrem Geburtstag eigentlich lachen sollte und glücklich sein... Sie hätte diese Geschenke lieber Jahr für Jahr von ihm selber bekommen... eins nach dem anderen... Immer und immer wieder murmelte sie diesen einen Satz, dieses eine Wort… ungerecht. Ja, das war es - ungerecht. Aber wann war die Welt schon mal gerecht. Er drückte sie an sich, streichelte ihr immer wieder über Kopf und Rücken, redete beruhigend auf sie ein, versuchte, sie über eine Sache hinweg zu trösten, über die man eigentlich nicht hinwegtrösten konnte. Es war nicht gerecht. Ran starrte sie an, ihr Blick war glasig, ausdruckslos. Dann sammelte sie die Tagebücher ein, ließ sie in die Schachtel fallen, trug sie raus. Yusaku starrte sie an. „Ran…“ Sayuri, alarmiert durch ihren Großvater, schaute auf; und sah ihre Mutter mit der Kiste, ihrer Kiste, aus dem Zimmer verschwinden. Sie sprang auf die Füße, ihr Herz klopfte heftig gegen ihren Brustkorb. „NEIN!“, schrie sie. Es war ein Schrei, der Yusaku durch Mark und Bein ging. „Nein! Bring sie wieder her! Gib sie mir zurück!“ Yusaku hetzte seiner Enkelin nach, die ihrer Mutter auf den Gang gefolgt war, sie eingeholt hatte und an dem Karton zog. „Nein.“, murmelte Ran. „Vergiss ihn. Vergiss ihn einfach, du wirst ihn nie kennenlernen, es ist am besten, du vergisst ihn ganz…“ „Nein! “ „Sayuri!“ „Nein! Nimm ihn mir nicht weg…! Mama, bitte, nimm ihn... nimm sie mir nicht weg, ich versprech auch, ich werd nicht mehr weinen, aber bitte, lass mir die Bücher, sie gehören mir, du hast kein Recht….! Mama, bitte!“ Sayuris Augen waren verheult, ihre Finger klammerten sich in den Karton, sie sah wütend und verzweifelt gleichzeitig aus, wollte um nichts in der Welt ihre Bücher hergeben. „Nein.“ Rans Augen waren blicklos, leer, ihre Stimme leise. „Nein.“ „Bitte…! Bitte, bitte, bitte!“ Ihre Stimme wurde weinerlich, bettelnd, klang eine gute Oktave höher als gewöhnlich. Ran ließ sich nicht erweichen, zog ruckartig am Karton, entriss ihn ihrer Tochter, schaute sie wütend an, so zornig, dass Sayuri es nicht wagte, die Kiste noch mal anzufassen. „Bitte! Ich werd‘ auch nicht mehr weinen, ich versprech’s! Du hast doch vor ein paar Tagen verstanden…“ Ran schaute sie an, und Sayuri schwieg sofort. Der Ausdruck in den Augen ihrer Mutter verschlug ihr die Sprache. Verzweiflung. „Es tut dir nicht gut, wenn du das liest. Das ist nichts für dich. Du weißt jetzt, wie er war, mehr musst du nicht wissen. Es wäre unverantwortlich, dich das noch weiter lesen zu lassen, wenn es dich so mitnimmt. Deswegen werde ich sie jetzt wieder wegsperren. Vergiss deinen Vater. Vergiss ihn bitte…“ Der Zorn war aus ihren Augen gewichen, in ihnen stand die pure Verzweiflung. „Ran…“, begann Yusaku. Seine Schwiegertochter schüttelte vehement den Kopf, presste die Lippen aufeinander. „Nein.“ Sie schluckte hart. „Nein. Du hast kein Recht, mich um etwas zu bitten, oder mich zu verurteilen. Ich habe ertragen, was ich ertragen konnte, als er noch gelebt hat und auch danach. Ich hab alles… alles versucht. Aber es geht nicht mehr, ich kann nicht mehr. Er hat mir mein Leben genommen, Yusaku… ich mach keinem einen Vorwurf, erst recht nicht ihm, aber es ist so… ich hab alles versucht… versucht, damit zu leben... aber es wird nie wieder so wie früher sein…“ Tränen begannen über ihre Wangen zu laufen. „Nie wieder so sein, wie damals, als er noch da war… er hatte leicht reden, er hatte keine Ahnung, wie das ist… ich… kann nicht mehr… wo ist er, wenn ich ihn brauch… er ist nicht da… nie ist er da…“ Ihre Stimme verlor sich zu einem Wimmern. „Er hat versprochen, er wäre da, aber er ist es nicht...“ „Weil du ihn nicht lässt!“ „Nein, weil er tot ist! Und jetzt schau sie dir doch an! Du kannst doch auch nicht wollen, dass sie sich so quält, sie ist deine Enkelin!“ Ran atmete heftig. Yusaku wandte den Kopf ab, schaute kurz in das verheulte, aber dennoch wild entschlossene Gesicht seiner Enkelin. „Ran, es ist nicht an dir, und auch nicht an mir, ihm zu verbieten, seiner Tochter über sich zu erzählen, sie ist nicht nur dein Kind, sie war auch seins…“ Yusaku versuchte, sie zu beschwichtigen. „Du darfst ihm das nicht nehmen, du weißt, wie wichtig es ihm war…!“ Er schaute sie eindringlich an. Ran schüttelte den Kopf, atmete langsam aus. „Er ist tot. Er wird es nicht merken.“ „Das kannst du nicht ernsthaft glauben...!“ Der Schriftsteller starrte sie mit offen stehendem Mund an. Sayuri neben ihm schwieg, schaute ihre Mutter mit entsetztem Blick an. „Ich dachte du liebst ihn…“, flüsterte sie. Ran ignorierte den Satz. Yusaku trat vor, packte seine Schwiegertochter am Arm. „Ran! Du hast es ihm versprochen! Was ist nur in dich gefahren, das kann nicht dein Ernst sein, nach allem, was ihr durchgemacht habt, ihm das nehmen zu wollen…“ Ran schüttelte den Kopf. „Genau das ist es ja. Er gibt zuviel von sich, nimmt zuviel von denen, die er liebt. Wahrscheinlich gar nicht absichtlich… er induziert dieses Verhalten unbewusst. Allein die Art und Weise, wie er einen behandelt, erweckt in einem selbst den Wunsch, ihn auch so zu behandeln… ihm genauso viel zu geben… er hat so viel gegeben, es hat ihn ruiniert, das weißt du… und es wird uns ruinieren… zu versuchen, das zurückzugeben…“ Sie schluckte. „Ran…“ „Er hat immer alles ertragen… wollte mit aller Gewalt alle beschützen… wollte die Welt gerechter machen, dieser Idiot… du weißt, was das aus ihm gemacht hat… du weißt, wie er dafür bezahlt hat. Er war viel zu moralisch... ein ewiger Weltverbesserer... er... es war viel zu viel für ihn, er hätte nicht Detektiv werden sollen… wie hat er glauben können, er könnte was bewirken?“ Ran zitterte, starrte in die Kiste in ihren Händen. „Er war immer so interessiert… er schaute immer, wie es mir ging… wie es denen ging, die ihm etwas bedeuteten… und in dem Maße, in dem er an meinem Leben Anteil nahm, nahm ich auch an seinem Anteil, was okay war, ich war seine Frau… ich liebte ihn… ich hab ihm geschworen, ihn nicht allein zu lassen, und ich wollte es so… ich bereue das nicht. Aber ich will nicht, dass er mit Sayuri das Gleiche anstellt… dass sie sich durch seine Anteilnahme verpflichtet fühlt, ihn zu betrauern. Ich weiß, er hätte das nicht gewollt, aber man kann das nicht verhindern…“ „Aber ich fühl mich doch nicht verpflichtet-“, begann Sayuri, schwieg dann aber, als ihre Mutter ihr einen wütenden Blick zuwarf. „Du hast keine Ahnung, Sayuri.“ Ran schluckte, schaute Yusaku traurig an. Hinter ihm tauchte Yukiko auf, die von unten den Tumult oben gehört hatte. Ran schaute sie scheu an. „Ihr dürft mir das nicht übel nehmen. Ihr dürft von mir nicht verlangen, dass ich zusehe, wie sie weint. Wie sie sich quält, wo aber keiner da ist, der sie beruhigen kann. Der ihr über den Verlust, den sie spüren wird, hilft, hinwegzukommen. Ihr habt nicht das Recht dazu, mich zu verurteilen. Euer Sohn hat mir… hat ihr das angetan… er ist gestorben und hat uns allein gelassen… Shinichi… Er hat mir viel zu viel gegeben… und mir viel zu viel genommen… als er ging. Ich… es geht nicht mehr. Ich ertrage es nicht mehr. Und ich will nicht… ich kann nicht zulassen… dass dieser Schmerz nun auch sie ergreift, sie so zu zerstören droht wie mich. Ich kann das nicht. Das darf er nicht. Und das kann er nicht gewollt haben.“ Langsam wandte sie sich ihrer Tochter zu. „Ich bitte dich, vergiss ihn. Er kann dir nicht helfen, er kann nichts für dich tun, er wird dir in deinem Leben nie begegnen… vergiss ihn. Vergiss ihn… und lebe dein Leben ohne ihn, wie vorher auch, das ist das Beste für dich.“ Sie drehte sich um, kramte den Büroschlüssel aus ihrer Tasche, verschwand. „Nein!“ Sayuri wollte ihr nachlaufen, aber Yusaku hielt sie zurück. „Lass sie.“ Seine Augen waren starr, als er seiner Schwiegertochter hinterher sah. „Lass sie, sie fängt sich wieder… und ich rede dann später noch mal mit ihr.“ Yukiko schaute ihn an, eine Träne rann ihr über die Wange. Sanft strich sie ihrer Enkelin übers Haar, drückte sie dann an sich. „Happy Birthday, Sayuri…“ Happy birthday… „Ran, das kannst du nicht machen!“ Sonoko starrte sie an, ihre Haare schienen wie elektrisiert. Neben ihr stand Yusaku; eigentlich hatte er allein mit Ran reden wollen, aber angesichts der aufgebrachten Patentante seiner Enkelin, hatte er wohl unerwarteten Beistand erhalten. Sonoko war kurz nach dem Zwischenfall mit den Notizbüchern angekommen; und wusste jetzt auch, was in den letzten Tagen im Hause Kudô los gewesen war... man hatte sie vollständig ins Bild gesetzt. Der Hausherr war zurückgekehrt. Sayuri hatte ihrer Patentante alles erzählt, nachdem sich Sonoko nicht hatte abwimmeln lassen; sie hatte gesehen, wie es um ihre Patentochter stand, dass sie unglücklich war, dass sie geweint hatte, und das hatte ihr keine Ruhe gelassen. Sayuri hatte ihren Geburtstag ansonsten tapfer ausgestanden… und jetzt, nachdem alle Gäste gegangen waren, war Sonoko geblieben, um mit ihrer besten Freundin mal ein Hühnchen zu rupfen. Sie wandte sich kurz um, als sie ein Geräusch hinter sich hörte; Yusaku hatte seine Arme vor der Brust verschränkt, warf seiner Schwiegertochter einen nachdenklichen Blick zu. Ran stand vor ihnen, würdigte sie keines Blickes, kehrte ihnen den Rücken zu und spülte das Geschirr ab. „Sonoko, hör auf.“ „Nein!“ Sonoko blinzelte. „Ran… du darfst ihn nicht vergessen. Du darfst ihn nicht vergessen, und verlang nicht von ihr, es zu tun… siehst du nicht, wie viel ihr das bedeutet? Wie wertvoll ihr das ist… zu wissen, wer er war, warum er nicht da ist, wie sehr er sie geliebt hat… und immer noch lieben würde? Ran, warum willst du ihr das nehmen? Siehst du nicht, was passiert ist, es ist doch wundervoll… sie hat ihn lieb, obwohl sie ihn nie kannte… denkst du nicht, wie sehr ihn das gefreut…“ „ER IST TOT, SONOKO!“ Sie warf den Teller, den sie gerade abspülte, in das Spülbecken. Es klirrte und krachte, als das Porzellan brach, Spülwasser spritzte ihr um die Ohren. Sie krallte sich an die Kante der Theke, atmete schwer, kniff die Augen zusammen, als Tränen ihr erneut in die Augen stiegen. Sie wollte nicht weinen. „Er ist mit vierundzwanzig gestorben.“ Sie sagte es leise. „Das… ist eine Tatsache. Dass ich ihn vermisse ist eine Tatsache, dass er nicht mehr wiederkommt, auch. Dass sie sich quält damit, dass er nicht da ist, dass sie um ihn weint, ist eine Tatsache. Dass er sich gefreut hätte, tut nichts zur Sache. Das ist keine Tatsache, man kann es nicht nachprüfen, es hat keinen Einfluss, weder auf Sayuri, noch auf mich. Ich kann mich nicht freuen, dass sie ihn lieb hat, wenn sie gleichermaßen so weint. Wenn sie sich so quält. Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich zusehe, wie meine Tochter leidet. Und ich hoffe doch, du… du verstehst, dass ich auch nicht mehr kann… es… es tut zu weh… es geht nicht mehr. Ich bin am Ende. Lasst mich doch endlich in Frieden.“ Sie fischte langsam nach den Scherben, zog dann ihre Hand ruckartig aus dem Spülwasser, schrie leise auf. Blut rann ihr aus einer Wunde an ihrer rechten Hand; sie hatte sich in die Finger geschnitten. Tränen begannen ihr nun doch aus den Augen zu quellen, lautlos. Sie bot ein wahres Bild des Jammers. Yusaku schluckte schwer, trat nach vorne, griff ihr Handgelenk, dann das Geschirrtuch, um die Blutung zu stoppen, während Sonoko nach dem Erste – Hilfe - Köfferchen rannte. Er hielt ihre Hand fest, ließ nicht zu, dass sie sie ihm entzog. „Ran.“, murmelte er leise. „Glaub nicht... glaub nicht, dass wir dich nicht verstehen. Sei nicht so dumm, zu glauben, uns fehlt er nicht. Wir... Yukiko und ich... wir vermissen ihn schrecklich, es ist furchtbar... das Schlimmste überhaupt... wenn man sein eigenes Kind zu Grabe tragen muss. Aber wir dürfen ihn nicht vergessen. Wenn wir ihn vergessen, ist er wirklich fort.“ Er zog ein Taschentuch aus seiner Jacketttasche. „Willst du das? Willst du das für dich und deine Tochter, willst du, dass er wirklich fort ist? Weg? Auf immer verschwunden...? Kannst du das wollen? Glaubst du, Sayuri wird ihn je vergessen? Gib ihr die Chance... du hast kein Recht, über ihre Gefühle zu entscheiden. Sie ist stark, sie wird das packen... und wenn sie es dann geschafft hat, wird sie umso stärker sein... weil sie dann einen Menschen mehr in ihrem Rücken weiß. Ihren Vater. Ran... du darfst ihn nicht vergessen...“ Sie schaute ihn an, eine Träne perlte ihr über die Wange. Blieb stumm. Er schaute sie traurig an. Es tat ihm weh, die Liebe seines Sohns so traurig zu sehen, weil er wusste, er hätte das kaum ertragen. Aber sie durfte ihn nicht vergessen. Sie alle durften das nicht. Sie waren ihm die Erinnerung schuldig. Denn sonst hat er nie existiert. Dann kam Sonoko zurück, um Rans Hand zu verbinden. Das Thema Shinichi Kudô brachten sie danach nicht mehr auf den Tisch. Yusaku verabschiedete sich leise, Ran trank Kaffee mit Sonoko und redete über Belangloses. Sonoko schaute sie an, sah ihre Augen, die so leer waren... so leer. Sie hatte sie nie so dunkel gesehen, so leblos... Sie ahnte erst jetzt, langsam, was für eine klaffende Lücke er damals hinterlassen hatte, Shinichi. Ahnte erst jetzt, dass ihre Freundin bei weitem nicht immer so stark war, wie sie tat. Ran lag lange wach in dieser Nacht. Immer wieder sah sie das Gesicht ihrer Tochter, als sie am Boden saß und weinte… die Tränen, die unaufhörlich ihre Wangen hinabströmten. Sah sie zittern, den Plüschbären an sich drücken, sah diesen Schmerz in ihren Augen… hörte ihre Stimme, wie sie sie anflehte ihn ihr nicht wegzunehmen. Konnte es sein…? Hatte Sonoko Recht? War es tatsächlich so weit gekommen? Sayuri hatte ihren Vater lieb gewonnen. Sie hatte ihn kennen gelernt. Nur aus seinen Büchern. Sie hatte erkannt, wer er gewesen war. Sie vermisste ihn, er fehlte ihr, er war ein Teil ihres Lebens geworden. Hatte eine Lücke gefüllt, die vorher vakant gewesen war… und hinterließ dafür eine neue. Yusaku hatte ja Recht. Sie durfte nicht über die Gefühle ihrer Tochter entscheiden. Aber... Dieses Brennen in den Augen ihrer Tochter… dieses Flehen und Betteln… diese Verzweiflung, diese Angst in ihren Augen. Es würde ihr auf eine Weise, die Ran nicht vorhergesehen hatte - und Shinichi wohl auch nicht- ganz ähnlich gehen wie ihr. Auch ihre Tochter würde Shinichi verlieren. Sie würde ihren Vater verlieren, ein zweites Mal in ihrem Leben, und diesmal würde sie der Verlust in all seiner Härte treffen. Unweigerlich, wenn sie die letzte Seite dieser Bücher gelesen hatte. War es da nicht… war es da nicht besser, sie die Bücher nicht fertig lesen zu lassen? So konnte sie immer denken… dass noch etwas gekommen war. Sie würde nie das Ende erfahren müssen. Nie sollte Sayuri ihren Vater so verlieren müssen wie sie ihren Ehemann. Weihnachten ----------- Hallo liebe Leserinnen und Leser! Vielen, vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel ^^ Ich fürchte, in diesem Kapitel könnte es nun ganz leicht süßlich werden ^^ Um das böse Wort mit k (ktischig >.<) zu vermeiden. Ihr seid hiermit gewarnt. Es weihnachtet ^^ Irgendwann musste es kommen, da er ja den Beginn des neuen Jahrs noch erlebt... da konnte ich Weihnachten nicht auslassen. Ich wünsche viel Vergnügen beim Lesen, bis nächste Woche, Eure Leira :D _______________________________________________________________________ Kapitel 14: Weihnachten Vergangenheit Es war Anfang Dezember, und Ran schlenderte durch die Straßen Tokios, ganz in Gedanken versunken, auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken. Dachte an Shinichi, der zuhause saß und über Namen für seine Tochter brütete. Wirklich geistig herausfordern tat ihn das nicht, das wusste sie; aber es schien ihm jetzt wieder deutlich mehr Spaß zu machen. Der Zusammenbruch war jetzt eine gute Woche her. Sie hatte ihn danach noch mal zum Arzt geschleppt, der ihm ein anderes Medikament verschrieben hatte, auf das er wesentlich besser ansprach; deshalb ging es ihm jetzt auch wieder etwas besser. Er war tatsächlich mal wieder so gut wie schmerzfrei und sie und alle anderen (sie hatten auch Yukiko, dem Professor und Eri davon erzählt, allerdings nur die Kurzversion) behandelten ihn jetzt tunlichst anders… sie hatten nie geahnt, dass ihm ihre Art, mit ihm umzugehen, so aufs Gemüt schlagen könnte, doch jetzt im Nachhinein schüttelten sie alle nur den Kopf, wie sie jemals so ein Verhalten an den Tag legen hatten können... wo sie doch wussten, dass er es hasste, wenn man ihn wie ein Kind behandelte. Ihm seine Mündigkeit absprach, seine Fähigkeit, sein Leben allein zu gestalten. Sie wussten es aus Erfahrung. Aber jetzt war alles anders; und er wusste das sehr zu schätzen. Er schöpfte langsam wieder Kraft, half ihr oder seinem Vater, wo er konnte, indem er ihr zur Hand ging oder das neue Manuskript seines Vaters Korrektur las. Er lebte wieder. Richtig, mit allen Sinnen. Nur mit einem Sinn nicht - seinem detektivischen Spürsinn; denn Ran hatte ihm immer noch nicht gestattet, sich des Rätsels anzunehmen, auch wenn ihre Einstellung gewaltig ins Wanken gekommen war. Aber ganz war ihre Abneigung gegen einen neuen Fall noch nicht gewichen. Und genau über diese Frage grübelte sie, als ihr ein junger Mann den Weg vertrat. Zuerst erstarrte sie, als sie ihn anschaute; dann fasste sie sich wieder. Es war jedes Mal das Gleiche, wenn sie Kaito KID gegenüberstand. Dieses Mal stand er ihr auch noch in ‚Zivil’ gegenüber, was ihn von Shinichi noch schwerer unterscheidbar machte. „Hallo Kaito.“ Sie versuchte an ihm vorbeizugehen, aber er ließ sie nicht. „Warum sperrst du ihn ein?“ „Tu ich nicht. Er kann gehen, wohin, wann und wenn es ihm beliebt.“ Ran starrte trotzig auf die Lebkuchen in einem Schaufenster neben ihm, schritt nun doch energisch an ihm vorbei. Kaito folgte ihr. „Du weißt, dass ich das nicht meine. Du verbietest ihm, die Herausforderung anzunehmen.“ „Also bist du doch KID? Gibst du’s jetzt du zu?“ Sie wandte sich ihm zu, funkelte ihn an. „Ich habe nicht gesagt, dass sie von mir ist. Das lässt keine Schlussfolgerung auf meine oder KIDs Identität zu.“, meinte er gelassen, grinste breit. Dann wurde er wieder ernst. „Aber wechseln wir mal nicht das Thema, meine Teure. Also? Was ist los?“ „Lass mich in Ruhe.“ „Von dir will ich ja auch gar nichts. Ich sowieso nicht, und KID auch nicht; ihm würde die Aufmerksamkeit deines Göttergatten durchaus reichen. Aber er tut’s nicht, weil du’s ihm verbietest. Ich wusste gar nicht, dass er so ein Weichei…“ „Hör sofort auf!“ Ran starrte ihn wütend an, ihre Augen funkelten vor Zorn. „Wag es ja nicht so über ihn zu reden, du bist doch selber nichts weiter als ein feiger Taschendieb, der sich einen Spaß draus macht, sich theatralisch anzuziehen und anderer Leute Zeit zu klauen…! Nenn ihn noch einmal…“ Ihre Stimme war zu einem bedrohlichen Knurren geworden. Kaito hob beschwichtigend die Hände in die Höhe. „Schon gut, kein Grund zur Aufregung, Teuerste. Er ist kein Weichei, ich nehm‘s zurück. Etwas anderes… wird jedoch wohl nicht zurückgenommen werden… merk dir das. KID kriegt immer das, was er will… und er hat alle Zeit der Welt.“ Unsicher schaute sie ihm nach, als er sich umdrehte und ging, in die Menschenmassen eintauchte und im nächsten Augenblick verschwunden schien. Sie schüttelte sich, rieb ihre Hände. Ja, du kannst alle Zeit der Welt haben… andere haben dieses Glück nicht. Damit ging sie weiter, überlegte, was sie Shinichi zu Weihnachten schenken könnte. Zu seinem letzten Weihnachten. Sie schauderte bei dem Gedanken, und die Möglichkeit, dass er vielleicht selbst das nicht mehr erleben könnte, wagte sie erst gar nicht in Erwägung zu ziehen. Es sah gut aus, momentan, sie wollte nicht dran denken, dass sich an diesem Zustand etwas ändern konnte. Und da er Weihnachten also sicher noch da sein würde… brauchte sie ein Geschenk. Nur… was schenkte man einem Menschen… der mit materiellen Gütern eigentlich nichts mehr anfangen konnte? Es war Shinichis… letztes Weihnachten. Es sollte… unvergesslich sein. Besonders schön. Also hatte sie überlegt, mit ihren Eltern, seinen Eltern Heiji, Kazuha, dem Professor und Shiho zusammen zu feiern… aber das klärte immer noch nicht die Frage, was sie ihm schenken sollte. Ran seufzte, betrat ein großes Kaufhaus. Vielleicht war es am Einfachsten, wenn sie sich zuerst einmal um alles rund um das Fest herum kümmerte… Dekoration, Essen, Plätzchen. Sie wollte gern ein westliches Fest feiern, weil es ihr soviel lebendiger schien… Weihnachten war das Fest der Liebe und der Familie im Christentum, und genau das traf den Kern der Sache. Liebe. Familie. Sie seufzte leise, holte sich einen Einkaufswagen und schob ihn langsam durch die Regale, zog hier und da etwas heraus, legte es in den Korb. Und während all der Zeit konnte sie nicht aufhören an KIDs Herausforderung zu denken. Er legte es wohl wirklich drauf an. Ran fragte sich, wie oft der Dieb nun schon den Termin für seinen Coup hatte verschieben müssen… weil er unbedingt seinen Lieblingsdetektiv dabei haben wollte. Sie wusste, wie sehr es Shinichi in den Fingern juckte. Und nach seinem Tief… dachte sie… würde ihn so ein kleines Rätsel vielleicht wirklich aufmuntern. Sie dachte an sein Grinsen… an dieses triumphierende Lächeln auf seinen Lippen, wenn er den Fall gelöst hatte; dieses Lächeln, diesen Glanz in seinen Augen, hatte sie das letzte Mal vermisst. Er hatte nicht gestrahlt, als er sie befreit hatte, als er Saijo gefasst hatte… sein letzter Fall war eine Tragödie gewesen und hatte sehr bitter geendet. Eigentlich hatte Shinichi dieses Lächeln verdient. Dieses Gefühl von Triumph. In gewisser Hinsicht hatte Kaito Recht gehabt… sie hatte ihn wirklich eingesperrt. Nicht seinen Körper, aber den Detektiv in ihm, der immer noch da war… er war immer ein Teil von Shinichi und würde es auch bleiben. Und… Sie gestand sich ein, eigentlich würde Ran ihn auch noch einmal gerne sehen. Diesen Ausdruck von Siegessicherheit auf seinem Gesicht. Dieses Lächeln. Seufzend griff sie nach ihrem Handy, wählte die Nummer ihres Zuhauses. Als sie seine Stimme am anderen Ende der Leitung hörte, machte ihr Herz einen Sprung. „Na los, hol sie dir. Wer weiß, wie lang er noch wartet…“ Keine Begrüßung, keine Einleitung, kein gar nichts. Shinichi starrte das Telefon an, konnte nicht fassen, was er gerade gehört hatte. Ob er sie tatsächlich richtig verstanden hatte. Dann räusperte er sich. „Ran, was hast du heute gegessen…?“, begann er vorsichtig. „Oder ist das eine deiner neuesten Launen? Oder…?“ Sie lachte leise, als sie die Unsicherheit in seiner Stimme bemerkte. „Muss ich dich neuerdings dazu zwingen, einen Fall zu übernehmen…?“ Er hörte die leise Stichelei in ihren Worten, konnte seinen Ohren kaum trauen. „Du bist dir also sicher…?“ „Ja. Mach es, ich weiß, wie gern du es tun würdest, und es liegt nicht an mir, über dein Leben zu bestimmen. Außerdem, wie du schon sagtest… KID ist mehr Gehirnjogging als ein Verbrechen. Und ich fürchte, das ist genau das, was du jetzt brauchen kannst…“ Er grinste, merkte, wie Aufregung in ihm empor kroch. „Danke! Danke, Danke, Danke…!“ Shinichi hörte sie erneut lachen; dann knackte es in der Leitung. Sie hatte aufgelegt. „Danke!“ Breit grinsend stand er da, lächelte versonnen das Telefon an. Dann riss er sich zusammen, stieg die Treppe empor, wobei er zwei Stufen auf einmal nahm, und rannte in ihr Zimmer, wo zwölf Briefe geduldig seiner geharrt hatten; es wurde Zeit, dass er sie aus ihren Umschlägen befreite und sie ihrem eigentlichen Bestimmungszweck zuführte. Jetzt bist du fällig!!! Ran lächelte in sich hinein. Sie hatte sein grinsendes Gesicht fast vor sich sehen können. In der Hinsicht war er doch immer noch wie ein kleiner Junge… Gedankenverloren legte sie ein Päckchen mit roten Kerzen in ihren Einkaufswagen. Den jungen Mann, der auf der anderen Seite des Regals stand, und mit einem Ausdruck tiefster Zufriedenheit eine Packung Lametta anschaute, bemerkte sie nicht. Kaito wandte sich ab, streckte sich kurz, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und schlenderte fröhlich Jingle Bells pfeifend aus dem Geschäft. Endlich konnte er an die konkrete Planung gehen! It’s showtime…! Ran erledigte noch ein paar Besorgungen, telefonierte heimlich mit Kazuha, weil sie nicht wollte, dass Shinichi ihre Weihnachtspartyvorbereitungen mitbekam und fuhr dann zwar etwas zufriedener, aber immer noch ohne Weihnachtsgeschenk, nach Hause. Sie wusste einfach nicht, was sie ihm schenken konnte. Es musste etwas von ideellem Wert sein. Etwas, woran Gefühle, Erinnerungen geknüpft waren. Ran seufzte, schloss die Tür auf. Der Duft von Kaffee waberte ihr entgegen, und langsam ließ sie ihre Tüten zu Boden gleiten, wanderte dem Geruch nach, ahnte schon, wohin er sie führen würde. Es war wie früher. Wie immer. So sollte es eigentlich sein. Als sie dann vor seinem Büro stand, ihn inmitten seiner Briefe sitzen sah, mit Augen, die leuchteten wie die eines kleinen Kindes bei der Bescherung, musste sie lachen. Er schaute auf. Langsam zog er die Augenbrauen hoch und schaute sie entrüstet an. „Was gibt’s da zu lachen? Schau ich nicht professionell genug aus?“ Er nippte grinsend an seiner Tasse. Ran schüttelte den Kopf, stieg über ein paar Briefe hinweg, ließ sich neben ihm zu Boden sinken, merkte, wie er sie an sich zog. Zu gern schmiegte sie sich an ihn, ließ sich von ihm über den Rücken, über ihren Bauch streicheln. „Es tut mir Leid…“, murmelte sie leise, schaute ihn an. „Es tut mir wirklich Leid. Ich hätte das nicht tun sollen. Und ich hätte dich nicht so… vor die Wahl stellen dürfen, das war unfair von mir. Ich hab mich hier von Grund auf schäbig gegenüber dir verhalten, das war nicht richtig, ich…“ Sie verstummte, als er mit seinen Lippen die ihren berührte, sie zu einem Kuss verführte. Ran seufzte leise, kuschelte sich noch enger an ihn, vergrub ihre Finger in seinen Haaren, hielt sich mit der anderen Hand an seinem Hemd fest. Sie fühlte die Wärme unter ihren Fingern, fühlte den warmen Atem, der ihr übers Gesicht strich… spürte sein Herz schlagen und konnte sich nicht vorstellen… sich einfach nicht vorstellen, dass dem so bald schon nicht mehr so sein sollte. Langsam löste er sich von ihr, schob sie ein wenig von sich, lehnte seine Stirn gegen ihr. „Ist schon gut, Ran.“ „Aber…“ „Nein. Es ist schon gut… und das meine ich so. Ich war in letzter Zeit auch nicht einfach zu ertragen.“ Er lächelte bitter. „Wir sind trotz allem doch nur Menschen. Und so falsch unsere Gründe für unser Verhalten waren, so logisch schienen sie uns. Aber wir haben ja die Kurve gekriegt.“ Shinichi lehnte sich zurück, tippte ihr an die Nase. „Also lass es uns begraben…“ Sie nickte langsam, schaute ihn lange an. „Womit hab ich dich verdient…“ Der Ausdruck in seinen Augen änderte sich schlagartig. „Gar nicht. Du hast jemanden verdient, der bei dir bleibt… dich nicht allein lässt…“ Er wandte den Kopf ab, schluckte. Ran starrte ihn bestürzt an. „So war das aber… nicht gemeint…“ „Ich weiß.“ Scheu drehte er den Kopf, warf ihr einen kurzen Blick zu. „Ich weiß es doch. Und genau deswegen sag ich es ja… du hast was Besseres verdient als mich… gib dich dem Gedanken nicht hin, ich wär das Beste, was dir passiert ist.“ Er lächelte traurig. „Denn das bin ich nicht.“ Tief seufzte er, blies seine Ponyfransen hoch. „Es fängt an“, murmelte er. „Es hat schon längst begonnen…“ Ran schaute ihn verwirrt an. „Was… wovon redest du?“ Shinichi wandte sich ihr zu, in seinen Augen lag Resignation. „Die Zeit der letzten Male hat angefangen.“ Er hob eine Hand, fing an, abzuzählen. „Letzter Sommer. Letzter Fall. Letztes Weihnachten…“, er räusperte sich, „… es ist nur eine Frage der Zeit, bis letzter Tag, letzte Nacht, letzter Kuss, letzter…“ Atemzug… Ran war noch vorn gestürzt, hielt ihm mit beiden Händen den Mund zu. „Ich will’s nicht hören!“ Tränen perlten über ihre Wangen, immer heftiger schüttelte sie den Kopf. „Ich will das nicht hören, sag das nicht, bitte!“ Sie starrte ihn verzweifelt an. „Bitte!!!“ Er öffnete leicht den Mund; dann schloss er ihn, zog sie an sich. „Es tut mir Leid… schon gut, schon gut…beruhig dich… es tut mir Leid…“ Shinichi drückte ihr einen Kuss auf die Haare. „Shh… ich werds nie wieder sagen… es tut mir Leid…“ Ran schluchzte an seiner Brust, beruhigte sich nur langsam. Schließlich fasste sie sich, stand auf, schwankend. „Ich geh Plätzchen backen.“ Die Lippen aufeinander pressend starrte er sie an. „Okay…“ Sie nickte steif, dann ging sie. Unsicher schaute er ihr hinterher, wusste nicht, was er tun sollte. Sagen sollte. Er wollte doch nur… wollte nur… dass sie sich langsam drauf einstellte… dass seine Zeit hier nun… sehr begrenzt war. Dass sie ihn losließ. Sich mit dem Gedanken arrangierte. Aber noch… war sie anscheinend nicht soweit. Noch war sie nicht soweit. Und langsam fragte er sich, ob sie je soweit sein würde. Umso mehr er sich langsam wirklich abzufinden schien, umso mehr klammerte sie sich fest. Zumindest schien es ihm so, und dem wollte er entgegenwirken, denn sonst würde das hier alles in einer Katastrophe enden. Aber noch war der Zeitpunkt, mit ihr da mal… direkt darüber zu reden, wohl nicht gekommen. Seufzend zog er KIDs aktuellsten Brief hervor. Er war von heute morgen. Im Prinzip spielte es keine Rolle; es wurde immer der Diebstahl des gleichen Gegenstands angekündigt. Allerdings verschob sich der Zeitpunkt, deswegen war der neueste Brief am interessantesten. Wenn Tausend über Tausend Diamanten auf schwarzem Tuche ausgebreitet liegen, Leuchten und funkeln und glitzern auf dunklem Samt, wie man sie nur find’, Wenn zur Nichtzeit Selene sich in ihr schwarzes Kleid hüllt, wenn Schatten über diese Erde fliegen, Dann werde ich sein, wo Dunkelheit und Einsamkeit unsere einzigen Begleiter sind, An der Pforte zu Hades Reich, wo Cerberus über uns wacht… Und der weinenden Lady ihre rote Träne trocken, ihr Antlitz damit sei froher gemacht. „Makaber.“, murmelte Shinichi langsam. „Aber nicht besonders schwer.“ „Was ist nicht besonders schwer?“ Shinichi schreckte hoch, als er Shihos melancholische Stimme hörte. Dann zog er die Augenbrauen zusammen. „Hallo Shiho. Wer hat dich hereingelassen?“ Er fischte nach den Briefen, stapelte sie aufeinander. „Danke, freut mich auch, dich zu sehen. Was ist nicht besonders schwer?“ Shiho schaute ihn aus halbmondförmigen Augen leicht genervt an. „KIDs neuestes Rätsel.“, bemerkte er dann, warf ihr einen fragenden Blick zu. „Was beschert mir die Ehre, meine Liebe?“ Sie verlagerte langsam ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Ich wollte nur sehen, wie’s dir geht.“, bemerkte sie dann, in dem sachlich-trockenen Ton, den sie immer an den Tag zu legen pflegte. „Gut, Danke.“ „Lügner.“ Shinichi warf ihr einen unwilligen Blick zu. „Warum fragst du mich, wenn du die Antwort selbst zu wissen glaubst?“ „Um Interesse zu heucheln.“ Er stöhnte innerlich auf. „Shiho, das steht dir nicht.“ Kurz drehte er sich um, als er die Briefe in einer Schublade verschwinden ließ. „Dir ist das nicht so egal wie du tust, wir beide wissen das, also bitte lass diese komischen Ausdrücke und Anwandlungen. Ich komm mir da nur blöd vor.“ Damit ging er an ihr hinaus auf den Gang, in Richtung Küche, von wo man Ran schon eifrig kneten hörte. Tatsächlich fragte er sich, was der Plätzchenteig ihr angetan hatte, dass er solche Schläge verdiente. Blinzelnd starrte er sie an, dann seufzte er. „Tu ihm nicht weh.“ Ran wandte sich um, sah in sein skeptisch dreinblickendes Gesicht, lächelte. „Der kanns ertragen, keine Sorge.“ Ihre Tränen schienen getrocknet, nichts deutete mehr auf ihren Ausbruch von vor ein paar Minuten hin; und er wunderte sich, wie schnell sie so etwas wegzustecken schien. Oder was für eine herausragende Schauspielerin sie war. Dann entdeckte sie Shiho. „Hallo!“ „Hi.“, murmelte Shiho, starrte auf Rans Bauch. Ihr war klar, dass das unhöflich war, aber Rans Schwangerschaft war nicht mehr zu übersehen. Sie näherte sich mit großen Schritten dem fünften Monat; bald würde wohl das Baby anfangen, sich zu bewegen. Und mehr würde er auch nicht mehr mitkriegen. Ihr Verhalten von vorhin kam ihr wirklich taktlos vor, mittlerweile. Sein Tadel war absolut gerechtfertigt gewesen. Was half es, jetzt wieder anzufangen, sich einzumauern, wo sie doch schon mal alle hinter ihre Schutzwälle blicken hatte lassen. Aber je näher sie dem Zeitpunkt kamen... desto mehr quälte sie sich. Desto mehr Schuld gab sie sich. Ran schluckte, bemerkte Shihos Blick, suchte Shinichis Gesicht. Er nickte kaum merklich, hatte die Veränderung im Verhalten der blonden Forscherin ebenfalls bemerkt, griff sie am Handgelenk. Sie riss sich los, schaute ihn stattdessen an, mit großen, blauen Augen. Shinichi seufzte, schüttelte langsam den Kopf. „Lass es.“ Er versuchte, locker zu klingen, und es gelang ihm außergewöhnlich gut, wie Ran ihm neidlos zugestand. „Aber...!“ „Nein. Lass es.“ Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Bitte, hör endlich auf damit. Hör einfach auf. Von deinen Schuldgefühlen wird es nicht besser; du hilfst mir nicht damit, Ran nicht und dir auch nicht, also lass es… und lass es bitte auch sein, übertrieben kühl wirken zu wollen, dieses Extrem steht dir nicht an und mich stößt du vor den Kopf damit.“ Damit drehte er sich um und ging in die Speisekammer. Sie schaute ihn betroffen an. „Entschuldige.“, wisperte sie, als er mit zwei Gläsern und einer Flasche Mineralwasser wiederkam. „Hm?“ Sie schaute ihn scheu an. „Für mein Verhalten; du hattest Recht, das war gefühllos. Und wenn es dir leichter fällt… wenn ich mit der Schuldfrage nicht ständig rumlaufe… werd ich versuchen, es nicht mehr so deutlich zu zeigen…“ Er runzelte die Stirn. „Ich kanns mir nicht abgewöhnen, für mich ist das die Wahrheit, Shinichi. Das kannst du nicht ändern.“ Shinichi seufzte, holte Luft, stellte dann die Gläser ab. „Darüber reden wir noch.“ „Wie du meinst.“ Shiho verschränkte die Arme vor der Brust, ließ sie dann wieder sinken. „Ach, und… es… tut mir auch Leid, dass ich… nun… ich hab Ran… nun…“ Shinichi zog die Augenbrauen hoch. „Du hast ihr auf den Bauch gestarrt, ja. Aber dafür musst du dich nicht entschuldigen.“ Ran drehte sich um, warf ihm einen schrägen Blick zu. „Aha. Und das entscheidest du?“ Er schaute sie ertappt an; Ran grinste, pustete ihm eine Handvoll Mehl ins Gesicht, brachte ihn zum Husten. Shiho lächelte, schaute von einem zum anderen. „Werden das schon Plätzchen?“, fragte sie dann, schaute neugierig auf den Teig in Rans Händen und wechselte damit das Thema. „Ja.“ Ran lächelte. „Es soll ja alles fertig werden. Plätzchen und Geschenke…“ Shinichi seufzte leise, schaute aus dem Fenster. Genau über den letzten Punkt hatte er auch schon nachgedacht. „Ich will keine Geschenke.“, murmelte er geistesabwesend. Ran drehte sich um, ihre Schürze voller Mehl. „A… aber…“ Shinichi blinzelte, merkte er st jetzt, dass er seinen Gedanken eben laut ausgesprochen hatte. Dann presste er die Lippen zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich an die Tischkante sinken. „Ich will wirklich keine. Ihr braucht mir nichts schenken.“ Nun war es Shiho, die ihm entrüstet widersprach. „Aber es ist Weihnachten!“ „Es ist mir egal, dass Weihnachten ist. Ich will keine Geschenke. Was will ich damit… ihr zerbrecht euch nur den Kopf, was überhaupt noch sinnvoll ist, was man mir schenken kann. Spart euch den Stress, ich brauche das nicht…“ Shinichi vergrub langsam die Hände in seinen Hosentaschen, schaute von einer zur anderen. „Sagt das auch bitte allen anderen, die sich in den Kopf gesetzt haben, mir was schenken zu müssen. Bitte, ich will nicht, dass ihr euch meinetwegen diese Umstände macht. Meinetwegen müssen wir’s auch gar nicht so groß feiern, mir reicht eure Anwesenheit eigentlich völlig, aber davor kann ich mich wohl nicht drücken. Deshalb kann ich nur sagen… bitte keine Geschenke.“ Damit drehte er sich um, ging wieder zurück in sein Büro. Shiho und Ran starrten einander an. „Er hat Angst vorm Abschiednehmen…“, murmelte Shiho leise. Ran schluckte, sagte nichts. „Er will nicht, dass das das letzte Mal sein wird… er will es wohl verdrängen… obwohl… gerade deswegen verdrängt er es auch wieder nicht…“ Sie überlegte gedankenverloren vor sich hin, wusste wohl selber nicht, ob sie eine Antwort von Ran erwartete oder nicht. Das war im Grunde genommen auch unwichtig. Ran rollte den Teig mit einem Nudelholz aus, mit einer Heftigkeit, dass sie den Teig dabei fast zerriss. „Gib mir bitte die Ausstechformen, Shiho.“ Sie würde ein Geschenk finden. Ganz sicher. Und wenn er sich auf den Kopf stellte, ihr lieber Göttergatte… er würde ein schönes Fest erleben, ob er nun wollte oder nicht. Sie presste die Lippen zusammen, stieß die Ausstechform, einen Stern, heftiger als nötig in den Teig, während Shiho das Backblech vorbereitete. Und er würde ein Weihnachtsgeschenk bekommen. Zumindest von ihr. Der vierundzwanzigste Dezember kam viel zu schnell. Shinichi seufzte, wusste nicht, was er tun sollte. Es war langsam wirklich offensichtlich, dass Ran eine große Feier geplant hatte; auch wenn sie nichts hatte verlauten lassen, allein die Mengen an Essen, die sie besorgt hatte, wie eifrig sie kochte, putzte und dekorierte, verriet sie seit Tagen. Und auch wenn er sich etwas schäbig vorkam; dieses Wissen hatte er in gewisser Hinsicht ausgenutzt. Nicht um ihre Feier zu sabotieren. Nur ums nicht schlimmer zu machen, als nötig. Weihnachten würde fulminant werden, dieses Jahr. Es war sein letztes Fest. Langsam ließ er sich auf die Tischkante in seinem Büro sinken, starrte nach draußen, wo Schneeflocken vom Himmel stoben, ganz Tokio in eine weiße, flaumige Decke hüllten. Fast Millimeter für Millimeter öffnete sich die Tür, und Ran steckte ihren Kopf herein. „Ich muss dir was beichten.“, murmelte sie. Shinichi wandte ihr den Kopf zu, machte eine bezeichnende Handbewegung. Er glaubte zu wissen, was kam, und er sollte Recht behalten. „Ich hab ein großes Weihnachtsfest geplant.“ Sie lehnte sich langsam gegen die Tür. „Wie du vielleicht mitbekommen haben wirst…“, fügte sie unsicher an. Er nickte. „Ich hab unsere Eltern, den Professor, Shiho, Heiji und Kazuha eingeladen. Sie kommen alle.“ Wiederum ein Nicken. Dann verdrehte er die Augen, stieß sich vom Schreibtisch ab und öffnete eine Schranktür, holte eine Schachtel heraus, reichte ihr ein Päckchen. Rans schaute ihn erstaunt an. „Das kannst du unter den Baum legen.“ Er schaute sie mit schiefgelegtem Kopf an. „Ran, du vergisst, mit wem du verheiratet bist. Ich muss dir auch was beichten… Das ist für meine Eltern. Mit Heiji und den anderen hab ich geredet… sie werden mir nichts schenken… mir reicht es wirklich, dass sie kommen. Dass ihr alle den Tag, den Abend mit mir verbringt, ist doch schon unbezahlbar viel wert, das schönste Geschenk überhaupt. Diesen Zwang, dieses… fast schon nervenaufreibende Suchen nach einem Geschenk, das mir noch was bringt, das müssen wir uns doch nicht antun, dafür kennen wir uns zu gut. Sie… ihr alle… schenkt mir schon mehr, als ich je verdient hab, geschweige denn, wiedergutmachen kann, indem ihr mich nicht allein lasst. Wie du siehst, du warst gut, aber ich war besser. Was dein Geschenk betrifft…“ Shinichi zog die Augenbrauen hoch, lächelte leicht. „Ja, ich hab was für dich. Aber das würd ich dir lieber geben, wenn keiner mehr da ist…“ Ran nickte. Das Gleiche hatte sie auch mit ihrem Geschenk für ihn vorgehabt. Er schien ihre Gedanken zu lesen. „Lass mich raten. Du hast es dir nicht nehmen lassen.“ Sie lachte ihn an, dann streckte sie ihren Rücken durch, seufzte leise. „Nein, hab ich nicht. Bäh!!!“ Ran streckte ihm die Zunge raus, stupste ihn an der Nase, ging dann los, um das Päckchen seinem Bestimmungsort zuzuführen. Shinichi folgte ihr ins Wohnzimmer, sah ihr zu, wie sie es unter den Baum deponierte, wo bereits ein paar Pakete lagen; Rans Geschenke an ihre Eltern. Ran seufzte, schaute Shinichi lange an. „Du bist unmöglich, weißt du das?“ Shinichi grinste. „Weiß ich, ja.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Nase. „Was ist eigentlich jetzt mit KID…?“ Shinichi steckte seine Hände in seine Hosentaschen. „Der hat Weihnachtsferien.“ „Häh?“ „Der Zeitpunkt, für den er seinen Diebstahl angekündigt hat… oder vielmehr den Versuch eines Diebstahls…“, er grinste breit, „ist für eine Neumondnacht angekündigt. Wenn Selene sich in ihr schwarzes Kleid hüllt… Selene ist die griechische Göttin des Mondes, das schwarze Kleid demnach wohl der Neumond oder eine Mondfinsternis. Bis zur nächsten Mondfinsternis wird er kaum warten wollen, also tippe ich auf Neumond; aber der nächste ist erst im neuen Jahr. Also haben wir noch ein wenig Ruhe vor dem Sturm.“ Er lachte, dann klatschte er in die Hände. „Und dann ist er fällig!!!“ Sein Grinsen wurde noch ein wenig breiter, und ein siegessicheres Funkeln trat in seine Augen. Ran schaute ihn an, schüttelte amüsiert den Kopf, ihr Herz allerdings machte einen Sprung. Da war er wieder… ihr Shinichi. Die Weihnachtsfeier am Abend war ein voller Erfolg. Hinterher konnte er es selber kaum glauben, aber er genoss den Abend tatsächlich. Die Stimmung, die zwar erst etwas schleppend in Gang gekommen war, war immer besser geworden, wobei keiner von ihnen künstlich fröhlich wirkte; kaum ein düsterer Gedanke kam auf. Shinichi unterhielt sich mit Heiji, Shiho, seinen Eltern und den anderen, kümmerte sich mit Ran um ihre Gäste und war den ganzen Abend optimal beschäftigt. Gedankenverloren stopfte er sich einen Keks in den Mund, als er Heiji zuhörte, der sich über seinen Vater beschwerte, dachte kurz daran, ihm von KID zu erzählen; unterließ es dann aber. Das war eine Sache zwischen KID und ihm… es weiter zu erzählen wäre unfair. Heiji bemerkte wohl seinen geistesabwesenden Blick, hielt in seiner Erzählung inne. „Hey! Geht’s dir nicht gut?“ Shinichi blinzelte, schaute ihn etwas verwirrt an, lächelte dann aber und griff sich ein weiteres Plätzchen. Kurz traf sein Blick den Rans, die sich mit seiner Mutter über was wohl unterhielt? - genau, Babysachen; er schenkte ihr ein warmes Lächeln, dann wandte er sich Heiji zu. „Nein, warum?“ „Nun, du wirktest gerade so... melancholisch...?“ Vorsicht schwang in Heijis Stimme mit. Shinichi schüttelte den Kopf. „Nein, da irrst du dich. Ich hab nur über etwas nachgedacht.“ Er biss von seinem Keks ab, sprach kauend weiter. „Aber... nicht über das. Der Abend ist zu schön, ich will ihn mir nicht kaputt denken. Trübsal blasen kann ich später auch noch.“ Kurz schweiften seine Augen ab, beobachteten den fast hypnotischen Tanz der Flammen der Kerzen auf dem Tisch. „Was da… passiert ist, vor ein paar Wochen, tut mir wirklich Leid.“ Heiji schluckte, starrte ihn an. „Ich meine, ich will, dass du weißt, weil ich weiß, dass beschäftigt dich… du brauchst dir keine Sorgen machen. Soweit wird es nie wieder kommen. Uns geht’s gut, und So gut, wie es einem unter diesen Umständen gehen kann, zwar, das ist klar… aber es ist wirklich soweit alles in Ordnung. Ich war echt nur kurz in Gedanken, über eine andere Sache.“ Er nahm einen Schluck Kaffee. „Ich meine, Heiji, wer hätte mir denn auch garantieren können, dass ich das nächste Weihnachten noch mitgefeiert hätte, selbst wenn ich nicht krank wäre? Unser Beruf ist gefährlich genug, wie wir ja wissen. Und auch so... kann das Schicksal doch manchmal einen makaberen Humor haben. Also verderben wir uns nicht den Abend mit dem trüben Gedanken an das Unabwendbare. Freuen wir uns lieber...“ Er lächelte ihn aufmunternd an. Heiji schaute ihn verblüfft an; dann grinste er. „Ich bin echt froh, dassde so denkst, Kudô!“ Shinichi griff sich sein Glas, nippte daran. Ich auch. Es war fast Mitternacht, als sich der Kreis ihrer Besucher beträchtlich gelichtet hatte. Seine Eltern waren die letzten, die noch da waren, als Kogorô, Eri, Shiho, Agasa sowie Heiji und Kazuha bereits gegangen waren. Yusaku schaute ihn lange an, bevor er schließlich Yukiko einen leichten Stups in die Seite gab; Shinichi warf ihr einen fragenden Blick hinterher, als sie hinausging. Dann wandte er sich an seinen Vater. „Hm?“ In dem Moment kam seine Mutter auch schon wieder herein, hielt in ihren Armen ein Päckchen. Shinichi stöhnte leise auf. „Ich sagte doch, ich will nichts…“ „Halt die Klappe, Sohnemann.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen starrte er auf das Päckchen, das seine Mutter ihm hinhielt, nahm es zögernd. „Also, als ich sagte, ihr sollt nicht…“ „Machs einfach auf, Shinichi.“, bemerkte Yukiko leicht tadelnd. „Wir sind deine Eltern. Und wenn ich recht sehe…“, ihre Augen huschten auf das Päckchen unter dem Weihnachtsbaum, „hast du uns auch was besorgt…“ Shinichi warf ihr einen angesäuerten Blick zu, seufzte ergeben. „Ja, hab ich. Aber ich hab mir ja nicht verboten euch was zu schenken, nur umgekehrt.“ Da er ihnen ja aber nicht das Fest verderben wollte, beschloss er, sich einfach in sein Schicksal zu fügen und einfach den Mund halten, noch dazu, wo er nicht besser war. Ran neben ihm beugte sich interessiert vor. Sorgfältig wog er das Päckchen in seiner Hand. „Aha.“, murmelte er erstaunt, als sich ihn ihm die Ahnung manifestierte, was es war, dann zog der das Schleifenband lose, legte es neben sich auf den Tisch und wickelte das Päckchen aus. Zum Vorschein kam ein Buch, wie er erwartet hatte. Ein Kriminalroman, wie wohl auch nicht anders zu vermuten gewesen wäre. Die Namen der Autoren erstaunten ihn jedoch. Neben dem seines Vaters stand der seiner Mutter. „Ihr habt zusammen geschrieben?“ Shinichi wandte sich seinen Eltern wieder zu. Verblüffung spiegelte sich in seinen Zügen. Yukiko nickte. „Haben wir. Traust du mir wohl nicht zu, was?“ Sie grinste, dann deutete sie auf das Buch in seinen Händen. „Das ist nur für dich.“ Yusaku seufzte, schaute seinen Sohn abwartend an, als er den Roman in seinen Händen drehte und wendete. Unsicher schaute er ihn an. „Deine Mutter und ich haben ihn gemeinsam geschrieben, privat ausgedruckt und dann binden lassen. Der Buchbinder hat mich zwar einigermaßen erstaunt angeschaut, als ich mit einem Einzelexemplar kam, ich meine, anscheinend war mein Name ihm bekannt … Ich weiß nicht, ob es deinen Geschmack trifft…“ „Es ist großartig.“, murmelte Shinichi, ließ das Buch aufklappten, die Seiten durch seine Finger rascheln. „Du hast es doch noch gar nicht gelesen.“ „Das ist auch nicht ausschlaggebend. Aber ich werd‘s lesen, keine Sorge.“ Yusaku schwieg. Sein Sohn schaute auf, lächelte verlegen. „Aber wird das wirklich eine Einzelausgabe bleiben? Ich meine, wegen mir…“ Sein Vater und seine Mutter schüttelten synchron ihre Köpfe. „Mein Verleger wird das Skript nie kriegen. Er weiß gar nicht, dass es existiert. Das… ist dein Buch. Ganz und gar nur deins, einzigartig, ein Unikat, in seiner Art das erste und letzte Exemplar…“ Genauso wie du. Shinichi lächelte sie an. Und er freute sich ernsthaft, dass sah man ihn an. „Danke! Ich werd’s wohl bald gelesen haben, dann sag ich euch, bei welcher Seite ich wusste, wer der Täter war.“ Yukiko lachte, Yusaku schmunzelte in sich hinein. „Werd’ bloß nicht frech.“ Dann stand er auf, holte das Päckchen unter dem Weihnachtsbaum hervor und reichte es ihnen. „Für euch beide. Ihr werdet wohl gleich…“ Der Rest des Satzes ging in dem reißenden Geräusch unter, das Yusaku machte, als er das Papier herunter riss. Dann ächzte er. „…lachen…“, vervollständigte er seinen Satz noch einmal. „Du… du… auch?!“ Er hob das Buch in die Höhe. Shinichi grinste verlegen. „Ja, ich auch. Wundert es dich? Du warst es doch, der gesagt hat, ich wäre auch dein Sohn, nicht nur der meiner Mutter.“ Unbewusst knetete er seine Finger. „Und es… das Manuskript… lag schon Jahre herum. Ich wusste nicht, weiß nicht, wie gut es ist, darum hab ich es nie erwähnt. Dich nie lesen lassen, weil ich… wohl befürchtet hatte, du kritisierst es kaputt. Mittlerweile bin ich zwar immer noch nicht über jeden Zweifel erhaben, aber… ich denke, dich interessiert vielleicht, wie viele von deinen Genen tatsächlich bei mir durchschlagen. Ich meine, wenn einer verdient hat, es zu zerreißen, dann du, beziehungsweise ihr. Viel Spaß beim Lesen.“ Er lehnte sich lächelnd zurück. „Seid so gut und kommt nie auf die Idee, es zu veröffentlichen. Ich will auch, dass es ein Privatbuch bleibt.“ Yusaku starrte ihn an. „Nein, natürlich nicht. Ganz wie du es willst.“ Schwer wog das Buch in seinen Händen. Langsam klappte er das Buch auf, überflog die erste Seite, las die Widmung. Yusakus Mund wurde langsam trocken. Yukiko neben ihm nahm ihm das Buch aus der Hand. „Ich... wir... danken dir.“ Shinichi nickte nur. Seine Eltern blieben noch ungefähr eine Stunde; dann verließen auch sie das Haus, ließen Ran und Shinichi allein. Es war nun weit nach Mitternacht, und es herrschte Ruhe im Hause Kudô. Draußen schneite es, immer noch, als er sich im völlig finsteren Wohnzimmer wieder fand, vor dem Weihnachtsbaum stehend, der mit seiner Festbeleuchtung glitzerte und strahlte und damit als einziges die Finsternis durchbrach. Shinichi konnte einfach nicht schlafen. Ran lag bereits im Bett, befand sich im Reich der Träume… er war wieder aufgestanden, nach zahllosen Versuchen, einzuschlafen. Nun war es vorbei. Sein letztes Weihnachten war gefeiert. Er streckte unbewusst die Hand aus, griff nach einem goldenen Lamettafaden im Baum, merkte nicht, wie eine Gestalt den Raum betrat. Seine Kehle begann trocken zu werden, seine Augen brannten. Er wusste nicht, warum er so sentimental wurde, aber es war klar, dass das auch heute… wieder eine Art Abschiedsfeier gewesen war. Ein wunderschöner Abend... aber der letzte seiner Art. Auf der Liste der letzten Male konnte ein weiterer Punkt abgehakt werden. Ein trockener Seufzer entrang sich seiner Kehle, als er sich zu Boden sinken ließ, von unten herauf die golden glänzende Pracht des beleuchteten Christbaums betrachtete. Er wusste noch, wie fasziniert er als kleiner Junge gewesen war, als er seinen ersten Weihnachtsbaum gesehen hatte. Dieses Funkeln und Strahlen, Glitzern und Leuchten… Wie er sich über die Geschenke gefreut hatte, mit seinen Eltern gefeiert hatte… Als sich seine Eltern Jahre später hinterher scherzend darüber beschwert hatten, dass Weihnachten mit ihm als kleinen Jungen irgendwie schöner gewesen war, hatte er nur gelacht. Jetzt verstand er, was sie gemeint hatten. Kleine Kinder verzauberte der Weihnachtsbaum. Sie freuten sich ehrlich, heuchelten nicht nur Freude und Interesse an ihren Geschenken. Für Kinder war Weihnachten ein Fest voller Wunder. Bei seiner Tochter würde er dieses Phänomen nie sehen. Dieses begeisterte Leuchten in ihren Augen, das fröhliche Lachen beim Anblick der Geschenke, all das… all das… Shinichi schlang die Arme um seine Beine, ihn fröstelte. Warum machte er sich sein Leben selber schwer? Warum quälte er sich mit diesen Gedanken? Dumm war das. Aber er konnte nicht anders. Er bedauerte es. Ran schluckte schwer, schaute ihn an, wie er vor dem Tannenbaum saß, wusste, was in ihm vorging, weil sie sich seit Tagen mit den gleichen Gedanken trug. Ihre Familie würde nie richtig gemeinsam feiern können. Langsam trat sie näher. Er schrak auf, als er sie neben sich bemerkte, den Luftzug ihres Nachthemds an seiner Wange spürte. Sacht ließ sie sich zu Boden gleiten, kuschelte sich an ihn. Er legte ihr einen Arm um die Schultern, seufzte leise. „Du solltest im Bett sein. Nicht hier auf dem kalten Fußboden sitzen…“ „Das sagt der Richtige. Außerdem muss ich dir dein Geschenk noch geben.“, murmelte sie, drückte sich an ihn. Sie merkte, dass er zitterte, und sie wusste, dass er fror. Er ignorierte es, und sie sprach ihn darauf nicht an. „Ich danke dir für das Fest, Ran…“, wisperte er dann leise, nach Minuten des Schweigens. Sie wandte den Kopf, schaute ihn gedankenverloren an, strich ihm dann mit einer Hand über die Schläfe. „Nichts zu danken.“, seufzte sie leise. Dann stand sie wieder auf. „Ich hol jetzt das Geschenk für dich.. kaum zu glauben, dass ich es fast vergessen hätte...!“ „Morgen ist doch auch noch Weihnachten... du hast deins von mir doch auch noch nicht bekommen…“, murmelte er beschwichtigend. „Aber ich wollts dir heute geben! Auch wen heute gewissermaßen schon morgen ist…“ Sogar im weichen Zwielicht, das im Raum herrschte, sah er, wie ihr das Blut in ihre Wagen schoss, sich ein durchdringender Rotschimmer auf ihnen ausbreitete. Sie umrundete den Weihnachtsbaum, griff in die Äste über ihrem Kopf und zupfte ein kleines Päckchen heraus, reichte es ihm. Er schaute sie staunend an. „Ran…?“ „Mach… machs einfach auf… bitte…!“ Sie setzte sich wieder neben ihn, schaute beschämt weg. Er wickelte es aus, verblüfft. Ein kleines Kästchen kam zum Vorschein. Seiner Frau einen unsicheren Blick zuwerfend, klappte er es auf. Auf blauem Samt gebettet lag ein Herz. Ein goldenes Herz, ungefähr so groß wie eine Walnuss. Ran schaute ihn unsicher an, als er es in die Hand nahm. Es war kein Ahnhänger. Es hatte keine Öse, um eine Kette zu befestigen. Es war nur ein Herz. Vollplastisch und aus Gold. Er schaute sie an. In ihren Augen spiegelten sich die Lichter der elektrischen Kerzen am Weihnachtsbaum. „Das ist meins.“, murmelte sie leise. „Damit du… es immer bei dir hast. Nicht nur… in Gedanken. Ich habs… extra anfertigen lassen.“ Shinichi schluckte, zog sie wortlos in seine Arme, hielt sie fest, merkte, wie sie sich an ihn klammerte. Das Herz in seiner Hand fühlte sich warm an. „Danke…“, murmelte er heiser. Sie spürte, wie ergriffen er war. Dann ließ er sie langsam los, stand auf, verschwand kurz aus dem Zimmer und kehrte mit einem Päckchen zurück, ließ sich wieder neben sie sinken. „Bitteschön.“ Er lächelte sie an. Fast schon ehrfürchtig wickelte sie das Päckchen aus, öffnete die Schachtel. Heraus zog sie einen in Seidenpapier gewickelten Gegenstand. Unsicher schaute sie Shinichi an, blätterte, als er nickte, das burgunderrot gefärbte Papier ab. Hervor kam ein Herz aus Kristall. Ein unheimlich fragil scheinendes Schmuckstück, an einer zierlichen, dünnen Silberkette baumelnd. Das Licht des Tannenbaums brach sich tausendfach in den zahllosen Facetten, erweckte den Eindruck, das Herz selbst bestünde aus Licht. „Es ist wunderschön…“, hauchte Ran, berührte mit ihren Fingern sanft das durchscheinende Material, betrachtete die Lichtreflexe auf ihren Fingern. „Es ist wirklich… wunderschön…“ Ihre Augen hafteten auf dem Anhänger, nur schwer konnte sie sich losreißen. Shinichi lächelte amüsiert. "Ja, aber irgendwie hab ich heuer ein Talent, fast das Gleiche zu verschenken, was man mir schenkt..." Er zog die Augenbrauen hoch. Sie schaute ihn an." "Dummkopf." Er piekste sie in die Seite, dann half er ihr, sich das Schmuckstück um zulegen, als sie es ihm in stummer Aufforderung in die Hand drückte und sich die Haare hochhielt. Als das Herz da hing, wo es sein sollte, berührte sie es zart mit den Fingerspitzen. „Vielen, vielen Dank…!“ Er lächelte sie an, gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen. „Ich danke dir.“, murmelte er leise. Sie lehnte sich an ihn, seufzte zufrieden. Dann merkte sie, wie kalt ihre Füße geworden waren, und kicherte leise. „Nun komm schon, wir sollten wirklich ins Bett.“ „Ich kann aber nicht schlafen.“, flüsterte er, starrte wie hypnotisiert auf das Herz in seiner Hand. Ran zog die Augenbrauen hoch. „Auch gut. Dann koch ich jetzt Kakao und wir bleiben hier unten. Such ein paar Decken.“ Shinichi drehte den Kopf, starrte sie verdutzt an, aber sie war schon in der Küche verschwunden. Kopfschüttelnd, aber doch leicht amüsiert stand er auf, griff er sich zwei Decken und machte es sich auf der Couch bequem. Nach wenigen Minuten kam Ran mit zwei dampfenden Bechern, kuschelte sich an ihn, ließ zu, dass er sie einwickelte und schlürfte ihren Kakao. Sie genoss es, so mit ihm auf dem Sofa zu liegen und den Weihnachtsbaum anzusehen. Es war zu schön, um wahr zu sein. Wie Shinichi ihr schmunzelnd den Kakaobecher aus der Hand nahm, weil sie eingenickt war, bekam sie schon nicht mehr mit. Er selber lag noch lange wach, in dieser Nacht, bis in den frühen Morgenstunden Morpheus auch ihn in seine Arme zog. Bilder ------ Hallo liebe Leserinnen und Leser! Vielen lieben Dank für eure Kommentare zum letzten Kapitel! Viel zu sagen gibt’s zu diesem Kapitel eigentlich nicht… am Besten lest ihr einfach selbst… Ich wünsch euch viel Vergnügen beim Lesen! Viele Grüße, eure Leira :) PS: Halbzeit, Leute! Ich gratuliere allen, die noch nicht das Handtuch geworfen haben!!! ;D _________________________________________________________ Kapitel 15: Bilder Gegenwart Für Sayuri war ihre Mutter damit gestorben. Gut, ja, sie hatte ein schlechtes Gewissen. Das hatte sie wirklich, jedesmal, wenn sie sich irgendwo im Haus über den Weg liefen und Sayuri demonstrativ den Kopf abwandte. Sie wusste, sie tat ihr weh damit; aber ihre Mutter hatte ihr auch weh getan. Anfangs hatte sie sogar noch versucht, mit ihrer Mutter zu reden; beim Frühstück am Tag nach ihrem Geburtstag, hatte sie versucht, sie zu einem Einlenken zu bewegen, aber Ran hatte nicht mit sich verhandeln lassen; und nachdem auch ein paar weitere, manchmal zaghafte, manchmal schon fast streitähnliche Überzeugungsversuche stattgefunden hatten, hatte Sayuri das Handtuch geworfen und war dazu übergegangen, ihre Mutter mit Missachtung zu strafen. Seit gestern, um genau zu sein, und sie litt darunter. Ihr Geburtstag, der nun schon drei Tage her war, war an diesem Tag wahrlich gelaufen gewesen. Sie war zwar nach unten gegangen, hatte sich von ihrer Großmutter mitschleifen lassen; hatte sich artig beschenken lassen von ihren Freunden und ihrer Familie - aber ihrer Mutter gegenüber war sie sehr unterkühlt und reserviert entgegen getreten. Wie sie mit Sonoko und ihrem Großvater noch debattiert hatte, hatte sie zwar gehört... aber sie war in ihr Zimmer gegangen. Sie wusste, wie stur ihre Mama war. Nachts, als alle weg waren, hatte sie geweint. Sie fand es schrecklich, dass sie nicht weiterlesen durfte und die Ungewissheit um sein Schicksal machte sie fast wahnsinnig. Sie fand es einfach furchtbar, dass ihr die Bücher genommen worden waren. Das er ihr genommen worden war. Sie hielt es fast nicht aus, nicht zu wissen, was er ihr noch hatte sagen wollen. Etwas fehlte. Sie war unruhig und entzweigerissen, und war schon fast erstaunt darüber, dass jemand, den sie faktisch nicht kannte, so etwas mit ihr machen konnte. Sie nahm es ihm nicht übel, schließlich konnte er wohl am Wenigsten dafür. Sie wusste auch, ihre Mutter handelte nicht aus böser Absicht so, wie immer wollte sie wohl ihr Bestes, ja… sicher… aber... sie hatte kein Recht, ihr ihren Vater nehmen zu wollen. Sie hatte einfach kein Recht dazu. Und dass sie es sich dennoch herausnahm, machte Sayuri so wütend. Die zarten Bande, die sie gerade eben wieder geknüpft worden waren zwischen ihr und ihrer Mutter, waren mit der Aktion, ihre Bücher wegzusperren, gekappt worden. Sayuri ließ sich nicht blicken, weder zu den Mahlzeiten noch anderweitig. Wenn sie kam, ging sie in ihr Zimmer. Sie aß, wenn Ran nicht da war, arbeitete oder sonst irgendwie beschäftigt war. Sie grüßte sie nicht, sie gab keine Antwort auf Fragen. Sayuri war wütend. Sie war nicht sauer, nicht verärgert, nicht verstimmt - in ihr herrschte Zorn. Sie war wirklich wütend. Ihre Mutter war im Unrecht; sie konnte damit nicht umgehen, dass sie ihren Mann so früh verloren hatte, schön und gut; oder nicht gut? Wohl eher. Aber sie hatte nicht das Recht, ihr das einzige, was ihr von ihrem Vater geblieben war, wegzunehmen, nur weil sie selber nicht damit klarkommen konnte. Das warf sie ihr vor; und ließ es sie spüren. Sie war kein kleines Kind mehr, sie war fünfzehn, und so wollte sie auch behandelt werden. Ran wurde immer verzweifelter, als sie sah, wie sie nach ihrem Mann auch noch ihre Tochter zu verlieren drohte. Sayuri entglitt ihr zusehends… und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte Angst. Unablässig tigerte das Mädchen also drei Tage nach ihrem Geburtstag durch ihr Zimmer. Sie war drauf und dran ins Büro einzubrechen; allein die Tatsache, dass sie damit seine Privatsphäre verletzte, hielt sie ab. Und momentan die Anwesenheit ihrer Mutter im Haus. Sie seufzte entnervt. Sayuri wollte weiter lesen. Wollte mehr über ihren Vater erfahren. Wollte so viel wissen… Gedankenverloren starrte sie in den Spiegel. Ein Paar blauer Augen starrte zurück. Unwillig strich sie sich ihre Ponyfransen aus dem Gesicht, als sie ihre Wimpern kitzelten. Und da kam ihr ein Gedanke; oder besser gesagt, die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie kannte immer noch kein Foto ihres Vaters. Sie wusste immer noch nicht, wie er eigentlich ausgesehen hatte. Wurde ihr nicht immer wieder gesagt, wie sehr sie ihm auch äußerlich ähnelte? Dass sie seine Augen hätte? Sayuri blinzelte ihr Spiegelbild an. Es wurde wirklich Zeit, dem auf den Grund zu gehen. Viel zu lange schon hatte sie auf Bilder von ihm verzichten müssen. Mit ihrer Mutter konnte sie jetzt ohnehin kaum reden. Nun, können vielleicht schon; aber nicht über das Thema, das sie gern besprechen würde. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Mit jemand anders allerdings sicher. Und dieser Jemand hatte bestimmt Fotos. In Hülle und Fülle. Sie griff nach ihrer Tasche, rannte aus dem Zimmer. Wenig später hörte Ran die Haustür zufallen, seufzte bedrückt. Yusaku hastete durch den Flur, als er die Glocke läuten hörte. Kurz darauf öffnete er die Tür und war nicht überrascht, seine Enkelin zu finden. „Opa… wie sah er aus?!“ Kein Hallo, keine Umarmung, nichts. Sie stand nur da, ihr Gesicht noch bleicher als beim letzten Mal, aber ihre Augen glänzten, waren rotgerändert. Ihr Atem ging heftig und stoßweiße und leichter Schweiß auf ihrer Stirn zeigte ihm, dass sie den Weg von Zuhause bis hierher gelaufen war. „Freut mich auch, dich zu sehen.“, meinte er dann, zuerst ein wenig pikiert - dann legte er ihr seine Hand in den Rücken, schob sie herein. Sie war wie sein Sohn. Hatte sie ein Ziel, vergaß sie alles andere, nahm auf fast nichts Rücksicht. Keiner von ihnen hatte je Shinichis Tagebücher auch nur angefasst – aber aus den Reaktionen seiner Enkelin konnte er sehen, wie sehr sie sie fesselten. Umso schlimmer war es, dass Ran ihr eine Zwangspause verordnet hatte; die sich bis in alle Ewigkeiten ausdehnen konnte, seine Schwiegertochter war stur genug dafür. Alles Reden hatte bis jetzt nichts gewirkt, jedes Wort von ihm oder Yukiko in diese Richtung war bei Ran auf taube Ohren gestoßen. Er seufzte, schaute in Sayuris schuldbewusstes Gesicht, als sie sich bückte, ihre Schuhe auszog und in die Pantoffeln schlüpfte. „Entschuldige. Hallo, Opa. Wie sah er aus?“ Yusaku lächelte nachsichtig. „Komm mit.“ Er ging ins Wohnzimmer, zum Schrank, machte ihn auf und griff ein paar Alben heraus. Und plötzlich stockte er. Er war sich nicht sicher, ob er bereit war, sich die Bilder anzusehen. Er schluckte hart, drückte Sayuri die Alben in die Hand, und ging, mit der Bemerkung, Kaffee zu kochen, in die Küche. Sie schaute ihm hinterher, erstaunt; aber sagte nichts. Dann suchte sie das früheste Album, setzte sich an den Tisch und schlug es auf. Was sie sah, waren Kinderfotos. Ihr Vater als Baby im Strampelanzug. Unwillkürlich musste sie lächeln. Doch eigentlich interessierte sie das nicht; sie wollte wissen, wie der Mann ausgesehen hatte, der ihr Vater war. Wie er mit Mitte Zwanzig ausgesehen hatte. Sie nahm ein anderes Album und schlug es auf. Ihr stockte der Atem, ihr Magen schien sich aufreizend langsam zusammenzuziehen. Schnell glitten ihre Augen über die Fotos, blieben hie und da hängen, gierig, alles in sich aufzusagen. Das war er. Ihr Vater. Ohne Zweifel. Ihre Hände begannen zu zittern, als sie kurz auf die Glastischplatte schaute, ihre Reflexion darin betrachtete, und dann mit den Fotographien ihres Vaters abglich. Und jetzt verstand sie, was sie alle immer meinten, wenn sie sagten, sie sehe ihm so ähnlich. Das tat sie wirklich. Mehr als sie je geahnt hatte. Sie biss sich auf die Lippen, schaute immer wieder auf den Tisch, dann ins Album. Es stimmte alles. Sie hatte seine Haare. Sie hatte wirklich seine Haare. Unwillkürlich griff sie sich in den Pony. Und seine Augen. Klare, blaue Augen. Und genau diese Augen waren es, die sie so faszinierten. Die sie in ihren Bann schlugen, ohne dass sie sich auch nur im Geringsten wehren konnte. Ihre Augen. Seine Augen. Augen, in denen der Schalk blitzte, Augen voller Neugier, wissende Augen, Augen, aus denen eine ungeheure Intelligenz sprach, Augen, die so liebevoll blicken konnten, gütige Augen… und traurige. Sie schluckte. Er schien allein durch Blicke alles sagen zu können. Sein Gesicht war ebenmäßig, ja, er sah gut aus. Er machte einen sportlichen Eindruck. Und er schien sie anzusehen. Auf jedem Foto anders. Sie wusste, er hatte den Fotografen angesehen. Seine Eltern, ihre Mutter, seine Freunde… auf manchen war er allein, bei anderen war er mit ihrer Mutter, seinen Eltern, Onkel Heiji oder anderen Leuten zu sehen. Er schien soviel sagen zu wollen. Sayuri schluckte schwer, strich mit viel Gefühl über die Bilder, tastete über sein Gesicht, wohl wissend, dass sie nur glattes Fotopapier fühlen würde, nicht seine Haut. Niemals seine Haut. Ihre Lippen begannen zu zittern, sie merkte, wie ihre Finger langsam immer kälter wurden. Genau das, wovor sie die ganze Zeit schon Angst hatte, war passiert. Sie trauerte nicht mehr um ihn. Oder besser; sie trauerte nicht nur. Sie sehnte sich nach ihrem Vater. Sie wollte ihn wieder haben. Sie wollte ihn jetzt gleich hier haben. Neben ihr. Sie wollte mit ihm reden. Ihn ansehen. Von ihm angesehen werden. Wollte, dass er sie in die Arme nahm. Sie wollte hören, wie seine Stimme klang. Wollte wissen, ob sie sich so anhörte, wie sie sie sich vorstellte. Sie wusste, sie war dumm, aber… dieses Denken würde es ihr nur schwer machen, irgendetwas anzuschauen oder zu lesen, was mit ihm zu tun hatte, aber… Sie vermisste ihn, obwohl sie ihn nicht kannte. Er fehlte ihr. Wirklich. Yusaku kam wieder, mit zwei Tassen Kaffee, sah seine Enkelin an und deutete ihren Blick richtig. Langsam stellte er die Tassen ab, setzte sich neben das Mädchen, seufzte leise. „Sayuri, das bringt nichts… Du vermisst ihn. Du verfluchst dein Leben, sein Schicksal, weil es dir und ihm soviel vorenthalten hat… das ist okay… aber ruiniere dich nicht mit Wünschen, die nie in Erfüllung gehen…“ Sayuri lief eine Träne über die Wange. „Es scheint mir, als würde ich ihn kennen…“ „Er war ein einzigartiger Mensch. Und ihm lag viel daran, dass du deine Wurzeln kennst, Sayuri. Er hat seine Bücher wohl gut geschrieben, deshalb… deshalb glaubst du, ihn zu kennen. Aber du kanntest ihn nicht.“ Yusaku setzte sich, schaute sie an. „Er hat dich sehr geliebt. Ich hoffe, das weißt du.“ „Ich… hab ihn auch lieb… aber er… er weiß es nicht…“ Ihre Finger wurden langsam zu Eiszapfen, die Kälte kroch weiter hoch, brachte ihren ganzen Körper dazu, sich zu schütteln. Sie fror, zitterte, weinte. Immer mehr Tränen perlten über ihre Wangen. Der Schriftsteller sah sie betroffen an. „Gib mir das Album wieder.“ „Nein.“ „Du solltest dir die Bilder nicht anschauen, wenn sie dich so mitreißen, Kleines… gib es mir wieder, das war genug für heute…“ Er schaute sie traurig an, wollte ihr das Buch wegnehmen, aber sie hielt es fest. „Nein!“ „Sayuri… Shinichi hätte nicht gewollt, dass du dich selber quälst…“ „Lass mich! Nimm du ihn mir nicht auch noch weg!“ Sie klammerte beide Hände um das Album, beugte sich nach vorn, um es mit ihrem Oberkörper zu schützen. Yusaku ließ los, als hätte er sich verbrannt. Ihre Worte hatten mitten ins Schwarze getroffen, also ließ ihr ihren Willen. Sie war nach vorn gesunken, in Tränen ausgebrochen. Er schluckte, schaute, welche Seite sie aufgeschlagen hatte – und wandte sich dann schnell ab. Es war, wie er befürchtet hatte. Er konnte ihn nicht ansehen. Alte Wunden rissen auf, brannten wie Feuer. Langsam nahm er sie in die Arme, zog sie an sich, vermied es, die Bilder anzusehen. „Das ist nicht gerecht!“, schluchzte sie. „So unfair! Warum musste das passieren? Warum konnte er nicht… warum musste er denn sterben…?!“ „Ich denke, dass hat er dir erklärt…?“, murmelte Yusaku leise. „Ja, hat er schon… aber… aber… ich… ich meine… wie kann es das Schicksal… zulassen…?“ Ihre Stimme zitterte. Sie warf einen weiteren Blick auf die Fotos. Sie merkte, wie sich die Bilder in ihrem Gedächtnis einbrannten. Jedes einzelne, jede Einzelheit. „Er sieht so… so… fröhlich… aus.“, murmelte sie leise. Yusaku musste unwillkürlich lächeln. „Das sieht nur so aus, weil er auf den Bildern lacht. Manchmal echt, manchmal gekünstelt, wie dir wohl aufgefallen ist; aber es gibt auch welche, da lacht er nicht… das machte aus ihm einen ganz anderen Menschen.“ Er atmete tief durch, löste das Album aus ihren Fingern, blätterte es durch; fand nicht, was er suchte, zog ein anderes Album hervor. Es kostete ihn Kraft, das zu tun, aber er war es ihm schuldig. Dann fand er, was er suchte. Schnappschüsse. Shinichi hatte sie gehasst, das wusste er. Er hatte sie nicht leiden können, weil er bei dieser Art von Foto keine Kontrolle auf das Ergebnis ausüben konnte. Er war immer ein guter Blender, ein hervorragender Schauspieler gewesen, wenn er es hatte sein wollen, was selten genug vorgekommen war. Beim Fotographieren allerdings oft. Yusaku drehte das Album, so dass Sayuri reinschauen konnte. „Da.“ Eine Reihe Fotos war zu sehen, die offensichtlich bei ihnen zuhause aufgenommen worden waren. Auf einem stand er im Gang, die Hände in den Hosentaschen vergraben, betrachtete nachdenklich ein Bild an der Wand. Das nächste zeigte ihn eher genervt in die Kamera blickend, über einem Notizbuch, offensichtlich etwas angesäuert, dass man ihn störte. Sayuri blinzelte, als sie das Buch und den Füller, den er in den Finger hielt, erkannte; es war eins ihrer Bücher. Er hatte eine Hand in seinen Haaren vergraben, mit der anderen zielte er mit dem Füller auf den Fotographen. Ein drittes Foto zeigte ihn, mit einer schlafenden Ran im Arm. Er war sich offensichtlich des Fotographen nicht bewusst gewesen, denn der Blick, den er auf seine Frau warf, war durch und durch voll Trauer. Zwar sprach er auch von Liebe und Zuneigung; man sah, dass er die Frau in seinen Armen wirklich liebte. Aber die Bitterkeit dieser Szene war unübersehbar. Ran war schwanger, das war deutlich zu erkennen. Und sie wusste genau, was ihr Vater beim Blick auf ihre Mutter gedacht hatte. Sie schluckte schwer, riss ihre Augen los, wandte sich dem nächsten Bild zu. Hier hatte man ihn offensichtlich überrascht, denn der Blick in seinen Augen war voll Erstaunen. Sie lächelte. Ihr gefiel der Ausdruck. Er schien so offen, voll Neugier, aber auch voll vorsichtiger Gespanntheit, auf das, was ihn da so hinterrücks überfiel. Und so reihte sich ein Schnappschuss an den anderen. Er schüttete sich Kaffee über die Hose und schimpfte; stand in einer Dampfwolke am Herd; zündete ihm Wohnzimmer eine Kerze auf dem Tisch an oder kroch mit einem Buch in der Hand unter einem Tisch hervor. Oder schlief. Sayuri seufzte leise, blätterte langsam immer weiter. Ihr Großvater hinter ihr rührte sich nicht, versuchte, sich die Bilder nicht zu genau anzusehen und gleichzeitig vor seiner Enkelin sich seine Schwäche nicht anmerken zu lassen. Nach einer Weile, als die Stille im Raum doch fast greifbar wurde, wandte sie sich um, wollte etwas fragen und starrte in das fast ausdruckslose Gesicht ihres Großvaters, wagte nicht, die Frage auszusprechen, die ihr auf der Zunge lag. Kurz stutzte sie; dann merkte sie, wie er sie endlich ansah, anscheinend auf ihre Frage wartete, und sie räusperte sich. Während des Betrachtens der Bilder war ihr ein Gedanke gekommen. „Ich will ihn besuchen.“ Yusaku starrte sie entgeistert an. „Du willst was?“ Sayuri zog unwillkürlich verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Nun ja, ich will ihn besuchen… sein Grab. Ihr… ihr habt ihn doch…“ Yusaku nickte geistesabwesend, dann schüttelte er den Kopf. „Natürlich haben wir ihn beerdigt. Aber ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist, ausgerechnet heute da hin zu gehen. Du bist viel zu aufgewühlt.“ „Ich schaff das schon.“, bemerkte sie stur. „Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Behandle du mich bitte nicht wie meine Mutter es tut.“ Yusaku trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken aus, bevor er sich zu einer Antwort durchrang. Stellte die Tasse langsam auf den Tisch, stapelte die Alben aufeinander. „Gut…“, murmelte er leise. „Ganz wie du willst, Sayuri. Auf deine Verantwortung.“ Den fragenden, erstaunten Blick, den seine Enkelin ihm zuwarf, fing er nicht mehr auf; er war bereits aufgestanden, zog sich seine Jacke an. Sie rannte ebenfalls hinaus, tat es ihm gleich, merkte, wie es in ihrer Magengegend vor Aufregung zu kribbeln begann. Sie hatte Angst, ja. Allerdings… wollte sie das unbedingt. Sie wollte ihm… einen Besuch abstatten. Dem Mann, der ihr diese Bücher geschrieben hatte. Während der Autofahrt zu Friedhof schwieg ihr Großvater. Und auch während sie zwischen den Gräberreihen entlang schritten, verließ kein Wort seine Lippen. Sie merkte, wie sich, ganz im Gegenteil, seine Lippen immer fester aufeinander pressten. Dann blieb er so abrupt stehen, dass sie, die hinter ihm ging, fast in ihn hineinlief. Er nickte nur, und sie warf einen Blick auf das Grab, das zu ihren Füßen lag. Weiße und rote Rosen blühten üppig auf dem Grab; in einer Ecke brannte geschützt in einer Laterne eine Kerze. Das war es allerdings nicht, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war der Grabstein. Aus Marmor, sauber, rein und glänzend, mit einer eingemeißelten Taube als Relief neben den Buchstaben, die silbern und geschwungen verlauten ließen, wer hier seine letzte Ruhe gefunden hatte. Shinichi Kudô 1978-2002 Geliebter Ehemann, Vater, Sohn und geschätzter Freund Viel zu früh musstest du uns verlassen – Doch sei dir sicher, wir werden dich nie vergessen. Langsam hob sie die Hand, hielt sie sich vor den Mund, um ihr Wimmern zu unterdrücken. Es war so präsent - so durchdringend - dieses Verlustgefühl. Was sie bis jetzt noch nicht so richtig hatte wahrhaben wollen, obwohl es eine unbestreitbare Tatsache war… ihr Vater war tot. Er lag hier. Vor ihr. Seit fünfzehn Jahren schon. Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen, leise. Stumm. Unaufhörlich. Ihre linke Hand ballte sich in ihrer Jacke zur Faust, als sie versuchte, dem Sturm in ihrem Inneren Herr zu werden, sie war so beschäftigt mit sich selbst, dass sie auf ihren Großvater nicht mehr achtete. Yusaku starrte in den Himmel. Fakt war, er war lange nicht mehr hier gewesen. Er packte das nicht… nicht wirklich. Er verdrängte seine Gedanken an seinen Sohn nicht, nein. Aber es gab gewisse Dinge, die ihn mehr mitnahmen als andere. Das eine waren Bilder von ihm. Das andere war sein Grab. Kein Vater sollte sein Kind zu Grabe tragen müssen. Der Gedanke, dass sein Sohn wenigstens nicht dieses Schicksal erleiden musste, tröstete ihn nur geringfügig. Er vermisste ihn. Vermisste sein Lachen, vermisste ihre Diskussionen, ihre Streitereien, vermisste das Gefühl von Stolz, wenn er lesen durfte, sich anhören durfte, was sein Sohn geleistet hatte. Shinichi hatte dieses Schicksal nicht verdient. Und seine Enkelin ihres auch nicht. Er spürte, wie alles wieder hochkam... es fühlte sich an wie an dem Tag, als sie ihn hierher getragen hatten. Wie am Tag seiner Beerdigung. Und hielt es nicht aus. Es war zu viel, was auf ihn hereinbrach. Viel zu viel. Yusaku ging in die Knie, krallte sich an der Grabeinfassung fest. „Shinichi… verdammt noch mal…“ Dieser Satz riss Sayuri aus ihren Gedanken. Sie schaute neben sich, sah ihren Opa auf dem Boden knien, merkte, wie ihr Herz schmerzhaft gegen ihren Brustkorb zu hämmern begann. Er versuchte, sich zu fangen. Er rang um Fassung, wirklich. Aber Yusaku Kudô spürte, dass er diesen Kampf eventuell verlieren könnte. Fest kniff er die Augen zusammen, schluckte hart, seine Finger verkrampften sich immer mehr, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Tatsache war, er hatte nicht nur nicht hierherkommen wollen, weil er Sayuri schützen wollte; gut, das auch. Aber vorrangig… der Hauptgrund… war der gewesen, dass er… sich selbst diese Folter ersparen hatte wollen. Er war ein Feigling, er wusste es, und er hatte wahrlich kein Recht, Ran einen Vorwurf zu machen. Sehr viel besser als sie kam er wohl mit dem Tod seines Sohns auch nicht zurecht. Er keuchte leise, wischte sich mit fahrigen Fingern über die Augen. Sayuri fing an zu zittern. So kannte sie ihren Großvater gar nicht. Langsam tat ihr ihr Egoismus Leid - denn langsam begriff sie, dass sie hier mit dem Mann stand, dessen Sohn in diesem Grab lag. Den er selbst hatte begraben müssen, viel zu jung. Sie glaubte, ihren Vater zu kennen. Ihr Großvater hatte ihn tatsächlich gekannt. Das war der Unterschied. Sie hätte auf ihn hören sollen, nicht hierher kommen sollen. Aber nun war es zu spät. „Verdammt, warum musstest du sterben…? Warum konnten wir nicht tauschen? Warum trifft es immer die Falschen, du wirst hier noch gebraucht, siehst du das nicht, warum musstest du gehen…? Warum musstest du uns schon so früh verlassen…?“ Tränen liefen über Yusakus Gesicht. Sayuri ließ sich zu Boden sinken, schlang ihre Arme um ihren Opa, drückte sich an ihn, versuchte, ihn so zu beruhigen. „Du wirst hier noch gebraucht…! Du wirst hier doch noch gebraucht...“ Er hörte nicht auf damit. Sayuri schluckte. Langsam bekam sie Angst. Sie kannte ihren Großvater so gar nicht. Sie stand auf, langsam, zog ihr Handy aus ihrer Tasche, die Augen immer noch auf das Grab geheftet, wählte dann die Nummer ihrer Großmama Yukiko. Minuten später, als Yukiko Kudô sich dem Grab ihres Sohns näherte, war die Szene unverändert. Yusaku kniete immer noch im Kies, sein Gesicht verzerrt vor Gram und Schmerz. Neben ihm stand Sayuri, in Tränen aufgelöst, am ganzen Körper zitternd. Yukiko wurde bei dem Anblick das Herz schwer, aber sie riss sich zusammen. Sie beugte sich nach vorne, pflückte zwei Rosen, eine weiße, eine rote, und drückte sie Sayuri in die Hand, wortlos. Sanft legte sie ihrem Mann die Hand auf die Schulter; wartete kurz. Dann griff sie ihn am Arm, zog ihn hoch, packte Sayuri bei der Hand und führte sie mit sich. Beim Gehen drehte sie noch einmal kurz ihr schönes Haupt, blickte traurig zurück. Wie du siehst, Shinichi… du bist weit davon entfernt, je vergessen zu sein. Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange, dann wandte sie sich ihrem Mann zu, gab ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Yusaku, schhhhht... denk nicht nach… denk nicht nach…“ Ran seufzte. Sie hatte den Tag heute gut herum gebracht. Erstaunlich gut. Keine dummen, schmerzlichen Gedanken, keine tränennassen Augen. Sie dachte nicht an ihn und es ging ihr gut damit. Und doch fühlte es sich so falsch an. Gedankenverloren drehte sie am Ring an ihrem Ringfinger. Warum trug sie ihn eigentlich noch? Vielleicht wäre es besser, sie nähme ihn ab? Vielleicht verursachte der Ehering dieses mulmige Gefühl. Langsam zog sie ihn von ihrem Finger. In all den Jahren hatte sie ihn niemals abgenommen, nicht für eine Sekunde. Jetzt lag er in ihrer ausgestreckten Hand. Sie legte ihn auf den Tisch vor sich, rutschte auf dem Stuhl zurück. Und sie fühlte sich nackt. Fühlte sich einsam. Und sie wusste nicht warum, aber viel zu hastig schnellte ihre Hand vor, steckte sich den Ring wieder an, ballte eine Faust und legte ihre andere Hand wie zum Schutz um sie. Ihr Atem ging heftig, aber sie wusste nicht, warum. Der, der den Ring als Letztes berührt hatte, war der, der ihn ihr angesteckt hatte. Shinichi. Sie schluckte. Dachte daran, wie er ihre Hand genommen hatte, sie den Finger ausgestreckt hatte... wie er ganz vorsichtig den schmalen goldenen Reif darüber geschoben hatte. Das Zeichen ihrer ewigen Verbundenheit. Ewig. Ewig. Er gehörte immer noch zu ihr. Auch wenn sie immer noch nicht an ihn denken wollte. Allerdings... Ran seufzte laut. Allerdings war sie wohl einem Irrtum aufgesessen. Yusaku hatte Recht gehabt... auch wenn sie für sich beschloss, den Gedanken an ihn zu verdrängen, so hatte sie kein Recht, ihr zu verbieten, sein Andenken zu waren. Dann läutete das Telefon, und sie stand auf, hob ab. Lauschte einer ziemlich mitgenommenen Frauenstimme und wurde blass. Yusaku stand in dem Zimmer, das er sich als Bücherzimmer eingerichtet hatte. Es war geräumig, hatte einen kleinen Erker und stand voll mit Büchern. Die Atmosphäre beruhigte ihn, die Anwesenheit dieser vielen Wörter schien auf ihn wie ein Sedativum zu wirken. Hier drinnen lebte es. Diese Bücher erzählten alle eine Geschichte, unentwegt. Konserviert in Druckerschwärze auf Papier überdauerten sie ein Menschenleben um ein Vielfaches. Langsam schritt er zu einem Regal, das ganz hinten stand. Dort stand, auf einem Regalbrett, nur ein einziges Buch. Und dieses Buch nahm er heraus, trug es mit sich zum Sofa in der Fensternische des Erkers, wo bereits eine Tasse Tee auf ihn wartete, ließ sich in die Kissen sinken und schlug es auf. Denn es gibt nur eine Wahrheit Ein Kriminalroman von Shinichi Kudô Langsam atmete er durch. Er kannte das Buch auswendig, er hatte es unzählige Male gelesen, aber diese Seiten bedrucken Papiers schafften, was sonst nichts zustande zu bringen vermochte. Er vergaß. Vergaß, dass sein Sohn tot war, vergaß das grausame Schicksal, das ihn ereilt hatte... denn wenn er diese Worte las, war es, als hörte er ihm zu beim Erzählen der Geschichte. Es wäre definitiv ein Bestseller geworden, aber er wagte es nicht, sein Versprechen zu brechen. Das Buch hatte wirklich enorme Klasse, das musste er ihm neidlos zugestehen und es erfüllte ihn mit Stolz. Nichtsdestotrotz blieb es ein Unikat. Aber bald... bald würde er es wohl einer bestimmten Person einmal ausleihen. Sein Sohn hätte bestimmt nichts dagegen, eine Leserin mehr zu gewinnen für sein Werk. Yusaku lächelte, dann versank er in der Lektüre. Yukiko stand an der Tür, sah sein entspanntes Gesicht und atmete durch. Sie wusste, wie schwer es für ihn war. Und sie dankte Shinichi im Stillen für dieses Buch. Es war fast, als hätte er es gewusst. Es war spätabends, als es an ihrer Zimmertür klopfte. Sie sagte nichts, wusste, dass ihre Mutter draußen stand, aber bat sie nicht herein; die Tür öffnete sich trotzdem. Ran trat ins Zimmer, ihre Augen waren glasig, aber sie wirkte gefasst. Sie hatte mit Yukiko telefoniert, die ihr erzählt hatte, was vorgefallen war. Was heute alles passiert war. Sayuri… wusste nun, wie er aussah. Ausgesehen hatte… Sie kannte die Bilder. Yukiko wusste von Yusaku, wie sie darauf reagiert hatte. Dass sie ihn vermisste... sich wünschte, er wäre hier. Ran schaute an die Decke. Hier. Und sie hatte sich mit ihm wohl auch ein Stück weit identifiziert... war ihm wohl noch ein Stück näher gekommen. Sie sah sich in ihm. Sah ihn in sich. Und sie war ihn besuchen gewesen. Sie war an seinem Grab gewesen, mit Yusaku. Ran blinzelte langsam, seufzte leise. In ihr wühlte das schlechte Gewissen. Sie wusste, wie schwer es Yusaku fiel, an sein Grab zu gehen. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, sie als Mutter hätte ihr Fotos von ihrem Vater zeigen sollen, hätte mit ihr reden sollen, mit ihr seine letzte Ruhestätte besuchen… Eigentlich hätte das an ihr sein sollen... stattdessen hatte er es auf sich genommen. Yukiko hatte ihr erzählt, wie schlecht es ihm deswegen ging. Wie fertig er immer noch war. Nun... nach diesem Telefonat erklärte sich auch, warum Sayuri nichts gegessen hatte. Warum sie wortlos in ihr Zimmer gerannt war, hinter sich die Tür zugeschlagen hatte. Das, was sie befürchtet hatte, war längst passiert. Ihre Tochter war dabei, ihren Vater zum zweiten Mal zu verlieren. Nur würde sie es diesmal wirklich merken. Und der Schmerz war bereits gegenwärtig… egal ob sie die Tagebücher fertig lesen würde oder nicht. Sie waren nur… die letzte Institution, die es noch gab. Die letzte Konsequenz. Ließ sie sie nicht fertig lesen, riss sie ihn wieder aus ihrem Leben, ließ offene Wunden zurück… sie war es ihm schuldig, ihn sich von ihr verabschieden zu lassen. Und sie war es ihr schuldig, sie ihm Lebwohl sagen zu lassen. Also stand sie jetzt in der Zimmertür ihrer Tochter, umklammerte mit beiden Händen den Karton mit den Büchern, drückte ihn an ihre Brust. Sayuri sprang aus dem Bett, eilte zu ihrer Mutter, blieb einen Meter vor ihr stehen. „Dein Großvater hatte Recht. Ich darf das nicht.“ Rans Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. „Ich darf ihn dir nicht vorenthalten.“ Sie schluckte, drückte ihr die Schachtel in die Hände. Sayuri schluckte, starrte sie an. Ran wischte sich fahrig über die Augen. „Aber versprich mir… dass du dich nicht zu sehr rein steigerst… das hätte er… auch nicht gewollt. Er hätte es nicht ertragen können, sein kleines Mädchen weinen zu sehen…“ Sie schniefte leise, strich ihr sanft über die Wange. „Mama...?“ Ran schaute sie an, wartete. „Wie geht’s Opa...?“ Ran seufzte. „Oma Yukiko sagt, es geht schon wieder. Du musst dir um ihn keine Sorgen machen, ja?“ Sie lächelte ihr kurz zu, dann drehte sie sich um, ging, ohne ein weiteres Wort. Eine Träne perlte Sayuri aus dem Augenwinkel. Dann stellte sie die Kiste ab, suchte das Buch, in dem sie gerade gelesen hatte und setzte sich aufs Bett. Ruhe erfasste sie, als sie die Seiten aufschlug. Er war wieder da… Hallo Töchterlein! Wie geht’s dir? Mir geht’s prächtig, denn bald ist Neumond… und weißt du, was Neumond passiert…? Kaito KID wird versuchen, den Red Teardrop zu klauen… versuchen, sage ich, weil ich es vereiteln werde! Genau ;) Deine Mutter hatte endlich ein Einsehen mit mir… Ihre Augen funkelten, als sie aufsah. Seine Vorfreude übertrug sich auf sie. „Nicht nur mit dir hatte Mama ein Einsehen…“, murmelte sie dann leise. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie weiter las. Rote Träne ---------- Mesdames, Messieurs, an dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich für all eure Kommentare bedanken! Ihr seid die Besten! :) Und ich freu mich echt immer wieder, über jeden neuen Kommie, der hier erscheint. Euer Feedback ist mir echt viel wert! Nun also beginnt der KID-Fall... ich hoffe, ich habs mit sowenig Ungereimtheiten hingebracht wie möglich ;D Ich wünsche viel Spaß, Liebe Grüße, Eure Leira :D ______________________________________________________________ Kapitel 16: Rote Träne Vergangenheit Neujahr war gekommen und gegangen. Shinichi schaute aus dem Fenster, seufzte leise; mit dem heutigen Tag war das neue Jahr schon ganze zwei Tage alt. Ihm war das relativ egal. Morgen war Neumond, das war alles, was für ihn zählte. Er zog seine Kreise in seinem Büro, den Zettel mit KIDs letzter Nachricht in der Hand, versicherte sich immer wieder, dass er ihn richtig gedeutet hatte. Wenn Tausend über Tausend Diamanten auf schwarzem Tuche ausgebreitet liegen, Leuchten und funkeln und glitzern auf dunklem Samt, wie man sie nur find’, Wenn zur Nichtzeit Selene sich in ihr schwarzes Kleid hüllt, wenn Schatten über diese Erde fliegen, Dann werde ich sein, wo Dunkelheit und Einsamkeit unsere einzigen Begleiter sind, An der Pforte zu Hades Reich, wo Cerberus über uns wacht… Und der weinenden Lady ihre rote Träne trocken, damit ihr trauerndes Antlitz sei froher gemacht. Er legte seine Stirn in Falten, griff intuitiv nach der Tasse Kaffee auf seinem Schreibtisch, als er daran vorbeiging und nahm einen Schluck, verzog ein wenig angewidert das Gesicht. Das Gesöff war schon fast kalt. Aber egal. Lieber kaltes Koffein als gar keins. Und so trank er noch ein Schlückchen. Das Rätsel war ganz klar in drei Teile geteilt. Der erste Teil, die ersten drei Zeilen, beschrieben den Tag und die Zeit. Wenn Tausend über Tausend Diamanten auf schwarzem Tuche ausgebreitet liegen, Leuchten und funkeln und glitzern auf dunklem Samt, wie man sie nur find’, Wenn zur Nichtzeit Selene sich in ihr schwarzes Kleid hüllt, wenn Schatten über diese Erde fliegen… Tausend über Tausend Diamanten auf schwarzem Tuche. Das waren die Sterne am Firmament, ohne Zweifel. Solche Analogien waren typisch für KID. Leuchten und funkeln und glitzern auf dunklem Samt, wie man sie nur find’, wenn zur Nichtzeit Selene sich in ihr schwarzes Kleid hüllt, wenn Schatten über diese Erde fliegen… Selene war die griechische Göttin des Mondes. Zog sie sich ihr schwarzes Kleid an, dann verschwand sie… also war eine Neumondnacht gemeint. Und die Nichtzeit konnte nur Mitternacht sein. 0 Uhr. Eine Stunde, die keine war, eine Zahl, die nichts beschrieb. Oder - die Zahl, die das Nichts beschrieb. Die nächsten zwei Zeilen beschrieben den Ort. Dann werde ich sein, wo Dunkelheit und Einsamkeit unsere einzigen Begleiter sind, An der Pforte zu Hades Reich, wo Cerberus über uns wacht… Das konnte nur ein Friedhof oder ein Mausoleum sein. Dunkelheit und Einsamkeit als einzige Begleiter… das waren zweifellos die Diener in den dunklen Gemächer einer noblen letzten Ruhestätte. Cerberus, der Höllenhund, Hades, der Gott der Toten… es handelte sich bestimmt um ein Grabmal. Und welche Ruhestätte genau, beschrieb die letzte Zeile, und damit auch den begehrten Gegenstand: Und der weinenden Lady ihre rote Träne trocken, damit ihr trauerndes Antlitz sei froher gemacht. Die rote Träne der trauernden Lady. Es gab eigentlich nur ein Werk, das auf diese Beschreibung passte. Das weinende Fräulein, wie ihr Name wörtlich übersetzt hieß, oder, wie man sie auch nannte, la Mademoiselle criante, da das traurige Mädchen von französischer Meisterhand gemacht worden war. La mademoiselle criante war eine alabasterweiße Marmorstatue im Mausoleum der Villa der Familie Kawasaki, das wusste er; die Figur war eine Berühmtheit, genauso wie ihr Besitzer. Kazuyoshi Kawasaki, der Patriarch der Großfamilie und der Besitzer der gleichnamigen Computerfirma, dem Imperium Kawasaki & Son, hatte diese Statue für seine Sammlung gekauft. Der Familiensitz war schon Jahrhunderte alt, und das Mausoleum war von seinem Urururgroßvater angelegt worden. Seit es existierte, fand ein jedes Mitglieder der Familie dort seine letzte Ruhe. Nun war es so… diese Statue war um die zweieinhalb Meter groß; eine riesige Statue, ein Zeugnis höchster Bildhauerkunst. Dabei war die Besonderheit, dass La Mademoiselle criante, geschaffen vom französischen Bildhauer Jean-Jacques Gaultier, kein weinendes Fräulein darstellte, wie der Titel verhieß - sondern einen trauernden Engel. Die Figur saß auf einer Art Grabstein, den Kopf gramerfüllt gesenkt, die Hände im Schoß gefaltet, die Füße nebeneinander gestellt. Das Kleid hing dem Engel in lockeren Falten um ihren Körper, imitierte auf fabelhafte Weise echten Stoff. Die großen, gefiederten, unglaublich detailliert ausgearbeiteten Flügel hielt sie vom Rücken ausgestreckt streng nach oben. Sie hatte lange, lockige Haare, ein überirdisch schönes Antlitz; und aus einem ihrer marmornen Augen rann eine einzige Träne. Und diese Träne war rot… funkelnd… Ein blutroter Diamant. The Red Teardrop. Die rote Träne. Morgen zur Neumondnacht. Bald war es soweit. Dann klingelte das Telefon in der Halle, was ihn aus seinen Gedanken riss, und er hörte, wie Ran abhob. Wenig später erschien sie mit dem schnurlosen Gerät in seinem Zimmer, schaute ihn milde erstaunt an. „Für dich. Meguré.“ Shinichi hielt nur die Nachricht hoch, die Ran sofort erkannte. „Er macht also doch ne große Party draus.“, grinste er. „Das dachte ich mir. Hätte mich eher gewundert, wenn nicht.“ Er nahm ihr den Hörer ab. „Kommissar, was gibt’s?“ Stunden später befand er sich im Einsatzfahrzeug des Tokioter Police Departments am potentiellen Tatort. Der Minibus war ohnehin schon vollgestopft mit allerlei technischem Gerümpel, so dass Shinichi, Sato, Takagi, Meguré, Nakamori und ein paar seiner Leute in dem Gefährt standen wie die Sardinen in der Dose. Ran hockte auf dem einzigen Stuhl in dem Kabuff und wachte über ihren Ehemann, der ihr einen ganz leicht genervten Blick zuwarf, ehe er sich über den Campingklapptisch in der Mitte des Räumchens beugte und sich überzeugte, wohlweislich nicht laut, weil er sonst nur dumme Fragen zu beantworten gehabt hätte, dass es sich bei dem Schreiben, das heute Morgen an die Polizei gegangen war, um den gleichen Brief handelte, den er bekommen hatte. Dem war in der Tat so. Es war haargenau das gleiche Rätsel. Und so erklärte er ihnen, mit ein paar kleinen Umwegen, um nicht durchscheinen zu lassen, dass er dessen Lösung schon seit zwei Wochen kannte, seine Bedeutung. Die Polizisten staunten; alle bis auf Nakamori, der ihn einigermaßen angesäuert anblickte und sich eines Kommentars enthielt. Fakt war, sie waren alle angespannt; nur er nicht. Shinichi freute sich. Als sie sich schließlich auflösten, für den heutigen Tag ihre Sitzung beendeten, wandte sich Meguré an Shinichi, zog ihn kurz beiseite. „Ich freu mich. Ehrlich. Dass wir doch noch einen… gemeinsamen Fall haben.“ Er räusperte sich, schaute verlegen weg. Shinichi lächelte. „Ich mich auch, Herr Kommissar. Bis morgen.“ Damit tätschelte er kurz Megurés Schulter und ging zu Ran, die bereits wartete. Am Abend vor der Nacht der Nächte saßen Shinichi und Ran in stummer Eintracht aneinandergeschmiegt auf dem Sofa, schauten still in die prasselnden Flammen des Feuers im Kamin. Nach einer Weile bewegte sich Ran ein wenig; zog die Beine noch ein Stückchen mehr an, kuschelte sich fast wie ein Kätzchen an ihn. Er legte ihren Arm ein wenig mehr um ihre Schulter, zog ihren Kopf an seine Brust, legte seine andere Hand an ihre Taille. Rans ruhiger Atem war unglaublich beruhigend. Ein zufriedener Seufzer entfloh seiner Kehle. Sie schaute kurz auf, bemerkte das ruhige Lächeln auf seinem Gesicht, den warmen Glanz des Feuers in seinen Augen. Seine Brust hob sich langsam und gleichmäßig, und in ebenso regelmäßigen Takt hörte sie das Pochen seines Herzens. Fast vergessen schienen diese dunklen Tage vor nicht allzu langer Zeit. Es ging wohl tatsächlich wieder bergauf, ein wenig, und man merkte ihm das auch an. Er genoss es. Genoss seine Zeit, sein Leben… genoss diesen allerletzten Fall. Es schien alles so anders, diesmal. Kein brutaler Mörder, der ihm den Schlaf raubte. Keine Verzweiflung in seinen Augen, kein Verlust seiner Objektivität, seines Verstands... Keine Appetitlosigkeit, keine Geistesabwesenheit, kein Drama, wenn er wieder jemanden nicht hatte retten können. Nur ein ganz leichter Nervenkitzel… ein kleiner Ansporn, ein großes Vergnügen. Sie würde KID einen Dankesbrief verfassen müssen. Das hier würde er werden… der wahrhaft letzte Auftritt… und er würde in einem triumphalen Sieg für den Detektiv enden, dessen war sich Ran sicher. Sie kannte ja den Detektiv. „Dir geht’s gut, ja?“, murmelte sie leise fragend. Er blinzelte kurz, gab ihr einen Kuss auf die Haare. „Ja.“ „Sicher?“ „Ganz sicher.“ Er fing an, ihren Bauch zu streicheln. „Sag mal, sollte sie sich nicht bald mal bewegen?“ Ran lächelte, in ihre Augen trat ein Funkeln. „Ja, bald. Sehr bald schon, eigentlich.“ „Schön.“ Er gähnte träge. „Du freust dich auf morgen, hab ich Recht?“ Ein Grinsen huschte ihr über die Lippen, als sie mit den Fingern an einem seiner Hemdknöpfe zu spielen begann. „Hmmm…“, machte er, setzte sich ein wenig auf, schaute sie an. „Ich werd’ ihn kriegen, morgen.“ Ran hob den Kopf ein wenig. „Nichts anderes erwarte ich von dir, Detektiv. Aber was tust du, wenn du ihn hast?“ „Ihm dieses dämliche Monokel abnehmen. Ich brings dir dann als Souvenir mit.“ Er grinste. Ran schlug ihm spielerisch gegen die Brust. Shinichi seufzte leise, aber das leichte Lächeln war nicht von seinen Lippen gewichen. Er schaute in ihr Gesicht, strich ihr sanft eine Strähne ihres schokoladenbraunen Haars aus der Stirn. Ihre Augen leuchteten im Schein des Feuers wie zwei Saphire, in ihnen schien ein ganz eigenes Feuer zu brennen. Langsam ließ sie ihre Augen über sein Gesicht schweifen. Es war… unübersehbar. Seit… seit jenem sehr schwarzen Tag ging es ihm wirklich deutlich besser. Sie fragte sich, ob es wirklich dieses enorme Tief gebraucht hatte, um ihn wieder derart aufzubauen, aber sie beschwerte sich nicht. Sie wussten jetzt, was sie tun durften und was nicht; und was auf dieser Verbotsliste ganz oben stand, war… daran zu denken, was bald passieren würde. Nicht zu versuchen, ihn auf irgendeine Weise zu schonen, um ihn zu bewahren, so lange wie möglich zu konservieren… man musste ihm erlauben zu leben, wenn man wollte, dass er es tat. Sie lachte ihn an und er lachte zurück. Insofern hatte dieser Tag wirklich etwas Gutes gehabt. Es war so viel schöner jetzt… mit ihm jeden Tag zu genießen, raus zu gehen… einfach nicht daran zu denken, was noch kam. Es würde früh genug kommen, das wussten sie beide, der Gedanke ging nicht verloren… aber er verlor die Wichtigkeit, die er vorher hatte. Er musste spüren, dass man ihn brauchte. Ihn hier haben wollte. Jetzt. Sie alle hatten eins vergessen. Shinichi lebte. Also sollten sie ihn auch so behandeln. „Nein, ganz ehrlich… ich weiß es noch nicht… das muss ich auf mich zukommen lassen.“, knüpfte er dann wieder an ihre Frage an. Er schaute kurz nachdenklich in die Flammen, als ihre Stimme wieder an ihr Ohr drang. „Was meinst du… welche Kostümierung wird er morgen haben?“, fragte sie, verdrehte ihre Augen grübelnd. Er tippte ihr auf die Nase, zog die Augenbrauen zusammen. „Ich hoffe, er gibt sich nicht wieder für dich aus.“ Dann stemmte er sich langsam hoch, brachte sie davon, von ihm runter zu rutschen. Gähnend strich er sich durch die Haare, blinzelte sie dann müde an. „Komm, gehen wir ins Bett. Der Tag morgen wird lange genug…“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Schläfe, dann ließ sie sich von ihm aufhelfen. „Da kannst du allerdings Recht haben…“ Sie gähnte ebenfalls, wobei ihr ein Laut entfuhr, der ihm ein Lächeln entlockte. „Na, komm schon, Mama. Es wird Zeit fürs Bettchen, meine Liebe.“ Sie lehnte sich an ihn, ließ sich von ihm ins Schlafzimmer führen. Sie hatte gar nicht mitbekommen, wie müde sie auf dem Sofa vor dem Feuer geworden war. Sie spürte, wie er sie ins Bett sinken ließ, sie zudeckte und ihr einen Kuss auf die Stirn drückte, hörte, wie er neben ihr unter die Decken glitt, drehte sich dann langsam zu ihm, griff nach seinem Pyjamahemd, merkte zufrieden, wie er einen Arm um sie legte und sie an sich zog, und schlief ein. Shinichi neben ihr tat es gleich. Und während im Wohnzimmer langsam das Feuer niederbrannte, schliefen die Bewohner der Villa Kudô, in gespannter Erwartung des folgenden Tages… Der mit einer Überraschung anbrach- - denn als Ran am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war das Bett neben ihr leer. Sie setzte sich verwirrt auf, schaute um sich, zog an Shinichis Bettdecke, so als müsse sie sich vergewissern, dass sich auch wirklich kein Shinichi darunter versteckte, als auch schon die Schlafzimmertür aufging und ein Tablett hereinkam. Langsam schob sich die Tür dann ganz auf und auch der Träger des Tabletts wurde sichtbar, grinste sie unverschämt an. „Frühstück!“, verkündete er. „Mach mal ein wenig Platz auf dem Bett.“ Ran schaute ihn an, schob dann die Decken beiseite, damit das Tablett stabil stehen konnte, sog genüsslich den Duft kross gebackener Brötchen und frisch aufgebrühtem Kaffee ein. Ein Lächeln glitt ihr übers Gesicht. „So ein Luxus.“, murmelte sie erfreut, als sich Shinichi ihr gegenüber vorsichtig aufs Bett sinken ließ, um nichts zu verschütten. Dann goss er ihr langsam und sehr konzentriert eine Tasse Kaffee ein, während sie sich ein Brötchen griff und es zu halbieren begann. „Sag mal, mein lieber Ehemann… womit verdiene ich das und seit wann bist du eigentlich schon auf? Du warst ja sogar schon beim Bäcker…“, bemerkte sie neckend und schaute ihn fragend an. Sie griff nach der Butter. Er goss sich nun seinen Kaffee ein, verzog nachdenklich das Gesicht. „Wann bin ich aufgestanden… weiß nicht… sechs? Halb sieben? Ran, die sich gerade dick Maracujagelee auf ihr gebuttertes Brötchen schmieren wollte, hielt inne. „Seit sechs Uhr? Sag mal, spinnst du? Und warum hast du mich nicht geweckt?“ Während sie ihn noch anschaute, verteilte sie das goldgelbe Gelee auf ihrem Brötchen. „Ich konnte nicht mehr schlafen, also lass mich doch.“, maulte er leise, nahm einen Schluck Kaffee. „Und warum hätte ich dich wecken sollen? Du brauchst deinen Schlaf.“ Er grinste frech. „Außerdem siehst du wirklich süß aus, wenn du schläfst.“ Ein leichter Rotschimmer schlich sich auf seine Wangen. Ran seufzte, dann lächelte sie, hielt ihm ihr Brötchen hin. Er biss ab, kaute genüsslich. „Außerdem lass mich dich doch einfach mal ein wenig verwöhnen… du hast dir für mich ja die letzten Wochen auch ein Bein ausgerissen, jetzt lass mich doch meine schwangere Frau ein wenig umsorgen.“ Shinichi lächelte schüchtern, halbierte dann sich selbst ein Brötchen. „Das Zeug schmeckt toll, was ist das? Ich hab einfach mal alles aufs Tablett gestellt, was ich im Kühlschrank gefunden hab, aber das ist neu, oder?“, meinte er dann. „Maracujagelee.“ Ran grinste, legte ihren Kopf schief. „Auch bekannt als Passionsfrucht…“ Shinichi verschluckte sich leicht, schaute in ihr Gesicht. Ihr Lächeln wurde noch einen Tick strahlender, dann griff sie nach seiner Krawatte, zog ihn zu sich. „R-Ran…?“ Weiter kam er nicht, versuchte nur, nichts umzuwerfen, als ihn seine Frau über das Frühstückstablett hinweg küsste, leidenschaftlich, ihre Arme um ihn schlang, soweit es ging, sich ihm entgegenstreckte. Als sie sich voneinander lösten, waren sie beide ein wenig atemlos. Sie hielt immer noch seinen Kopf fest, ihre Stirn gegen seine gelehnt, fühlte seinen Atem auf seinem Gesicht. „Ich liebe dich so sehr…“, flüsterte sie leise, schaute in seine Augen. „So sehr… ich denke, das kannst du dir nicht vorstellen.“ Er schluckte, hob vorsichtig eine Hand, strich ihr über die Schläfe, die Wange, das Kinn, berührte mit seinem Daumen ihre Lippen, gab ihr einen zarten Kuss. „Doch, kann ich…“, murmelte er leise. Wie auf ein gemeinsames Zeichen hin ließen sie einander wieder los, wandten sich wieder ihrem Frühstück zu. Es waren die kleinen Dinge, die das Leben schön machten, dachte Ran bei sich. Und eine kleine, aber spitze Nadel piekste sie, als sie daran dachte, wie schnell sich dieser Zustand ändern würde. Aber noch war es nicht soweit… und solange sollten sie diese Gedanken nicht beschäftigen. Sie tauchte ihr Messer in das Glas mit dem Maracujagelee und begann, ihre zweite Brötchenhälfte damit zu bestreichen, sah ihm zu, wie er seinen Kaffee trank. Gegen drei Uhr dann trafen sie am ‚Tatort’ ein; der Villa Kawasaki. Kogorô begleitete sie, als Shinichi und Ran an den Wachpolizisten vorbei durch das große Eingangstor das Herrenhaus betraten. Der Anblick war von außen schon wahrhaft Ehrfurcht gebietend gewesen… aber was sie im Inneren an Prunk und Pomp sahen, übertraf die mächtige, barocke Fassade mit ihren Balustraden, Säulen, Friesen und Giebeln bei weitem. Die ganze Eingangshalle war aus weiß-rosa Marmor, auf Hochglanz poliert, spiegelte das Licht von drei Kronleuchtern an der Decke, die gut vier Meter über ihren Köpfen schwebten. Shinichi schluckte, aber ließ sich nicht ablenken, sondern behielt alle Anwesenden im Auge, griff nach Rans Hand. Sie drückte seine Finger, schaute in sein Gesicht; seine Augen blitzten vor Aufregung, um seine Lippen lag ein gespannter, aber nicht verkniffener Zug. Er war bereit. Dann wurden sie von Meguré entdeckt, der ihnen sogleich zusammen mit Nakamori und einem ihnen unbekannten, älteren Herrn, sowie einer jungen Frau in ihrem Alter entgegeneilte. „Kudô!“, rief er erfreut aus. Man sah ihm an, wie sehr es ihn immer noch freute, seinen alten Kollegen doch noch einmal bei einem Fall dabei haben zu dürfen. Möglichst unauffällig beugte er sich vor. „Wie geht’s dir?“ „Gut.“, murmelte Shinichi leise. Dann warf er einen Blick in die Runde. „Hat er sich schon irgendwie gemeldet?“ Meguré schüttelte den Kopf. „Nein, KID hält sich noch bedeckt bis jetzt. Aber ich stell dich jetzt am besten erstmal vor.“ Er drehte sich um, begann mit gewichtiger Stimme zu sprechen. „Also; hier hätten wir Herrn Kazuyoshi Kawasaki junior, der Hausherr und Besitzer der Firma Kazuyoshi & Son; er hat das Anwesen und die Firma von seinem Vater, Kazuyoshi Kawasaki senior, übernommen. Das junge Fräulein hier ist seine Tochter, Sachiko Kawasaki; ihr gehört die Statue.“ „Ein Geschenk meines Vaters.“, fügte die junge Frau bestimmt hinzu. Sie war schlank, ungefähr so groß wie Ran, hatte langes, glattes, pechschwarzes Haar und große, rehbraune Augen, umkränzt von langen Wimpern. Ihre Haut war elfenbeinweiß, und ihre Lippen voll, rot und sinnlich. Ran griff unwillkürlich Shinichis Hand ein wenig fester, woraufhin er ihr einen leicht überraschten und fragenden Blick zuwarf. Der Hausherr selber war eine beeindruckende Erscheinung; ein Mann in den Fünfzigern, breitschultrig und hochgewachsen, verbreitete er mit seinen scharfen, braunen Augen und kantigem Gesicht einen kräftigen Hauch von Autorität und Machtbewusstsein. Er trug sein immer noch makellos schwarzes Haar kurz geschnitten, sein seine Oberlippe und seine Kinn- und Backenpartie zierte ein ebenso dunkler und voller Bart. Meguré schaute von einem zum anderen. „Es leben noch im Haus die Bediensteten und der Freund der Tochter…“ Er warf einen Blick auf Fräulein Kawasaki, die ihrerseits Shinichi mit großem Interesse musterte, und warf ihr einen unwilligen Blick zu. „Das hier sind dann Shinichi Kudô, seines Zeichens Privatdetektiv und alter Bekannter von Kaito KID, wenn man so sagen darf…“, fuhr der Kommissar fort, behielt die junge Frau im Auge, „seine Frau, Ran Kudô, deren Vater, Kogorô Môri, Kommissar Nakamori und da…“, er lächelte erfreut, als er sie ankommen sah, „die Inspektoren Takagi und Sato.“ Ran warf Sachiko einen unfreundlichen Blick zu. Shinichi zog die Augenbrauen zusammen, enthielt sich eines Kommentars, wandte sich stattdessen an den Hausherrn. „Soweit wir aus seiner Nachricht entnehmen dürfen, wird KID sich erst gegen Mitternacht zeigen; darf ich Sie vielleicht bitten, uns dann mal das Objekt seiner Begierde zu zeigen? Und dann können wir auch gleich darüber sprechen, inwieweit Sie vorhaben, den Stein schützen zu lassen… oder schon gesichert haben?“ Kawasaki nickte, Nakamori murrte lautlos vor sich hin, da er es nicht leiden konnte, wenn jemand anders als er die Führung übernahm, wenn es um seinen persönlichen Feind ging, diesen kleinen Taschendieb, diesen… Weiter kam er in seinen Überlegungen nicht, denn er musste darauf achten, wohin er ging, als sie die Treppe hinunter stiegen. „Sagen Sie…“, begann Sachiko im Plauderton, wandte sich an Ran, „warum begleiten Sie eigentlich Ihren Mann? Noch dazu in diesem Zustand?“, sie ließ ihren Blick über Rans gerundete Formen gleiten, lächelte zuckersüß. Ran erwiderte das Lächeln, allerdings ein paar Nuancen säuerlicher. „Irgendjemand muss ja aufpassen, damit ihm nichts passiert. Sie wissen doch, wie Männer sind.“, antwortete sie dann. Shinichi warf ihr einen scheelen Blick zu, enthielt sich aber eines Kommentars. „Und dieser Zustand…“, Ran fuhr fort, und sie betonte das Wort „Zustand“ besonders, „ist bestimmt kein Hindernis, wenn Sie das glauben, aber ich danke sehr für Ihre Besorgnis.“ Shinichi beugte sich ein wenig nach vorn. „Ran!“, flüsterte er warnend. „Is doch wahr.“, knurrte sie. Die junge Frau schien von alldem nichts mitzubekommen, sondern spazierte einigermaßen fröhlich vor ihnen her, schloss zu ihrem Vater auf, der die Gruppe anführte, zuerst die Treppe runter, dann durch einen Gang, dessen marmorner Boden von einem roten Teppich bedeckt war. Shinichi schaute ihr hinterher. Dann endete der Gang vor einer großen, schweren Holztür, die davor noch mit einer Gittertür gesichert war. Herr Kawasaki holte einen Schlüsselbund aus seinem Jackett, hielt ihn in die Höhe. „Das sind die meine Schlüssel; es gibt nur zwei Sets, die für diese Türen existieren, und ich trage meines immer bei mir. Die anderen Schlüssel hat meine Tochter, und bei ihr verhält es sich genauso. Sie sehen, die Tür ist äußerst solide…“ „… aber wird einen Dieb wie KID kaum abhalten. Wenn er rein will, kommt er rein.“ Shinichi unterbrach ihn, schaute sich das Schloss an, bückte sich ein wenig dafür, um mit dem Schloss auf Augenhöhe zu sein. „Er dürfte wohl lachen, wenn er das sieht. Und außerdem…“, er schaute auf. „Woher will man wissen, dass er Sie nicht überfällt… und sich als Sie selber ausgibt? Das wäre nicht das erste Mal, wie Sie vielleicht wissen… Damit würden auch die Schlüssel in seinen Besitz wandern, und es wäre noch leichter für ihn.“ „Deshalb werden auch Kräfte der Polizei oben an der Treppe postiert. Heute wird keiner allein diesen Raum betreten!“, ereiferte sich Nakamori, warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. „Aha.“, murmelte Shinichi leise, nickte kurz, warf einen letzten Blick auf das Schlüsselloch. Als er sich wieder aufrichtete, geriet er leicht ins Schwanken, hielt sich kurz am Arm des Hausherrn fest, der ihn finster anblickte, und trat zurück. „Entschuldigung.“, murmelt er schuldbewusst, wartete, bis Kawasaki aufsperrte. Ran trat neben ihn, schaute ihn besorgt an. „Geht’s dir…“ „Es ist nichts, Ran.“, flüsterte Shinichi, wandte kurz den Kopf, um sicherzugehen, dass ihn keiner hörte. „Keine Sorge. Ich hab das bewusst getan. Ich wollte nur sicherstellen, dass das da nicht schon Kid ist… und dieses Prüfen, ob er eine Gummimaske aufhat ist doch etwas… peinlich. Aber da der Mann so muskulöse Oberarme hat, müsste KID das aufpolstern, er ist wesentlich schlanker… wenn es also KID wäre, wäre der Oberarm weich wie ein Kissen. Ist er aber nicht. Dieser Bizeps ist hart wie ein Brett.“ Er grinste. „So können wir wenigstens vom Hausherrn ausgehen, dass er ist, was er vorgibt zu sein.“ Nachdenklich zog er die Augenbrauen zusammen. Ran schaute ihn an. Dann verdrehte sie die Augen, gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Du bist echt unmöglich…!“ Damit betrat sie das Mausoleum, in das gerade Nakamori als letzter der Truppe mit einigermaßen miesepetrigem Gesicht verschwunden war; Shinichi rieb sich den Kopf, folgte ihr lächelnd. Er trat durch die Tür – und sah sie. La mademoiselle criante. Sie war nicht zu übersehen. In der Mitte des ovalen Raumes, an deren Wänden eine Galerie entlang lief, gestützt durch einen Säulengang, stand sie; bewachte und beweinte gleichermaßen die hier Ruhenden. Die Särge und Urnen befanden sich, wie Shinichi nach einem Blick feststellte, weiteren Grabkammern oder in Nischen in den Wänden, denen jeweils ein kleines Sims vorgelagert war, auf denen Blumen und Kerzen standen, an der Wand daneben hing jeweils ein kleines Messingschild mit den Daten des oder der Verstorbenen. Der Anblick war wie ein Schlag in die Magengrube für ihn. Kurz, nur ganz kurz, drehte sich alles. Er schluckte, versuchte nicht bleich zu werden, als er an all die Toten dachte. An Friedhöfe, Särge, an… den Tod selbst. Er schauderte. Ran spürte es, wandte sich um, sah seinen starren Blick. Leise trat sie vor ihn, griff seine Hände, zwang ihn, sie anzusehen. „Schhh…“, murmelte sie leise, gab ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Schhhhh…“ Er spürte ihren Atem auf seinem Gesicht, ihre warmen Hände in seinen Fingern, sah in ihre blauen Augen… und beruhigte sich langsam wieder. Er räusperte sich leise, nickte kaum merklich. „Geht schon.“, wisperte er leise. Ran schaute um sich; keiner, außer ihr Vater hatte seinen Zustand bemerkt; alle anderen starrten auf die Träne des weinenden Fräuleins. Kogorô näherte sich langsam. „Alles in Ordnung…?“ Shinichi nickte nur. „Es ist geschmacklos von KID, dich hierher zu bestellen.“, raunte Ran verärgert, schaute sich missvergnügt um. „Er weiß es ja nicht, Ran. Man kann ihm da keinen Vorwurf machen.“ Shinichi straffte die Schultern. „Na kommt schon... Lasst uns den Klunker mal ansehen.“ Damit trat er näher an die Marmorstatue heran; Ran und Kogorô folgten ihm. Der Stein war tatsächlich fast überirdisch schön. Er leuchtete in einem satten, aber doch sehr fragilen, transparentem Rot, warf schimmernde, rötliche Lichtreflexe auf die schneeweiße Haut des Engels. Ran seufzte versonnen, als sie ihn betrachtete; Shinichi warf ihr einen amüsierten Blick zu. Dann riss er sich von ihr und dem Stein los und wandte sich an Herrn Kawasaki. „Und, wie gedenken Sie ihren Schatz nun diebstahlsicher zu machen?“ Stunden später, um halb zwölf Uhr abends, um genau zu sein, stand er in der Eingangshalle, vor der Treppe runter ins Mausoleum und fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, auf den Vorschlag von Nakamori einzugehen und nicht darauf zu bestehen, unten rund um die Statue Polizisten zu stationieren. Wie es sich herausstellte, hatte man unter anderem ihm die vertrauensvolle Aufgabe übertragen, als einzige Wache oben an der Treppe zu bleiben; ihm vertraute man, neben Sato, Takagi und Meguré, die die Schichten vor ihm übernommen hatten. Er hatte die Schicht gekriegt, in der der Diebstahl passieren sollte. Fakt war; der Hausherr hatte sich über KID schlau gemacht; er wusste, dass er sich gern mal als Polizist ausgab. Und es schien ihm, wie auch Nakamori, viel zu riskant, den Kerl aus Versehen mit anderen Polizisten, die er mit Schlafgas oder sonstigen Spielereien außer Gefecht setzen konnte, da unten einzusperren, mit dem Schatz vor der Nase. Ran war zusammen mit ihrem Vater im Einsatzwagen. Er wollte nicht, dass sie hier herumlief, sie sollte sich lieber schonen. Ran war jetzt schon im fünften Monat; und dieser Umstand forderte eben doch, dass sie ein wenig auf sich achtete. Außerdem brauchte sie Schlaf, und wenn sie müde wurde, konnte sie wenigstens ein Nickerchen machen im Beifahrersitz des Autos. Ihm war so einfach wohler. Er wollte, dass sie es warm und gemütlich hatte und sich nicht die Beine in den Bauch stehen musste, so wie er. Unruhig änderte er seine Position, lehnte sich langsam gegen die Mauer. Ihm war egal, ob der Hausherr damit ein Problem haben könnte oder nicht. Der Abend war ereignislos gewesen... Kein weißer Gleiter am Himmel und auch sonst nichts Auffälliges. Shinichi war ja der Meinung, dass KID schon längst da war. Und sicher ausschließen konnte er eigentlich nur den Hausherrn... Bei den anderen konnte er es nicht sagen. Es wäre umsonst, sich als Dienstbote auszugeben... denn die kamen nie in die Nähe des Mausoleums. Sinnvoll war nur eine Verkleidung als höher gestellter Polizist, als er selbst (aber er war ja nicht KID; das wusste er sicher, wie er sich grinsend bestätigte) oder als... als Hausherr, dessen Tochter... oder deren Freund. Er war den ganzen Abend noch nicht auf den Plan getreten. Wo steckte der Kerl? So hing er also seinen Gedanken nach, hin und wieder einem der patrouillierenden Polizisten grüßend, der an ihm vorbei ging, während er am einzigen Zugang zum Mausoleum stationiert war, ausgestattet mit einem Transmitter, der ihn mit dem Einsatzfahrzeug verband. Und langweilte sich. „Shinichi?“ Leise piepste Ran an sein Ohr. „Hm?“ „Alles okay?“ Sie klang besorgt. „Ja, Mama.“, murmelte er ironisch. Er merkte, wie sein Magen grummelte. Hunger. Er verzog unwillig das Gesicht. „Ist was?“ „Nein.“, murmelte er, leicht angesäuert. „Aber wie hoch sind die Chancen, dass du mir was zu Essen machst, wenn wir heimkommen? Ich bin am Verhungern.“ Ran lächelte. „Wenn du ihn kriegst, kannst du haben, was du willst.“ Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Hört sich gut an.“ Dann sah er sie kommen; Sachiko und einen jungen Mann, offensichtlich ihr Freund, Händchen haltend. Shinichi sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an; es handelte sich bei ihm um einen schlaksigen, dunkelhaarigen Mann in seinem Alter, der irgendwie einen etwas heruntergekommenen Eindruck machte. Der Typ Mensch, der sich selber als Opportunist ausgab, vermutlich Sänger oder eine andere Art Musiker, der gegen alles kommerzielle rebellierte und sich doch von seiner schwerreichen Freundin aushalten ließ. Der Typ Mensch, den andere als gescheiterte Existenz belächelten. Shinichi zog die Augenbrauen zusammen, tippte einmal gegen das Mikro, um zu zeigen, dass er abgelenkt war und nicht weiter reden konnte. Ran verstand und schwieg, hörte aber weiter mit, genauso wie der Rest im Wagen. Sachiko blieb stehen, als sie ihn an der Treppe lehnen sah, zog ihre Finger aus seiner Hand, schaute ihren Freund mit einem etwas spöttischen Lächeln an. „Hau ab. Ich will jetzt allein sein.“ Er wollte sich nicht abwimmeln lassen. „Aber… Sachiko…“ Auf seinem Gesicht lag ein missvergnügter Anblick. „Kein Aber. Verschwinde jetzt. Du langweilst mich, Daisuke.“ Sie starrte Shinichi mit einem verführerischen Lächeln an. Shinichi dachte an Rans Reaktion, würde sie dieses Fräulein jetzt sehen. Sachikos Freund hingegen sträubte sich immer noch. Ärger breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Warum kann ich denn nicht mitkommen, wenn du nachsehen gehst, ob er noch da ist? Du wolltest mir doch den Stein auch zeigen, warum geht das jetzt nicht, bloß weil der Schnüffler da steht?“ Shinichi zog die Augenbrauen zusammen. Es war nicht der Schnüffler, der ihn störte; sondern die Tatsache, dass Sachiko ihren Freund auf einmal nicht mehr mitnehmen wollte. Gleichzeitig war verdächtig, dass er unbedingt mitkommen wollte. Sie schaute ihn lächelnd an; dann wandte sie sich ihrem Freund wieder zu. „Na, meinetwegen, dann kommst du eben mit.“ Ihre Stimme klang definitiv genervt. Sie gingen auf ihn zu, als ihr ihnen den Weg vertrat. „Ah… Herr Detektiv, sie werden mich doch vorbei lassen?“, säuselte sie unschuldig. Ihm stieß das Herr Detektiv kurz sauer auf, was sie nicht zu bemerken schien. Shinichi schaute sie an, kniff die Augen zusammen. Die junge Frau schaute ihn weiterhin offen an, wollte gerade etwas sagen, als sie abgelenkt wurden, weil der Hausherr höchstpersönlich kam. „Ich will sehen, ob er noch da ist.“ Shinichi seufzte, nickte dann. Es war nicht sein Stein, wenn der Hausherr ihn sehen wollte, bitte, dann durfte er ihn auch sehen. Eine Diskussion, ob seine Tochter auch wirklich seine Tochter war, war wohl genauso fruchtlos, wie die gleiche Diskussion, was ihren Freund betraf. Er konnte es ihnen nicht verbieten. Nur wachsam sein. Er sah sich kurz um, ob noch jemand da war, ein Polizist, den er hätte mitnehmen können; aber keiner war zu sehen. Er war allein mit zwei suspekten Personen auf den Weg zum Red Teardrop. Nun. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Nichtdestototz folgte er ihnen. Nakamori tobte im Einsatzwagen, machte seinem Ruf als Choleriker alle Ehre. „Es war ausgemacht, dass keiner mehr da rein geht, bis nach Mitternacht! Warum geht er jetzt mit ihnen da runter? Wenn einer von ihnen Kaito KID ist, dann kann er ihn doch mir nichts, dir nichts, ausschalten und den Stein klauen! Das wäre doch ein Klacks für KID!“ Ran schaute zum Haus hinüber. Sie mochte Nakamori nicht; aber er hatte Recht. Ihr war das auch nicht geheuer; aber sie schwieg. „MEGURE!!! WAS SOLL DAS?! Pfeifen Sie ihn zurück!!!“ Meguré schaute ihn an, seufzte ärgerlich. „Kollege Nakamori. Der Mann arbeitet nicht mehr für mich... ich kann ihn bitten, aber keinesfalls pfeifen...!“ „Das interessiert mich nicht! TUN SIE WAS!“ Der Mann schäumte vor Wut, knurrte Meguré an, der zwar versuchte, ruhig zu bleiben, dessen doch aufgeregten Gemütszustand seine etwas rötlichere Gesichtsfarbe verriet. Nun mischte sich auch Kogorô ein. „Jetzt hören Sie doch...! Er weiß schon, was er tut...“ Nakamori hingegen wütete hinter ihr immer weiter, seine Gesichtsfarbe wurde ebenfalls gefährlich rot, in seiner Schläfe sah man deutlich eine Ader pochen; dann drehten sich alle um, als sie die Tür zufallen hörten. Ran war weg. Kogorô, Meguré und Nakamori setzten ihr nach. Sie machte sich Sorgen. Irgendetwas sagte ihr, dass etwas nicht stimmte. Hinter sich hörte sie ihren Vater, Nakamori und Meguré ihr hinterher hetzen. Sie rannten den Kiesweg hinauf zum Haus, läuteten Sturm. Keiner öffnete. Erst nach einer Ewigkeit machte ein Polizist die Tür auf; er wurde nahezu überrannt, als die Gruppe durch die Eingangshalle zum Treppenaufgang stürmte, die Stufen hinunterjagte. Rans Herz schlug schnell, sie merkte, sie sie Seitenstechen bekam, musste langsamer laufen. So kam es, dass sie als Letzte ins Mausoleum trat, dessen Tür offen stand. Kogorô drehte sich zu ihr um. „Er ist weg.“ Ran blinzelte, starrte ihren Vater an. Ihr Magen schlug einen Salto. Shinichi? Mori seufzte, schaute sie betrübt an. „Der Stein. Der Stein ist weg. Das wird... wird hart sein für ihn...wir haben uns alle übertölpeln lassen...“ „Schlafgas…“, seufzte Meguré. „Eigentlich hätten wir das wissen müssen. Da wollten wir verhindern, dass wir ihn zusammen mit KID in Form eines Polizisten runterschicken, und dann passiert das? Wie konnte das denn bitte geschehen?!“ Er klang sauer. Ran schluckte, schaute erst jetzt hinauf zum Gesicht des Engels- sie hatte nach jemand anderem gesucht. Unwirsch drängelte sie sich durch die Polizistenschar, suchte mit ihren Augen den Raum ab, und fand ihn, rannte näher. „Shinichi!“ Er lag am Fuß des Engels. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände, rief seinen Namen, tätschelte seine Wange. Es dauerte mehrere Minuten, aber schließlich kam er langsam wieder zu sich, blinzelte müde. „Huh...?“ „Komm zu dir! Shinichi!“ Sie wich ein wenig zurück, als er sich langsam auf richtete, blickte um sich, dann rauf in das Gesicht des Weinenden Mädchens… und wie er sich dachte, weinte sie nicht mehr. Die Träne war fort. Der Red Teardrop gestohlen. „NEIN!“, brüllte er wütend, doch keiner außer Ran hörte ihm. Das Mausoleum hallte wieder von den Stimmen der Polizisten, die sich schnell hier drin versammelt hatten. Shinichi schaute sich hektisch um, schien langsam eins und eins zusammenzuzählen. „Damit entkommt er mir nicht.“, zischte er verstimmt. Er stand auf, schwankend, weil das Schlafgas immer noch nachwirkte. Dann wandte er sich an Ran. „Wie war die Situation, als ihr uns fandet?“ „Shinichi, setz dich hin, du fällst sonst noch-...“ „Ran!“ „Ihr wart alle bewusstlos, der Stein fehlte.“, antworte sie erschrocken. Sie schaute ihn an, merkte, wie sehr er betroffen war. „Wenn Kaito einer von den dreien war… ist er denn dann nicht eigentlich schon längst fort…?“ „Nicht unbedingt…“, murmelte er leise. „Er könnte sich auch noch versteckt halten, aber wohl nicht hier... er kriegt die Tür nämlich von innen nicht auf, sie hat hier drinnen interessanterweise kein Schloss. Es wird nur von außen abgesperrt, es wäre etwas hirnrissig, hier zu bleiben. Er säße in der Falle, wenn die Tür zufällt oder geschlossen wird. Er muss sich eigentlich jetzt rausschleichen. Wenn er das nicht schon getan hat, bis vorhin war die Tür offen, wenn ich mich nicht irre.“ Er ließ seinen Blick durch die Halle schweifen. „Hat man schon eine Leibesvisitation durchgeführt? Vielleicht ist der Stein bei uns...?“ Meguré, der herbeigekommen war, nickte. „Man ist gerade dabei, Herrn Kawasaki zu filzen, die anderen zwei haben es schon hinter sich. Du wirst das auch noch machen müssen... nur für den Fall der Fälle.“ Shinichi seufzte. „Ja, schon klar.“ „Nun, durch die Leibesvisitation hat man auch herausgefunden, dass es sich bei ihnen allen um die handelt, die sie vorgeben zu sein. Und logischerweise hatte keiner den Stein. KID hat sich demnach…“ „Als einer von ihnen verkleidet, und hat sich wieder umgezogen, als er den Stein hatte… dann hat er die Person, für die er sich ausgegeben hat, wieder hergebracht, und die Person war Sachiko, nicht wahr?“ „Ja. Aber wenn du vorher wusstest...?“ „Ich ahnte nur. Ich wusste es nicht. Aber ich schätze, er hatte sie in einem der Räume dort versteckt. In den kleinen Grabkammern, die hier rings herum anschließen. Wie makaber.“ Er seufzte leise. „Wie makaber, in der Tat.“ _____________________________________________________________ Edit: Weil mittlerweile ein paar Fragen diesbezüglich eingetrudelt sind- KID ist näher, als es den Anschein hat ;D Und natürlich, natürlich bekommt der Magier mit den Silberschwingen noch seinen glamourösen KID-Auftritt ^^ Das lass ich mir doch nicht durch die Lappen gehen ;D Das geheime Geschenk -------------------- Guten Tag, Ladies and Gentlemen! Vielen Dank all denen, die es nach all der Zeit und bei dieser Hitze immer noch schaffen, mir einen Kommentar zu hinterlassen! Ehrlich, es mag sich komisch anhören, aber es bedeutet mir viel... zu hören, was an dieser Geschichte gut, aber auch, was weniger gut ist. Dankeschön, ihr seid wirklich ausgesprochen tapfer! ^-^ Nun... KID. Meine Lieben, er ist näher, als ihr denkt, auch wenn er sich noch nicht gezeigt hat. Und das große Brimborium kommt definitiv nächstes Kapitel, ich versprech's ;D Das lass ich mir doch nicht entgehen *g* Es macht ja auch Spaß, das zu schreiben. Nun aber geht's erst mal wieder zurück in die Welt der Tagebücher und die nächsten Aktionen von Ran und Sayuri, deren Verhältnis sich langsam wohl immer mehr anspannt; ja, es geht noch angespannter als es ohnehinschon ist; und wie? Das seht ihr gleich. In diesem Sinne verzieh ich mich jetzt, viel Vergnügen beim Lesen, bis nächste Woche, eure Leira :D ____________________________________________________________________ Kapitel 17: Das geheime Geschenk Gegenwart Hallo Töchterlein! Der Grund dieses Eintrags ist diesmal nicht mein unglaubliches Mitteleilungsbedürfnis, sondern ein anderer. In letzter Zeit häufen sich die Anzeichen dafür, und es beunruhigt mich… ich müsste blind sein, um es nicht zu sehen. Es geht um Ran. Ich weiß, ich sollte dich mit dieser Aufgabe nicht betrauen, aber ich… ich kann nicht anders… ich mache mir wirklich Sorgen um deine Mutter. Sayuri schaute auf, blinzelte, biss sich auf die Lippen und las weiter. Nun. Wenn du mitgerechnet hast, wirst du wissen, dass wir über dieses halbe Jahr, das mir prognostiziert wurde, fast erreicht haben… und ich lebe noch, und soweit geht es mir eigentlich auch gut. Das ist an und für sich eine gute Neuigkeit, ich weiß… was mir allerdings Sorgen bereitet, ist… dass Ran sich, wie es scheint daran klammert, dass es ewig so weitergeht - denn das wird es nicht… Das wird es nicht. Und jedesmal, wenn wir darüber reden, das heißt, wenn ich darüber reden will, dieses leidige Thema in irgendeiner Weise oder von irgendeinem Blickwinkel heraus anschneide, dann blockt sie ab, verbietet mir den Mund, rennt weg oder fängt an zu weinen. Die Reaktionen variieren in ihrer Heftigkeit und sind unberechenbar. Gerade wenn ich meine, sie wäre endlich soweit, mal vernünftig darüber zu sprechen, wie es weitergehen soll, wenn ich... weg bin... dann scheint es doch wieder, sobald ich damit anfange, als beginne der Kreislauf wieder von vorne. Ich habe Angst, sie fällt in ein Loch, wenn ich weg bin. Das werde ich nicht verhindern können, das weiß ich und ich will ihr ihre Trauer auch nicht absprechen. Trauer ist eine Art, um mit einem Verlust fertig zu werden, das ist gut so. Aber ich fürchte… sie könnte es übertreiben. Sie… ich weiß nicht, wie ich dir das beschreiben soll. Ich hoffe, ich klinge nicht zu egoistisch oder arrogant wenn ich sage, dass ich fürchte, dass sie nicht über mich sprechen können wird… nicht viel. Ich denke, mir würde es vielleicht sogar ähnlich gehen, ich kann nicht abschätzen, was so ein Verlust für einen Menschen bedeutet; vor allem für einen Menschen wie deine Mutter. Aber so wie es sich jetzt abzeichnet, wird es katastrophal sein. Wahrscheinlich stehen im Haus keine Fotos von mir, und ich fürchte fast… dass ihr deine Anwesenheit ab und an bitter aufstoßen wird, weil du sie an mich erinnern wirst. Ich weiß nicht, ob sie oder jemand anders dich mal auf mich angesprochen hat, aber ich fürchte, ich liege richtig, wenn ich sage: nein. Ran scheint momentan meinen baldigen Tod zu ignorieren; es würde mich nicht wundern, würde sie dasselbe später mit meinem Leben machen. Und ich mach ihr da auch keinen Vorwurf, wirklich nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr das nicht hilft. Ihr nicht; und vor allem auch nicht dir. Darum wollte ich dich bitten, sollten diese Punkte eintreffen, ihr etwas zu geben, was ich ihr besorgt habe, aber selber nicht geben wollte. Ein Abschiedsgeschenk. Du musst wissen, ich habe vor, für alle meine Freunde und Familie ein Geschenk und einen Brief zu hinterlassen… nur für Ran nicht. Ich wollte ihr das nicht antun, weil sie… sie wird wohl ohnehin dabei sein, wenn das Ende kommt und deswegen hielt… halte ich es für makaber, ihr so etwas zu geben. Deshalb hab ich es versteckt. In meinem Büro. Ich schreibe hier nicht wo, denn wenn sie trotz meiner Bitte das hier doch liest, wird sie’s selber suchen und das will ich nicht. Aber ich denke, du bist ein schlaues Mädchen, du wirst mein Versteck finden :) Ich denke, du kennst mich nun gut genug... um zu wissen, wo ich etwas verstecken könnte. Ich bitte dich aber, gibs ihr nur, suche nur dann danach… wenn es sich wirklich so verhält, wie ich geschrieben habe, ja? Denn andernfalls könnte es eher schrecklich für sie sein, von mir etwas zu hören… sie wieder an etwas erinnern, alte Wunden aufreißen. Bitte, machst du das? Ich würde dich nicht bitten, wenn es mir nicht wirklich wichtig wäre. Und ich bitte dich darum, weil du sie neben mir… wohl am besten kennst, mittlerweile. Ich wollte es keinem anderen geben… Ich vertraue dir da und baue auf deine Urteilsfähigkeit. Hm... das solls für heute auch gewesen sein :) Ich denke auch, damit hast du erstmal genug, um nachzudenken. Und wenn du mein Büro umräumst, ich bitte dich... geh vorsichtig mit den Büchern um. Das sind besondere Stücke ;) Liebe Grüße, bis demnächst! Sayuri schaute auf. In ihrem Kopf war nur ein Wort. Nur eins. Die Antwort auf seine Frage. Ja. Ja, es war definitiv genauso gekommen, wie er es befürchtet hatte, und es war gut, sehr gut sogar, dass er da vorgesorgt hatte. Es erstaunte sie, ja, das konnte sie nicht abstreiten. Es verblüffte sie, wie gut ihr Vater ihre Mutter wohl wirklich gekannt hatte... Tatsache war wohl, es konnte eigentlich nur besser werden, wenn ihre Mutter etwas von ihrem Vater bekam. Eine Erinnerung. Denn sie wollte ihn ja vergessen. Und das durfte sie aber nicht. Sie war zwar nicht mehr so abweisend wie an ihrem Geburtstag... aber sie schien immer noch... kaputt. Ein Teil von ihr war ohne Ersatz entfernt worden. Kaputt. Das war wohl das beste Wort, das ihren Zustand beschrieb. Ihr war ein Teil von sich genommen worden... sie brauchte etwas, das jetzt den Schmerz des Verlustes vertrieb. Sie brauchte ihn. Sie seufzte leise, dann stand sie auf. Sayuri wusste, ihre Mutter besaß den Schlüssel; der war nun für gewöhnlich, seit sie das Büro für sie aufgesperrt hatte, um die Bücher zu holen, in ihrem Schlafzimmer. Ihre Mama war gerade nicht zuhause... aber warum sollte sie warten, bis sie wiederkam? Sie würde ihr wohl eher verbieten, dort nach etwas zu suchen... zwar hatte sie ihr immerhin seine Bücher wiedergegeben, aber sie machte nicht gerade den Eindruck, als hätte sie mit ihr und sich ihren Frieden geschlossen. Sie redete immer noch nicht über ihn. Sie zeigte ihr immer noch keine Fotos... Warum also sollte sie erlauben, in sein Allerheiligstes zu gehen? Sein Büro? Um dort ein Abschiedsgeschenk für sie zu suchen? Sie wusste nicht, warum, aber sie wollte ihr das so auch nicht sagen. Nicht, bevor sie es nicht gefunden hatte. Sie sollte es allein suchen, das hatte ihr Vater ihr so gesagt. Und sie wollte es auch allein suchen. Langsam trat sie von einem Bein aufs andere. Sie wollte ihrer Mutter nicht auf die Nase binden, was ihr Vater ihr im Vertrauen erzählt hatte. Worum er nur sie gebeten hatte. Sie, seine Tochter, sollte nach diesem Geschenk suchen. Niemand sonst. Also machte sie sich wohl am besten gleich daran, hoffte, dass sie den Schlüssel gerade wirklich nicht bei sich trug und sie sich die Fummelei am Türschloss mit einer Haarnadel sparen konnte. Sie tappte aus ihrem Zimmer, den Gang entlang, eine Tür weiter, betrat das Schlafzimmer ihrer Mutter... ihrer Eltern. Es fühlte sich falsch an, hier drin zu sein, ohne das Wissen ihrer Mutter... aber sie wollte ja nicht ihre Schränke durchwühlen. Und der Schlüssel, den sie suchte, lag in einer kleinen Schale auf der Spiegelkommode. Sehr schön. Dann mal nichts wie auf ins Büro. Sie schloss die Tür sacht hinter sich, dann eilte sie ins Erdgeschoss hinunter, suchte die Tür, die einen Raum seit Jahren verschlossen hielt. Das Büro ihres Vaters. Langsam, fast ehrfürchtig, steckte sie den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn herum. Hörte das leise Klicken, als der Bart des Schlüssels einrastete, den Schließmechanismus außer Kraft setzte. Dann drückte sie die Tür auf. Staub wallte ihr entgegen, flirrte in Wolken im Licht, das durch einen Spalt in den Vorhängen vor den ebenfalls angestaubten Fenstern fiel. Sayuri tastete nach dem Lichtschalter, legte ihn um. Dann trat sie leise, vorsichtig ins Zimmer und blickte mit angehaltenem Atem um sich. Das ist es also... Ihr Hals wurde trocken, als sie sich einmal um ihre eigene Achse drehte, um den Raum auf sich wirken zu lassen. Das also war der Raum, in dem ihr Vater seine Fälle bearbeitet hatte. Das hier war das Zimmer... in dem seine Gedanken gekreist waren, in dem er wohl auch einen Großteil der Bücher geschrieben hatte... Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie ja nicht viel hiervon gesehen, umso mehr schlug sie die Atmosphäre dieses Raums jetzt in seinen Bann. Das hier war sein Zimmer. In der hinteren Hälfte stand ein Schreibtisch, groß, wuchtig, aus dunklem Holz; dahinter war ein Bürostuhl. Die drei Wände, an denen kein Fenster war, waren voll gestellt mit Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Und sie alle waren gefüllt mit Büchern und Aktenordnern. Auf dem Tisch lagen noch Blätter, verstaubt und vergilbt; ein paar alte Akten; eine Schachtel mit Stiften, ebenfalls überzogen mit einer flauschigen Staubschicht. Hier war wirklich seit fünfzehn Jahren niemand mehr gewesen. Sachte, um nicht zu viel Staub aufzuwirbeln, trat sie noch näher, fing an, zu überlegen. Wenn sie ihr Vater wäre... wo hätte sie ein Geschenk für ihre Mutter versteckt? Sie war sich zwar relativ sicher, dass es nicht in den Schubladen des Schreibtischs war, aber sie zog sie dennoch auf, warf einen Blick hinein. Die meisten waren leer geräumt. In ein paar lagen noch ein paar leere Blätter, ein paar Briefe, das eine oder andere Dokument. Kein Geschenk. Also... wo konnte man noch etwas verstecken? In dem Schrank, der neben der Tür stand, und damit die Regalwand unterbrach? Sie ging hin, öffnete die Türen und erschrak fast zu Tode als sie damit ein lautes Knarren und Ächzen hervorrief. Dann atmete sie durch, ließ ihre Augen über den Schrankinhalt wandern. An einem Karton blieb ihr Blick haften, neugierig zog sie ihn heraus, stellte ihn auf dem Boden ab. Vielleicht war es ja da drin? Auch wenn es etwas offensichtlich wäre... Als sie dann allerdings den Inhalt erblickte, stockte ihr Atem. Ganz zuoberst lag ein gerahmtes Foto; es zeigte ihre Mutter, die in einem Sessel saß und in die Kamera lächelte. Vorsichtig schob sie es zur Seite, um zu sehen, was sich darunter befand. Eine Stiftbox kam zu Vorschein; sie war fast leer, bis auf einen Plastikkugelschreiber und ein paar Bleistiften befand sich nichts mehr darin. Ein paar kleine Notizbücher lagen aufgestapelt in einer Ecke. Sie nahm eins heraus, schlug es auf. Tatort: Tiefgarage des Haido-Einkaufszentrums Opfer: Fumi Murakami, 21 Jahre alt, mittelgroß, schlank, braune Haare Todesursache: Sayuri glitt das Notizbuch aus ihren kalten Fingern, als ihre Augen blicklos in die Ferne zu starren begannen. Es landete wieder im Karton, wobei es eine kleine Staubwolke aufwirbelte. Das waren die Arbeitsnotizbücher ihres Vaters gewesen. Die Büchlein, wo er sich die Fakten und Theorien seiner Fälle notierte. Sie schluckte. Langsam dämmerte ihr, was das hier für eine Kiste war. Sie kramte noch ein wenig weiter, fand eine Pfeife, stutzte kurz, als ihr dann die Erklärung einfiel. Ihr Vater war zwar Nichtraucher gewesen... aber Sherlock Holmes Fan. Es war daher wohl kaum verwunderlich, dass er ein Accessoire seines Idols als Glücksbringer in seinem Büro im Revier gehabt hatte. Denn das war es, was in dieser Kiste war... hier drin waren seine Sachen, die Dinge, die ihm von seiner Arbeit als Detektiv geblieben waren. Und mit dem Blatt Papier, das sie als nächstes fand, wurde diese Ahnung bestätigt. Es war die Kopie seiner Kündigung. Sie schluckte, seufzte leise. Dann faltete sie das Blatt wieder, steckte es in die Kiste zurück und räumte sie zurück in den Schrank. Hier war das Geschenk für Mama bestimmt nicht. Sie musste wohl oder übel weiter suchen. Sayuri seufzte, stand wieder auf. Außer vielen Aktenordnern schien nichts mehr im Schrank zu sein. Langsam drückte sie ihren Rücken durch, streckte sich. Wenn sie sich bewegte, konnte sie immer schon besser nachdenken. Sie versuchte, sich den Wortlaut seines Eintrags noch mal ins Gedächtnis zu rufen, und stutzte dann. Wie war das gewesen? Sie solle mit den Büchern aufpassen? Warum sagte er ihr das extra? Es hätte doch an und für sich gereicht, wenn er sie gebeten hätte, kein Chaos zu veranstalten, was er ja auch getan hatte. Warum erwähnte er die Bücher noch mal? Die Augenbrauen grübelnd zusammenziehend schaute sie sich um. Bücher. Hmmmmm... Sie klopfte sich mit ihrem Zeigefinger gegen ihr Kinn. Es gab genug davon hier, und ja, es waren wohl einige wertvolle Stücke dabei... Konnte man in einem Buch ein Geschenk verstecken? Wie flach war denn sein Geschenk? Sie seufzte, zermarterte sich ihr Hirn. Da sie kaum erraten würde, was er für ihre Mutter besorgt hatte, begann sie, zu überlegen, welches Buch er wohl wählen würde, um darin etwas zu verstecken. Es musste etwas sein, worauf sie auch kommen konnte. Etwas, wovon sie wusste. Gut, er war Sherlock Holmes Fan. Er hatte Conan Doyles Romanfigur ja förmlich angebetet. Sayuri atmete aus. Gut, dann fing sie eben an, nach diesen Büchern zu suchen... einen anderen Anhaltspunkt gab es nicht. Sie stieg umsichtig über den Teppich, hin zu den Regalen, schritt sie langsam ab, wobei sie ihre Augen über die Buchrücken gleiten ließ. Ein leiser Triumphschrei entfloh ihrer Kehle, als sie das richtige Regal gefunden hatte. Es war voll mit Holmes-Büchern in den unterschiedlichsten Ausgaben und Auflagen. Okay... ja, du warst ein echter Fan. Sie grinste leicht. Ein Versteck in einem Buch? Hm... Vielleicht. Aber... In welchem Buch? Welches Buch könnte er dafür genommen haben...? Sie legte sich Daumen und Zeigefinger ans Kinn, umschlang mit dem anderen Arm ihren Bauch, starrte die Bücher an, als würde eines ‚Hier!’ schreien, wenn sie nur lange genug wartete. Was wusste sie über ihren Vater im Zusammenhang mit Holmes? Er war ein großer Fan gewesen ja, das war offensichtlich, und das hatte er auch zugegeben. Und er hatte ihr ein Buch geschenkt, unter ihren Geburtstagsgeschenken war eins dabei gewesen; und eins hatte Onkel Heiji von ihm. Ihrs war... sie überlegte... Wie war der Titel gewesen? Das Zeichen der Vier. Und das von Onkel Heiji war Eine Studie in Scharlachrot. Von beiden Bänden gab es mehrere Ausgaben. Sie seufzte, zog alle "Studien in Scharlachrot" heraus, weil sie vor dem "Zeichen der Vier" geschrieben worden war, soviel wusste sie; und begann, sie durchzusehen, stellte dann eins nach dem anderen zurück, als sie es leer fand. In keinem davon war ein Geschenk, ein Brief oder etwas in der Art. Außer im Letzten. Hier fiel ihr ein Zettel entgegen, mit den Worten: Du bist nah dran. Ihr Herz machte einen Sprung, ein breites Grinsen breitete sich auf ihren Lippen aus. Dann schaute sie sich die Bände von Das Zeichen der Vier an. Eins fiel ihr ins Auge. Es war groß, breit... offensichtlich eine Jubiläumsausgabe, ein Schmuckband. Mit Rotschnitt, dicken Blättern... wahrscheinlich auch vielen Illustrationen... Goldprägung auf dem Buchrücken... und es war doppelt vorhanden. Dass ihr das nicht aufgefallen war? Vielleicht, weil sie nicht nebeneinander standen... Sie zog den einen Band heraus, und wieder fiel ihr ein Zettel entgegen, als sie ihn aufschlug. Hier nicht. Sie schlug das Buch zu, das in der Tat aufwändig illustriert war, wie ihr auffiel, und stellte es zurück. Das konnte nur eins heißen. Nur eins. Ihre Finger zitterten vor Aufregung, als sie das andere Buch herauszog. Langsam klappte sie es auf und traute ihren Augen kaum; an und für sich war es fast ein Frevel, was sie hier sah - aber ein ideales Versteck. Da, wo Text und Bilder sein sollten, war nichts mehr. Er hatte in großes, rechteckiges Loch in die Seiten geschnitten. Von Außen sah es aus wie jedes andere Buch; aber es war hohl. Und in diesem Hohlraum befand sich ein eingewickeltes Päckchen. Sie nahm es heraus, stellte das Buch zurück, als sie plötzlich hörte, wie die Haustür zufiel und sich ihr eilige Schritte näherten. Dann stand Ran in der Tür, kreidebleich, unfähig, etwas zu sagen. Was dann kam, glich einem losbrechendem Donnerwetter. Sayuri hatte keine Gelegenheit, die Tür zu schließen oder zu verschwinden. Ihre Mutter atmete heftig, ihr Brustkorb hob und senkte sich hektisch, sie starrte sie an, aus schreckengeweiteten Augen, merkte, wie in ihr unbändiger Zorn hochkochte, als sie ihre Tochter in seinem Büro stehen sah. Sie hatte hier drin nichts verloren... Als sie die Tür offen stehen gesehen hatte... für einen Moment… ein paar dumme Sekundenbruchteile lang… Ran schloss die Augen, atmete durch. Dann brach es aus ihr heraus. „Was tust du hier?!“ Ran hätte schreien können, aber sie beherrschte sich noch soweit, ihre Stimme einigermaßen unter Kontrolle zu halten, so dass aus dem Schrei ein wütendes Zischen wurde. Sayuri hatte das Päckchen blitzschnell unter ihrem Pullover verschwinden lassen, schaute ihre Mutter an, fühlte, dass das hier wohl eine ungute Situation war. Jetzt war wohl kein guter Zeitpunkt, das Geschenk zu überreichen. Ihre Mutter war offensichtlich sehr wütend, und sie hatte keine Ahnung, wie sie sie besänftigen könnte. Ran war rot im Gesicht, trat einen Schritt näher. „N...nichts... ich wollte nur...“ „Ja, was? Du hast hier drin nichts verloren! Das Büro ist nicht umsonst abgeschlossen!“ Ran schrie jetzt. Sie wusste, das war nicht okay, sie wusste, ihre Tochter hatte hier bestimmt nichts angestellt, und dass er wohl auch nichts dagegen hätte, wenn sie sich hier aufhielt, aber sie ertrug das nicht länger. Sie riss die Tür auf, gestikulierte wild nach draußen. „Raus!“ „Aber... Mama...“ Sayuri schluckte schwer. Sie wollte sich erklären, aber wusste nicht, wie. Sie verstand auch nicht, warum ihre Mutter gerade so ausflippte. „RAUS!“ Das Mädchen zuckte zurück. „Ich... aber... ich wollte doch nur...“, begann sie stotternd, merkte, wie sie sich schlecht zu fühlen begann. „Raus hier jetzt, Sayuri!“ Rans Stimme war wieder leise geworden, aber sie hatte um keinen Deut von ihrer Bedrohlichkeit verloren. Das Mädchen ließ den Kopf hängen, schlurfte langsam nach draußen, wagte nicht, ihrer Mutter in die Augen zu sehen. „Tut mir Leid...“ Sie fing an zu schniefen und schämte sich. Immer fing sie an zu weinen, auch wenn sie gar nicht wollte. „Geh auf dein Zimmer.“ Rans Stimme war brüchig. Sie wusste, sie reagierte hier total falsch; sie wusste es ja. Aber sie konnte nicht anders. Am ganzen Körper zitternd beobachtete sie ihre Tochter, die die Treppe nach oben schlich, dann ging sie selber ins Büro, nicht jedoch, ohne vorher draußen den Schlüssel abzuziehen. Drin angekommen lehnte sie sich gegen die Tür, sperrte ab, ließ sich in den Staub sinken und fing an zu weinen. Sayuri lief Kreise in ihrem Zimmer. Das Päckchen hatte sie unter ihr Kopfkissen gestopft, bevor sie in Tränen ausgebrochen war. Was war nur los hier? Was war nur los mit ihrer Mutter? Warum konnte sie nicht mit ihr über ihren Vater reden? Warum tickte sie immer so aus? Einmal ins eine Extrem, dann ins andere... sie kam anscheinend wirklich nicht klar damit, dass er tot war... und dass sie ihn jetzt langsam kennenlernte, in seiner Vergangenheit forschte. Tränen liefen ihr stumm übers Gesicht, aber keine Tränen vor Trauer oder Verzweiflung, sondern vor Wut. Sie war wütend auf ihre Mutter, die so stur, so uneinsichtig reagierte. Sayuri seufzte laut, schaute in ihre Kiste. Es war nur noch eins. Unwillig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Das vorletzte Buch hatte sie heute zu Ende gelesen, jetzt gab es nur noch dieses eine. Aber hier konnte sie es nicht lesen. Ihr fiel die Decke auf den Kopf. Langsam trat sie näher, nahm das Notizbuch ehrfürchtig aus dem Karton, betrachtete es lange. Dann griff sie nach dem Teddybären, dem Geschenk und einer Tasche, begann Sachen hineinzustopfen. Pullover, Hosen, wahllos irgendwelche Klamotten. Obendrauf legte sie eine Tafel Schokolade, dann ging sie in Bad, holte ihre Zahnbürste und einen Kamm, schulterte die Tasche, ging nach unten. Hörte ihre Mutter weinen und ignorierte es. Sie stieg in ihre Stiefel, warf sich ihre Jacke um und ging. Ran hörte die Haustür zufallen, aber regte sich nicht. Blieb allein in ihrem Kummer. Ein paar Minuten später klingelte es bei Professor Agasa. Seine Augen weiteten sich erstaunt, als er erkannte, wer auf seiner Schwelle stand. Wortlos trat er beiseite und ließ das Mädchen herein. Betrübt schaute der alte Mann sie an. Sie ähnelte in diesem Moment ihrem Vater mehr, als sie wahrscheinlich ahnte. Auch er war gekommen, wenn er es zuhause nicht mehr ausgehalten hatte... und genau das schien nun eben auch bei ihr der Fall zu sein. Sie flüchtete. Shiho, die gerade mit der Katze auf dem Arm aus ihrem Kellerlabor heraufkam, stutzte. „Sayuri? Was ist los...?“ Sie trät näher, schaute seine Tochter besorgt an. „Sayuri?“ Langsam streckte sie die Hand aus, strich ihr übers braune Haar, hob dann ihr Kinn, um ihr in die Augen zu sehen. Der Professor kam auch heran, nahm ihr die Tasche ab, bemerkte das Buch unter ihrem Arm. Die junge Forscherin seufzte, dann nahm sie den Kopf des Mädchens in beide Hände, schaute sie nachdenklich an. Ihre großen, blauen Augen schienen seltsam blicklos. „Sayuri, was ist denn? So sag doch was...“ „Kann ich ein paar Tage hierbleiben?“ Langsam schaute sie auf, langsam trat in ihre Augen wieder Ausdruck, kehrte Leben in sie zurück. „Kann ich bitte... bitte ein paar Tage hier bleiben... bitte? Nur bis ich... bis ich fertig bin... ich komm daheim nicht klar... Mama... sie... ich kann mit ihr nicht reden. Und Oma und Opa... zu ihnen will ich jetzt auch nicht, ich hab ihnen schon genug angetan, mit den Fotos und dem Besuch auf dem... dem...“ Tränen begannen aus ihren Augen zu quellen, als sie daran dachte, an dieses wühlende Verlustgefühl. Sie mochte Friedhöfe nicht. Es war zwar... eine schöne Geste, den Verstorbenen ein Denkmal zu setzen, aber gleichzeitig beschrieb dieses Mal eine Endgültigkeit, mit der sie nur schwer klarkam. Körperlich konnte sie ihm nicht näher kommen als das... aber eigentlich... eigentlich war sie ihm viel näher, wenn sie seine Bücher las. Wenn sie an ihn dachte, ihn auf Fotos sah... in ihr tobte immer noch das schlechte Gewissen, dass sie ihrem Großvater das angetan hatte. Sie hatte nicht ahnen können, dass er so reagieren würde, aber... Aber... Der Professor schaute sie an, dann seufzte er leise, strich ihr fürsorglich die Tränen aus dem Gesicht. „Natürlich kannst du bleiben, Sayuri. Bleib, solange du willst...“ Sie nickte nur, dann ließ sie sich brav von ihm ins Wohnzimmer auf die Couch verfrachten, gefolgt von Ai, die um Sayuris Knöchel strich, während Shiho das Gästezimmer vorbereiten ging. Und heute Abend würde irgendwer Ran informieren müssen. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. Das alles hast du nie gewollt, nicht wahr? Glanz ----- Meine lieben, sehr verehrten Leserinnen und Leser! Einen schönen Abend wünsch ich euch :D Ich denke, hierzu ist nicht mehr viel zu sagen… ich hoffe, ich habs nicht zu schlecht gemacht. ^^; Auf alle Fälle hab ich mich angestrengt, ich wünsche viel Vergnügen mit unserem allseits beliebten Magier und Dieb ;D Ansonsten bleibt mir nur noch zu sagen, dass ich mich sehr für die letzten Kommentare bedanken will! Ehrlich, es hat mich sehr gefreut, dass euch das Kapitel gefallen hat! Vielen, vielen, viiiielen Dank! :) Viel Spaß beim Lesen, bis nächste Woche! Eure Leira :D ______________________________________________________ Kapitel 18: Glanz Vergangenheit Ran seufzte, saß mit allen anderen um einen Tisch. Man hatte ein paar Sandwiches machen lassen, besprach die Lage. Sie war zwar kritisch, aber noch nicht aussichtslos; KID hatte laut der rund um das Haus lückenlos postierten Wachen das Anwesen noch nicht verlassen; kein weißer Gleiter war am Firmament gesichtet worden, und es fehlte auch keiner der Polizisten - also war keiner gegangen oder verschwunden, weder er, noch jemand anderes. Er versteckte sich also noch irgendwo hier drinnen. Sie seufzte erneut, griff sich ein Sandwich und begann es zu verspeisen. Ihre Schwangerschaft forderte einfach ihren Tribut, auch wenn ihr nicht so sehr nach Essen war. Besorgt warf sie ihrem Mann einen ernsten Blick zu; er saß da, schaute von einem zum anderen und schien einigermaßen nervös zu sein. Ran legte den Kopf schief. Sie wusste nicht warum... aber er kam ihr anders vor. Verändert. Komisch. Genau festmachen, woran es lag, konnte sie es nicht... aber der Mensch neben ihr kam ihr fremd vor, obwohl er doch so vertraut schien. Er verhielt sich nicht wie Shinichi, irgendwie. Er zeigte es nicht, versuchte, es zu überspielen aber er war doch... unsicher... auf gewisse Weise. Shinichi versuchte zu sehr, er selbst zu sein, war es das? Es klang paradox, aber Ran kam nur zu diesem Schluss. Er machte ihnen etwas vor. Shinichi war ein Nervenbündel, saß wie auf Kohlen, aber spielte ihnen allen den gelassenen Detektiven vor. Warum? Alle anderen hier zeigten doch auch Nerven. Erst Recht Nakamori, der sich gar nicht mehr einkriegen wollte und im Zimmer rumlief, dabei an einen immer roter werdenden Kopf bekam, sich heiser schrie und wüste Verwünschungen ausstieß... Sie konnte die berühmte Vene in seiner Schläfe richtig pochen sehen. Ganz im Gegenteil zu Shinichi, der die Ruhe selbst zu sein schien. Einzig und allein seine nervösen Finger und sein ausweichender Blick verrieten ihn. Lag es an KID, dass er sich so benahm? Schließlich hatte er sich überrumpeln lassen... mit Sicherheit schämte er sich. Sie zog die Augenbrauen zusammen, beobachtete ihn. Das musste es sein. Bestimmt war es das. Als er aufwachte, war alles dunkel und alles still. Er bewegte sich träge, merkte, dass er sich in einem einigermaßen engen Raum befand; als er seine Arme zu beiden Seiten ausstreckte, berührten seine Finger kaltes Mauerwerk. Langsam stand er auf; wenigstens so groß war es hier drinnen. Angestrengt tastete er seine Umgebung ab. Er war umgeben von kühlen, harten Wänden. Hie und da etwas Glattes... manchmal etwas Reliefartiges... Kanten... und er spürte unterschiedliche Materialien. Stein; und Metall. Holz. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Er griff in die Taschen seiner Jacke um nach einem Feuerzeug zu suchen, hoffte, dass er eins einstecken hatte, stutzte. Seine Finger ertasteten etwas. Es war kein Feuerzeug. Langsam atmete er aus. Das war seltsam. Es war etwas Hartes, Facettiertes, Tropfenförmiges. Er erstarrte, als sich die Erkenntnis in seinem Kopf manifestierte. Ein Stein. Ein geschliffener Stein. Und er mochte wetten, dass er rot war. Die rote Träne... den blutroten Diamanten. Der Stein war in seiner Jackentasche. Er steckte ihn wieder ein, stand dann auf, ging mit ausgestreckten Armen durch den Raum, um herauszufinden, wo er war. Und dann wusste er, wo er sich befand. Er hielt den Atem an, als ihn die Erkenntnis traf. In einer Kammer des Mausoleums. In einem Grab. Beziehungsweise einer Grabkammer... ein kleiner Nebenraum zum großen Hauptsaal. Genauso wie Sachiko. Er hatte ihn eingesperrt, er war gefangen, genauso wie sie es gewesen war! Ohne Zweifel... er war in einer der Kammern, und das, was er fühlte, waren die Wände, und hie und da metallene Namensplaketten, verziert mit Reliefs und Inschriften. Was für ein irrer Scherz. Er fing an zu lachen, hörte allerdings recht bald auf damit. Ein Schauer rann ihm über den Rücken, unruhig blickte er um sich. Dann betastete er seinen Kragen, sein Ohr, und bestätigte sich, was er schon geahnt hatte. Er brauchte die Tür, durch die er hereingekommen war. Er musste versuchen, hier rauszukommen, das war der einzige Weg. Langsam begann er sich an der Wand entlang zu tasten. „Also schwärmen wir aus, ja? Suchen wir jeden Winkel ab... irgendwo muss er sein. Irgendwo muss er sich verstecken.“ Nakamori war aufgestanden, sein Bart zitterte verdächtig. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „IRGENDWO MUSS ER SICH VERSTECKEN, DIESER ELENDE BASTARD!!!! UND ICH WERD’ IHN KRIEGEN!!!! DAS WIRD ER BEREUEN! SO ZUM NARREN KANN ER MICH NICHT HALTEN! MICH NICHT! MICH NICHT!!!!!!!!!!!!“ Ran und die anderen wichen zurück. „Also teilen wir uns auf?“, meinte Meguré sachlich, räusperte sich vernehmlich. „Wir können uns ja jetzt sicher sein, dass er keiner von uns ist... wir müssen nur noch herausfinden, wo er steckt, dann haben wir ihn.“ „UND DANN IST ER FÄLLIG!!!!!“ „Kollege Nakamori, so beruhigen Sie sich doch...“, versuchte Meguré den Mann zu beschwichtigen. „Ich werde ihn kriegen... und dann wird er... wird er...!!!“, knurrte der Kommissar, schien Meguré gar nicht zu hören. „Und er wird sich wünschen, sich nie mit mir angelegt zu haben...!!!“ Meguré seufzte, schaute ihn mitleidig an. „Ja, schon gut...“ Alle anderen nickten. „Gut. Dann schwärmen wir aus. Ran, du gehst wieder in den Wagen. Leider können wir von den anderen keinen bitten, herzukommen... ich glaube, die restlichen Männer sind draußen am besten stationiert. Sollten wir ihn aus seinem Loch scheuchen, dann werden sie ihn mit Sicherheit schnappen.“ Alle nickten. Ran warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu. „Ich will nicht in den Wagen.“, beschloss sie stur. Irgendwie fühlte sie sich nicht wohl. Irgendetwas war nicht okay. Er bemerkte ihren Blick, lächelte sie an. „Mach dir keine Sorgen. Ich krieg ihn schon. Geh du nur, ruh dich ein wenig aus.“ Sie schaute ihn an. „Ich will aber bei dir bleiben.“, sagte sie dann bestimmt. Ihre Augen fixierten die seinen. Kurz flackerte ein erschrockener Ausdruck über sein Gesicht. „Nein, das ist nichts für dich. Mir wäre lieber, du gehst in den Wagen.“ „Nein.“ „Aber du brauchst deine Ruhe! Du bist schwanger.“ „Ach nee... brillant deduziert, was hat mich verraten? Ehrlich, das wär mir noch gar nicht aufgef-...“, begann sie, aber weiter kam sie nicht, denn er war aufgestanden, zog sie hoch, stellte sie vor sich hin und begann, sie aus dem Raum zu schieben, übergab sie der Obhut eines Polizisten, der sie nach draußen begleitete. „Keine Diskussion jetzt. Du wartest im Wagen.“ Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Sie blinzelte ihn an. Was ging hier ab? Unwillig ließ sie sich vom Polizisten wegführen, der ihren Arm stützend umfasst hatte, was ihr mächtig gegen den Strich ging. „Mach dir keine Sorgen!“, rief er ihr hinterher. Sie schaute ihn nur in stummem Protest an, aber ließ sich zum Wagen bringen. Er seufzte zufrieden; dann wandte er sich an Meguré. „Ich würde gern im Mausoleum anfangen, wenn sie nichts dagegen hätten, weil ich gern da anknüpfen würde, wo’s angefangen hat. Vielleicht hat er ja gehofft, wir lassen die Tür offen und er versteckt sich doch noch da unten. Und...“, er warf einen schrägen Blick auf Nakamori, „allein zu sein, wäre ganz nett. Damit ich mich konzentrieren kann.“ Meguré verstand und nickte zustimmend. Nakamori schaute in finster an, machte ganz den Eindruck, als würde er das nur über seine Leiche gestatten. „Warum allein? Allein ist mir gar nicht Recht. KID könnte überall sein...! HEY!“, begann er von Neuem, sich aufzuregen. Meguré überhörte ihn, klopfte seinem Exkollegen auf die Schulter, dann wandte er sich an den Rest der Truppe, bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, aufzustehen. „Dann also nichts wie los! Auf was warten wir noch?“ Er trat immer wieder mit den Füßen gegen die Tür, rüttelte an der Klinke, ärgerte sich ohne Ende. Das konnte doch nicht war sein, wie hatte ihm das passieren können? Er hatte wirklich geglaubt, er hätte alles bedacht. Nun. Wenigstens hatte er den Stein, das war doch schon mal etwas. Ein weiteres Mal stieß er seinen Fuß gegen solides Holz, dann durchsuchte er seine Jackentaschen nach etwas Nützlichem; und fand es in Form eines Schlüsselrings, an dem die Schlüssel der Handschellen hingen, die in seiner anderen Jackentasche waren. Die Handschellen hatte ihm heute Nachmittag Meguré noch in die Hand gedrückt- für alle Fälle, wie er gemeint hatte. Mit diesem Fall hatte er bestimmt nicht gerechnet. Ein breites Grinsen erblühte auf seinen Lippen, als er den Ring aufbog, sich am Türschloss zu schaffen machen begann. Ran saß neben einem Polizisten, als ihr einfiel, was ihr komisch vorgekommen war. Shinichi hatte doch Hunger gehabt. Warum hatte er nichts gegessen? Warum hatte er nichts gegessen... eigentlich verdarb so schnell nichts seinen Appetit und er konnte sich auch besser konzentrieren, wenn er nicht hungrig war. Sie zog die Augenbrauen zusammen. Diese Nervosität... diese betonte Coolness... Und er hatte sie partout loswerden wollen. Auch das war komisch gewesen. Sie blinzelte. So war er nicht. Erst Recht nicht, seit er wusste, dass sie unbedingt in seiner Nähe bleiben wollte. Shinichi hätte sie nicht so rücksichtslos weggeschickt. Nie im Leben. Und auf alle Fälle hätte er sie persönlich zum Einsatzwagen begleitet, wenn er sie überhaupt aus den Augen gelassen hätte, wo KID doch hier rumlief... Ein unguter Verdacht keimte in ihr auf. Dann zog sie das Mikro zu sich, um seinen Transmitter zu kontaktieren... versuchte es mehrere Male. Ohne Erfolg. Entweder hörte Shinichi den Emitter nicht, oder er hatte ihn nicht mehr. Rans Augen weiteten sich vor Entsetzen. KID! Es krachte, als er die Tür endlich aufstieß. Langsam ging er raus, schnappte erleichtert nach Luft, schaute sich um. Keiner da. Er würde ihm das heimzahlen. Oh ja, ganz sicher. Shinichi Kudô sperrte man nicht einfach so in eine Grabkammer. Ein leises Knurren verließ seine Kehle. „Nicht mit mir, mein Lieber. Aber warte nur, bis du kommst…“ Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen, als er seine Finger in seiner Tasche um den Stein schloss. „Das war leichtsinnig von dir. Aber eine andere Wahl blieb dir nicht, was?“ Dann hörte er Schritte; er machte die Tür schnell wieder zu, die mit einem lauten Klicken einrastete, rannte hinter den weinenden Engel und wartete mit angehaltenem Atem. Und dann sah er ihn kommen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er sah, wie zielstrebig er auf die Kammer zuging. Sie öffnete. Und sie leer vorfand. KIDs Gesichtszüge entgleisten. Licht fiel von Außen deutlich in die Grabkammer. Durchflutete den kleinen Raum... es gab keinen Winkel, wo er sich hätte verstecken können. Und damit auch keinen Zweifel. Er war ausgebrochen. Er war aufgewacht und entkommen! Und mit ihm der Red Teardrop! Pfeifend atmete er aus. Er hatte ihn schon wieder unterschätzt. Shinichi verkniff sich ein Lachen, als der die fassungslose Mine seines Gegenübers sah. Nach war nicht aller Tage Abend; noch hatte er ihn nicht. Aber bald. Lässig trat er um die Statue herum, fischte den Stein aus seiner Tasche, hielt ihn ins Licht. „Suchst du mich?“ Kaito fuhr herum. „Oder den hier?“ Kaito kniff seine Augen zusammen, trat näher. „War wohl nicht genug Schlafmittel.“, meinte er trocken, lächelte missvergnügt. „Anscheinend nicht.“ Shinichi warf den Diamanten in die Luft, beobachtete KIDs Blick, der dem funkelnden Stein folgte, fing ihn wieder auf und ließ ihn in seine Tasche gleiten. Die Augen des Diebes blieben an der Tasche haften. „Und du hast was vergessen, in der Aufregung.“ Er zog das Stückchen Draht hervor, warf es ihm vor die Füße. „Du hättest mir die Handschellen und die Schlüssel abnehmen können. Oder mich gleich damit fesseln. Nun; du hast es nicht getan.“ Er lächelte. „Man dankt.“ Kaito atmete entnervt aus. „Warum kannst du mit einem Stück Draht ein Schloss knacken, verdammt??? Du bist einer von den Guten!“ Er schaute ihn angesäuert an. Shinichi lächelte vergnügt, ging allerdings nicht auf seine Frage ein. „Und außerdem... ich wollte dich auch fesseln. Nur wurde die Zeit leider etwas knapp... Der Alte brauchte verdammt lange, bis er endlich restlos umgekippt is, solange musste ich aufpassen, dass er in seinem Delirium nicht abhaut und Hilfe holt und dann hörte ich schon Schritte...ich konnte dich nicht durchsuchen, war froh, dich überhaupt in die Kammer gekriegt zu haben, bevor Nakamori gekommen ist und sein Herz mal wieder strapaziert hat.“ Er lächelte fast entschuldigend. „Er muss ja einen Riesenterz gemacht haben, als du mal wieder einen Alleingang gemacht hast...“ Der Schalk blitzte in KIDs Augen. Shinichi seufzte leise, ging ein paar Schritte nach vorn. „Du hast wirklich fast alles bedacht. Wirklich clever diesmal.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust, verzog das Gesicht. „Unfair, aber clever. Deshalb hast du dir wohl beim Rätsel diesmal etwas weniger Mühe gegeben? Seien wir ehrlich, es war lächerlich einfach. Du brauchtest deine Energien und deine Zeit wohl für etwas anderes...?“ Um meine Verhaltensweisen zu studieren, vielleicht? Kaito zuckte charmant lächelnd mit den Schultern. „Vielleicht wollte ich auch sicher sein, dass du es wirklich knackst?“ Shinichi warf ihm einen finsteren Blick zu. „Pass auf was du sagst, Taschendieb.“ Der Dieb verzog beleidigt das Gesicht. „Das aus deinem Mund zu hören tut weh. Aber...jaaa... schon gut... Tut mir ja Leid, wenn ich dich unterfordert habe, Holmes. Aber der Rest war doch klasse, oder? Einer meiner brillanteren Einfälle... dass muss ich schon sagen.“ „Ja, wirklich ganz toll.“ Shinichi stieß sich von der Engelsstatue ab, lächelte säuerlich, applaudierte verhalten. „Ich bin schlichtweg begeistert, wie du siehst. Du hast dich zuerst als Sachikos Freund ausgegeben, um die Lage zu peilen, die Örtlichkeiten auszuspionieren und dann mit ihr allein zu sein, um an die Schlüssel zu kommen und sie ohne Probleme außer Gefecht zu setzen; dann hast du dich als Sachiko selbst verkleidet unter uns gemischt, um an mich ran zu kommen, von dem du wusstest, ich würde hier sein, und ihr als Statuenbesitzerin wohl höchstwahrscheinlich nicht abschlagen, zu ihrem Schatz in die Gruft zu steigen... im Mausoleum hast du uns dann alle schlafen geschickt, Sachiko wieder zurückgeholt, die, wie ich annehme, auch in einer dieser Kammern lag...?“ Kaito nickte. „Dann hast du dich für mich ausgegeben; und weil du wusstest, man würde uns alle filzen, hast du den Stein bei mir gelassen... und gewartet, bis man logischerweise nach dir sucht, um dann vorzuschlagen, allein hierher zukommen, was man mir ja ohne weiteres gestattet. Dann wolltest du den Stein holen und schlussendlich entkommen. Dazu hätte ich eine Frage. Wie kamst du an die Klamotten?“ Er warf einen prüfenden Blick auf KID, der haargenau die gleichen Sachen trug wie er. Der Meisterdieb lächelte gewinnend. „Wie du ja schön herausgefunden hast, war ich schon eine Weile hier. Ich sah dich ankommen, studierte, was du trägst, hab heimlich Fotos geschossen und dann bin ich heute Nachmittag, als ihr diskutiert habt, kurz Shoppen gewesen.“ Shinichi hob anerkennend die Augenbrauen, trat näher. „Brillant. In der Tat. Und wäre dein Schlafmittel wirksamer gewesen, hätte es wohl auch funktioniert. Ich muss sagen, das nervt mich etwas.“ Er verzog das Gesicht ein wenig pikiert, nickte aber dann anerkennend. „Aber die Wirkung hat ja nicht ganz so lange angehalten, wie du gehofft hattest, nicht wahr?“ „Ich dachte auch eigentlich, ich könnte früher wieder hier sein. Aber dann hatten auf einmal alle Hunger, und es wurde ewig palavert… und dann kam noch dein geliebtes Frauchen, die ein ganz klein wenig rumgezickt hat, als ich sie in den Einsatzwagen zurückschicken wollte... Meine Güte, wie hältst du das aus, die lässt einen ja gar nicht mehr allein…“ Der Dieb seufzte theatralisch, deutete eine traurige Verbeugung an. „Tja. Das nennt man dann wohl Künstlerpech. Sag mal, Kudô... gibst du mir den Stein, wenn ich ganz lieb Bitte sage?“ „Nein.“ Shinichi lächelte kühl. „War zu erwarten. Nun. Dann eben nicht... so muss ich ihn mir eben ein anderes Mal holen. Wäre ja nicht das erste Mal, dass ich nach einem Treffen mit dir mit leeren Händen heimkomme. Um ehrlich zu sein, damit rechne ich, sonst würde es doch irgendwie keinen Spaß machen… aber das nächste Mal lade ich dich nicht mehr ein, du bist und bleibst ein Spielverderber. Ich komm sonst einfach nicht voran.“ Er grinste. „Nichtsdestotrotz war es sehr amüsant; es war das Warten auf alle Fälle wert.“ Sein Grinsen wurde noch breiter, er deutete eine spöttische Verbeugung an. „Nun denn; auf bald!“ Er hob die Hand; und Shinichi wusste, was kam. Schnell duckte er sich hinter die Statue, damit der Lichtblitz ihn nicht blendete, dann begann er zu laufen, durch die Nebelwolke, die sich zusammen mit dem Blitz gebildet hatte, folgte dem Klang der Schritte, die sich laufend von ihm entfernten. „Bleib stehen!“ Er rannte durch die Halle, rutschte fast aus auf dem spiegelglatten Marmor. Vor ihm rannte KID, jetzt wieder klassisch in Weiß, in Frack und Zylinder, durch eine Tür, die in eine kreisrundes Treppenhaus führte. Dies war offensichtlich der Turm des Hauses. Von außen hatte man ihn gut sehen können. Er schaute sich um; anscheinend hatte keiner sonst sie gehört, und er hatte jetzt keinen Atem, Ran zu informieren, die im Einsatzwagen wartete. Shinichi stürmte hinterher, die Wendeltreppe hinauf. Es gab jetzt nur noch ihn und KID. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Das war eigentlich genau nach seinem Geschmack. Dann wurde es plötzlich hell; offensichtlich waren sie oben angekommen. KID stand bereits auf dem Geländer der Terrasse auf diesem Turm, als Shinichi durch die Falltür ans Licht tauchte. Neben den Sternen leuchteten ein paar Schweinwerfer, die der eitle Herr Kawasaki hier wohl installiert hatte, um seine Häuschen auch nachts perfekt in Szene zu setzen. Shinichi schnappte nach Luft, hielt sich die Seite. Er wusste, KID war so gut wie weg. Der Magier stand da, dieses überhebliche Lächeln auf seinen Lippen, sein Umhang flatternd im Wind, sein Zylinder thronte auf seinem Kopf und das Monokel hing wie immer in seinem Auge. Ein wahrhaft theatralischer Anblick. Er fragte sich, wie Kid es immer wieder in Sekundenbruchteilen schaffte, in sein Outfit zu wechseln, aber das blieb wohl sein Geheimnis. Shinichi wollte ihn nicht entkommen lassen. Das war seine letzte Chance, diesmal wollte er ihn kriegen, unbedingt. Zögernd griff er in seine Jackentaschen, holte den Stein heraus. Gut, er hatte wenigstens den Diebstahl verhindert. Tat er das, was er zu tun gedachte, und lief es schief... hätte nicht mal das geschafft. Ging sein Plan auf, konnte er endlich zu Ende bringen, was er so lange schon beenden wollte. Er seufzte. Mäuse fängt man mit Speck. Fliegen fängt man mit Honig. Diebe fängt man mit Diamanten... Er fischte den Stein heraus, hob ihn in die Luft, damit KID ihn sehen konnte. „Gut, ich habs mir überlegt. Komm und hol ihn dir. Du kannst prüfen, ob es der Stein ist, den du suchst.“ Ran schlüpfte aus dem Wagen, schaute sich hektisch um. Sie wollte gerade wieder zurück ins Haus eilen, nach Shinichi suchen, als ihr etwas auf dem Turm ins Auge fiel. Ein weißer Umhang. Sie blinzelte, versuchte, genauer hinzusehen. Sie wusste schon, wer es war, bevor sie ihn wirklich erkannte. KID stand auf dem Geländer; und dann sah sie ihn, der sich ihm näherte. In seiner Hand funkelte es einmal kurz rot auf. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, als sie ihre Arme um ihren Oberkörper schlang und dem Schauspiel zusah, dass sich ihr bot. Das arrogante Lächeln fiel KID förmlich aus dem Gesicht, als er diesen einen Satz hörte, starrte erschrocken, fassungslos dem Detektiv ins Gesicht; und diesen Moment der Unachtsamkeit nutzte Shinichi aus. Er rannte hin, zog ihn vom Geländer, drückte ihn dagegen. Kaito atmete schnell und keuchend. Er hatte ihn überrumpelt. Gelinkt. Was weißt du... was weißt du über den Stein...?! Über meine Suche? Wie viel weißt du und woher?! Shinichi starrte ihn an. Lange. „Du bist auf der Suche nach dem Stein der Pandora. Nach den Mördern deines Vaters. Aber selbst wenn dein Wunsch nach Rache sich erfüllt... dein Vater wird dadurch nicht mehr lebendig, Kaito.“ Er sagte es sehr, sehr leise. Ein Wispern, kaum zu hören. Der Wind blies hier oben so stark, dass er ihm förmlich jedes Wort von den Lippen riss. Kaito ächzte. Wie hatte das passieren können? Das war nicht geplant! Er hatte damit gerechnet, dass der Diebstahl eventuell nichts wurde... weil das... bei Kudô eigentlich die Regel war... aber nicht, dass man ihn fasste! Und nicht, dass er es wusste! Dass er das alles wusste! Er stand mit dem Rücken zur Wand, spürte kalte Metallstäbe unter seinen Fingern. Kudô nagelte ihn fest, ließ nicht locker. Er merkte, wie sich eine Handschelle um sein linkes Handgelenk schloss, hörte es klirren, als der andere Ring um eine Stange des Eisengeländers gelegt wurde. Shinichi trat zurück, sah wie er daran zog und zerrte, Panik in ihm hochstieg. Dann rief KID sich zur Raison, atmete tief durch, lachte gekünstelt spöttisch. „Sieh an. Sieh an! Du hast mich. Freust du dich jetzt? Dieser Holmesverschnitt Saguru wird ganz schön neidisch sein, immerhin hoffte ja er immer, dass er der erste ist, der mich kriegt. Genieß deinen Triumph, Detektivlein. Und jetzt hör auf mit den Spielchen, ich finde das jetzt nicht mehr lustig.“ Shinichi zog die Augenbrauen zusammen. „Ich fand das mit der Grabkammer auch nicht witzig, Kaito.“ Seine Stimme klang schneidend kalt, doch dann fing er sich wieder. „Aber nun... wie konntest du es wissen? Lassen wir das.“ KID schaute ihn verwirrt an. Der Sinn seines letzten Satzes erschloss sich ihm nicht. Shinichi indessen lächelte ihn wieder triumphierend an. „Denn jetzt, Monsieur le voleur, kommt, worauf ich mein Leben lang gewartet hab.“ Er lachte, dann trat er nach vorne, zog ihm mit einer Hand das Monokel aus dem Auge, den Zylinder vom Kopf, ließ seine Augen über das Gesicht seines Gegenübers gleiten, trat einen Schritt zurück. „Faszinierend.“, meinte der Detektiv leise. „Du siehst in der Tat aus wie ich, Kuroba.“ „Du weißt, wer ich bin?!“, platzte es aus Kaito heraus. „Seit wann?! Und woher zur Hölle weißt du soviel?“ Shinichi seufzte fast gelangweilt. „Aber ja doch. Ich weiß wer du bist.“, meinte er dann. „Spätestens seit du dich für mich ausgegeben hast, großer Fehler deinerseits. Auch noch alle prüfen zu lassen, dass du wirklich ich bist… fahrlässig, ehrlich. Es reichte, ein paar Schuljahrbücher zu durchstöbern und nach meinem Ebenbild zu suchen. In gewisser Weise überschätzt du dich wohl… Denn als ich wusste, wer du warst... wusste ich auch, wer dein Vater war. Meine Mutter hat bei ihm gelernt, wusstest du das? Das Maskieren hat sie von ihm. Und mein Vater hat sich mit ihm duelliert, war dir das bekannt? Im Grunde genommen führen wir hier nur etwas fort, das längst begonnen hat, einen Generationenkampf, sozusagen… Demzufolge fiel mir die Recherche nicht leichter... meine Eltern kannten ihn, noch dazu war dein Vater war berühmt, die Umstände seines Sterbens mysteriös... es weckte meine Neugier, und so hab ich geforscht, was du damit zu tun haben könntest. Warum du KID wieder zum Leben erweckt hast. Du weißt, ich hab Zugang zu den Fallakten... egal ob sie sich später als Unfall herausstellen oder nicht. Und nun... dann kam eins zum anderen. Ich bin Detektiv, es sollte dich nicht wundern, woher und dass ich es weiß. Und dass ich dich eines Tages schnappen und dir die Maske vom Kopf reißen werde, hab ich dir ja versprochen. Heute ist der Tag.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. Kaito KID starrte ihn an; dann lehnte er sich geschlagen gegen das Geländer. Dieses Mal hatte er verloren. Er hatte tatsächlich seinen Meister gefunden. „Also hast du mich... tatsächlich. Hängst du mich jetzt hin, Kudô?“ Seine Stimme zitterte. Shinichi schaute ihn erstaunt an. „Du hast tatsächlich Angst, ja?“ KID sah auf. „Was sonst solltest du wollen? Ruhm und Ehre für Japans Sherlock Holmes. Morgen wird es ganz groß in den Schlagzeilen stehen... Meisterdetektiv schnappt Meisterdieb. Ich werde zur Rechenschaft gezogen werden... man wird mich verurteilen und einsperren... und du hast die Welt wieder ein Stückchen gerechter gemacht.“ Seine Stimme klang schnippisch, spöttelnd, wie immer, aber die Furcht, die er spürte, schwang deutlich hörbar mit. „Die Welt ist nicht gerecht. Und ich kann sie auch nicht gerechter machen.“ Kaito zog die Augenbrauen zusammen; der Klang von Kudôs Stimme hatte ihn aufhorchen lassen. So bitter. Er klang so... so bitter. Shinichi schaute in den Himmel. „Was will ich mit Ruhm und Schlagzeilen... das alles bringt mir doch nichts. Was nutzt es mir, wenn du hinter Gitter kommst... du bist ein Dieb, aber kein Verbrecher. Du hast andere Motive als dich zu bereichern.“ Er seufzte leise. „Wusstest du, dass Sherlock Holmes auch nicht alle seine gefangenen Verbrecher der Polizei ausgeliefert hat?“ Shinichi lächelte, als er das verblüffte Gesicht seines Gegenübers bemerkte. „Aus deinem Gesichtsausdruck entnehme ich mal, nein, wusstest du nicht. Ist aber tatsächlich so. Bei denen, wo er annahm, dass sie genug bestraft seien, und sie ihre Untaten nicht wiederholen würden, machte er eine Ausnahme und ließ sie laufen.“ Kaito holte tief Luft. „Warum glaubst du, ich wäre genug bestraft?“ Shinichi grinste breit. „Du hättest dich grad eben sehen müssen, dann wüsstest du es. Die nackte Angst in deinen Augen.“ „Ich habe keine Angst.“, stritt der Dieb vehement ab. „Doch, hast du.“, erwiderte der Detektiv locker. „Und was für eine.“ Kaito kaute auf seiner Lippe. „Schön. Ich muss zugeben, die Aussicht auf ein Heim hinter schwedischen Gardinen verursacht bei mir kein akutes Gefühl unzügelbarer Vorfreude. Aber warum glaubst du, dass ich es nicht wieder tue? Nichts mehr stehle? Du kennst anscheinend meine Gründe, wie kannst du annehmen, ich würde aufhören mit meiner Suche? Ich will... ich will diese Leute zur Rechenschaft ziehen, sie haben meinen Vater ermordet, gerade du musst das doch verstehen...!“ Shinichi musterte ihn gelassen. „Ich verstehe es auch. Aber du hast mich nie verstanden.“ „Häh?“ Der Dieb schaute ihn verständnislos an. „Ich wollte nicht Rache, wie du. Nie. Ich wollte Gerechtigkeit.“ Shinichi begann, mit dem Monokel zu spielen. „Wo ist da der Unterschied?“, fragte Kaito desinteressiert. Der Detektiv schüttelte tadelnd den Kopf. „Es gibt einen großen. Rache... Rache geschieht aus niederen Beweggründen. Rache ist selbst ein niederes Gefühl. Vergeltung ist nicht das gleiche wie Gerechtigkeit. Gerechtigkeit... Wiedergutmachung... ist etwas ganz anderes. Es gibt einem wieder etwas zurück, im Gegensatz zur Rache. Nach dem du dich gerächt hast, bist du vielleicht für kurze Zeit zufrieden, aber lange wird dieses Glücksgefühl nicht halten; du wirst dich hinterher selber verachten, weil du dich von so einem verachtenswertem Gefühl hast leiten lassen. Gerechtigkeit ist anders. Ich habe mein Leben wiederbekommen... hätte ich Rache verlangt, wäre das nicht passiert. Ich hätte Gin... umbringen können. Oder den Boss. Aber ich hab’s nicht getan. Wie wäre mir dadurch geholfen gewesen?“ Shinichi schaute ihn gedankenverloren an. Kaito war nachdenklich geworden, während seiner Rede. Er warf einen Blick über die Brüstung. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis man nach ihnen suchte, sie entdeckte. Bevor das passierte, wollte er weg sein. „Manchmal ist das Licht der Sterne mehr wert als Glanz von Diamant, Kaito.“ Shinichi blickte gedankenverloren in den mondlosen Himmel. „Was meinst du damit, Tantei?“ Er hörte sich verwirrt an. Der Detektiv warf ihm einen kurzen Blick zu. „Du jagst eine Organisation, die deinen Vater getötet hat. Du glaubst, wenn du diesen Stein findest, Pandoras Stein... dann würdest du sie kriegen, seine Mörder. Könntest du ihn rächen. Jetzt frage ich dich, mein lieber Herr Magier…“ Er wandte sich ihm zu. „Ganz ehrlich, glaubst du, Kaito, er hätte gewollt, dass du dein Leben damit verbringst, einem Trugbild hinterher zu jagen... dein Leben zu riskieren? Denkst du, er würde für dich dasselbe tragische Schicksal wollen wie es ihm beschieden war? Du bist auf dem besten Weg dahin, das sag ich dir.“ Shinichis Stimme war ernst geworden. „Von Rache wird dein Vater nicht mehr lebendig. Rache nützt nichts... bringt dich nicht weiter. Lebe dein Leben, so wie er es sich für dich gewünscht hätte... und wenn du Gerechtigkeit willst, nicht Rache, dann wirst du sie finden, aber auf anderen Wegen wie die, die du schon eingeschlagen hast. Du kannst deinen Vater nicht wiederbekommen... Toichi Kuroba ist tot. Das... tut mir Leid für dich, aber Rache bringt dich hier nicht weiter. Rache zerstört dich. Rache bringt dich in diesem Fall ins Gefängnis oder sie bringt dir den Tod. Gerechtigkeit... wird diese Leute ihrer vorbestimmten Strafe zuführen, ohne dass du dafür bezahlst. Sei es nun mit deiner Freiheit... oder deinem Leben... oder deiner Seele.“ Er zückte den Schlüssel für die Handschellen, schloss sie auf und nahm sie ihm ab, ließ die metallenen Ringe langsam in seine Jackentasche gleiten, sich wohl bewusst, dass Kaito ihn anstarrte. „Denk darüber nach. Ich bitte dich.“ Dann trat er ein paar Schritte zurück, hielt kurz inne. „Bevor du jetzt gleich wieder deine Show abziehst, eins noch in eigener Sache, KID...“ Er schluckte. „Hast du... hast du’s gelesen?“ Shinichi biss sich auf die Lippe. „Was gelesen?“ Der weiß gewandete Dieb schaute ihn fragend an. „Frag nicht so dumm, du weißt, was ich meine. Das... das Buch. Das Buch, wo du deine Briefe reingesteckt hast, als du eingebrochen bist. Bitte sei ehrlich, einmal in deinem Leben, hast du darin gelesen?!“ Seine Stimme klang drängend. Kaito blinzelte, schaute ihn etwas überrascht an. Dieses Notizbuch schien ihm ziemlich wichtig zu sein. „Nein.“ Shinichi sah ihm forschend ins Gesicht, trat näher, ertastete mit einer Hand seinen Puls an der Halsschlagader, blickte ihn fest an. „Wirklich nicht?“ Kaito blickte ihm erschrocken ins Gesicht. „Nein. Ich schwörs dir, ich hab nicht darin gelesen.“ Shinichi atmete tief aus. Er log nicht. „Okay.“ Eine Welle der Erleichterung durchflutete ihn. „Okay...“ Der Detektiv räusperte sich. „Nun denn, das war es dann. Ich habe, was ich wollte. Machs gut… und lass nicht zu, dass dich deine Dämonen kriegen, so wie meine mich gekriegt haben.“ Er holte Luft. „Lebwohl, Kaito Kuroba.“ Damit drehte er sich um. „W... was...? Wohin gehst du? Kudô... Shinichi?“ Kaito verstand nicht, starrte ihn fragend an. „Was willst du damit sagen? Was bedeutet das? Hey!?“ Shinichi wandte sich um, schüttelte sacht den Kopf, warf ihm einen traurigen Blick zu, setzte sich wie zur Unterstreichung seiner folgenden Worte den weißen Zylinder seines Kontrahenten, den er immer noch in der Hand hielt, auf seinen Kopf. „Ums mit deinen Worten auszudrücken, und damit den Kreis am heutigen Abend zu schließen… der Faden, den Klothos für mich gesponnen hat, ist reichlich kurz… sie und ihre Schwestern haben sich für mich ein ziemlich makaberes Schicksal ausgedacht.“ Er nahm den Zylinder ab, verbeugte sich lächelnd, seine Augen blitzten; dann drehte er sich um, warf den weißen Hut hinter sich und ging. Stieg die Treppen des Turms wieder nach unten. Kaito wagte nicht, ihm nachzurennen, ihm auch nur hinterher zu rufen. Er ging nur zu seinem Zylinder, hob ihn auf. Und dann begriff er. Manchmal ist das Licht der Sterne mehr wert als Glanz von Diamant. Das Licht der Sterne… ihr Strahlen… wie schade wäre es, sie nicht mehr zu sehen, weil er bei einem seiner Raubzüge… gefangen würde. Oder getötet. Dass es möglich war, hatte Kudô ihm heute bewiesen. Auch wenn… Kudô ihn wohl das erste und letzte Mal gefangen hatte. Er hatte ihn laufen lassen, damit er eins begriff… durch die Suche, dieses Risiko, durch diese ewigen Diebstähle… würde er seinen Vater nicht wiederkriegen. Er hatte es ihm lang und breit genug erläutert. Vielmehr riskierte er, dass das, wonach er sich eigentlich sehnte, wirklich eintraf. Dass die Leute, deren Aufmerksamkeit er sich wünschte, sich wirklich mal um ihn kümmern könnten… und ihm auf ewig das Licht der Sterne versagten. Weil er so in den Glanz der Diamanten verrannt war, hatte er vergessen, dass es etwas noch Wichtigeres gab. Das Leben. Sein Leben. Kudô hatte Recht. Sein Vater hätte sicher nicht gewollt, dass er es auf diese Weise riskierte. Und er konnte ihn anders rächen. Auf andere Weise nach seinen Mördern suchen, ohne sich selber ständig zu gefährden. Konnte Gerechtigkeit haben, statt Rache. Er konnte ganz auf die Seite wechseln, auf der er schon mit einem Bein stand; er konnte einer der ‚Guten’ werden. Er würde die Mörder jagen, nicht sich selber jagen lassen. Aber der zweite Teil seiner Botschaft... Klothos’ Faden. Klothos gehört zu den Schicksalsgöttinen in der griechischen Mythologie. Wenn sie einen Schicksalsfaden beendet, dann stirbt ein Mensch. Sag nicht… sag nicht… du…? Der Faden, den Klothos für mich gesponnen hat, ist reichlich kurz… Kaito fing an zu zittern. Lass nicht zu, dass dich deine Dämonen kriegen, so wie meine mich gekriegt haben. … Er wagte den Gedanken fast nicht zu Ende auszuführen. Shinichi Kudô starb. Deshalb also… deshalb sah er so… so müde aus… so blass. Kudô Shinichi… Japans größter Detektiv musste sterben. Entsetzen packte ihn, er hob eine Hand, schlug sie sich vor den Mund, unterdrückte einen Aufschrei. Nein! Und wenn er den Satz… richtig deutete… dann durch die Hand der Männer in schwarz. Seine Dämonen. Es war das Gift - damals hatte es ihm eine zweite Kindheit geschenkt, und jetzt nahm es ihm das Leben. Seine Frau war schwanger, aber er würde nie eine Familie haben. Das Schicksal hatte es in der Tat schlecht mit ihm gemeint. Er schluckte, merkte, wie sich in seinem Hals ein großer Kloß bildete. Lebwohl, Kaito Kuroba… Dann hörte er eilige Schritte, wurde aus seinen Gedanken gerissen, wirbelte herum und begann zu laufen, sprang aufs Geländer, stieß sich ab – und flog. Hinter sich hörte er sie schreien. Eilig sah er sich um, suchte unter sich ein Gesicht - und fand es. Er blickte mit schräggelegtem Kopf zu ihm hinauf, hob eine Hand zum Gruß. Kaito schluckte, hob sie ebenfalls. Dann zog er ein Päckchen aus seiner Jacke. Ein Kartenspiel. Er öffnete es, ließ alle Karten über ihn regnen. Wie ein Schwarm Schmetterlinge flatterten sie zu Boden. Er hatte verstanden. Und Shinichi wusste, als er die Karten niederregnen sah, dass dies das letzte Mal war, dass ein weißer Gleiter den Nachthimmel durchschnitt. Dies war Kaito KIDs letzter Auftritt. Er lächelte. Zuerst nur leicht. Dann immer breiter, seine Augen begannen zu leuchten. Ran, die herangeeilt war, sah ihn stehen, folgte seinem Blick. Trat langsam näher, lehnte sich an ihm, schaute gemeinsam mit ihm in den Nachthimmel, verfolgte den Gleiter mit ihren Augen, bis sie ihn nicht mehr sah. Adieu, Kaito KID. Machs gut. Meguré rannte heran, folgte dem Blick seines ehemaligen Kollegen, sah den weißen Gleiter verschwinden. Verblüfft schaute er zu Shinichi, stutzte, als er das Lächeln auf seinen Lippen sah. Als KID endlich ins Dunkel der Nacht eingetaucht war, wandte sich Shinichi ab, sah das etwas verblüffte Gesicht des Kommissars. Um ihn herum lagen die Karten. Langsam bückte er sich, griff nach einer, schob sie ein. Dann wandte er sich zum Kommissar. „Das war sein letzter Streich. Sie werden von ihm nichts mehr hören.“ Meguré ächzte, setzte zu einer Frage an, aber Shinichi schüttelte den Kopf, griff in seine Jackettasche und holte den Stein heraus. „Und den sollten Sie seinen Besitzern zurückgeben.“ Kurz schaute er noch mal in den Nachthimmel. „Das war es dann... der wahrhaft letzte Auftritt. Guten Abend, Herr Kommissar.“ Er nickte ihm kurz zu, ließ den immer noch eher konsternierten Polizeikommissar stehen, griff nach Rans Hand und wandte sich zum Gehen. „Und? Was hast du jetzt getan, als du ihn hattest?“, fragte Ran, zog ungeduldig an seiner Hand. Shinichi lachte auf, zog das Monokel an seiner Kette aus seiner Tasche. „Ich hab ihm sein Monokel geklaut. Sagte ich doch.“ Sie starrte ihn an und fing ebenfalls an zu lachen, zog ihn zu sich und gab ihm einen Kuss auf die Lippen. „Er hat sich beschwert, du hättest ihn angezickt." Er schaute sie verschmitzt an. Ran zog die Augenbrauen hoch. "Hat er verdient, er soll mal nicht so jammern, schließlich war er auch nicht nett zu mir. Und ich hatte so ein komisches Gefühl... er kann machen, was er will, aber er ist einfach nicht du." Sie seufzte, schmiegte sich an ihn. Er legte einen Arm um ihre Taille, zog sie an sich. „Gut gemacht, Herr Detektiv, ich bin stolz auf dich.", wisperte sie leise, schaute auf und grinste ihn an. „Dafür kriegst du zuhause was Leckeres zu essen. Aber sag mal... bist du dir wirklich sicher? Er wird nie wieder klauen...?“, murmelte sie dann fragend, schaute auf das kleine Accessoire von Kaito KID, das immer noch in seiner Hand lag. „Ja, er wird nie wieder stehlen.“ Er seufzte, zog die Karte hervor. Es war die, die direkt vor seinen Füßen gelandet war. Pik Ass. „Sicher nicht.“ Er hat’s versprochen. Kaito Kuroba ------------ Aloha! Vielen, vielen Dank für die Kommentare zu den letzten Kapiteln! Ich freu mich ehrlich drüber, von euch was zu hören ^.~ Ich wünsche in diesem Sinne viel Spaß beim Lesen eines weiteren Kapitels aus der Gegenwart *g* MfG, eure Leira ;D ___________________________________________________________ 19. Kapitel: Kaito Kuroba Gegenwart Uuuuund????? Habt ihrs gebraucht? Das Geschenk? Hast du’s gefunden? Ich weiß, zumindest was das Finden betrifft, ist es eine eher rhetorische Frage, zumindest für mich… aber ich muss sie trotzdem stellen… :) Sayuri musste unwillkürlich lächeln. „Jap.“, murmelte sie leise, ließ ihre Augen weiterwandern. Aber wenn ich so drüber nachdenke, glaube ich, auch für dich erübrigt sich diese Frage. Schließlich bist du meine Tochter! *g* Nein, ernsthaft… ich hoffe ja, ihr braucht es gar nicht. Ich hoffe, du musstest diese Suche nicht auf dich nehmen. Und wenn doch… wenn doch… meine schlimmsten Befürchtungen in dieser Hinsicht wahr geworden sind, so hoffe ich… dass es was hilft. Dass das, was in dem Päckchen ist, eure Situation verbessert, vor allem wohl Rans... Ich wollte ein glückliches Leben für euch... und ich wünsche mir, hatte mir wirklich gewünscht, dass Ran das alles… irgendwann verkraftet. Aber nun… Ein paar erfreulichere Themen. Der Fall um Kaito KID ist geschlossen :D Diebstahl vereitelt, Dieb gestellt, eine tadellose Bilanz, wenn man so will. Netterweise hat er sich diesmal nicht als deine Mutter ausgegeben, aber dafür wohl fast alle abgeklappert, die sonst noch in Reichweite waren; den Freund der Hausherrin; die Hausherrin… mich. Jaaa… er hat’s mal wieder nicht lassen können. Aber diesmal war ich ein wenig schlauer als er. Ich hab ihn überrumpelt, mich nicht abhängen lassen, wie es sonst so oft der Fall war, wenn er in seinen weißen Rauchwolken verdampft ist... und ihn gestellt, am Turm des Palais‘. Dort hab ich ihm dann mal den Kopf gewaschen, ich denke, er hatte es bitter nötig. Und weißt du was? Ich glaube, er hat es jetzt begriffen. Endlich begriffen… dass er so, wie er es jetzt versucht, seine Ziele nicht erreicht. Ich hoffe, zu deiner Zeit hat seine Seele auch ihren Frieden gefunden. Ich würde es ihm wünschen. Seelenfrieden wäre ohnehin für alle was ganz Tolles -.- Deiner Mutter und somit auch dir geht’s momentan ziemlich gut soweit. Wir richten dein Zimmer ein, ich überleg mir immer noch Namen für dich… eigentlich solltest du dich auch mal bewegen, so langsam, aber du lässt dich noch nicht so wirklich dazu herab. *g* Sorgen mach ich mir trotzdem noch… um sie alle. Manchmal glaube ich, sie vergessen, was kommt. Einerseits freut mich das, weil sie dann ihr Leben besser genießen können, ohne ewig diesen schwarzen Schatten im Rücken zu spüren, der Wärme und Licht aufzusaugen scheint wie ein Schwamm… Andererseits fürchte ich, sollte der Tag dann da sein, und er wird kommen… dann wird es ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen. Nun. Wir werden sehen. Ich sitz ein wenig wie auf glühenden Kohlen, das muss ich zugeben, denn eigentlich rückt die Deadline immer näher (*muahahaha*, was für ein makabrer Scherz… Deadline. *hust*). Aber ich hab noch keine Lust… es fühlt sich jetzt einfach noch so... falsch an. Gut, das kann auch subjektives Empfinden sein. Außerdem... wird das wohl kein Ding sein, dass sich von meiner Zustimmung abhängig macht, aber irgendwie… ich weiß auch nicht… es scheint mir so, als wäre meine Zeit einfach noch nicht gekommen. Jetzt noch nicht. Etwas gibt es noch… Hm. Nunja. Wir werden sehen… wir werden sehen. Ich wünsch dir auf alle Fälle einen schönen Tag, und verzeih, dass der Eintrag diesmal so kurz war; ich schreib das nächste Mal wieder länger, versprochen. Momentan steht nur leider meine Mum vor der Tür und klopft und meckert seit fünf Minuten, weil sie mich für irgendwas braucht. Ich denke, du weißt, wie taub sie auf beiden Ohren ist, wenn man ihr sagt, man hat grad keine Zeit für sie. ;p Für sie hat jeder immer Zeit, aus, basta. *g* Viele Grüße, bis bald! Das war der Eintrag von heute Morgen gewesen. Sayuri hatte ihn gelesen, beim Frühstück; und nun war sie unterwegs in den Straßen Tokios, genoss den leichten Windhauch, der ihr um die Nase wehte, ihr sanft die Haare aus den Augen blies. Die Sonne schien fröhlich vom Himmel, ein idealer Tag für ein Eis auf der Dachterrasse des neuen Einkaufszentrums, wo sie sich mit Shiho treffen wollte. Sie schaute sich die Schaufenster an, genoss die warmen Strahlen, die langsam immer kräftiger wurden, auf ihrem Gesicht, summte leise. Sie war jetzt zwei Tage beim Professor, und sie genoss es, in einem Haus zu wohnen, wo der Name ihres Vaters nicht totgeschwiegen wurde, und wo nicht jemand in Tränen ausbrach, weil sie nach ihm fragte. Sayuri seufzte. Sie hatte mit ihrer Mutter telefoniert, gestern Abend; aber zum Nachhausegehen hatte sie sich noch nicht überwinden können. Ihre Mutter hatte sie auch nicht darum gebeten, wofür sie ihr dankbar war, denn so musste sie nicht erklären, warum sie nicht heim wollte. Noch nicht. Und so blieb sie. Blieb, und lernte eine Shiho Miyano kennen, von der sie vorher nie geahnt hatte, dass sie existierte. Sie hatten anfänglich nur wenig geredet, zu deutlich hatte Sayuri noch das Bild der Shiho vor Augen, die der kleinen Maus das Gift gab... sah noch so deutlich diesen Selbsthass in ihren Zügen, damals, als sie unten im Laboratorium gestanden hatten, hörte noch zu laut das kreischende Quieken des sich quälenden Mäuschens. Aber langsam hatte Sayuri begriffen, dass die rotblonde Forscherin nicht grundsätzlich so war. Die Shiho, die sie dort kennen gelernt hatte, gab es zwar auch; aber sie war nur ein Teil vom großen Ganzen... und so hatten sie begonnen, sich wieder einander anzunähern. Hatten gesprochen. Über das Leben von Ai Haibara, Sherry und Shiho Miyano. Das war auch der Grund, warum sie mit ihr für heute verabredet war; sie wollten in der gemütlichen Atmosphäre eines Cafés über diese Zeiten reden. Sie war viel zu früh dran; aber sie hatte es auf einmal im Haus nicht mehr ausgehalten, wo das Wetter doch so schön war, und sie ja Ferien hatte; und so zog sie los, ihre Umhängetasche baumelte über ihrer Schulter, als sie flott ausschritt. In Gedanken war sie schon bei dem Gespräch, das vor ihr lag... Shiho hatte ihr erzählen wollen, warum gerade sie diejenige gewesen war, die ihren Vater damals so ins Gewissen reden hatte können, als es ihm so schlecht gegangen hatte; als er überlegt hatte, einfach mit allem Schluss zu machen. Sie hatte sie zwar gestern konkret nach der Bedeutung dieses denkwürdigen Tagebucheintrag gefragt, wo ihr Vater etwas über Schwächen zu erzählen versucht hatte, aber Shiho hatte gemeint, um das alles richtig erzählen zu können, solle sie ihr ein wenig Zeit zum Sortieren ihrer Gedanken geben. Heute war es nun soweit. Sayuri blieb stehen, als sie an eine rote Fußgängerampel kam, hielt sich die Hand vor Augen, als die Sonne sie blendete. Als das grüne Ampelmännchen aufblinkte, eilte sie über die Straße, und gerade wollte sie zielstrebig die Straße weiter entlang gehen, als ihr Blick auf die Auslage eines Geschäfts fiel; es war ein Buchladen. Und da sie an Buchläden sowieso noch nie hatte vorbeigehen können, betrat sie auch dieses Geschäft, sah sich neugierig um, bevor sie dann in die Krimiabteilung wanderte. Irgendwie beschlich sie das Gefühl ein neues Faible zu haben. Sie hielt gerade einen Kriminalroman in der Hand, las aufmerksam den Klappentext, als sie hinter sich eine aufgebrachte Stimme hörte, die sich ihr näherte. „Können Sie mir nun sagen, ob Sie mir dieses Buch bestellen können, oder nicht?“ Sayuri drehte sich um, als sie die harsche Stimme eines Mannes vernahm und fühlte sich augenblicklich wie zu Eis erstarrt. Sie war unfähig, sich zu bewegen, unfähig, auch nur klar zu denken. Dann durchbrach die Stimme einer jungen Verkäuferin die Leere in ihrem Kopf. „Kann ich Ihnen noch nicht sagen... ich muss zuerst nachfragen, ob es noch lieferbar ist. Das Buch, dass Sie suchen, ist ja nicht eben eines der neusten Bestseller...“ Sie klang fast ein wenig anklagend, aufgrund der Ursache, dass er ihr soviel Arbeit bescherte. „Dann machen Sie das.“, meinte er hart, einigermaßen entnervt, verschränkte die Arme vor der Brust, wandte sich um und erstarrte nun seinerseits. Sayuri ihrerseits öffnete ihren Mund zu einem lautlosen Schrei; das Buch glitt ihr aus den Händen. Kaito fing sich als erster wieder, drehte sich langsam wieder um, wandte sich der Verkäuferin zu. Ihm war sofort klar, wer sie war. „Wissen Sie was, lassen Sie es. Ich komme ein anderes Mal noch mal vorbei, ich hab ganz vergessen, dass ich noch einen dringenden Termin habe... äh jetzt...“ Damit verbeugte er sich kurz, trat dann auf Sayuri zu, die ihn immer noch starr vor Schreck anglotzte, griff sie am Arm und schob das Mädchen vor sich her hinaus auf die Straße. Draußen schluckte er hart, rieb sich über die Augen. Sie stand vor ihm, atmete heftig, blinzelte, starrte ihn mit glasigen Augen an. Er wusste nicht, wie viel sie von Kudô wusste; aber er hatte eine gute Ahnung, nach diesem Vorfall erst Recht, wie sein Anblick auf sie wirken musste, hatte sie je auch nur ein einigermaßen passables Foto von ihrem Vater gesehen. Sie schien irgendwie weggetreten, schaute ihn nur an, ohne zu blinzeln, und er wusste, woran sie dache. Oder an wen. Sie hob ihre Hand, langsam, in Zeitlupe fast, wie unter Zwang. In ihrem Kopf tauchten die Bilder auf, die Fotos aus den Alben ihres Großvaters, und der Wunsch, der Wunsch ihn anzufassen, ihren Vater, keimte aufs Neue in ihr hoch. Zwar wusste sie, dass der Mann vor ihr... nicht... nicht ihr Vater war, aber der Drang wurde zu groß, sie hielt ihm nicht stand. Sacht berührte mit ihren Fingerspitzen Kaitos Wange; und zuckte zurück, wie als ob sie sich verbrannt hätte. Dann holte die Realität sie ein, flutete wie eine Welle über sie hinweg, spülte wie eiskaltes Wasser all die Trugbilder aus ihren Gedanken, all die schönen Wünsche und Hoffnungen verschwanden. Und da merkte sie, was sie eigentlich tat. Schämte sich dafür. Sayuri senkte schnell den Blick, hielt sich die Stirn, merkte, wie ihr heißes Blut in die Wangen schoss. Er schien wie erstarrt. Diese Sehnsucht, diesen Wunsch in ihren Augen zu sehen war fast mehr, als er ertragen konnte. Zu gern hätte er ihr gegeben, was sie sich wünschte, aber er wusste, dazu war er nicht in der Lage. Die Position, die er leer hinterlassen hatte, war nicht neu zu besetzen. Und so seufzte er leise, beugte sich ein wenig runter zu ihr, sah ihr so gut es ging ins Gesicht, holte er tief Luft; seine Stimme klang leicht rau, als er sie ansprach. „Denk bitte nicht... ich bin nicht...“ Sie blinzelte, schien langsam wieder Herrin über sich selbst zu werden. „Es... es tut mir Leid, entschuldigen Sie bitte, ich bin... bin... dumm. Ich... ich weiß doch eigentlich, wer Sie sind.“, flüsterte sie dann langsam, nachdem sie sich gesammelt hatte. Jedes Wort kam so unendlich schwer über ihre Lippen, sie schämte sich in Grund und Boden. „Aber ich hätte wirklich gedacht,... er übertreibt mit ihrer Beschreibung.“ Langsam atmete sie aus, und wieder ein, biss sich auf die Lippen, rang um Fassung. „Sie sehen ihm wirklich... wirklich unglaublich... ähnlich...“ Ihre Stimme brach. Mit fahrigen Fingern strich sie sich über die Augen. Kaito stand neben ihr, schaute sie besorgt an. „Ist schon gut. Das… das macht doch nichts…“ Langsam hob sie ihren Kopf wieder, tastete sein Gesicht mit ihren Augen ab. „Sie sind Kaito KID.“ „Falsch.“ Er seufzte. „Ich war Kaito KID.“ Er vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen. „Und du bist wohl keine andere als Shinichi Kudôs kleines Mädchen...“ Ein Schauer rann ihren Rücken hinab. Kaito seufzte, sah ihr an, woran sie gerade dachte. Er musste sie ablenken, dafür sorgen, dass sie jetzt nicht auf dumme Gedanken kam. Und so zog er sie mit sich, fing an zu erzählen. Alles, alles... nur um zu verhindern, dass sie daran dachte, dass ihr Vater tot war. „Woher... also wie... hat er dir denn erzählt, wie ich aussehe? Du meintest doch... Shinichi hat dir beschrieben, wie ich aussehe...?“ Sayuri schaute ihn an, nickte langsam. „Ja. Er... er hat mir Bücher hinterlassen. Eine Art Tagebuch. Mehrere davon. In einem stand was über Sie.“ Kaito blieb stehen. „Handschriftlich verfasst?“ Sie schaute ihn erstaunt an. „Ja, warum?“ „Ungefähr DIN A4 groß?“ „Ja…“ Ihre Augenbrauen wanderten immer höher. Woher wusste er das alles? Der Ex-Meisterdieb wurde bleich im Gesicht. „Deswegen also...“, wisperte er. Bilder, Gedankenfetzen tauchten in seinem Kopf auf. Sie beide, auf dem Turm... Dunkelheit hüllte sie ein, der Wind zerrte an ihren Kleidern. „Hast du... hast du’s gelesen?“ „Was gelesen?“ „Das... das Buch. Das Buch, in das du deine Briefe reingesteckt hast. Bitte sei ehrlich, einmal in deinem Leben, hast du darin gelesen?!“ Sein drängender Tonfall hallte immer noch in seinen Ohren. Es war eins von den Büchern gewesen... Das Buch, in dem er damals seine Briefe versteckt hatte... nachdem er sie aus Rans Bücherzimmer entwendet hatte... war zweifellos eines von denen gewesen, die er seiner Tochter hinterlassen hatte. Kaito atmete pfeifend aus, und war in diesem Moment ernsthaft froh, dass er seine Neugierde damals hatte zügeln können. Diese Bücher waren in der Tat nur für einen Menschen bestimmt gewesen, und er hätte bestimmt nichts lesen wollen, dessen Inhalt eine derartige Tragweite hatte. Deswegen wolltest du so unbedingt wissen, ob ich in dem Buch gelesen hab... es war eines von denen, die du für sie geschrieben hattest... aber du kannst beruhigt sein, Kudô, Tantei-kun... ich hab kein Wort gelesen. Nicht eins. Kaito blickte auf, schaute geradewegs in die blauen Augen, die dem seines ehemaligen Kontrahenten so ähnelten. „Du wirst es wohl schon oft gehört haben...“, murmelte er langsam, „aber du hast wirklich Kudôs Augen.“ Sie presste die Lippen aufeinander, nickte. „Ja, stimmt. Aber Danke... trotzdem.“ Sayuri starrte zu Boden, kickte einen Kiesel vom Gehsteig auf die Straße. Kaito setzte sich langsam wieder in Bewegung. „Er hat mich damals geschnappt. Bei unserer letzten Begegnung... hat er mich wirklich geschnappt. Und laufen lassen, wusstest du das?“ Ihr Kopf fuhr ruckartig hoch, in ihren Augen lag Erstaunen. Dann schüttelte sie ihr Haupt, dass ihre Haare flogen. „Nein. Nein, das wusste nicht... soweit war ich noch nicht mit Lesen... er hat gesagt, er hätte sie gestellt, aber nicht, dass er sie laufen ließ…“ Kaito grinste, dann nickte er, steckte seine Hände in seine Jackentaschen. „Doch. Er hat mich festgenagelt, hatte mich schon mit Handschellen an das Geländer des Turms gekettet. Das Haus, aus dem ich den Stein entwenden wollte, hatte einen Turm, musst du wissen.“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „Also, er hatte mich angekettet, und dann hat er mir den weißen Zylinder vom Kopf gezogen und mir mein Monokel abgenommen... geklaut, er hat’s mitgehen lassen, dieser Taschendieb... es muss immer noch bei euch wo rumliegen, eigentlich.“ Kaito verzog genervt das Gesicht, dann fuhr er fort. „... wie dem auch sei, ein Souvenir sei ihm vergönnt, ich hab’s ihm schwer genug gemacht... wenn ich das gewusst hätte...“ Sein Blick verlor sich kurz, dachte daran, wie sich Shinichi Kudô, den Tod vor Augen, eingesperrt in einen Grab gefühlt haben musste... Dann räusperte er sich. „Wie ich ausgesehen habe, das weißt du ja?“ Sie nickte. „Okay. Also, da stand ich, da stand er, und ich hatte eine Scheißangst, ganz ehrlich; ich dachte, jetzt hängt er mich hin. Und dann hat er mir erklärt, warum ich diese ganzen Raubzüge mache, und das hat mir noch mehr Angst eingejagt, wenn ich ehrlich sein soll. Er wusste alles über mich, meine ganze Geschichte, meinen Werdegang und meine Motive, alles, er war mir in dem Moment fast unheimlich, und da wusste ich, ich hab meinen Meister gefunden... Er hat einfach seine Arbeit sehr gründlich gemacht... er war wirklich ein Meister, wenn nicht der Meister, seines Fachs. Er war der Sherlock Holmes der Heisei-Ära.“ Er seufzte, lächelte versonnen. „Mein Vater starb, da war ich noch in der Grundschule.“ Sayuri stutzte ob des abrupten Themenwechsels, schaute ihn etwas verwirrt an. Kaito warf ihr einen kurzen Blick zu, nickte leicht. „Toichi Kuroba, der Magier seiner Zeit. Deine Oma, Yukiko Kudô, hat bei ihm Verkleidungstricks gelernt. Und dein Opa, der liebe Yusaku, hat sich mit ihm geistig duelliert; denn mein Vater war die erste Version von Kaito KID, bevor ich in seine Fußstapfen getreten bin. Shinichi und ich haben dieses Duell sozusagen in die zweite Generation getragen, und dort dann auch beendet.“ Kaito schluckte, fuhr sich langsam mit seinen schlanken Fingern durch die Haare. „Aber der Grund, warum ich dich dir das erzähle, ist der; mein Vater wurde umgebracht. Von einer Organisation, die der, die dein Vater zerlegt hat, gar nicht so unähnlich war...“ Er hielt kurz inne, schaute mit leeren Blick vor sich auf den Boden, während er ruhig einen Fuß vor den anderen setzte. Das Mädchen schaute ihn aus wachen Augen aufmerksam an. Menschen eilten an ihnen vorbei, als sie langsam den Gehsteig entlang schlenderten, aber sie bemerkten sie nicht. Verkehrslärm schallte von der Straße her zu ihnen herüber, aber es interessierte sie nicht. Kaito Kuroba erzählte, und Sayuri Kudô hörte zu. Er räusperte sich. „Hätte ich deinen Vater und seine Ansichten, seine Brillanz und Kombinationsgabe gekannt, wäre ich vielleicht nie soweit gekommen, als Dieb dem Tod meines Vaters auf den Grund gehen zu wollen. Ich hätte ihn drauf angesetzt, und ich bin mir sicher, er hätte den Fall gelöst. Aber wie Jungs halt so sind, sie wollen alles allein machen. Und so war auch ich, und so dachte auch ich, ich fände die Mörder meines Vaters dadurch, mich selber wie ihr zu verhalten. Auf mich aufmerksam zu machen. Das zu klauen, was sie wohl von ihm zu stehlen verlangt hatten. Den Stein von Pandora...“ Er seufzte. „Pandoras Stein?“, hakte Sayuri nach. „Ich kenn nur Pandoras Büchse...“ Kaito lächelte. „Nun. Pandoras Stein gabs auch; von ihm wird erzählt, er würde eine Flüssigkeit produzieren, die unsterblich machen kann... deswegen war wohl auch diese Organisation so dahinter her. Auf alle Fälle versuchte ich, auf diese Weise, also als Kaito KID, als zaubernder Meisterdieb, der aus dem Nichts kommt, nimmt, was er will und wieder verschwindet, ohne das jemand auch nur den Hauch einer Chance hat, ihn zu fassen, diesen Stein zu stehlen. Dabei ergaben sich allerdings ein paar Probleme... ich wusste nicht, wie der Stein aussah, und wer ihn besaß. Und so habe ich die Zeit über immer irgendwelche berühmten, auffälligen Steine geklaut, geprüft, und, weil sie ja nicht waren, was ich suchte, wieder zurückgebracht.“ Er grinste verschmitzt. „Ich denke, dieses Verhalten war es auch, das deinen Vater auf mich aufmerksam gemacht hat. Denn eigentlich hat er sich kaum mit irgendetwas unter Mord oder Erpressung befasst. Aber ein Dieb, der unter derart öffentlichkeitswirksamen Aktionen Preziosen verschwinden lässt und sie hinterher zurückgibt... das weckte wohl sein Interesse.“ Sayuri nickte langsam, dann schob sie sich ihre Tasche, die ihr während dem Spaziergang von der Schulter gerutscht war, wieder hoch. „Also... auf alle Fälle wollte ich diesen Stein klauen. Einen roten Diamanten namens Red Teardrop. Ich hatte alles minutiös geplant... und sogar deinen Vater schön miteinbezogen. Ich hatte eigentlich vorgehabt, mich als er auszugeben, und hinterher mit dem Stein in der Tasche einfach rauszuspazieren, während er irgendwo selig vor sich hinschlummert. Da hat er mir einen Strich durch die Rechnung gemacht.“ Das Mädchen schaute ihn interessiert an. Kaito seufzte genervt. „Ja, das denk ich mir, dass dich das interessiert. Du kennst ihn nicht, aber du himmelst ihn jetzt schon an. Ja, er war verdammt noch mal clever; aber da hatte er auch Glück.“ Sayuri grinste. „Inwiefern?“ „Erstens wachte er früher als von mir geplant auf, das Schlafmittel wirkte nicht richtig, oder aber, ich brauchte zu lang, um zurückzukommen. Ich wurde etwas aufgehalten von der Polizei und äh… deiner Mum. Und zweitens konnte dein Dad mit Draht Schlüssellöcher knacken, und das war unfair, verdammt! Er war einer von den guten Jungs, ich dachte, das können nur wir Diebe...“ Kaito verdrehte die Augen, hob die Hände, fuchtelte theatralisch mit ihnen in der Luft herum. „Und ich komm also zurück, wunderbar gefaked als Meisterdetektiv, und sehe, mein kleines Verließ ist leer, mein Vögelchen ausgeflogen! Und dann kommt er daher, grinst wie Oskar, und wirft vor meinen Augen meinen Stein in der Luft rum! Hallo?!?“ Sayuri lachte, während Kaito sie von der Seite anblickte, zufrieden lächelte. Sein Plan ging wohl auf; der lockere Erzählstil amüsierte sie, ließ sie ihren Schreck und ihren Schmerz wohl etwas vergessen. „Also ja... da stand er da und lachte. Und ich dachte, ich mache das, was ich immer tue, wenn er mir einen Raubzug vereitelt hat... ich suche mein Heil in der Flucht. Aber er rannte mir nach, ich konnte ihn nicht abschütteln – er schien an diesem Abend einfach wild entschlossen, mich diesmal zu stellen. Und dann waren wir oben, auf diesem Turm, eben... und er hat mich reingelegt.“ Sayuri blinzelte. „Inwiefern?“ „Er hat gemeint, ich soll mir den Stein holen, wenn ich ihn haben will, und nachschauen, ob’s der ist, den ich suche. Und mit dem Angebot hat er mich so aus dem Konzept gebracht, dass ich kurz zu erstaunt war, um zu reagieren. Und er hat meine Schwäche ausgenutzt... rannte heran, zog mich von der Brüstung, kettete mich fest... dann demaskierte er mich, erzählte mir meine Geschichte... und ließ mich wieder laufen. Nie war ich verwirrter als an diesem Abend... und nie hatte ich mehr Angst. Allerdings habe ich in diesen Minuten wohl auch die Lektion meines Lebens gelernt. Kudô... also dein Dad, sagte, er wolle mich nicht hinhängen, etwas, was ich gar nicht glauben konnte... ich dachte, das müsste doch sein großes Ziel sein... Meisterdetektiv fängt Meisterdieb, stell dir die Schlagzeile vor! Aber er hatte anderes im Sinn. Er bräuchte den Ruhm nicht, meinte er, und indem er mich einsperren ließe, sagte er, könnte er die Welt auch nicht verbessern, weil ich ja kein richtiger Krimineller wäre... er... er bat mich nur um eins. Er bat mich, meinen Rachefeldzug aufzugeben, die Seiten zu wechseln und um Gerechtigkeit zu kämpfen. Und ich tat es, er war wirklich überzeugend. Ich hab nie wieder gestohlen. Ich habe seinen Rat befolgt und gekämpft, und zusammen mit der Polizei, mit zwei Kollegen von Shinichi, diesem Osakatyp Hattori, den du wohl kennst, und dem eingebildeten Schnösel Saguru Hakuba, ein weiterer Detektiv in unserem Alter, meine Gerechtigkeit bekommen. Auch diese Organisation sitzt nun ein, und ich bin hier, bin frei, und freue mich... freu mich am Glanz der Sterne, so sie denn Nachts am Firmament herunterblinken... und danke ihm jedes Mal aufs Neue, dass er mir damals so den Kopf gewaschen hat. Wäre er nicht gewesen, wäre ich jetzt tot oder im Knast. Ich verdanke deinem Vater mein Leben, das werde ich ihm nie vergessen...“ Kaito blieb stehen, seufzte leise. Sayuri schaute ihn lange an, schluckte schwer. „Danke, dass sie’s mir erzählt haben...“ Der Mann nickte nur, schüttelte dann den Kopf. „Nichts zu danken, Sayuri.“ Er blickte sie betrübt an. Ihr junges Gesicht war gezeichnet von Schmerz, von Verlust... und sie tat ihm Leid. Er wusste, wie es sich anfühlte. Wie es war, den eigenen Vater zu verlieren. „Trauerst du um ihn...?“, fragte er dann leise. Das Mädchen nickte stumm. „Ja.“ Unwillig wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ja... ich... kenn ihn nicht wirklich, aber ich ver... vermisse ihn...“ Sie wurde rot wie eine überreife Tomate, schaute ihn verlegen an. „Aber ich will Ihnen gar nicht auf den Nerv gehen, Sie kennen mich ja gar nicht und ich fang hier an zu Heulen und...“ Er schüttelte nur den Kopf. „Ich versteh dich, glaub mir. Ich vermisse ihn auch. Deinen Vater... und meinen.“ Sayuri blinzelte, schaute ihn dann flehend an. „Wann... wann vergeht es...? Wann wird es denn besser...?“ Kaito seufzte betrübt. „Nie.“ Er lächelte traurig. „Und glaub mir... auch wenn’s wehtut... das ist gut so. Denn in diesem Fall ist der Schmerz ein Zeichen für Leben... er lebt noch, in dir. Und solange du ihn da noch spürst, wird er nie ganz tot sein. Ich spreche aus Erfahrung.“ Er nickte, um sich selber zu bestätigen. „Also Kopf hoch. Dein Dad würde nicht wollen, dass du so rumhängst... er will bestimmt, dass du an ihn denkst, aber er würde nicht wollen, dass du dich damit quälst, dass er nicht hier ist... Ich denke, für dich hatte er andere Pläne. Er wollte bestimmt, dass du glücklich wirst. Ein schönes Leben führst. Also mach das! Mach was aus dir... mach was aus deinem Leben, aus deinen Talenten, gestalte deine Gegenwart, finde deine Zukunft, aber vergiss die Vergangenheit nicht, vergiss ihn nicht, denn ich denke, auch er hat dich nie vergessen. Denn es ist auch... die Vergangenheit, die aus uns die Menschen macht, die wir sind.“ Sayuri blinzelte ihn an, wischte sich weitere Tränen mit dem Handrücken aus ihren Augenwinkeln, nickte tapfer. „Danke.“ „Schon gut...“, murmelte der Mann, scharrte verlegen mit den Füßen auf den Boden. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Nach allem, was du für mich getan hast... Kudô. Dann riss ihn Sayuri wieder aus seinen Gedanken. „Aber ich danke ihnen wirklich... dass sie mir das alles gesagt haben. Wirklich, Danke...“ Er räusperte sich; dann streckte er zögernd die Hand aus, strich ihr übers Haar, ließ seine Hand auf ihrer Schulter ruhen. „Wie gesagt, es gibt nichts, wofür du mir danken müsstest. Sei stolz auf ihn; sei stolz auf dich... glaub mir, er wäre es. Du bist außergewöhnlich, so wie er es war.“ Kurz drückte Kaito ihre Schulter, dann nahm er seine Hand wieder weg, steckte sie in seine Jackentasche, lächelte sie an. „Und nun... machs gut, Tochter von Shinichi Kudô; vielleicht kreuzen sich unsere Pfade noch einmal, vielleicht auch nicht, wir werden sehen... bis dahin...“ Er verbeugte sich linkisch, grinste breit, warf ihr einen Handkuss zu. Sayuri blinzelte, weil in ihren Augen kurz etwas kratzte; als sie ihre Augen dann wieder öffnete, war Kaito Kuroba weg. Weg. Sayuri drehte sich verwirrt um die eigene Achse, ließ ihren Blick hektisch durch die Menge schweifen, aber nichts, nichts... sie konnte ihn nicht mehr sehen. Er war weg. Wie in Luft aufgelöst. Dann spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und fuhr herum, schaute geradewegs in Shihos erstauntes Gesicht. „Sayuri, wo steckst du denn? Ich warte schon auf dich, dachte, ich geh dir jetzt entgegen... was ist das da für eine Blume?“ Sie zupfte ihr eine rote Rose aus ihrer Hemdtasche. Sayuri blinzelte die Rose an, dann Shiho. „Das wirst du nicht glauben, wenn ich dir sage, wen ich gerade gesprochen hab...“ Dann zog sie die Augenbrauen hoch. „Aber ist es wirklich schon so spät?“, fragte Sayuri dann überrascht. „Ja... du bist seit zehn Minuten überfällig, junge Dame.“, meinte die rotblonde Forscherin, drückte dem Mädchen die Blume in die Hand, und zog sie dann mit sich. „Und wer oder was hat dich nun aufgehalten?“, hakte sie dann doch nach. Sayuri spähte noch mal über ihre Schulter, aber sie sah nichts mehr. Versonnen blickte sie die Rose an, die er ihr wohl geschenkt hatte. „Kaito Kuroba.“ Lebenszeichen ------------- Hallo, ihr Lieben! Ich grüße euch, ihr tapferen Leser und Leserinnen, die nach… 174024 Wörtern immer noch nicht das Handtuch geworfen haben ^.~ Euer Durchhaltevermögen ist in der Tat beachtlich! :D Mein ganz besonderer Dank gebührt an dieser Stelle wieder den Kommieschreibern, die sich die Zeit nehmen (und immer noch den Nerv haben) mir zu meinem Geschreibsel hier ihre Meinung zu geigen- ich danke euch! Durch euch, und nur durch euch, erfahre ich, wie das, was ich schreibe, auf andere wirkt und wie andere es sehen. Ihr ahnt nicht, wie unschätzbar diese Informationen und Meinungen sind, ich danke wirklich jedem sehr, der mir ein paar Takte hinterlässt; leider kann ich nicht jedem persönlich danken, dafür fehlt mir leider die Zeit, aber ich les mir jeden Kommentar aufmerksam durch und nehm ihn mir zu Herzen. An dieser Stelle will ich euch aber nicht mehr länger mit meinem Geschwafel aufhalten, sondern entlasse euch in das 20. Kapitel, ein ziemlich ereignisloses Intermezzo, aber, wie ich fand, durchaus nötig. Viel Vergnügen beim Lesen, Bis nächste Woche, eure Leira :D _____________________________________________________ Kapitel 20: Lebenszeichen Vergangenheit Er lag in einem Sessel im Wohnzimmer, atmete flach, aber langsam und gleichmäßig. Er war irgendwie müde… fast schon erschöpft. Heute war wieder einmal einer dieser Tage, an denen er eigentlich nur noch schlafen wollte. Einfach irgendwo liegen, dösen, die Zeit verstreichen lassen, bis in ihm wieder ein Funken Leben aufglomm und ihn zu neuen Taten antrieb. Er wusste, viele dieser Funken waren nicht mehr übrig. Die Frist war fast verstrichen, das Feuer fast aus... Shinichi seufzte leise, zog die Decke höher, wandte den Kopf, als er leise Schritte auf dem Teppichboden hörte. Sein Vater kam herein, setzte sich zu ihm, schaute ihn kurz prüfend an, bevor er sprach. „Stör ich?“, fragte er leise. Shinichi schüttelte den Kopf. Yusaku streckte die Hand aus, fühlte kurz seine Stirn, ehe sein Sohn seine Hand unwillig beiseite wischte. „Lass das bitte.“ Sein Vater runzelte besorgt die Stirn. „Shinichi…?“ Shinichi wandte den Kopf, kämpfte sich auf die Ellenbogen hoch, starrte ihn an. „Du fragst dich, wann es soweit ist.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Streit‘s nicht ab, ich seh‘s dir an.“ Shinichi seufzte, starrte an die Zimmerdecke, geradewegs in das Licht des Lampenschirms, bis sich das Nachbild der Glühbirne bildete. Yusaku sagte nichts, rührte sich nicht. Shinichi blinzelte träge, dann fing er wieder zu sprechen an. Seine Stimme klang leise und beinahe ein wenig melancholisch. „Ich weiß, es wäre an der Zeit.“ Er seufzte, holte Luft, setzte sich etwas auf. „Aber ich will noch nicht.“ Sein Vater starrte ihn bekümmert an. „Du…“ „Kannst es dir nicht aussuchen, ist es das, was du sagen willst? Ja, da hast du wahrscheinlich Recht. Ich werde sterben… in absehbarer Zeit. Aber ich will das Baby noch sehen… ich will die Kleine noch sehen… so gern… wenigstens sehen. Und ich habe beschlossen, nicht zu sterben, bevor ich sie nicht gesehen hab. Ich will durchhalten, wirklich. Deshalb gibt’s jetzt auch keine Abschiede, deshalb hab ich meine Angelegenheiten in privater Hinsicht noch nicht geregelt. Das könnte dumm sein, sich als großer, riesengroßer Fehler erweisen… aber ich will nicht. Es kommt mir noch nicht richtig vor... Ich will noch leben. Bis sie da ist. Wenn sie gekommen ist, wenn sie hier ganz angekommen ist… dann ist es wohl für mich an der Zeit, diese Welt zu verlassen. Aber nicht früher, keine Sekunde früher, das seh’ ich nicht ein! Ich will mir nicht alles nehmen lassen! Man nimmt mir ohnehin schon so viel... viel zu viel.“ Er klang bestimmt. Yusaku schaute ihn stirnrunzelnd an, dann lachte er leise. Seine Worte gaben ihm Mut, ließen ihn seine Sorgen etwas vergessen. Und es tat gut, ihn so zu hören. Zu sehen, dass er sich nicht einfach aufgab. „Wenn du das sagst, Sohnemann.“ Shinichi nickte entschlossen. „Ja, das sage ich.“ Er schaute gedankenverloren aus dem Fenster. „Fünf Monate...“, murmelte er leise. „Fast sechs.“ Ein leises Seufzen verließ seine Lippen, müde strich er sich über die Augen, aber an Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Shinichi stemmte sich ganz im Sessel hoch, stand etwas mühselig auf. „Ich geh Kaffee kochen.“, bemerkte er auf den fragenden Blick seines Vaters, ging in die Küche. Yusaku schluckte, schaute ihm mit starrem Blick hinterher. Auf seiner Zunge lag ein bitterer Geschmack. Das Leben war einfach nicht fair. Es trifft immer die Falschen. Yukiko trat durch die Tür, ließ sich neben ihrem Mann auf das Sofa sinken, lehnte sich an ihn. „Du hast absolut Recht.“ Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Er wandte sich ihr zu, legte seine Arme um sie, zog sie an sich. „Es trifft wirklich immer die Falschen.“ Er spürte einen Hauch ihres warmen Atems, als sie seufzte, merkte, wie sich in seinem Nacken wohlig die Härchen aufstellen, streichelte ihr über den Rücken. Yukiko sah auf. „Lange... lange wird es nicht mehr dauern, nicht wahr...? Er will es vielleicht nicht wahrhaben, er kämpft dagegen an, aber letztlich wird es nicht in seiner Hand liegen.“ Sie blinzelte. „Und... und wenn... wenn es dann soweit ist…“ Sie biss sich auf die Lippen, schaute ihn bedrückt an. „Ich mach mir Sorgen um Ran. Wirklich. Sie wird... sie wird es so schwer haben. Yusaku. Ran...“ Er räusperte sich, nickte langsam. Sie kuschelte sich enger an ihn. „Sie liebt ihn so sehr.“, wisperte sie. „Ich war grad bei ihr... Sie sagt zwar nichts, sie ist sehr tapfer, aber man merkt es ihr an. Man sieht es an den Blicken, die sie ihm zuwirft, man merkt, wie sie immer öfter seine Nähe sucht, man kann ihre Angst, dass jeder Moment der Letzte sein könnte, fast spüren. Sie wird... sie wird ihn so sehr vermissen... sie wird das vermissen, was sie jetzt hat. Sie teilen soviel, sie gehören zusammen, sie jetzt... so früh... zu trennen ist unglaublich grausam, Yusaku...“ Er gab ihr einen zarten Kuss auf die Stirn, atmete aus. „Ich weiß.“ „Sie wird das vermissen, was ich auch vermissen würde, wenn... wenn...“, murmelte sie leise. Sie schaffte es nicht, den Satz zu vollenden, aber er wusste auch so, was sie meinte. Sie zog Vergleiche, um sich in ihre Schwiegertochter einfühlen zu können, so wie sie es immer für ihre Rollen getan hatte, und so ahnte sie, wusste sie... was Ran durchmachen würde. Sie versetzte sich in ihre Situation, um sie verstehen zu können. Um ihr helfen zu können, wann immer sie dann ihre Hilfe brauchen würde. Und der Tag, an dem das der Fall sein würde, würde kommen. Ganz bestimmt. Yukikos Stimme zitterte, als sie fort fuhr. „Seine Nähe, seinen Rat, seine... seine Liebe. Seine Wärme. Sie wird seine Stimme vermissen, und seine... seine Angewohnheiten. Wie kann... wie kann das hier passieren, das ist so falsch, so falsch. So... falsch...“ Ihre Stimme brach. Yusaku wandte sich ihr zu, küsste sie kurz auf die Wange. „Ich weiß...“ „Und ich werd ihn auch vermissen... Himmel, Yusaku, wie soll ich diesen Tag überstehen, an dem er uns verlässt...? So war das nicht geplant, das sollte so nicht sein... ich will ihn nicht gehen lassen, nicht gehen sehen, er ist doch mein Sohn, unser Sohn, wie kann er... wie kann er...“ Eine Träne rann über ihre Wange. Er hob die Hand, strich sie ihr langsam weg, konnte den Kummer in ihren Augen kaum ertragen, drückte sie fest an sich. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter, kniff die Augen zusammen. „Ich weiß... wie du dich fühlst... mir geht es doch... mir geht es doch genauso, Yukiko. Aber... lass uns jetzt noch nicht dran denken. Der Tag... kommt früh genug. Ganz egal wann er kommt, es wird immer zu früh sein...“ Sie krallte ihre Finger in sein Hemd, schluchzte unterdrückt. Shinichi stand in der Küche, war gerade dabei gewesen, sich eine Tasse Kaffee aufzubrühen, doch das hatte er längst vergessen. Er stand da, zur Salzsäure erstarrt, biss sich die Lippen blutig, ballte seine Fäuste so fest, dass sich seine Fingernägel in seine Handballen bohrten, aber er merkte es nicht. Ein fast unsichtbares Zittern durchfuhr ihn, als er versuchte, seine Fassung zu bewahren. Er hatte jedes Wort gehört. Jedes Wort, das gerade im Wohnzimmer zwischen seinen Eltern gewechselt worden war. Klar und deutlich, und einmal mehr wünschte er sich, sie würden ihn alle einfach hassen, denn dann wäre das alles so viel einfacher für sie. Die Tür war einen Spalt offen geblieben, anscheinend hatten sie das nicht bemerkt, sonst hätten sie nie so offen geredet… Hätten sie gewusst, dass er sie hören konnte... hätten sie bestimmt so nicht geredet. Die Kaffeemaschine gurgelte vor sich hin, doch er hörte es nicht. Seine Finger zitterten jetzt noch, auf seinen Armen lag eine Gänsehaut, seine Augen blickten starr ins Leere. Warum passierte das. Warum geschah das alles...? Er hob eine Hand, hielt sie sich an die Stirn. Sie war heiß, seine Finger eiskalt. Langsam kniff er die Augen zusammen, atmete tief durch. Aus und ein, immer wieder, versuchte, das wühlende, nagende, bohrende Gefühl seines schlechten Gewissens einigermaßen unter Kontrolle zu kriegen. Wenn er ihnen so unter die Augen trat, würde er es bestimmt nicht besser machen. Dann läutete das Telefon und riss ihn in die Realität zurück, enthob ihn gleichzeitig der Entscheidung, wie, wann und ob er wieder ins Wohnzimmer gehen sollte um so zu tun, als hätte er nichts gehört. Er nahm seinen Kaffee, der jetzt fertig durchgelaufen war, trank zögernd einen Schluck und ging hinaus in die Halle, um den Anruf entgegenzunehmen. „Kudô.“, meldete er sich wie gewohnt, nippte noch einmal an seinem Becher. Seine Nerven flatterten immer noch. „Hallo, wie geht’s dir...? Du hörst dich...“ Shinichi verdrehte etwas genervt die Augen. Schon wieder einmal verriet ihn seine Stimme. Das war nicht fair. „Hallo, Hattori. Gut, danke...“ Er räusperte sich. Anscheinend hörte man ihm seine Aufgewühltheit immer noch an. „Jaja... klar.“ Er hörte Heijis Skepsis deutlich, aber ignorierte sie geflissentlich. „Was gibt’s?“ Shinichi schluckte den Kloß im Hals mit einem weiteren Mund voll Kaffee hinunter, atmete tief durch. Er fragte sich, warum ihn das so aufregte... die Gedanken machte er sich doch ständig, genau diese Sorgen beschäftigten ihn doch in seinem Wachen wie auch in seinem Schlaf. Aber er musste zugeben... seine Eltern derart darüber reden gehört zu haben, machte ihn auf ganz andere Art fertig als alle Vermutungen, die er sich ausmalen konnte. „Ich wollte nur... nur mal anrufen und fragen, wie’s dir so geht, und Ran, und... nun...“ „Uns geht’s gut.“ „Aha. Tatsächlich.“ Shinichi klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter, griff mit seiner freien Hand nach dem Telefon und tappte langsam in sein Büro. „Ehrlich. Uns geht’s gut. Wie geht’s euch?“ „Auch gut.“ „Welch erschöpfendes Gespräch.“ Er lehnte sich gegen die Tür, um sie aufzudrücken, ließ sich dann in seinen Bürosessel fallen. Heiji seufzte am anderen Ende, was Shinichi deutlich als Rauschen im Ohr wahrnehmen konnte, da Heiji in die Sprechmuschel schnaufte. „Ja, du hast ja Recht. Also ich ruf nich’ nur deshalb an... obwohl‘s mich natürlich interessiert, wie’s euch geht...! Nich‘ dassde mich falsch verstehst oder so…!“ Er geriet fast ins Stottern und Shinichi musste unwillkürlich lächeln. Heiji unterdessen hatte seinen Faden anscheinend wieder gefunden. „Aber mal was anderes, Kudô...“ Heijis Tonfall hatte sich etwas verändert; er klang fast ein wenig genervt, definitiv etwas angesäuert und beleidigt. Shinichi zog verwirrt die Augenbrauen hoch. „Sag mal, mein geehrter Detektivkollege, was muss ich denn in der Zeitung lesen? Du hattest ein Date mit Kaito KID und ich weiß noch nix davon?! Ich musses aus der Zeitung erfahr’n? Ich dacht’, du bist mein Freund, Herrgottnochmal!“ Shinichi fing nun doch an zu lachen; egal ob er sich dessen bewusst war oder nicht, aber Heiji schaffte es, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Er konnte sich Heijis entrüstetes Gesicht bildlich vorstellen, es schwebte geradezu vor seinen Augen; und wie gefordert, begann er, zu erzählen; ließ dabei kein Detail aus. „Ja... also, das war folgendermaßen...“ Die nächsten Minuten verbrachte er damit, seinem Freund haarklein alles zu berichten, von den Briefen bis hin zum Showdown auf dem Turm. Heiji zeigte sich durchaus beeindruckt, auch wenn ihm anzuhören war, dass er wohl auch gern mit von der Partie gewesen wäre. Nachdem sie dann ein Treffen verabredet hatten, legte Shinichi schließlich auf, seufzte leise. Das Treffen war übermorgen, Heiji hatte darauf gedrängt. Er wusste genauso gut wie alle anderen, dass es langsam akut wurde, wollte nicht zu viel Zeit verstreichen lassen. Und dass sich andere damit so belasteten, belastete wiederum Shinichi. Er hasste es, anderen diese Umstände machen zu müssen. Er atmete aus, ging zur Tür und schloss sie, sperrte jegliche Geräusche aus. Kaum war die Stille um ihn wieder vollkommen, holten ihn seine melancholischen Gedanken wieder ein. Die sechs Monate waren tatsächlich schon so gut wie um. Die Zeit war so verdammt schnell vergangen… so schnell… Er wusste noch, wie er hiergesessen hatte, mit der ersten Diagnose eines Arztes; wie er überlegt hatte, es Ran beizubringen. Und jetzt war das schon ein gutes halbes Jahr her… warum verrann die Zeit so schnell? Das war nicht fair, verdammt! Er schluckte, betrachtete seine Akten... seine Angelegenheiten. Er hatte sich all die Formulare, Belege und dergleichen besorgt, um Rans finanzielle Zukunft so gut wie möglich vorher abzusichern. Um die Versicherungen und all den anderen Kram auf sie zu ändern. Es war schon alles ausgefüllt, allein eine Unterschrift fehlte noch. Seine. Aber er schaffte es nicht, sie auf die dafür vorgesehenen Linien zu setzen. Er wollte noch nicht. Irgendwie dachte er, dass wenn er jetzt all dieses Zeug unterschreiben würde, sein eigenes Todesurteil mit unterschreiben würde. Und das wollte er nicht. Noch nicht. Er wollte noch warten... warten, bis sie da war. Weil er sie noch sehen wollte. Unbedingt. Shinichi wusste, es ging bergab. Er wusste, seine Zeit lief ab, er merkte, wie sein Leben ihn langsam verließ... langsam, aber stetig tröpfelte, rann und rieselte es aus ihm heraus wie Wasser aus einer gesprungenen Glaskaraffe. Traurig blickte er auf seine Finger, auf seine Reflexion in der blankpolierten Tischplatte seines Schreibtisches. Es ging dem Ende zu, unweigerlich. Es war schon fast Ironie, wie sehr dieses Werden und Vergehen in einem einzigen Haus so eklatant und absolut zutraf. Klar kannte jeder den Lauf von Leben und Sterben, aber man abstrahierte es doch immer sehr... betrachtete diese Dinge von weiter Ferne, auf größere Massen. Doch hier... hier stimmte diese Aussage auf den Punkt. Für ein kommendes Leben ging ein anderes für immer. In dem Maße, in dem sein Leben schwand, fing ihres immer mehr zu pulsieren an. Man sah es nur zu deutlich, auf dem Ultraschallmonitor von Rans Arzt. Nie würde er den Augenblick vergessen, als er zum ersten Mal ihr Herz sehen konnte; sah, wie es schlug. Ihre Kleine wollte leben, unbedingt, so schien es fast... mindestens so sehr wie ihr Vater, doch ihm würde sein Wille nicht mehr viel nützen. Mein Leben welkt dahin, während ein anderes aufblüht. Aber so ist wohl der Lauf der Dinge... ein ewiger Kreis. Das zu ändern liegt nicht in unserer Macht... und das ist wohl auch gut so. Auch wenn wir es ab und an doch gerne können möchten… den Fluss der Zeit ändern, Leben und Tod beeinflussen… Kurz schloss er die Augen, atmete durch. Aber noch war er ja nicht tot. Noch lebte er, und das würde er sich nicht nehmen lassen. Und er würde verhandeln, um jeden weiteren Tag. Langsam lehnte er sich zurück, ließ seine Augen durch sein Zimmer schweifen, bis sie an einer Kiste hängen blieben. Ein paar voll geschriebene Notizbücher lagen bereits drin. Und ein paar Geschenke. Er lächelte still vor sich hin. Vor ein paar Wochen hatte er damit angefangen... er war losgezogen, und hatte Geschenke gekauft. Für ihre Geburtstage. Leider hatte er wohl irgendwo ein Limit setzen müssen, also hatte er sie auf zwanzig reduziert, aber er war sehr sorgfältig mit der Auswahl gewesen. Und jetzt waren es schon acht Päckchen. Vergaß man den Aspekt, dass es bald enden würde, war sein Leben momentan eigentlich nicht schlecht; er verbrachte eine durchaus schöne Zeit. Ran war ziemlich anschmiegsam geworden, in den letzten Tagen. Er lachte leise bei dem Gedanken an seine Frau, die ihrer Schwangerschaft nun nicht mehr auskam. Langsam bekam sie das volle Programm ab, von Gefühlsschwankungen bis zu Heißhungerattacken auf die wahnwitzigsten Lebensmittelkombinationen. Sie war dabei, eine Mama zu werden. Und das Baby in ihrem Bauch entwickelte sich prächtig. Keinerlei Komplikationen, keinerlei Schwierigkeiten, nichts. Und das war trotz aller Bitterkeit unglaublich erleichternd. Das neue Leben wuchs heran. Shinichi seufzte leise, fuhr sich über die Augen. Langsam wurde er wieder wacher, nach und nach kehrte das Leben wieder in seinen Körper zurück, ob er es nun wollte oder nicht. Diese Welt war nicht fair. Warum hatte man ihm eigentlich unbedingt eine Prognose stellen müssen...? Es nicht zu wissen wäre viel besser gewesen... für alle. Oder auch nicht? Es nicht zu wissen… würden sie dann nicht auch alle wie auf einem Pulverfass sitzen? Er konnte es nicht sagen. Egal wie es lief, es lief wohl verkehrt. Man wollte immer das, was man nicht haben konnte. Ein ironisches Lächeln glitt über seine Lippen, dann zog er seinen Stuhl heran an den Tisch, griff sich sein aktuelles Buch sowie seinen Füller, mit dem Gedanken, ein wenig weiterzuschreiben, schraubte gerade die Kappe ab, als er draußen auf dem Gang jemanden rennen hörte, die Tür zu seinem Zimmer aufflog und schwungvoll an die Wand krachte. Er fuhr hoch, starrte den Eindringling verwirrt an. Herein stürzte Ran, etwas außer Atem, schaute ihn mit roten Wangen und glänzenden Augen an. „Shinichi?!“ Sie war aufgekratzt, ganz offensichtlich. Shinichi schaute sie erstaunt an, wollte etwas sagen, aber kam nicht dazu, etwas zu äußern. „Schnell!“ Sie eilte um den Tisch herum, packte seinen Kopf mit beiden Händen und drückte ihn gegen ihren Bauch. „Ran?“ Er war zuerst einmal völlig verwirrt. Er merkte, wie ihre Hände zitterten, spürte ihren schnellen Atem sein Haar streifen. Langsam hob er den Kopf, schaute sie fragend an, aber sie legte ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen. „Schhhhhhhhhttt...Spürst du’s?“, wisperte sie mit erregter Stimme, drückte seinen Kopf fester gegen ihren Bauch. Und da fühlte er es. Er blinzelte. An seiner Wange bewegte sich etwas. Sie war es. Ganz deutlich konnte er es fühlen, wie sie sich rührte. Er legte das Buch und den Füller zur Seite und berührte mit seinen Handflächen nun ebenfalls den Babybauch seiner schwangeren Frau, hielt die Luft an. Fasziniert hielt er still, lauschte, konzentrierte sich auf das, was seine Finger spürten. Ran lächelte stumm. Sie merkte, dass ihn das, was er wahrnahm, in den Bann schlug und freute sich darüber. Dann sah er auf, seine Augen leuchteten. „Wahnsinn…“, hauchte er. Sie lächelte. „Ja, nicht wahr?“ Sie sank in seine Arme, ließ sich auf seinem Schoß nieder, spürte seinen Atem an ihrem Hals, seine Hände, die immer noch auf ihrem Bauch lagen. „Unser Baby… unser kleines Mädchen…“ Er küsste ihren Hals. „Sie strampelt aber ganz schön.“ Grinsend zog er die Augenbrauen hoch. „Ja, wurde auch Zeit.“, lachte Ran. „Ein faules kleines Fräulein ist das, sie hat ja lang genug damit gewartet. Ich hoffe nur, sie kommt später mal etwas flotter in die Gänge.“ Sie lachte, strahlte ihn an, dann küsste sie ihn auf die Lippen, stürmisch, leidenschaftlich. Er ließ sich von ihr anstecken, hielt sie fest, dicht an sich, genoss ihre Nähe, genoss die Lebensfreude, die sie verbreitete. Sie war die Sonne in seinem Sternensystem, und das wusste er. Sie verbreitete Wärme und Licht, wo immer sie auch war. Und er war ihr unendlich... unendlich dankbar, dass sie diesen Weg mit ihm ging, auch wenn er sich so oft wünschte, sie würde es nicht tun. Es war klar, dass er es nie so weit geschafft hätte, wäre sie nicht an seiner Seite gewesen. Würde sie ihn nicht mit ihrer Lebendigkeit stets anstecken. Und so ließ er sich einmal mehr von ihr mitreißen, versuchte, sich die Freude über das Kind nicht durch seine trüben Gedanken verderben zu lassen. Schließlich… gab es noch andere Dinge im Leben als den Tod. Shihos Geschichte ----------------- Guten Abend, meine lieben Leserinnen und Leser! An dieser Stelle möchte ich euch wie immer sehr für die Kommentare zum letzten Kapitel danken! Ich hoffe, ihr seht das nicht als Floskel an, die ich der Höflichkeit halber hierhersetze, denn das ist sie nicht- ich danke euch wirklich. Ich weiß zu schätzen, wenn man mir einen Kommentar schreibt. Jeder, der selbst Fanfiction schreibt, wird das wohl bestätigen können :) Nun... wir schreiten voran in der Geschichte, und was jetzt kommt, ist hauptsächlich Erzählung- ich hoffe, dass euch der Rest der Fic nicht anödet oder so. *g* Es wird kein Thriller mehr werden, das muss euch klar sein, die Fälle sind ja nun vorbei. Das ist ein Drama. Und es geht dem Ende zu, wenn auch die Schritte klein sind, aber man will ja nichts überstürzen, oder? Eigentlich stellt sich nur noch eine zentrale Frage – und nein, es ist nicht die, was in dem Päckchen drin ist. *g* Auch wenn die noch beantwortet wird. Vielleicht auch nicht mal die, ob er die Geburt seiner Tochter noch erlebt. Auch diese Frage wird noch beantwortet. Aber was ich für am Zentralsten halte, ist die Frage, ob Ran und Sayuri - und auch Shinichi – es schaffen, doch noch irgendwie eine Familie zu werden… über diesen Verlust hinwegzukommen, der sie momentan entzweit. In diesem Sinne. Entschuldigt das lange Vorwort *g* Viele Grüße, Eure Leira :D _____________________________________________________________________ Kapitel 21:Shihos Geschichte Gegenwart Shiho war baff. Sie saß vor ihrer Kaffeetasse und ihrem Tortenstück und hatte Sayuri bis jetzt still zugehört, die über ihre Begegnung mit Japans Ex-Meisterdieb Kaito KID erzählt hatte. Sie seufzte, dann schob sie sich eine Gabel voll Sahnetorte in den Mund. „Na, da siehst du, mit welchen Gestalten, mich eingeschlossen, sich dein Vater abgegeben hat. Aber der Auftritt passt zu ihm. Hört sich sehr nach KID an.“ „Mich würd ja interessieren, was er für ein Buch gesucht hat…“ Sayuri verdrehte die Augen nachdenklich. „Muss schwer zu beschaffen gewesen sein…“ „Wahrscheinlich irgendeine Maurice Leblanc-Erstausgabe über Arsène Lupin. Sein großes Idol. Zumindest das seiner Jugend.“ Shiho blinzelte, dann lächelte sie. „Irgendwo ist er wohl unrettbar verloren. Einmal Dieb, immer Dieb.“ Sie lachte leise. „Aber an ihm siehst du wohl... genauso wie an mir... ganz gut, welchen Einfluss dein Vater auf andere Leute hatte. Er machte seine Umwelt besser, auch wenn es nicht immer dadurch war, dass er einen Mörder gefasst hat. Nein, er schaffte das auch im Kleinen.“ Sayuri lächelte, dann nahm sie einen Schluck heiße Schokolade. „Wo wir beim Thema wären.“, bemerkte sie dann vorsichtig. „Ja, das stimmt wohl.“ Shiho nickte gedankenverloren. „Dann fang ich mal an... am besten am Anfang.“ Sie lehnte sich zurück, schlug ein Bein übers andere, faltete ihre Hände über ihrem Knie und sah seine Tochter lange an. „Es fing an, an dem Tag, als man meine Schwester ermordet hatte...“ Sie schloss kurz die Augen. Sayuri schwieg, schaute sie nur aufmerksam an. „Akemi. Sie war mein einziger Halt in diesem Leben... meine Eltern... Atsushi und Elena Miyano waren schon vor... vielen Jahren von der Organisation ermordet worden. Der Vorfall war als Unfall getarnt worden, hab es lange geglaubt, aber dann… nach Akemis Tod wusste ich es... wusste es besser. Ich hatte also nur noch sie, sie war immer für mich da, sie liebte mich, gab mir Wärme und Geborgenheit und...“ Sie sog leise schniefend die Luft ein. „Sie war einfach meine Schwester... “ Stille. Shiho schwieg, schluckte. Irgendwo im Kaffee hörten sie jemanden lachen, aber nahmen es nicht wahr; für die beiden Frauen, die eine erwachsen, die anderen auf der Stufe davor, existierte das Café nicht mehr. „Und sie haben sie umgebracht. Erschossen. Er war dabei, damals. Shinichi. Er hatte es gesehen. Er hatte im Vorfeld gewusst, dein Vater, wie der Fall enden würde, er wollte sie ja retten. Man hatte, das erfuhr ich später, ihr ein Angebot gemacht. Eine Milliarde Yen für mich, für ihre Schwester… für unsere Freiheit. Sie beging einen Bankraub, um an das Geld zu kommen; aber als sie es geschafft hatte, hat man sie umgebracht. Man wollte nur das Geld, hatte nie vor, den Teil der Abmachung, den die Organisation zu tragen hatte, einzuhalten. Und Shinichi… ich denke, er hatte sowas geahnt. Er wollte sie aufhalten, wollte unbedingt, wollte sie beschützen, verhindern, dass ihr was geschah und ich weiß, dass Shinichi dieses Versagen sein Leben lang nie losgelassen hat. Er wollte ihr Leben retten, er war ihr nachgeeilt, aber er war zu langsam, und er war zu schwach, denn er war... er war Conan.“ Shiho nahm einen Schluck Kaffee. „Er konnte ihr nicht helfen. Er war bei ihr, als sie starb, für alles andere kam er zu spät. Er hatte ihr nicht helfen können... und gleichzeitig hatte ich keinen mehr, der mir helfen konnte. Ich war jetzt allein. Und ich war wütend. Ich wollte wissen, warum man sie getötet hatte, ich wollte wissen, warum sie sterben musste, ich wollte... wollte eine Erklärung, warum, weiß ich heute nicht mehr... denn auch eine Erklärung hätte ihren Tod doch nicht rückgängig oder sinnvoller gemacht. Ich... ich hab damals gedroht, die Arbeit niederzulegen. Ich weigerte mich, weiter zu forschen... und nachdem ich später erfahren hatte, dass sie mich hatte freikaufen wollen, und man sie nur benutzt hatte, weil man mich nicht gehen lassen wollte, ihr etwas vorgegaukelt hatte, damit sie tat, was man verlangte, war ich noch viel wütender. Aber nun... damals beschlossen sie, mich zuerst mal in Beugehaft zu stecken, bis man entschieden hätte, wie mit mir zu verfahren sei. Man hat mir mit dem Tod gedroht, und es war mir nur Recht. Der Gedanke schreckte mich nicht, im Gegenteil. Es war... es war mir höchst willkommen, würde man mein Leben beenden. Denn dann wäre ich bei ihr. Bei Akemi. Und dieser Gedanke begann mein Denken einzunehmen, auszufüllen bis in die letzte Ecke, jeden Lebenswillen auszulöschen. Ich sah nur noch ihr Gesicht, in mir war nur noch der Wunsch, ihr zu folgen, bei ihr zu sein, diesem schrecklichen, furchtbaren, bohrenden und kaum zu ertragenden Verlustschmerz ein Ende zu bereiten. Ich wollte sterben. Ja, das wollte ich wirklich. Und ich tat es. Ich machte einen... Versuch. Ich nahm die Pillen, die man auch deinem Vater gegeben hatte, mit dem Gedanken, an ihnen zu sterben, wie so viele schon vorher. Aber es funktionierte nicht. Ich schrumpfte...“ Shiho schaute von ihrer Kaffeetasse auf, in die sie hinein gestarrt hatte, während sie erzählt hatte, mit leiser Stimme. Schaute in Sayuris aufmerksam angespanntes Gesicht, und schluckte. „Und dann bekam ich Angst. Nicht um mich. Sondern um einen anderen Menschen, einen Menschen, den ich noch gar nicht kannte, aber von dem ich ahnte, dass das, was ich angestellt hatte, sein Schicksal immens beeinflussen könnte. Ich hatte Angst… um Shinichi Kudô. Um deinen Vater. Ich wollte mein Leben beenden, ja… aber nicht seins.“ Sie hob die Tasse, setzte sie bedächtig an die Lippen und nippte an ihrem Kaffee. „Ich ahnte, dass auch bei ihm dieses Phänomen aufgetreten war. Da Gin und Wodka damals nicht bis zu seinem ‚Tod’ warten konnten, waren sie vorzeitig geflohen, wussten nicht, ob er gestorben war. Als sie nachsehen wollten, war er natürlich weg. Also ordnete die Organisation Kontrollbesuche an in seinem Haus, bei denen ich auch anwesend war. Beim ersten Mal schien es einfach nur unbewohnt. Verlassen. Kein Mensch war hier... keiner lebte hier. Beim zweiten Mal hatten sich die Spuren des Verwahrlosens vertieft; nur eine Sache fiel mir ins Auge und erschreckte mich zutiefst.“ Wieder machte sie eine kleine Pause, bemerkte, dass Sayuri das Tischtuch knetete, aber sagte nichts, seufzte nur. „Seine Kinderklamotten waren weg. In der Schublade, wo beim letzten Mal noch all seine Grundschulkleider waren, war jetzt nichts mehr. Du kannst dir nicht vorstellen, was mir damals für ein Schauer über den Rücken geronnen ist. Und nun... nun war ich in der gleichen Situation, und ich ahnte, dass meine Vermutung was Shinichi Kudô betraf, richtig gewesen war. Ebenfalls wusste ich, dass man, wenn man mich hier so fand, auch alle anderen Toten noch mal auf diesen Aspekt hin überprüfen würde – und das wäre sein Todesurteil gewesen. Ihn hätte man als erstes untersucht, mit Sicherheit. Also beschloss ich, nicht zu warten, bis sie mich umbrachten, sondern zu flüchten, durch den Müllschacht, ihn zu suchen... einerseits, weil ich ihm helfen wollte, schließlich war es mein Gift, das seine Welt aus den Angeln gerissen haben musste und andererseits, weil er die einzige Person war, von der ich glaubte, sie könnte meine Situation verstehen. Und so lief ich, durch den strömenden Regen, zu der einzigen Adresse von ihm, die ich kannte. Sein Haus. Davor brach ich erschöpft zusammen und wurde dann...“, sie lächelte sanft, „von unserem lieben Professorchen aufgenommen. Ihm verdanke ich ebenfalls so viel...“ Sie schwieg kurz, schaute aus dem Fenster, dann glitten ihre Augen kurz über Sayuris Gesicht, blieb an ihren Augen haften. Seine Augen. Kurz schluckte sie, dann fuhr sie fort. „Ich lernte deinen Vater am nächsten Tag in der Grundschule kennen. Ich setzte mich neben ihn, denn der Platz war noch frei, beobachtete ihn... und ich hatte schon vom ersten Augenblick an keinen Zweifel mehr. Es war... war erschreckend. Conan Edogawa war Shinichi Kudô, zweifelsfrei. Und nach der Schule... schloss ich mich ihnen an. Den Detective Boys, und begleitete sie bei einem Fall. Sie lösten ihn, aber es war klar, wer die Fäden zog. Seine Brillanz löste den Fall, sein Wissen war mehr, als ein Grundschüler angehäuft haben konnte... und so stellte ich ihn zur Rede, nach dem Fall. Auf dem Nachhauseweg. Ich offenbarte mich ihm, ich nannte ihm den Namen des Gifts, das ihm das angetan hatte, ich nannte ihm meinen Codenamen, Sherry... ich hab ihn ganz schön geschockt, und damals, in diesen Minuten, hab ich ihn mir nicht unbedingt zum Freund gemacht. Er hielt mich für gefährlich, er genoss mich mit extremer Vorsicht, aber er steckte mich nicht in eine Schublade. Er hielt sich alle Optionen offen, was seine Einschätzung mir gegenüber betraf, ich war ein weißes Blatt vor seinen Augen, mit einem einzigen roten Fleck. Rot kann Gefahr bedeuten. Und Rot ist ein Zeichen für Freundschaft, Wärme, Liebe. Er... gab sich die Chance, mich kennenzulernen, und ich... ich ließ ihn. Das Blatt füllte sich, und das rote Fleckchen wurde zum Zeichen für Freundschaft. Ich... zeigte ihm Seiten an mir, die keiner kannte. Ich... es war seine Art, die mich faszinierte, die mich dazu verführte, mich ihm zu öffnen. Er verdeutlichte mir... von Anfang an... dass ich von ihm nichts zu befürchten hatte. Dass er mich nicht reinlegen oder ausnutzen würde. Shinichi war... war hilfsbereit, war kein Mensch, der mit Vorurteilen behaftet war, aber auch keiner, den man leicht überzeugte. Und ich wollte ihn aber überzeugen, unbedingt. Ich wollte... ich weiß nicht, was ich damals wollte. Aber er hat in mir einen Funken zum Glimmen gebracht. Überlebenswille. Der Gedanken ans Sterben war vergangen, denn ich hatte eine neue Aufgabe. Ihm helfen. Meine Schwester rächen. Und dann... dann lernte ich seine Geschichte kennen. Sein Dilemma. Ich lernte Ran kennen.“ Shiho seufzte tief, strich sich über die Augen. „Seine Ran. Die er... die er so sehr liebte. Ich war... war überwältigt, ehrlich, von dem, was er für sie zu ertragen bereit war. Wie bedingungslos er war, wenn es um sie ging. Es war mir sowieso ein Rätsel, was er für die, die ihm etwas bedeuteten, zu ertragen bereit schien. Jeder, der es geschafft hatte, seine Freundschaft zu verdienen, der stand unter seinem Schutz. Den wollte er glücklich sehen, um jeden Preis, und wenn er selber draufging dabei, wenn er selber litt dabei, es war ihm gleich... Er hätte Ran lieber glücklich mit einem anderen gesehen als ewig traurig wegen ihm, weil er nicht bei ihr sein konnte. Es tat ihm fast körperlich weh, sie so unglücklich zu sehen, zu sehen, wie sie sich nach ihm sehnte, und nichts dagegen tun zu können. Und in diese Situation kam er ja später, wenn sie auch ein wenig anders war, erneut. Er hatte auch nie damit gerechnet, dass sie ihn so liebt... das machte es für ihn noch umso schwerer, denn neben seiner Liebe für sie, dem ewigen Wunsch, sie glücklich und fröhlich zu sehen, kam noch das schlechte Gewissen, dass sie jemanden liebte, der ihr so weh tat. Dass er der Grund war für ihr Elend. Und wie gesagt... dieses Phänomen wiederholte sich. Ran... sie hat sich auch dann nicht von ihm abgewendet, als sie wusste, dass er... dass er sterben würde. Sie beide wussten, wie schmerzvoll es werden würde, und deswegen wollte er ja, dass sie ihn verließ. Er wollte, dass sie ihr Heil in der Flucht suchte, ging, solange sie es noch konnte, aber was er nicht sah, war, dass sie die Möglichkeit nie hatte. Aus dem einfachen Grund, dass Ran diese Option nie in Betracht zog. Sie liebte ihn. Und sie wollte bei ihm sein, bis zum bitteren Ende, und das war sie auch. Und deshalb bestand Ran auch auf eine Heirat... und deshalb legte sie ihn auch rein, mit dir.“ Shiho lächelte sie kurz an. „Und ich denke... er war ihr doch dankbar dafür, sie hatten noch eine... eine schöne Zeit, damals, ja. Zumindest… größtenteils. Aber man hat ihn schon fast zu seinem Glück zwingen müssen. Er wollte alle von jeder Gefahr, jedem Schmerz abschirmen, achtete dabei kaum auf sich, verlor sich selber in Einsamkeit, wenn man nicht ein paar der Mauern wieder einriss, die er um einen errichtet hatte.“ Sie schmunzelte verhalten. „Aber nun wieder zurück auf Anfang. Ich wurde seine Freundin, eine sehr, sehr gute Freundin, aber nie mehr. Er liebte Ran, und ich akzeptierte es. Ich sah ihn leiden für sie, und ab irgendwann wollte ich diesem Leiden nur noch ein Ende setzen... ich wollte, dass er wieder lachte, wieder glücklich war, mit ihr. Denn ich mochte deine Mutter... mag deine Mutter... sehr gern. Sie ähnelt meiner Schwester, sie ist so vorbehaltlos, so herzlich, so freundlich und liebenswürdig. Sie ist hilfsbereit und aufrichtig, so wie er. Sie waren füreinander gemacht. Sie hatten ihr Glück so sehr verdient. Und dann... dann schaffte er es! Er schaffte, was kaum einer noch für möglich gehalten hätte, aber er... er besiegte die Organisation. Und ich machte das Gegengift, für mich und ihn... ich ahnte nicht...“ Ihre Stimme brach. Sayuri schluckte schwer, dann griff sie mit einer Hand über den Tisch, drückte Shihos Finger. Die Stimme der Forscherin versagte fast, als sie weitersprach, sich sichtlich zum Reden zwang. „Es hat ihn umgebracht. Ich war zu spät. Und ich hätte auch vorher nie zulassen dürfen, dass er das Gegengift immer wieder mal testete. Das alles war zu viel für ihn, das hat sein Körper nicht ausgehalten und deswegen... deswegen musste er sterben.“ Sie schluchzte leise, einmal nur, dann atmete sie tief durch, rang um ihre Fassung. „Er war tapfer. Wirklich, er war sehr tapfer. Als ich ihm gesagt habe, was Sache war... er hat nicht geschrien und nicht geweint. Er wurde nur blass, dann bedankte er sich für meine Mühe, meinen Rat, und ging. Er fraß alles in sich hinein. Die Gänge zu den Ärzten machte er allein, ich wusste auch gar nicht, wann er einen Termin hatte. Ich war nicht da, wenn er wieder die gleiche Diagnose ausgestellt bekommen hatte, wenn er nach Hause musste zu seiner Verlobten, zu Ran, die ihre Hochzeit plante und so glücklich war. Ich war die einzige, die es wusste, nicht einmal dem Professor hatten wir es gesagt, und ich tat nichts... nichts, ums ihm leichter zu machen. Ich war einfach kaputt. Ich konnte nicht fassen, was ich angerichtet hatte. Ich hatte den einzigen Menschen, der wirklich mein Freund war, umgebracht. Ich war ein schlechter Mensch. Er verdiente Besseres. Und ich hatte Angst. Angst, vor dem Moment, wo ich ihn verlieren würde, denn mir war klar, dass der Verlust für mich kaum tragbar werden würde. Ich... ich hab ihn geliebt. Ich habs ihm… nie gesagt. Ich weiß auch nicht, ob er es wusste. Vielleicht… aber das tut nichts zur Sache. Fakt ist allerdings… eben weil er mir so viel bedeutete, nur aus diesem Grund... schottete ich mich ab. Zuerst. Ich wollte mich schützen… wurde kühl und reserviert ihm gegenüber, bis er von allein nicht mehr kam, mich in Ruhe ließ. Dann kam der Zeitpunkt, an dem wirklich und unumstößlich gewiss war, dass es für ihn keine Rettung gab. Der Moment, als er es... öffentlich machen musste. Und als er damals aus dem Haus kam, mit diesem Ausdruck auf dem Gesicht... ich wusste, er hatte es jetzt Ran gesagt. Er ging. Ging, starrte in den Boden, sah nichts, hörte nichts. Und ihn mir wühlte mein schlechtes Gewissen. Hätte ich es ihm leichter machen können? Ich wusste es nicht. Aber ich... ich begann... begann, mich ihm wieder anzunähern. Ich weiß nicht warum, aber ich tat es. Und ich... bereute es nicht, auch wenn es zuweilen sehr qualvoll war. Aber er... er versuchte, nichts nach außen zu tragen. Gab sich gefasst, heiter, mit Ausnahme vielleicht der Zeit, in der er den Fall mit dem Serienmörder noch bearbeitete, weil ihn dieser Irre unglaublich belastete... Aber wenn jemand von uns dabei war, ließ er sich seinen Kummer selten anmerken, und den hatte er. Sorgen, Kummer und schreckliche Angst. Denn glaub mir... es gibt fast keinen Gedanken, der Schlimmer ist als das Wissen um den baldigen, eigenen Tod. Er machte sich Sorgen um uns. Wusste nicht, wie wir es verkraften würden, er fühlte sich schlecht, weil er uns schon wieder so wehtat. Noch dazu ging das alles... wie auch damals bei Conan... nicht ganz schmerzlos einher. Er hatte Schmerzen, furchtbare... Schmerzen... und irgendwann... irgendwann war ihm das Elend zu viel. Er sah, wie Ran litt. Wie seine Eltern litten, wie ich litt... wie wir alle Angst hatten, vor dem Zeitpunkt, an dem er uns verlassen würde, wie wir alle Mitleid hatten mit ihm, der sich so quälen musste. Er sah uns unsere Schmerzen an, hatte selber doch genug mit seinen zu tun... und da kam er auf... dumme Gedanken. Er dachte... er setzte dem allen am Besten ein Ende, wo es doch für ihn ohnehin keine Hoffnung mehr gab. Er dachte, ein sauberer Schnitt... würde uns helfen. Würde es uns leichter machen, und seine Qualen, seien sie nun seelisch oder körperlich, ebenfalls beenden. Und er ließ sich von keinem vom Gegenteil überzeugen. Er hörte die Appelle nicht, nicht von Ran, nicht von seinem Vater und auch nicht von Heiji, die ihn anflehten, anschrien, anbettelten, dass er doch vernünftig sein sollte. Sich besinnen sollte. Denn das war auch nicht das Problem... von seiner Seite aus war er vernünftig. Er... hatte es sich reiflich überlegt und den Gedanken als sinnvoll befunden.“ Sie seufzte leise. „Er war schon immer so verdammt stur. Auf alle Fälle… als sie nicht weiterkamen, holten sie mich. Mich, die ja schon... selbst soweit gewesen war. Und ich hab mit ihm geredet. Ich hab ihm gesagt, dass er nicht aufgeben darf. Ihm gesagt, dass der Ort, an den er sich freiwillig begeben wollte, nicht schön ist... kein Ort für ihn wäre. Ich hab ihn angefleht, er solle es sagen, wenn unser Verhalten ihn vor den Kopf stoße. Er solle reden, wenn ihn etwas belastet, und ich hab ihm versichert... versichert, dass alles, was wir jetzt noch an ihm haben... all das andere... den Schmerz, die Angst... wieder aufwöge, und das stimmte auch. Jede Minute mit ihm war so kostbar. Er hatte nicht das Recht, sie uns zu nehmen. Wir haben ihn gebraucht, bis zum Ende. Bis er nicht mehr konnte, brauchten wir ihn, und das musste er wissen. Und dann ging es auch wieder.“ Sie lächelte verhalten. „Dann ging es auch wieder. Wir behandelten ihn nicht mehr wie einen Toten und er lebte dafür für uns.“ Sayuri seufzte laut. Jetzt verstand sie alles. Der Eintrag im Tagebuch, das alles machte jetzt Sinn. „Er ließ sich aufhelfen.“ Shiho nickte. „Ganz genau. Er ergriff die Hand, die ihn auf die Beine ziehen wollte.“ Sie schüttelte ihren Kopf sachte. „Er war immer so stark. Es tat... tat furchtbar weh, ihn so verletzt, so zerstört zu sehen. Es war... schrecklich. Er... er hatte doch auch noch... fast nie Hilfe gebraucht. Er tat immer alles selber, machte sein Ding. Er war selbstständig, er brauchte niemanden... ihn damals dazu zu bringen, unsere Hilfe anzunehmen, war ein hartes Stück Arbeit. Aber ich hätte mir nie verziehen, hätte ich ihn damals nicht wieder aufrichten können. Ich konnte es, und ich wollte es tun, auch wenn die Erinnerung für mich schon hart war... Ich wollte alles für ihn tun, was noch in meiner Macht stand. Und so... so erzählte ich ihm, was ich dir erzählt habe, erzählte ihm von meinen Gedanken, damals... und er hörte zu. Und er ließ sich umstimmen, er verstand... und er ergriff meine Hand. Unsere Hände. Er entschloss sich, noch nicht aufzugeben, entschloss sich, zu kämpfen, für sich, für Ran... für uns alle, aber ganz besonders für dich.“ Shiho schaute das Mädchen liebevoll an. „Er wollte dich sehen. Unbedingt.“ Sie trank ihren Kaffee aus. „Und so nahm er den Kampf noch mal auf, gegen Conan Edogawas Erbe.“ Sayuris Augen glänzten, man sah, wie sie sich freute. Freute, über die Tatsache, dass ihr Vater so gekämpft hatte... anderen Menschen geholfen hatte. Zwar piekte immer noch die kleine Nadel Wehmut in ihrer Magengegend, erinnerte sie beständig daran, dass dieser Mensch für sie unerreichbar war... aber momentan fühlte sie sich ihm einfach verbunden. Sie redete mit Menschen, deren Leben er zum Positiven verändert hatte... und erfuhr, dass auch sie... wohl sein Leben positiv verändert hatte. Er hatte nicht aufgeben wollen, und das bewunderte sie und machte sie stolz. Genau so wollte sie auch sein. Dann stach sie ein Stück Torte mit ihrer Gabel ab und schob es sich in den Mund, genoss den süßen, sahnigen Geschmack. Und dann kam ihr ein Gedanke in den Sinn. „Tante Shiho... gab es... eigentlich Fotos? Von dir und... Papa? Also von... von Ai und Conan?“ Shiho lächelte amüsiert. „Ich hab mich schon gefragt, wann du fragst. Er hat mich und den Professor gehasst dafür. Und deine Mum auch ein wenig.“ Sie zog einen Umschlag aus ihrer Blazerinnentasche. „Voilà. Und hiermit bekommt der Mythos Conan Edogawa ein Gesicht.“ Sie reichte Sayuri das Kuvert. Das Mädchen lehnte sich etwas zurück, dann öffnete es den Umschlag, zog einen Packen Fotos heraus. Das rotblonde Mädchen, das auf den ersten Bildern posierte, erkannte sie sofort. Erstaunt starrte sie zu ihrer Tante, ihr Mund stand etwas ungläubig offen. „Es ist das eine, davon zu hören, aber es zu sehen bringt das Ganze in vollkommen andere Dimensionen, nicht wahr?“ Dann griff sie über den Tisch, zog ihr die Fotos aus den Händen, blätterte vor, legte dann ein Foto vor ihr auf den Tisch. „Da. Das war er.“ Sie deutete auf einen kleinen Jungen mit Brille. Sayuri griff sich unwillkürlich in die Haare. Die Ponyfransen waren unverkennbar. Und auch seine Augen. Sie sprachen eine andere Sprache als sein Gesicht. Das war ihr Vater. Und langsam verstand sie, warum und inwiefern diese Zeit gerade im Bezug auf ihre Mutter die Hölle auf Erden für ihn gewesen sein musste. Die eigene Identität zu verstecken, die zu belügen, die man liebte, um sie zu beschützen, ihr wehtun zu müssen, ihr nicht das geben zu können, was sie sich wünschte und er ihr so gern gegeben hätte... Nein... als Conan hatte er keine Chance gehabt, für ihre Mutter als... als Partner... als Freund... da zu sein. Nur als kleiner Bruder. Als Ersatzfreund. Sie konnte sich vorstellen, wie sehr er das verabscheut haben musste. „Das ist irgendwie unheimlich...“, murmelte sie leise, wandte den Blick jedoch nicht ab. Der Junge saß auf einer Bank, schaute eher genervt in die Kamera, ihn schien die Fotoaktion eher anzuöden; rechts neben ihm saß Ai... Tante Shiho... lächelte mysteriös wie immer, links neben ihm saß ein brünettes Mädchen, warf Conan neben ihm verstohlene Blicke zu, ihre Wangen waren gerötet. Sayuri blinzelte, dann entfuhr ihr ein leises Kichern. Shihos Mundwinkel bewegten sich ebenfalls nach oben. Seine Tochter hatte offensichtlich ein gutes Auge fürs Detail. Jetzt schaute sie kurz auf. „Tante Shiho... ich weiß, es ist nicht lustig, aber kann es sein...?“ Shiho grinste breit. „Ja, kann es.“ Sie lehnte sich zurück, lachte leise. „Er fands nicht ganz so amüsant. Du musst wissen, das sind die Detective Boys- Ayumi, Genta, Mitsuhiko. Genta ist der dickliche Junge da, Zeit seines Lebens verfressen, in Gedanken stets bei Aal auf Reis, aber ein verlässlicher Freund. Und das ist Mitsuhiko, ein schlaues Kerlchen für sein Alter. Und die beiden waren hemmungslos verknallt in Ayumi, deswegen schauen sie deinen Vater auch ein wenig böse an.“ Ihr Lächeln wurde noch breiter. „Denn Ayumi war tatsächlich hoffnungslos verliebt in deinen Dad. Blind wie er in solchen Dingen war, hat er es mal wieder zu spät gemerkt. Er hat zwar versucht, dagegen zu steuern, aber richtig gemein wollte er ja zu ihr auch nicht sein. Und so hielt er sich daran, das alles in einem netten, nichts sagenden Schwebezustand zu halten.“ Sie lachte auf. „Himmel, war ihm das peinlich. Eine Grundschülerin, die sich in ihn verknallt hatte. Und er... nun... er definierte Liebe ja doch schon ganz anders als sie, deshalb war die Situation für jeden Außenstehenden urkomisch, wenn Ayumi wieder damit anfing, dass sie beide füreinander bestimmt wären, und er nur noch nach Luft und Worten rang.“ In ihre Augen war ein belustigtes Funkeln getreten, das allerdings mit den nächsten Worten erlosch. „Du fragst dich jetzt sicher... ob wir es ihnen gesagt haben.“ Sayuri nickte langsam. Das stimmte; sie hatte wirklich gerade darüber nachgedacht, ob Shiho und ihr Vater den Kindern ihre wahre Identität mitgeteilt hatten. Shiho schluckte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Wir haben lange... lange darüber nachgedacht, viel über dieses Thema geredet, die Gedanken hin- und hergewälzt. Aber in Anbetracht der Tatsache... dass eben Ayumi ihn wirklich anhimmelte, und Mitsuhiko wohl auch für mich... gewisse... Sympathien hegte...,“ sie wurde ein wenig rot um die Nase, „dachten wir, wir ersparen ihnen dieses Gefühl von Scham, wenn sie erfahren, in wen sie da so hoffnungslos verschossen waren. Wir... haben uns von ihnen verabschiedet. Conan ging zu seinen Eltern nach Übersee und Ai wurde adoptiert. Es flossen viele Tränen, ja, und ich gebe zu, mir und Shinichi fiel das auch gar nicht leicht... aber auch jetzt im Nachhinein betrachtet, muss ich sagen, es war besser so. Sie waren noch zu jung für diese Wahrheit. Und als Shinichi... starb... starb für die vier nur ein berühmter Detektiv, den sie vielleicht etwas verehrten, aber nicht ihr bester Freund Conan. Es war... war besser so.“ Sie starrte traurig auf die Tischplatte. „Und doch werde ich ihnen auf ewig für diese unbeschwerte, schöne Kinderzeit dankbar sein... ich hatte zu meiner Kindheit keine Freunde wie sie.“ Sie seufzte. Sayuri blinzelte sie mitfühlend an. Dann schaute sie sich die Fotos fertig an. Aber nachdem sie die Geschichte gehört hatte... wusste, was alles damit zusammenhing, Ais und Conans Geschichte nun kannte... hatten sie ein wenig ihren Reiz für sie verloren. Happy birthday, Ran ------------------- Hallo, meine Damen und Herren :D Vielen, vielen, vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Nun... ich denke, hierzu gibt es nicht viel zu sagen... lest selbst, und bildet euch eure Meinung. Wolltet ihr diese mir dann mitteilen, so könnt ihr das gerne tun! ;D Ansonsten wünsch ich gute Unterhaltung, bis nächste Woche! Eure Leira :D ___________________________________________________________ Kapitel 22: Happy birthday, Ran Vergangenheit Sie wachte auf, weil etwas sie an der Nase kitzelte. Sie kicherte leise, dann öffnete sie träge blinzelnd die Augen um zu erfahren, welcher Störenfried sie aus dem Reich der Träume riss. Als sie ihre Augen dann soweit offen hatte, sah sie nicht nur, was sie da gekitzelt hatte, sondern erkannte auch den Störenfried. Ersteres war eine Feder. Letzteres war ihr Ehemann, der sie unverschämt angrinste. „Alles Gute zum Geburtstag, Ran.“, murmelte er, gab ihr einen sanften Kuss auf die Lippen. „Aufwachen, komm. Ich hab unten Frühstück hergerichtet. Ich hab sogar einen Kuchen für dich.“ Ein Hauch von Stolz schwang in seiner Stimme mit. Sie lächelte glücklich, dann griff sie nach seinem Hemdkragen, zog ihn wieder zu sich, um ihm nun ihrerseits einen Kuss zu geben. „Du hast gebacken?“, murmelte sie, ließ ihn immer noch nicht los, spürte seinen warmen Atem in ihrem Gesicht. „Hm, ja... sowas in der Art.“ Sie lachte leise, ließ sich von ihm aufhelfen, schlüpfte in ihren Morgenmantel, den er ihr reichte. „Und was heißt das genau?“, fragte sie, gähnte leise. „Dass... nun. Ich hab das Teil immerhin in den Backofen geschoben.“ Er grinste, zwinkerte sie an. „Und wer hat den Rest gemacht?“ „Jemand, dem ich tief dankbar bin.“ Sie schaute ihn verwirrt an. „Ein Backmischungsfabrikant, dessen Name ich hier nicht nennen werde...“, murmelte er zerknirscht. „Aber hey, ich hab immerhin noch Milch und Eier da reingerührt!“, bemerkte er wichtig, verschränkte die Arme vor der Brust. „Und den Teig in eine Form gefüllt, gebacken und den Kuchen vor dem Stadium eines Briketts wieder aus dem Ofen rausgeholt.“ Ran lachte, schaute ihn vergnügt an. In ihren Gedanken tauchte ein Bild vom ihrem Göttergatten auf, der in den Backofen stierte. „Großartige Leistung, mein Lieber!“ Shinichi verzog das Gesicht, tat beleidigt. „Na, du müsstest mal sehen, wie toll ich den verziert hab. Das kann kein Kuchenbackmischungshersteller.“ Sie schaute ihn an, lächelte, lehnte sich leicht an ihn und ließ sich in die Küche führen, wobei er ihr die Augen zuhielt. In der Küche angekommen, nahm er ihr die Hände vom Gesicht; und was ihr sofort ins Auge stach, war fast schon ein abstraktes Kunstwerk. Inmitten von Tellern, Tassen, Marmelade, Käse und Wurst und allem anderen stand etwas, das aussah, als wäre es kopfüber in eine Schüssel voll Zuckerstreusel gefallen. Auf dem Objekt positioniert waren vierundzwanzig Kerzen, die munter vor sich hin flackerten. Shinichi schob Ran zum Tisch, die sich ein Grinsen nicht verkneifen wollte. „Und? Wie findest du ihn?“ Er hörte sich etwas nervös an. Ran legte den Kopf schief. „Bunt.“ Shinichi starrte sie aus Halbmondaugen an. „Ahhh, Klasse. Ja, jetzt weiß ich Bescheid. Blas die Kerzen aus und wünsch dir was, ich hoffe, dafür ist er dir nicht zu bunt...“ Ran versetzte ihm einen leichten Knuff in die Seite, dann beugte sie sich vor, holte Luft und blies die Kerzen aus. Dann ließ sie sich von ihm einen Stuhl zurecht schieben und setzte sich, während er ihr heiße Schokolade einschenkte. Er selber bediente sich mit Kaffee, setzte sich ebenfalls. „Was hast du dir gewünscht?“ Ran blinzelte ihn ertappt an, dann senkte sie beschämt den Blick. Ihre Wangen waren rot geworden, ihr Blick leicht glasig. „Das darf man nicht sagen, sonst geht’s nicht in Erfüllung.“ Shinichi schluckte, ein bitterer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus; dann stand er wieder auf, holte das Feuerzeug, zündete die Kerzen wieder an. Ran starrte ihn erstaunt und verwirrt gleichermaßen an. „Was tust du?“, fragte sie flüsternd. Ihr Magen wurde flau. „Dafür sorgen, dass du dir etwas wünschst, das auch in Erfüllung gehen kann.“ Sie faltete die Hände in ihrem Schoß, biss sich auf die Lippen. „Du weißt...?“ „Ich habe eine gute Ahnung, denke ich.“ Er zündete die letzte Kerze an. „Komm, steh auf, versuchs noch mal. Aber bleib realistisch, diesmal... ja? Ran?“ Shinichi seufzte leise, nahm ihren Kopf in beide Hände, schaute sie ernst an. Sie nickte, dann beugte sie sich zum zweiten Mal vor, blies die Kerzen erneut aus. „Aber ich sag dir trotzdem nicht, was ich mir gewünscht hab.“, murmelte sie trotzig, als sie sich wieder setzte, nach dem Messer griff und den Kuchen anschnitt. „Solange er in Erfüllung gehen kann, solls mir Recht sein.“ Er warf ihr ein warmes Lächeln zu, das sie umgehend erwiderte. Ich wünsche mir, dass du sie noch siehst... ich wünsch mir eine Familie, egal für wie lange. Ungefähr eine halbe Stunde später legte sie ihre Gabel beiseite, mit der sie gerade ihr letztes Stück Kuchen verspeist hatte, schaute ihn nachdenklich an. Er bemerkte ihren Blick, grinste sie an. „Wenn du mich jetzt fragst, was ich noch alles für heut geplant hab, dann wirst du keine Antwort kriegen, ich nehme an, das weißt du.“ Ran seufzte, stützte ihren Kopf in ihre Hände. „Darf ich raten?“ „Das wiederum sollst du sogar.“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich brauch heut nicht Kochen, weil wir essen gehen.“ „Jup. Weiter?“ „Du hast eine Party geplant.“ „So ist es; aber erst für heut abend.“ Ran zog die Stirn kraus. „Und was machen wir bis dahin?“ Shinichi stand auf, half ihr ebenfalls auf die Beine. „Wirst du schon sehen. Jetzt zieh dich erstmal an, meine Liebe.“ Er schob sie vor sich her, raus aus der Küche. „Dann wirst du’s schon sehen. Nach dem Mittagessen.“ Es war halb zwei Uhr Nachmittags, als sie nach einem feudalen Mittagessen beim Italiener nun neben ihm im Auto saß und ihn voller Neugier anstarrte. Sie hatte es seit dem Frühstück kaum ausgehalten, platzte fast vor Aufregung. „Und wo fahren wir jetzt hin?!“ In ihrer Magengegend kribbelte es. „Sag schon! Spann mich doch bitte nicht so auf die Folter!“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu, bemerkte das Strahlen in ihren Augen, das neugierige Funkeln; auch der leichte Rotschimmer auf ihren Wangen entging ihm nicht. Shinichi lächelte still in sich hinein. „Du siehst es gleich.“ „Shinichi!“ Sie stöhne auf. Er lachte, fuhr ruhig weiter, verließ die Stadt, ließ das hektische Treiben Tokios hinter sich. Und dann waren sie angekommen. Ran seufzte leise, stand am Strand, ließ sich von den kühlen, luftigen Fingern der Meeresbrise die Haare kämmen. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit; und sie genoss es in vollen Zügen. Neben ihr breitete Shinichi Decken auf dem Sand aus, sah sie zufrieden an. Ihr gefiel die Umgebung offensichtlich. Ihr Haar wehte sanft hinter ihr, ihre Hände ruhten auf ihrem mittlerweile deutlich gerundeten Bauch, ein sanftes Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie mit ihren Augen den Horizont absuchte. Sie war bezaubernd. Kurz warf sie ihm einen dankbaren Blick zu, dann wandte sie sich wieder den scheinbar unendlichen Weiten der See zu. Sie liebte das Meer. Und er wusste das, deswegen war er hergefahren mit ihr, um ein paar schöne Stunden hier zu verbringen. Er stellte einen Picknickkorb auf die Decke, dann trat er hinter Ran, zog sie an sich. Sie ließ sich zurückfallen, zog seine Hände um ihren Körper, legte sie auf ihren Bauch und seufzte. Selten hatte sie ein tieferes Gefühl der Zufriedenheit verspürt. Er gab ihr einen Kuss in den Nacken, ließ seinen Kopf auf ihre Schulter sinken. Ran schloss genussvoll die Augen, spürte seinen Atem ihre Haut streifen. „Es ist schön hier.“, murmelte sie dann leise. „Ich weiß.“ Sie öffnete die Augen wieder, drehte sich in seinen Armen um, legte ihre Hände um seinen Nacken, blickte ihm in die Augen. „Deshalb bin ich hergefahren mit dir. Es ist zwar noch ein wenig kühl, aber mit ein paar Decken und Tee lässt sich’s wohl aushalten. Zumindest solange, bis die anderen damit fertig sind, unsere Bude umzugestalten.“ Rans Augen wurden groß. „Sie bereiten das Fest vor, während wir hier sind...?“ „So sieht’s aus. Was dachtest du denn?“ Shinichi grinste sie an. „Ich muss mich um nichts kümmern, außer dich von daheim fernzuhalten, und das krieg ich hin, wie du siehst. Wir verbringen hier ein wenig Zeit. Genieß es einfach.“ Sie schüttelte fassungslos den Kopf, dann lächelte sie. „Ja, da hast du wohl Recht.“ „Siehst du mal. Ich hab so gut wie immer Recht. Solltest du mittlerweile wissen.“ Ein unverschämtes Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus; Ran schrie empört auf und schlug spielerisch nach ihm, ließ sich dann aber auf die Decke ziehen. Er warf ihr eine weitere um die Schultern, damit sie nicht fror, nahm sich ebenfalls eine und setzte sich neben sie, schenkte ihnen beide Tee aus einer Thermoskanne ein. „Happy birthday.“, meinte er gelassen und hob seinen Becher. Ran lachte, hob ihre Tasse ebenfalls und stieß mit ihm an, lehnte sich an ihn und trank ihren Tee in kleinen Schlucken, während sie das Meer beobachtete. Wellen türmten sich übereinander, zerfielen, bauten sich neu auf, verschlangen einander; es war ein nicht endendes Spiel von Entstehen und Vergehen. Lange schwiegen sie, lauschten dem leisen Grollen der Wogen, lauschten dem Wind, der sich an den Felsen brach. Ran sog tief die frische, leicht salzige Meeresluft ein, fühlte eine innere Ruhe wie selten in den letzten Wochen. Sie fühlte sich sicher. Sie fühlte sich wohl. Leise seufzend stellte sie ihre leere Tasse ab, sank gegen ihn, kuschelte sich eng an ihn, ließ es zu, dass er die Decken fester um sie zog. Sie zog den Reißverschluss seiner Jacke ein wenig auf, um eine Hand darunter zu schieben, vergrub sie in seinem Pullover, schmiegte ihren Kopf an seine Brust, und merkte, wie das sanfte, rauschende Geräusch der heranrollenden und sich am Ufer brechenden Wellen in den Hintergrund trat, immer leiser wurde, bis sie nur noch ein einziges Geräusch wahrnahm... das Schlagen seines Herzens. Sie schloss die Augen, krallte ihre Hand fester in den Stoff, presste sich an ihn, merkte beruhigt, wie er ihre Sehnsucht nach Nähe erkannte, und seine Arme um sie legte, sie an sich drückte. Er war die Liebe ihres Lebens. Nie war ihr das bewusster geworden als in diesen Minuten, als sie mit ihm am Strand lag, einsam und von der Welt verlassen, und doch nicht allein. Sie hatte ihn. Und sie würde ihn verlieren. Dieses Gefühl von Wärme, Liebe, Zuneigung und Nähe... sie würde es verlieren. Bald. Verzweiflung stieg in ihr hoch, aber sie versuchte, es ihn nicht merken zu lassen. Sie wollte nicht, dass es ihn bedrückte. Sie wollte ihn nicht traurig machen an diesem Tag, ihrem Geburtstag; bei dessen Planung er sich so viel Mühe gegeben hatte. Wo es ihm doch so wichtig war, dass sie glücklich war, wollte sie es auch sein. Ran schluckte, vergrub ihren Kopf weiter an seiner Brust, atmete seinen Geruch ein und versuchte, zu vergessen, dass dieses Gefühl so bald Vergangenheit sein würde. Sie merkte, wie ihr das Atmen immer schwerer fiel, wie ein unsichtbares Gewicht sich auf ihren Brustkorb legte. Er strich ihr übers Haar, seufzte leise. Irgendetwas war anders jetzt, das wusste er. Und er wusste auch, was irgendetwas war. Sie erinnerte sich... an das was noch kommen würde. Shinichi hoffte nur, der Gedanke verdarb ihr nicht den Tag. Lange lagen sie so da, schweigend. Sie brauchten keine Worte, es gab nichts zu sagen; allein, dass sie beide hier waren, zählte. Ran gab ein leises Seufzen von sich, schloss die Augen. Das Rauschen des Meeres, die Wärme seines Körpers, der Takt seines Herzens, lullten sie ein. Sie merkte, wie sie langsam ins Reich der Träume abdriftete, konnte sich nicht wehren. Shinichi merkte, wie ihre Atemzüge langsam leiser und regelmäßig wurden, und stellte belustigt fest, dass sie eingeschlafen war. Er schob seinen Arm noch höher, legte seine Hand auf ihren Bauch, drückte ihr dann einen Kuss auf die Haare und wachte über ihren Schlummer. Er hatte es nicht eilig heute. Als Ran wieder aufwachte, ging die Sonne langsam unter, tauchte alles in rotglühendes Licht, warf einen orangeroten Schimmer auf seine Haut und Haare. Sie blinzelte träge, schaute verschlafen auf, bemerkte sein Grinsen und fuhr hoch. „Ich bin eingeschlafen!“ Sie zupfte sich die Haare aus dem Gesicht, als langsam ihre Decken von ihren Schultern rutschten. Sofort begann sie zu frösteln, und sie zerrte den Stoff wieder hoch. Er lachte. „Ja, du hast geschlafen wie ein Murmeltier, etwa anderthalb Stunden. Ich schätze aber, wir können jetzt guten Gewissens wieder heimfahren.“ Shinichi rappelte sich hoch, faltete seine Decke wieder zusammen, reichte ihr eine Hand und half ihr beim Aufstehen. „Es war so schön...“, murmelte sie leise verwirrt. „Ich weiß auch nicht... ich hab mich so wohl gefühlt, es war so lauschig warm, so ruhig und friedlich und ich bin einfach...“ „Eingeschlafen.“, vollendete er ihren Satz, tippte sie mit seinem Zeigefinger auf die Nase und gab ihr dann einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Ich weiß. Ist doch schön, Ran. Es freut mich, wenn du es so genießen konntest, dass du einfach eingeschlafen bist.“ Er sammelte die anderen Decken auf, schüttelte den Sand heraus und legte sie zusammen, drückte sie ihr in die Arme. „Aber du...“, begann sie schuldbewusst. „Ich hab mir das Meer angesehen und mir Namen fürs Baby überlegt. Ich war gut beschäftigt.“ Sanft lächelte er sie an, dann schnappte er sich die Thermoskanne und die Becher, verstaute sie wieder im Picknickkorb und hob ihn hoch. Ran schaute ihn an, merkte, wie dieses stechende Verlustgefühl in ihr wieder aufkeimte. Sie liebte ihn wirklich. Sie wollte ihn nicht gehen lassen... sie wusste, sie war eigennützig, aber sie wollte nichts verlieren, das ihr ein so gutes Gefühl gab. Und sie wollte... wollte so gern, dass auch er mehr vom Leben hatte. Sie wollte ihm das geben, was er ihr gab... Ihre Augen brannten, und unwillig wischte sie sich darüber. Sie wollte nicht weinen. Nicht, wo er sich soviel Mühe gegeben hatte mit dem heutigen Tag. Shinichi bemerkte die Bewegung, schaute sie besorgt an. „Alles in Ordnung, Ran?“ Sie nickte nur, lächelte tapfer. „Aber sicher. Mir ist nur ein Sandkorn ins Auge geflogen.“ Ran blinzelte demonstrativ. Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu, beließ es allerdings dabei, wartete, bis sie an ihm vorbeigegangen war, dann ging er hinter ihr her zum Wagen. Als er das Auto auf den Parkplatz vor dem Haus abstellte, dämmerte es bereits. Aus den Fenstern der Kudôvilla leuchtete ihnen warmes Gelb entgegen; das gesamte Erdgeschoss war hell erleuchtet. Shinichi stieg aus, half ihr aus dem Auto. „Du wartest hier noch kurz, ja?“ Sie nickte nur, sah ihm zu, wie er zum Haus rannte, biss sich auf die Lippen. Ran fragte sich, wie sie den Abend überstehen sollte. Sie freute sich, freute sich unglaublich, ohne Frage; aber sie wurde dieses Gefühl nicht mehr los... Dieser Schmerz, der in ihr wühlte, diese Angst vorm Verlassenwerden, vorm Alleinsein... Die Liebe zu ihm... tat ihr in diesem Moment so unglaublich weh. Langsam schlang sie ihre Arme um ihren Oberkörper. Am liebsten hätte sie jetzt einfach geweint, aber sie wusste, das konnte sie nicht machen... nicht, wo er sich soviel Mühe gegeben hatte mit allem... das konnte sie ihm nicht antun. Er wollte sie heute glücklich sehen, und deshalb wollte sie auch glücklich sein; oder zumindest so aussehen. Er hatte vorgehabt, bestimmt, sie durch die Feier von ihrem Schicksal abzulenken... nur leider war ihm genau das Gegenteil gelungen. Durch seine Vorbereitungen, durch seinen Einsatz und seine Sorge um sie... verdeutlichte er ihr nur noch umso mehr, wie viel sie so bald schon verlieren würde, und sie hielt den Gedanken fast nicht aus. Ran blinzelte, schaute zur Tür, wo er kurz mit ihrer Mutter sprach, dann sah sie ihn zurückkommen. „Sie sind fertig, wir können kommen.“, meinte er gutgelaunt; dann verfinsterte sich sein Blick kurz vor Sorge. „Ran, ist wirklich alles okay mit dir? Wenn du... lieber...“ Ran schaute ihn erschrocken an. Hatte sie sich was anmerken lassen? Offensichtlich, sonst würde er sie nicht so anschauen. Sie begann, heftig den Kopf zu schütteln, verzog ihre Lippen zu einem Lächeln, griff seine Hand. „Nein, nein! Lass uns rein gehen, ich freu mich schon. Wirklich!“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Lippen, zog ihn hinter sich her. Shinichi folgte ihr, blickte sie nur skeptisch an, dachte sich seinen Teil. Der Abend schien eigentlich ganz normal zu beginnen. Ran wurde stürmisch begrüßt, vom Professor, von Shiho, von Heiji, Kazuha, Sonoko und ihren Eltern; dann fanden sie sich zum Abendessen ein, das vorbereitet worden war, und fingen ganz gemütlich an zu plaudern. Beim Dessert fiel es ihm zum ersten Mal auf. Das Lächeln auf ihren Lippen schien wie festgefroren. Ihre Lippen formten diesen Ausdruck der Fröhlichkeit, aber ihre Augen folgten der Order zum glücklichen Mienenspiel nicht. Sie waren eher kalt... traurig. Aber ihr Lachen übertönte alles, wischte die Bedenken der Anwesenden weg. Es war klar, dass es ihr nicht hundertprozentig gut gehen konnte. Ihr Mann lag schließlich im Sterben. Shinichi schluckte, verhielt sich ruhig, zunächst. Er wollte beobachten. Das Geschenkeauspacken verlief ähnlich, auch wenn sich das Ausmaß an gespielter Freude doch zu steigern schien. Sie war überdreht, und er merkte es deutlich. Sie freute sich zu enthusiastisch, bedankte sich zu überschwänglich. Es wirkte alles nicht echt, aber noch ließ er davon ab, etwas zu sagen. Er wollte warten. Und so vergingen die ersten Stunden. Ran wirkte ausgelassen, selbst, als sich das Gespräch langsam Themen näherte, die sie wohl mit zwiegespaltenen Gefühlen erfüllten. Das Baby. Sonoko war schon seit der Nachricht, dass es ein Mädchen werden würde und sie damit das große Los gezogen hatte, absolut und für jedermann offensichtlich entzückt von ihrer Eigenschaft als werdender Patentante und kümmerte sich bereits jetzt schon rührend und voller Elan um ihre Pflicht. Sie schaute Ran strahlend an, lächelte breit. „Und, wisst ihr nun schon, wie sie heißen soll?“ Sonoko schaute interessiert von einem zum anderen. „Nein. Ich habs ihm überlassen, sich einen Namen auszudenken.“ Ran lächelte. „Und ich bin mir sicher, sie bekommt einen schönen Namen.“ Sie lächelte immer noch, auch wenn es langsam steinern wirkte. „Einen wunderbaren Namen.“ Sie lachte, und war damit die Einzige. Fast schaurig hallte es durchs Wohnzimmer, ein wahrhaft gespenstischer Laut. „Schön“, murmelte Sonoko, nickte, warf Shinichi einen fragenden Blick zu. Er ahnte, worauf sie hinauswollte. Ihr wurde Ran wohl auch langsam unheimlich. Das Geburtstagskind selbst schien es nicht zu merken. „Wenn ich ihn weiß, werde ich ihn dir selbstverständlich sagen, Sonoko. In Anbetracht der Umstände ist aber wohl davon auszugehen, dass wir nicht mehr lange warten müssen. Ich hoffe doch, ich muss mir am Ende nicht selber einen ausdenken...“ Shinichi verschluckte sich fast an seiner Cola, schaute sie fassungslos an. Ran wandte sich ruckartig um, schaute ihn an. Langsam schlug sie sich die Hand vor den Mund. Ihr dämmerte, was sie gerade gesagt hatte, Entsetzen schlich sich in ihre Augen. Es war fast, als würde sie aufwachen. Sie war nicht Herrin über sich gewesen, nur deshalb hatte ihr dieser Fauxpas unterlaufen können, und er sah ihr an, wie sie ihn jetzt erst realisierte, ihn jetzt erst bereute. Und das tat sie wirklich. Schuld uns Schmerz schlichen sich in ihre Augen, wühlten in ihr, erst Recht, als sie den Unglauben in seinen Augen las. Es war ihr Wille gewesen, ausgelassen und fröhlich zu sein. Und dieser Wille hatte sie verändert. Nun allerdings... kehrte die alte Ran zurück. Und ihr stiegen die Tränen in die Augen, als sie ihn ansah. Er war unmerklich bleicher geworden, auch wenn er wusste, dass es nur ein Lapsus gewesen war, dass sie das nie ernst gemeint hatte, trafen ihn die Worte doch. Und noch mehr traf ihn, schmerzte ihn, sie jetzt so zerschmettert zu sehen. Sie machte sich Vorwürfe, quälte sich. Das alles nur, weil sie sich zwang, ihren Geburtstag zu feiern. War es seine Schuld, dass sie sich diesen Zwang zur Fröhlichkeit unterwarf...? Hatte er sie in diese Situation getrieben? Hatte er durch seine Pläne für den heutigen Tag ihr gegenüber eine Erwartungshaltung eingenommen? Hatte er ihr den Eindruck vermittelt, dass sie sich für ihn auf Teufel komm raus freuen musste? Das war nicht seine Absicht gewesen. Alle starrten sie an, wagten nichts zu sagen. Shinichi schluckte. Es musste was passieren. „Sayuri.“ Er sprach das Wort nur aus. „Ich hätte gern, dass sie Sayuri heißt. Und damit hat das Warten ein Ende.“ Shinichi versuchte ein beschwichtigendes Lächeln, versuchte, die Spannung zu lösen, die sich aufgebaut hatte. Ran lächelte traurig. „Ein schöner Name. Nun, Sonoko... damit wär das dann ja geklärt?“ Sie lachte oberflächlich. Shinichi schaute sie an. Seine Augen umwölkten sich, als er sie beobachtete. Dann stand er auf, räusperte sich. „Ran, kommst du kurz mit? Ich bräuchte... deine... äh... Hilfe in der Küche.“ Sie schaute ihn unsicher an. „Bitte.“ Das war keine Bitte, sondern ein Befehl. Ran stand auf, etwas wackelig, ging vor ihm her in die Küche; er folgte ihr dicht auf, schloss hinter sich die Tür. Die Gesellschaft auf dem Sofa erhob sich wie eine einzelne Person, schlich zur Tür. Jedes Wort, das die zwei sprachen, war deutlich zu verstehen. „Warum tust du das?“ Er vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen, schaute sie an. Sie ignorierte ihn, fing irgendetwas im Kühlschrank zu suchen an. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“, murmelte sie, stellte Saftflaschen neben den Kühlschrank. Shinichi trat neben sie, räumte sie wieder ein. „Falls du das von gerade meinst... das tut mir Leid...“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Wispern. Er schüttelte den Kopf. „Das interessiert mich nicht. Ich rede von dem Theater, das du den ganzen Abend schon veranstaltest. Ich rede von all den Worten, die zu diesem Satz führten.“, meinte er bissig, schaute sie stur an. Sie fing seinen Blick auf, wandte sich schnell ab, ging zur Tür, wollte gehen. Shinichi schlug die Kühlschranktür zu, setzte ihr nach, bevor sie die Tür erreichte und ihm entkam. Er griff sie am Handgelenk, zog sie zu sich. „Was soll das Theater!?“ Er war aufgewühlt, schaute sie unglücklich an. Sie riss sich los, starrte auf den Boden, stand da, stocksteif, wagte kaum zu atmen. „Ran?“ Sie schaute weg, biss sich auf die Lippen. „Ran, schau mich bitte an, wenn ich mit dir rede!“ Seine Stimme klang ernst, ein wenig scharf, fast. Sie schluckte, schaute ihm immer noch nicht ins Gesicht. Er nahm ihren Kopf in beide Hände. „Warum tust du das?“, wiederholte er murmelnd, versuchte sich zu fassen. „Glaubst du, ich weiß nicht, warum du das gesagt hast? Warum dir dieser Satz heraus gerutscht ist?!“ Sie schüttelte den Kopf, entzog sich seinem Griff, ging ein wenig weg, krallte sich an einer Stuhllehne fest, stützte sich haltsuchend ab. Ein Zittern durchlief ihren Körper, sie ließ den Kopf hängen, starrte blicklos vor sich hin. Shinichi schaute sie traurig an, hielt sich aber zurück. Sie so zu sehen tat ihm weh; dass es soweit kam, hatte er nicht gewollt, bestimmt nicht. Er begann, sich schuldig zu fühlen, wollte sie trösten, aber er wusste nicht, wie nahe er ihr jetzt kommen durfte. „Warum zur Hölle tust du das? Warum verstellst du dich...?!“ Er fragte es, obwohl er die Antwort bereits kannte. Sie tat es für ihn. Aber irgendetwas sagte ihm, dass, wenn sie an der Situation etwas ändern wollten, sie das Thema endlich auf den Tisch bringen mussten. Und deshalb... ließ er nicht locker. Er wollte, dass sie es aussprach. Sie kniff die Augen zusammen, unterdrückte ein Schluchzen. „Lass mich doch...!“, presste sie hervor, kniff dann die Lippen wieder zusammen. Shinichi schüttelte stur den Kopf. „Nein.“ Ran atmete aus, es klang erstickt; mit Gewalt versuchte sie, ihre Tränen niederzukämpfen. Sie wollte nicht weinen. Nicht jetzt. „Warum, Ran, warum spielst du hier allen das fröhliche Geburtstagskind vor? Du bist nicht fröhlich. Du willst es auch gar nicht sein. Das hier ist doch nur eine Farce, denkst du, du tust dir damit einen Gefallen, in dem du dich zum Fröhlichsein zwingst? Für wen spielst du diese Rolle? Für mich? Dann lass stecken, Ran, bitte. Ich kenn... kenn dich zu gut, als dass ich dir das abkaufen würde... wenn du lieber deine Ruhe haben willst, dann sag es, aber das hier...“ Seine Stimme wurde leiser, aber trat noch nicht näher. Ein einzelner, hoher Schluchzer entrang sich Rans Kehle, ihre Schultern zuckten kurz. Sie war kalkweiß geworden, kniff immer noch fest ihre Augen zusammen. „Warum hast du mir das vorhin nicht gesagt? Keiner hätte dir übel genommen, wenn du keine Lust zum Feiern hast… Tust du’s für die anderen? Glaubst du, die wissen nicht, wie’s dir geht? Wegen... wegen mir? Oder denkst du, du kannst deinen Eltern oder meinen Eltern diese Unbeschwertheit vorgaukeln? Du beleidigst uns und du tust dir nur weh damit. Dir und...“, er zögerte kurz, „mir auch.“ Er flüsterte es nur. Eine Träne quoll aus ihrem Augenwinkel. „Es tut mir Leid.“ Ihre Stimme klang tonlos, leer. „Ran...“, murmelte er, aber weiter kam er nicht. „Wie kann ich mich über meinen Geburtstag freuen, ihn feiern, wenn ich weiß, dass wir deinen dieses Jahr nicht feiern?!“ Es brach aus ihr heraus wie eine Flutwelle bei Dammbruch. Ran japste nach Luft, fing an zu schluchzen, krümmte sich wie unter Schmerzen. Ihre Finger waren immer noch in die Stuhllehne gekrallt, ihre Knöchel traten weiß hervor. Shinichi starrte sie bestürzt an, fühlte ihren Schmerz fast körperlich. Er wusste nicht, was er tun konnte, und davor hatte er Angst. Genau vor dieser Situation hatte er sich seit Wochen schon gefürchtet. Es war klar, dass es irgendwann soweit sein würde. Damit, dass es ausgerechnet heute, ihr Geburtstag sein würde, hatte er allerdings nicht gerechnet. Sie schluckte, wischte sich mit zittrigen Fingern unwillig über die Augen, ihre Stimme klang brüchig, als sie sprach, spiegelte damit ihre ganze Erscheinung wieder. Selten hatte sie so fragil, so zerbrechlich gewirkt. Er hatte Angst, dass er sie kaputtmachte, mit nur einem falschen Wort. Und er wünschte sich wirklich, sie hätte damals seinen Rat angenommen, befolgt, und ihn verlassen. Vielleicht hätte sie es dann jetzt leichter. Sie atmete schwer, klammerte sich immer noch an der Stuhllehne fest. „Wie kann ich mich da freuen? Wie kann ich mich freuen, wenn ich weiß, du verlässt mich schon so bald?! Es kann jeden Tag soweit sein, ich halt das nicht aus, ich ertrag den Gedanken nicht, ich hab solche Angst, dass ich morgen aufwache und du bist... du bist...“ Der Rest ihres Satzes verlor sich in einem erstickten Keuchen, als sie nach Luft schnappte. Wie sie so dastand, bot sie ein Bild des Jammers. Shinichi blickte sie an, erschüttert, dann ging er zu ihr hin, fasste sie vorsichtig am Arm. Er wusste nicht, ob er das Richtige tat, aber sie nahm ihm die Entscheidung ab. Kaum hatten seine Fingerspitzen ihre Haut berührt, drehte sie sich um, suchte seine Nähe, drückte sie sich gegen ihn, klammerte sich an ihm fest, heulte hemmungslos. Er fing sie auf, drückte sie an sich, schluckte. „Schhhhht...“ Immer und immer wieder strich er ihr übers Haar, flüsterte ihr beruhigend ins Ohr. „Schhht... Ran... schon gut...“ „Gar nichts ist gut...“, wimmerte sie leise. „Gar nichts...“ Sie schob ihn ein wenig von sich, gerade soweit, dass sie ihm ins Gesicht blicken konnte, ließ ihn aber nicht los. „Shinichi, ich will das nicht. Ich kann das nicht. Ich ertrage das nicht... wie soll das gehen, wenn du weg bist? Wie soll ich denn weiterleben... wie soll... Ich… ich liebe dich... du gibst mir so viel, du tust mir so… so gut und... ich kann mich mit dem Gedanken nicht abfinden, dass du... du so bald schon stirbst und ich dich... dich dann nie wieder sehen werde, deine Stimme nie wieder hören kann... verstehst du denn nicht..." Sie starrte ihn an, ihre Augen glasig, Tränen rollten über ihre Wangen. "Ich brauch dich doch... ich brauche dich... ich brauche...“ Ihre Stimme brach immer mehr. „Scht.“ Er legte ihr einen Finger auf die Lippen, küsste ihr die Tränen von den Wangen, berührte dann sanft ihre Lippen mit den seinen. „Was soll ich noch... wer bin ich noch, wenn du mich alleine lässt...?“ „Du wirst doch nicht alleine sein, Ran…“, murmelte er beruhigend. Er zog sie an sich, drückte ihren Kopf an seine Schulter. „Du wirst doch meine Eltern haben... und deine... und du wirst unser Mädchen haben. Du wirst nie alleine sein... auch wenn ich nicht mehr da bin.“ Ihre Lippen zitterten, ihre Finger krallten sich noch fester in seinen Rücken. „Ich kann dich nicht gehen lassen. Wie soll ich weitermachen, wenn du nicht mehr da bist...“ Er seufzte leise, schüttelte den Kopf, sagte nichts. Ja... genau das hatte er immer befürchtet, und er hatte keine Antwort auf ihre Fragen, keine, die sie ihm glauben würde, in ihrer Situation, das wusste er. Sie schien auch keine zu erwarten. Ihr Atem streifte sein Ohr, als sie weitersprach; ihm lief eine Gänsehaut über den Rücken. „Ich dachte, wenn ich heute fröhlich bin... dann mach ich es den anderen ein wenig leichter. Ich wollte für euch einen schönen Tag haben. Ich wollte...“ Sie schob den Kopf nach hinten, um ihm in die Augen sehen zu können, schaute ihn traurig an. „Ich wollte, dass du auch noch mal feiern kannst... du hattest es heute Morgen so schön arrangiert, du hast die Feier geplant, du hast das alles nur für mich getan, und ich habs genossen, bis zur... bis wir ans Meer gefahren sind, und ich daran denken musste, dass... aber ich wollte dir das nicht kaputtmachen, wollte dich nicht enttäuschen, ich wollte gern glücklich und fröhlich sein für dich, du hast es doch verdient... ich wollte, dass du dich freust... weil ich mich ehrlich freu, über die Feier, nur kann ich nicht so unbeschwert sein, wie ich es sein sollte, ich... ich wollte doch nur, dass du glücklich bist...“ Shinichi holte Luft, legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Ich bin glücklich, wenn du es bist, Ran. Und ich bin unglücklich, wenn du unglücklich bist... und du kannst mir weder das eine noch das andere vorspielen, das solltest du doch wissen, mittlerweile. Und ich will nicht... will nicht, dass dich... mein... mein...“ Er brach ab. „Ich will nicht, dass es... dich so sehr beeinflusst. Es soll dir doch dein Leben nicht schlechter machen...“ Sein Blick verlor sich kurz, als er tief durchatmete, bevor er wieder ansetzte. „Ich weiß... ich weiß auch, dass wir meinen Geburtstag heuer nicht feiern.“ Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. „Deshalb wollte ich gern deinen feiern. Aber ich wollte nicht, dass du dich so zwingen musst, wenn dir nicht nach Feiern ist... dann sag es doch einfach...“ Er seufzte leise, gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich will nicht, dass du so leidest. Es tut mir so Leid, Ran, so unendlich Leid...“ Sie kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf. „Bitte... das muss es nicht.“ Shinichi schluckte, strich ihr über den Kopf, über die Schläfe, die Wange. Sie schloss die Augen, genoss die Berührung. „Du musst nicht zwanghaft glücklich sein, wenn du’s nicht sein kannst, ich dachte, das wüsstest du... ich hoffte, das wäre dir klar...“ Ein Zittern durchlief ihren Körper. „Ich freu mich aber über die Feier. Und über den Kuchen, und über die Stunden heut am Meer und...“ Er lächelte sanft. „Na, mehr wollte ich doch gar nicht.“ „Aber...“ „Ran, für wie blöd hältst du mich? Ich kenn dich gut genug, um deine Ängste zu wissen. Ich würde von dir nicht verlangen, dass du dich zum Freuen zwingst. Ich wollte nur, dass du einen schönen Tag hast... es ist der letzte Geburtstag, den ich mit dir feiern kann, und ich wollte ihn einfach gern mit dir feiern. Aber wir müssen hier doch nicht zwanghaft Party machen, das war auch gar nicht meine Absicht. Ich wollte nur einen schönen Tag für dich. Nicht, dass du deine Sorgen vergisst... gut, wollen würde ich es schon, aber ich weiß, dass der Wunsch utopisch ist. Also, jetzt atme mal tief durch...“ Sanft wischte Shinichi ihr die Tränen vom Gesicht, zog ein sauberes Taschentuch aus seiner Hosentasche. Sie griff es, blies sich die Nase, schluckte tapfer runter. „Es tut mir Leid. Ich war echt dumm.“, murmelte sie. „Und das von vorhin… dieser Satz…“ Sie starrte ihn betroffen an. „Es tut mir so furchtbar Leid, es ist so entsetzlich, ich weiß nicht…“ „Ach was.“ Er schüttelte den Kopf, strich ihr die Haare aus der Stirn. Dann beugte er sich vor, küsste zärtlich ihre Lippen. „Mach dir da mal keine Gedanken. Und jetzt, fürchte ich, muss ich die nächsten paar Leute zusammenfalten, denn es ist mehr als unhöflich...“ Er ging zur Tür, zog sie auf, offenbarte damit auch Ran die Meute horchender Partygäste. „... an Türen zu lauschen, meine Herrschaften. Das solltet ihr aber wissen, alt genug dafür seid ihr ja eigentlich!“ Shinichi schaute sie einigermaßen verärgert an, verschränkte die Arme vor der Brust. Betroffen gemurmelte Entschuldigungsbekundungen raunten ihnen entgegen. Ran seufzte, scheuchte ihre Gäste wieder zurück aufs Sofa. „Wie konntest du das wissen...?“, murmelte Sonoko fragend. Der Ex-Detektiv verzog die Augen zu Schlitzen. „Ihr verdunkelt mit euren Schatten das Licht, das normalerweise unter der Tür durch den Schlitz schimmert.“, erwiderte er trocken. Sonoko warf ihm einen genervten Blick zu. „Dir entgeht nichts, was?“ Ran seufzte leise, lehnte sich an ihn. „Ihm entgeht nie was.“ Der Rest der Party verlief etwas stiller, aber deutlich gelöster. Man merkte, dass die Spannung, die vorher zu spüren gewesen war, nun weg war. Ran lachte, ab und an, schien den Abend nun doch noch zu genießen, aber sie war nicht von Shinichis Seite zu bewegen, ließ seine Hand nicht mehr los. Er saß neben ihr und strahlte eine Ruhe aus, die für alle unfassbar war. Nach all den Hochs und Tiefs schien er sein Gleichgewicht gefunden zu haben... schien er der zu sein, der die Situation noch erträglich machte, obwohl oder gerade eben weil er der Verursacher war. Er hatte für sich wohl seinen Frieden gefunden, versuchte, das Beste daraus zu machen, so gut er konnte; nicht nur für sich, sondern für alle anderen. Aber nichtsdestotrotz sah man ihm an - und auch die Szene in der Küche hatte diese Ahnung nur bewiesen – dass sich seine Tage langsam zählten. Er war blass, wirkte etwas erschöpft, auch wenn er sich rege am Gespräch beteiligte. Das alles änderte nichts daran, an dem, was offensichtlich war. Die Finsternis brach langsam herein über das Haus Kudô, mit jedem Tag, jeder Minute, jeder Sekunde, in der seine Flamme langsam kleiner wurde, bis sie dann eines Tages ganz erlöschen würde. Und mit ihrem Verlöschen, dem Einzug der Dunkelheit, kam Kälte... kam ein Frost, von dem keiner sagen konnte, ob Ran allein ihm trotzen konnte. Es war mehr als deutlich zu spüren, zu sehen, was man vorher bestenfalls geahnt hatte... Shinichi und Ran lebten füreinander. Was aus Ran werden würde, wenn ihr seine Wärme gestohlen wurde, wenn die Kälte dorthin kriechen konnte, wo bisher sein Licht gestrahlt hatte... wusste keiner von ihnen zu sagen. Sie konnten nur hoffen, dass sie... und das kleine Wesen, das Ran unter ihrem Herzen trug... verhindern konnten, dass Rans Welt gefror. Besuch bei Tante Sonoko ----------------------- Buenos dias! Vielen, vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Ehrlich, vielen Dank an alle, die sich die Zeit dafür nehmen, ich weiß es zu schätzen! Wie gewohnt folgt nun eines aus der Gegenwart- ohne Buch, aber dafür mit einem Besuch bei einer Person, die mir immer sympathischer wird ^^ Sonoko *g* Ich hoffe, ich hab sie einigermaßen getroffen... ^^ Viel Spaß beim lesen, bis nächste Woche, MfG, Eure Leira ;D ______________________________________________________________ Kapitel 23: Besuch bei Tante Sonoko Gegenwart Sayuri kniff die Augen zusammen, dann seufzte sie betrübt. Der Anblick, der sie so bekümmert stimmte, war die Anzahl der Seiten, die sie gerade mit Daumen und Zeigefinger zusammenpresste, um abschätzen zu können, wie viel Text es noch war. Wie viel ihr vom letzten Buch ihres Vaters geblieben war, was noch zu lesen vor ihr lag. Es war ungefähr noch ein Drittel. Sie schluckte schwer, biss sich dann auf die Lippen, rutschte unruhig auf dem Futon in Shihos Zimmer hin und her. In den letzten paar Minuten war ihr eine Erkenntnis gekommen: sie hatte sich bemüht, langsamer zu lesen, entgegen ihrer Absicht. Zuerst war es ihr gar nicht aufgefallen, dass sie sich selber betrog; aber das tat sie. Sie las absichtlich langsamer, um nicht so schnell zum Ende zu kommen. Weil sie nicht wollte, dass es endete. Weil sie nicht wollte, dass es aufhörte, sie verhindern wollte, dass er wieder verschwand, denn eines war ihr klar… ein weiteres Mal würde sie diese Bücher wohl nicht lesen können… nicht, wenn sie das Ende erst einmal kannte. So konnte sie sich noch in der Sicherheit der Unwissenheit wiegen, denn sie wusste nicht, was noch kam… aber wenn sie hiermit einmal durch war, wusste sie nicht, ob sie es ertrug, diesen Weg nochmal zu beschreiten. Auszüge würde sie vielleicht dann und wann lesen können… mit Sicherheit. Aber alles am Stück nie wieder, dafür war diese Geschichte nicht gemacht. Noch einmal zu erleben, wie er starb… Nein. Sayuri klappte das Buch zu, legte es wieder unter ihr Kopfkissen, schluckte. Tatsache, sie hatte sich selber manipuliert. Aber egal wie langsam sie las, irgendwann würde sie die letzte Seite umblättern, den letzten Satz, das letzte Wort, den letzten Buchstaben lesen... und damit war seine Geschichte dann zu Ende. Und langsam verstand sie, wie es für ihre Mutter gewesen sein musste, ihn zu verlieren. Das was sie selbst nun schriftlich erlebte... was sie im übertragenem Sinne mitbekam, hatte ihre Mutter hautnah erleben müssen. Sie hatte nichts tun können, als er ihr immer mehr entglitt. Als er starb. Sie verließ, und sie wusste, sie würde ihn nie wieder sehen. Nie wieder hören, fühlen, nichts… Alles was sie tun konnte, war zuzusehen… die Augenblicke zu genießen, so gut es ging, und zu warten… vergeblich auf ein Wunder zu hoffen, vielleicht auch die schreckliche Zukunft zu verdrängen, es einfach vergessen zu wollen, dass er bald tot sein würde… Sayuri strich sich über die Augen. Allein die Vorstellung war grauenhaft. Ihre Mutter war irgendwann angekommen, bei letztem Tag, letzter Stunde, letztem Atemzug. Und so wie sie jetzt reagierte... so, wie sie jetzt noch litt, ihn jetzt noch vermisste, der Gedanke an ihn sie so mitnahm... ... musste es für sie unerträglich gewesen sein, ihn sterben zu sehen. So hilflos mit ansehen zu müssen, wie der, den sie so liebte, sie verließ. Der Tod war so schrecklich endgültig. Sayuri griff sich mit beiden Händen in die Haare, seufzte schwer, versuchte den Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, runterzuschlucken. Ihre Mutter tat ihr so unendlich Leid. Und sie hatte nicht wirklich etwas getan, um es ihr leichter zu machen, im Gegenteil; sie hatte ihr die letzten Tage, Wochen noch schlimmer gemacht, als sie wohl ohnehin waren. Sie war wütend gewesen und hatte sie das auch spüren lassen. Jetzt plagte sie das schlechte Gewissen. Sie war mittlerweile drei Tage weg von daheim, aber sie wagte nicht, ihr einfach so wieder unter die Augen zu treten. Ein leises Zittern schüttelte das Mädchen, ein Schauer rann ihr über den Rücken, als sie an die Szene im Büro dachte. Schnell warf sie einen kurzen Blick auf das Päckchen, das der Auslöser für diesen Streit gehabt war. Sie war ein wenig ratlos, was sie nun tun sollte. Sayuri wollte ihr helfen, das wollte sie wirklich. Aber sie wusste nicht, wie und wo sie anfangen sollte. Am Besten war wohl, sie redete mit Menschen, die ihre Mutter wirklich gut kannten; und aus irgendeinem Grund schloss sie ihre Großeltern mütterlicherseits aus dieser Überlegung aus. Die Eltern ihres Vaters schienen ihr auch nicht wirklich geeignet. Sie wusste, selbst wenn man ein wirklich gutes Verhältnis zu den Eltern hatte, so würde es immer Dinge geben, die unausgesprochen blieben. Die man eher anderen Personen mitteilte. Und wer eine solche Person war, wusste sie auch schon. Tante Sonoko. Die beste Freundin ihrer Mum. Sayuri nickte sich im Stillen selber zu, packte das Päckchen ein in ihre Tasche, zog ihr Heiligtum, das letzte Buch, unter dem Kopfkissen hervor und steckte es dazu, zog sich eine Jacke über und schlüpfte in ihre Schuhe. Dann steckte sie kurz ihren Kopf zum Professor in sein Experimentierlabor und rief „Bis später!“, ehe sie hinaus eilte. Ab zu Tante Sonoko. Die würde um diese Uhrzeit schon zuhause sein, das hoffte sie zumindest. Ran seufzte, als sie ihr Frühstücksgeschirr abspülte. Sie vermisste ihre Tochter. Schrecklich. Ihr fehlte ihre Anwesenheit, ihr Lachen und ihre gelegentliche Motzigkeit, wenn sie genervt war oder ihr etwas nicht passte. Sie vermisste die Gespräche, das gemeinsame Essen, einfach… alles. Sogar, auf eine Art, die sie nur schwer begreifen wollte, Sayuris Fragen über Shinichi, wenn sie ehrlich war. Es hatte zwar weh getan, ihr darüber zu berichten, aber gleichzeitig… tat es auch gut, zu wissen, dass sie ihren Kummer mit jemandem teilen konnte, der ihn auf ähnliche Weise so vermisste wie sie. Ran fühlte sich einsam, zum zweiten Mal in ihrem Leben schrecklich verlassen. Mittlerweile tat es ihr Leid, sie so angefahren zu haben. Sie hatte sich schrecklich benommen, das wusste sie, und wäre Shinichi hier, so würde sie ihm nicht in die Augen sehen können, sosehr schämte sie sich für ihr Verhalten. Es war keine Art... wie sie mit ihm umging. Und mit seiner Tochter. Hatte sie sich nicht immer geschworen, sein Andenken hochzuhalten? Verdammt nochmal, hatte sie ihm nicht versprochen, ihrer Tochter zu erklären, wer er gewesen war...? Sein Andenken zu bewahren?! Damit sie soviel wie möglich von ihm hatte...? Wusste, was er für ein wunderbarer Mensch gewesen war? Wie sehr er sie geliebt hatte? Was für ein toller Vater er geworden wäre...? Ran lachte bitter. Dieser Pflicht war sie ja in den letzten Tagen, Wochen und Jahren hervorragend nachgekommen. Sie stellte einen spülschaumtriefenden Teller beiseite, griff sich das Geschirrtuch und wischte sich die Hände daran trocken. Ihre Finger zitterten, als sie ihre Gedanken fortsetzte. Nie vergessen hatte sie ihn wollen, ja... niemals… niemals vergessen. Sie schluckte schwer. Nie vergessen, wer er gewesen war. Was er ihr gegeben hatte. Was sie gehabt hatten. Damals hatte sie noch nicht gewusst, wie viel er ihr nehmen würde, wenn er ging. Sie hatte keine Ahnung gehabt. Tatsache war, dass er wirklich... eine Hälfte von ihr mitgenommen hatte. Mit sich gerissen. Er hatte ihr ihr Herz nie zurückgegeben. Gut, damit hatte sie gerechnet... sie hatte eingeplant, dass sie auf ewig verbunden sein würden - sie hatte so gar gewollt! - und es hatte sich damals alles so wundervoll romantisch angehört, als sie es ihm erklärt hatte, vor der Hochzeit. Shinichi... war damals schon skeptisch gewesen. Es schien, als hätte er damals schon gewusst, nicht nur geahnt, wie das hier mal enden würde mit ihr. Er hatte sie gewarnt. Sie dachte an seine Augen, an diesen zweifelnden, unsicheren Blick, jedes Mal wenn sie so optimistisch geredet hatte. Was war sie doch naiv gewesen... viel zu spät hatte sie erkannt, was das alles mit ihr anrichten würde. Sie bereute nicht, ihn geheiratet zu haben... das nicht. Sie bereute nicht, ihn geliebt zu haben... auf keinen Fall. Eigentlich bereute sie gar nichts... aber nichtsdestotrotz fiel es ihr schwer, mit der Situation jetzt klar zu kommen. Es war fast nicht auszuhalten... dieser Schmerz fraß sie von Innen auf, und jetzt, wo Shinichi auf einmal wieder so präsent war in ihrem Leben... wurde diese Qual fast unerträglich. Sie wünschte sich so sehr, er wäre wieder hier... oder aber... ... würde sie ein für alle Mal in Ruhe lassen. Eine Träne rollte über ihre Wange. Gedankenverloren griff sie sich an den Hals, wo ein kleines Kristallherz immer noch baumelte. Ran schluckte, dann fasste sie einen Entschluss. Wenige Minuten später verließ sie das Haus. Sayuri stand vor der Villa ihrer Patentante Sonoko und lehnte sich auf den Klingelknopf, um einen möglichst nervenaufreibenden Dauerton zu erzeugen, der durchs ganze Haus schrillte. Sie konnte ihn hier draußen sehr gut hören – also musste er die Bewohner des Hauses in den Wahnsinn treiben. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern ihrer rechten Hand auf ihren linken Unterarm, seufzte, schaute auf die Straße hinaus und wieder zurück zum Haus. „Tante Sonoko... nun komm schon...“, murmelte sie bettelnd. „Komm schon, komm schon, komm schon!“ Dann ging die Tür auf, und eine etwas ältere, mollige Frau schaute sie tadelnd an. Sayuri schrak aus ihren Gedanken, stolperte zurück, starrte in das strenge Gesicht der alten Dame. „Junges Fräulein, wo sind Ihre Manieren?“ „Zuhause vergessen.“, erwiderte das Mädchen kurz angebunden. „Ist Tante Sonoko da?“ Die Haushälterin von Sonoko Kyogoku nickte steif und winkte sie mit einer noch steiferen Geste ins Haus, schloss hinter ihr das Portal. Die Herrin des Hauses ließ auch nicht lange auf sich warten; kaum war Sayuri in der Eingangshalle und hatte sich die Schuhe ausgezogen, trat ihre Patentante aus einem Zimmer, schaute sie interessiert an. „Sayuri, na so was! Hallo, schön dich zu sehen! Aber ich muss doch gestehen, mit dir hätte ich jetzt nicht gerechnet. Was gibt’s, Lieblingspatenkind?“, fing sie gutgelaunt zu plaudern an. Sayuri schaute auf, schlüpfte gekonnt in die Besucherpantoffeln und grinste ihre Tante kokett an. „Ich kann leicht dein Lieblingspatenkind sein, Tante. Du hast nur mich.“ „Messerscharf analysiert, Holm-...“ Sonoko blieb das Wort im Hals stecken, als ihr aufging, zu wem sie gerade redete. Das Mädchen schaute sie nur an, das Lächeln war ihr auf den Lippen gefroren. „Ganz... ganz Recht. Deswegen bin ich hier...“ Ihre Stimme wurde leise. „Ich... ich wollte dich um Rat fragen... weißt du, ich hab mich mit Mama... ein wenig verkracht, wegen... wegen...“ Sie biss sich auf die Lippen. Sonoko seufzte. „Wegen Shinichi, nicht wahr? Deinem Dad. Noch im Tod macht er nur Ärger.“ Sie grinste sarkastisch, winkte nach oben. „Du nimmst es mir doch nicht übel, oder? Schließlich... weißt du, dass es so ist.“ Das Grinsen wich aus ihrem Gesicht. „Er wusste es schon immer... wie das mal enden würde.“, raunte sie kaum hörbar. „Nun, gut...“ Dann wandte sie sich wieder ihrer Patentochter zu. „Schön, Sayuri, dann komm mal mit. Lassen wir uns eine Tasse Tee und was Süßes bringen...“, sie warf ihrer Haushälterin einen kurzen Blick zu, „und reden wir über... über deine Mum und deinen Dad. Ich denke, bei dem Thema kann man sich wohl leicht mit Ran etwas in die Haare kriegen...“ Sie legte Sayuri eine Hand in den Rücken, schob das Mädchen vor sich her ins Wohnzimmer. Minuten später saßen sie dann auf dem Sofa im Salon, vor sich eine Platte mit Plätzchen, Keksen und Pralinen sowie einer Kanne Tee und zwei geradezu putzigen Tässchen aus Porzellan. ‚Vornehm geht die Welt zugrunde...’, dachte Sayuri bei sich, schnappte sich ein Plätzchen, kaute gedankenverloren. „Weißt du, dass es dieses Sofa war, auf dem deine Mum und ich saßen, als sie mich fragte, ob ich deine Patentante werden will?“, fing Sonoko an, den Faden wieder aufzunehmen. Sayuri schüttelte den Kopf. „Doch... das war genau hier. Allerdings schaffte sie das erst, nachdem sie sich von einem kleinen... Zwischenfall erholt hatte.“ Sonoko seufzte, verdrehte kurz gedankenverloren die Augen, lehnte sich zurück, ehe sie sprach. „Zwischenfall im Sinne von Heulkrampf. Deine Mutter hat deinen Vater über alles geliebt, ich denke, soviel weißt du mittlerweile, auch wenn ich nicht genau weiß, wie viel du schon herausgefunden hast.“ „Viel“, murmelte Sayuri, schlürfte ihren Tee geräuschvoll aus dem feinen Porzellan. „Gut... dann kann ich ja frei reden. Das erleichtert die Sache etwas.“ Die blonde Frau nickte. „Also. Ran kam her, allein, und wollte mich fragen, ob ich die Patentante für ihr Baby werden will, falls es ein Mädchen wird. Wärst du ein Junge, wär Heiji dein Patenonkel. Das hatten die beiden unter sich so ausgemacht. Nun... zu dieser Frage kam sie allerdings erst später, und da war auch dein Vater dann anwesend.“ Sonoko trank mit spitzen Lippen ein Schlückchen Tee. „Mann, diese Tassen sind ein Witz… da passt ja gar kein Tee rein.“ Sayuri schaute sie an, zog eine Augenbraue hoch. „Lenkst du ab?“ „Ich?“ Sonoko tat erschrocken. „Niemals. Aber…“ „Also, was war dann mit meiner Mutter an jenem Tag?“ Sayuri ließ nicht locker. Sonoko stellte die Tasse ab, schenkte sich nach, seufzte dann ergeben. „Schön. Schon gut. Ran... ist damals hier zusammengebrochen, wie gesagt. Hat geweint und konnte nicht mehr aufhören. Sie hat mir nämlich gestanden, wie sie deinen Vater ausgetrickst hat, der ja eigentlich in seiner Situation keine Kinder...?“ Sie warf dem Mädchen neben sich einen fragenden Blick zu, fuhr erleichtert fort, als Sayuri wissend nickte. „... wollte, und wie Leid ihr das getan hatte. Sie hat mir gestanden, wie schwer es da schon für sie gewesen ist, das alles zu ertragen. Die Nachricht, dass er sterben würde... so bald schon sterben würde, wegen dieser dummen Sache mit...“ Ein erneuter Blickkontakt folgte, der wieder mit einem leichten Kopfnicken bestätigt wurde. „... Conan. Ran hielt den Gedanken fast nicht aus. Sie ertrug es tapfer, aber ihn zu sehen, mit ihm zusammen zu sein, ihre Zeit zu genießen und dabei zu wissen, dass das alles so begrenzt sein würde, trieb sie an ihre Grenze. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn so hintergangen hatte, gleichzeitig war sie ihm so dankbar, dass er es verstand, sie unterstützte, ihr helfen wollte... einfach bei ihr war.“ Sonoko räusperte sich, ließ ihr feines Benehmen fallen und trank ihren Tee auf Ex aus. „Vieles, das sie bedrückte, sagte sie ihm nicht. Auch ihren Eltern nicht. Er wusste es wohl trotzdem, er kannte Ran einfach viel zu gut... er sah ihr an, wenn etwas nicht stimmte, spürte es, hörte es am Klang ihrer Stimme... aber er bohrte nicht nach. Er tat nichts, wollte nichts tun, was sie in irgendeiner Weise verletzte oder zu einer Aussage zwang, die sie nicht machen wollte.“ Eine kleine Pause trat ein. „Hat sie das... dann... dir erzählt...?“ Sayuris Stimme klang leise, fragend. Sonoko nickte langsam. „Ja.“ „Was...?“ Die blonde Frau schluckte, stand auf, ging hin und her, warf ihr immer wieder einen Blick zu. „Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen darf. Andererseits hat sie es mir nie verboten, darüber zu reden, und es wäre wohl wichtig für dich zu wissen, um zu verstehen, warum sie immer noch so schlecht klar kommt... warum sie ihn am liebsten vergessen würde, mittlerweile, warum sie den Gedanken an ihn einfach nicht erträgt...“ Sonoko seufzte tief, schloss kurz die Augen, blieb stehen. Das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Sie hat ihn so sehr geliebt... so unglaublich geliebt... dass der Gedanke an ein Leben ohne ihn sie so sehr entsetzt hat... so niedergeschmettert hat... dass sie sich das Leben nach seinem Tod einfach nicht vorstellen konnte.“ Sayuri öffnete entsetzt die Augen, hob langsam die Hand, hielt sie sich vor den Mund. Sonoko schaute sie an, nahm ihre Hände in die ihren, hielt sie fest, schaute sie ernst an. „Hör zu, daran hat sie nie gedacht... nicht das, was du denkst! Ran hat nie... niemals überlegt, sich selbst das Leben zu nehmen, nicht, wo du doch auch noch da warst! Niemals. Sie wollte ich doch unbedingt, sie hätte dich nie allein gelassen. Und er… Shinichi hätte ihr solche Gedanken sofort ausgeredet, auch wenn er sie selber auch mal hatte...“ Sie senkte kurz den Kopf, schüttelte ihn langsam. „Sie hat nur immer wieder gefragt, unter Tränen, was sie denn machen sollte, wenn er weg wäre. Sie wollte das nicht. Sie konnte sich ein Danach einfach nicht vorstellen. Ein Leben ohne ihn. Sie wollte den Abschied nicht, diese Gewissheit, dass er für immer fort wäre… Sie wusste, es würde kommen, irgendwie würde sie es meistern, aber sie wusste nicht, wie. Und ein Teil von ihr wollte es auch nicht wissen. Sie wollte ihn einfach nicht verlieren... Ran wollte ihn einfach nicht gehen lassen. Sie hatte Alpträume deswegen... hat davon geträumt, dass er gestorben war, ist aufgewacht, stets so leise, dass er es nie gemerkt hat, hat gelauscht, ob er noch geatmet hat... jedes Mal, mit jedem Traum wurde ihre Verlustangst größer, der Schmerz intensiver. Und man sah... man sah, obwohl er sehr tapfer war, wie es dann doch langsam bergab ging mit ihm. Vor allem sie sah es.“ Sonoko seufzte. „Deine Eltern waren seelenverwandt. Ich dachte nie, dass es das gibt, aber sie waren es... sind es vielleicht noch immer. Er hat sie so geliebt, seine Ran... er hätte wirklich alles für sie getan. Und er hat... hat sich ein Bein ausgerissen, um es ihr so leicht wie möglich zu machen, er war so lieb zu ihr, so fürsorglich, er... er hat wirklich alles getan, was in seiner Macht stand. Und Ran - Ran hat all das aufgesogen wie ein Schwamm. Seine Liebe, seine Nähe, seine Wärme... sie waren einander so nah... man mochte glauben, die beiden würden sich gegenseitig dieses Leben geben, einer ohne den anderen wäre tot. Und das ist eingetroffen. Shinichi... Shinichi starb, und Ran war plötzlich allein. Ihr Partner war fort, ihre Lebensquelle war weg – wo vorher Licht und Leben waren, herrschten nun Kälte und Dunkelheit, und so schlichen sie sich in Rans Welt ein. Sie war ohne ihn nicht mehr ganz. Er hat ihr Herz mit sich ins Grab genommen und ihr seins dagelassen, aber was nützte ihr das? Ich weiß, das hört sich kitschig an... aber so beschreibt man es am besten. Und nun… Was nützt es ihr heute, zu wissen, dass er sie bis zu seinem Tod geliebt hat... sie vermisst ihn immer noch, sein Leben, sein Lachen, seine Liebe, und weiß, sie bekommt das alles nicht mehr wieder. Sie vermisst die Schulter, an die sie sich lehnen kann, die Arme, in denen sie sich sicher fühlen kann... ihr fehlt die Wärme, die die Kälte in ihrer Welt vertreibt. Du hast ihr Leben in der Hinsicht zwar unglaublich bereichert, und sie liebt dich, das weißt du, hoffentlich... sie liebt dich über alles. Aber ihr Wunsch, ihre Hoffnung, die sie wohl insgeheim hegte, dass du... dass du ihn irgendwie ersetzen könntest, blieb unerfüllt. Und er hat sie davor auch oft genug gewarnt.“ Ran blinzelte, war stolz auf sich. Sie stand vor seinem Grab und weinte nicht. Tief atmete sie durch, schluckte, dann hob sie ihre Hände zu ihrem Hals, umgriff die Kette mit dem kristallenen Herzen. Starr war ihr Blick auf seinen Grabstein geheftet. „Hier. Bitte. Nimm‘s zurück... ich geb‘s dir wieder...“ Ihr Flüstern verhallte ungehört, ging unter im Gezwitscher der Vögel, die die ersten wirklich warmen Strahlen der Frühlingssonne zu neuem Leben erweckt hatten. Dann riss sie an der Kette, spürte einen scharfen Schmerz im Nacken, doch sie hatte erreicht, was sie wollte. Am schwächsten Glied war das goldene Band gerissen. Sie hielt die Kette hoch, seufzte leise. Vor ihre Nase baumelte es, das Herzchen, sein letztes Weihnachtsgeschenk an sie, hing fing das Licht ein, brach es, reflektierte es in Millionen von Farben. Es hatte in all den Jahren nichts von seiner Brillanz eingebüßt. Ran schluckte erneut, stellte erstaunt fest, dass ihr das Schlucken diesmal wesentlich schwerer fiel als noch gerade eben. In ihrem Hals bildete sich ein dicker Kloß, als sie auf den Stein zutrat. Langsam, zögernd, beugte sich vor, streckte ihre Hand aus, legte die Kette samt Anhänger auf die Tafel, zog dann ihren Arm wieder zurück, stolperte ein paar Schritte rückwärts. Bitteschön... jetzt hast du deines wieder... vielleicht... Vielleicht kann ich jetzt abschließen...? Sie hustete, rang das aufkeimende Verlustgefühl nieder, drehte sich um und ging, wandte sich nicht mehr um, starrte stur gerade aus. Versuchte, zu vergessen, was hinter ihr lag. Sonoko strich ihrer Patentochter liebevoll übers Haar, setzte sich dann wieder neben sie aufs Sofa, seufzte leise. „Sie kannten sich schon ihr ganzes Leben. Sie konnte es sich nicht vorstellen, wie es sein würde, ohne ihn... und dann zu sehen, zu erleben, wie er langsam verging... sie nichts dagegen tun konnte, ihn jeden Tag ein Stückchen mehr verlor... das machte aus Ran... einen anderen Menschen. Du kennst sie nicht so, wie wir sie kannten. Du kennst sie leider nicht aus der Zeit, als dein Vater noch da war. Sie war seit seinem Tod nie wieder so ausgelassen... nie wieder so fröhlich. Sie hat das Leben nie wieder so genossen, wie während der Zeit mit ihm. Wäre er nicht gestorben, so früh... die beiden wären für die Ewigkeit gemacht gewesen.“ Sayuri schluckte, schaute ihre Tante unsicher an. Das Gefühl, ihrer Mutter Unrecht getan zu haben, das sie schon seit Tagen plagte, verstärkte sich immer mehr. Sie hatte sich nie vorgestellt, vorstellen wollen, wie es für sie gewesen war. Die meiste Zeit hatte sie an sich selbst gedacht... was ihr genommen, vorenthalten worden war. Dabei hatte ihre Mutter... nicht weniger, eher noch mehr, verloren als sie. „So... so sehr haben sie sich... geliebt?“ Sonoko nickte langsam. „Ja.“ Sie ließ ihren Kopf auf ihre Hände sinken. „Es ist eine Schande, dass dir das verwehrt geblieben ist. Eine Familie, eine richtige. Dass du ihn als Vater nie kennen lernen durftest. Er hätte das gut gemacht.“ Ein sanftes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Er war ja schon total hin und weg, als er deine Bewegungen in Rans Bauch spüren konnte. Ehrlich, ich dachte nie, dass er so putzig sein kann. Gefreut hat er sich, wie ein kleines Kind.“ Sonokos Lächeln wurde noch breiter, erlosch allerdings bei dem Blick auf ihre Patentochter. Eine Träne rollte aus Sayuris Augenwinkel, ohne dass sie es bemerkte. Die blonde Frau schaute sie traurig an. „Es ist nicht fair, für dich. Deine Mama liebt dich... sie liebt dich wirklich, über alles... aber wie viel schöner könntest du es jetzt haben, wäre er noch hier... hätte er nicht so verdammt früh...“ Sie brach ab, starrte auf die Tischdecke, griff sich dann eine Handvoll Pralinen und stopfte eine nach der anderen in sich hinein. Sayuri tat es ihr gleich. „Wenn sie wenigstens mal ihren Frieden mit sich und ihm machen könnte, wäre das ja schon viel wert.“, nuschelte sie dann kauend, schluckte runter. „Ja, deswegen bin ich hier. Papa...“ Sonoko blinzelte sie einigermaßen erstaunt an, schwieg aber. Sayuri fuhr unbeirrt fort. „Er hat mir... ich weiß nicht, ob dir das bekannt ist, Tante Sonoko... er hat mir Bücher geschrieben.“ Sonoko nickte. „Ran hat’s mal erwähnt, ja.“ Das Mädchen holte Luft. „Schön. Also in einem dieser Einträge... da hat er mal angedeutet, dass es so enden könnte, wie es momentan aussieht. Das Mama total... fertig ist, und traurig, und... verzweifelt, und der Gedanke an ihn für sie... etwas schmerzvoll sein könnte.“, umschrieb sie vorsichtig. Sonoko nahm sich einen Keks, ließ ihn den Pralinen folgen. „Weiter. Erzähl schon weiter...!“ „Also... er hat gemeint, falls es wirklich so ist, hätte er für sie... eine Art Abschiedsgeschenk versteckt. Er wollte ihr es so nicht geben, weil er sich nicht so von ihr verabschieden wollte... fand‘s zu traurig und wohl auch ein wenig zu hart... aber er hat ihr eins dagelassen, und mich beauftragt, es zu suchen und ihr zu geben, falls es nötig ist.“ „Und du befindest es für nötig?“ „Ja.“ Sayuri nickte fest. „Absolut. Und das ist auch der Grund, warum ich mich mit Mama verkracht hab. Sie hat mich im Büro...“ Sonoko hob die Hand, öffnete den Mund. „Halt mal... du warst in Shinichis Büro?!“ Das Mädchen neben ihr äußerste zustimmendes Gemurmel. „Oha. Ich kann mir vorstellen, Ran war sauer...“ Langsam ging sie weiter, Schritt für Schritt. Schaute auf den Boden, bohrte ihren Blick regelrecht ins Gras, versuchte nicht daran zu denken, was sie auf dem Grabstein zurückließ und warum, sondern setzte vehement einen Fuß vor den anderen, kam sich dabei vor, als würde sie durch Wasser waten – der Widerstand, gegen den sie ankämpfte, war fast materiell. Sie blieb stehen, atmete heftig wie nach einem Marathonlauf, ihr Blick immer noch starr in die Luft vor sich gerichtet. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell - sie hob den Blick, sah das Portal bereits vor sich. Ihr Ziel. Mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen machte sie einen weiteren Schritt nach vorn; und dann war es vorbei mit ihr. Auf dem Absatz machte sie kehrt, begann durch die Gräberreihen zurück zu hetzen, achtete nicht auf die verdutzte, irritierten, ja zum Teil sogar verärgerten Blicke der anderen Friedhofsbesucher. Sie hatte nur eins im Sinn. Sie wollte zurück an das Grab, sich das Herz wiederholen. Viel zu spät war ihr eins bewusst geworden – sie wollte doch gar nicht das Herz wieder zurückgeben an den Besitzer. Sie wollte nur… wollte ihn wieder haben. Und nicht riskieren, dass sie alles von ihm verlor. Sie wollte nichts zurückgeben… wenigstens behalten, was sie noch hatte, von ihm. Das Gefühl, einmal geliebt worden zu sein. Sie wollte es gar nicht zurückgeben, dieses Gefühl… Außer Atem blieb sie stehen, als sie Shinichis Grab erreicht hatte, schaute hektisch um sich, ließ ihre Augen über den Stein schweifen. Langsam weiteten sich Rans Augen vor Entsetzen, ihr Herz setzte einen Schlag aus. Es war weg. Die Kette samt Herzanhänger – verschwunden. Hastig trat sie näher, ließ ihre Hand über den Grabstein tasten, schaute ins Gras ringsumher, erfolglos. Ihr Atem ging schnell, ihr Herz raste, als sich die Erkenntnis in ihr regte – das kristallene Herz war wirklich weg. Tränen stiegen ihr in die Augen, langsam trat sie näher, schluckte schwer. Sie begann zu zittern, unwillkürlich, sah den Friedhof, die Sonne, das Gras und die Bäume nicht mehr, nur die leere Stelle auf seinem Grabstein... die Stelle, wo sie das Herz hingelegt hatte... und an der es nun nicht mehr lag. „Nein...“, hauchte sie leise. Verzweiflung begann sich in ihr breitzumachen, als sie sich um ihre eigene Achse drehte, ihre Blicke schweifen ließ auf der Suche nach ihrem funkelnden Kleinod. Rans Gedanken rasten. „Nein, nein, nein...!“ Sie fing an zu jammern, unablässig flüsterten ihre Lippen dieses Wort, fast wie ein Mantra. Das konnte einfach nicht wahr sein... sie durfte es nicht verloren haben! Panik stieg in ihr hoch, und sie schalt sich dafür. Schließlich war sie selber es gewesen, die das Herz unbedingt hatte loswerden wollen, und nun kam sie mit den Konsequenzen nicht klar. Ihre Hände fingen an zu zittern, ihr Herz schlug gegen ihren Brustkorb, schmerzhaft, schnell. Sie wollte es wiederhaben. Dieser eine Gedanke beherrschte ihr Denken. Das Herz, es gehörte ihr... und sie wollte es wieder. Sie wollte dieses Symbol wieder... es hing soviel daran. So viele Erinnerungen, so viele Gefühle... sie durfte es nicht verlieren. Wo konnte es also sein...? Sie war vielleicht fünf Minuten nicht hier gewesen... wer konnte es so schnell geklaut haben? Wer hatte ihr das Herz gestohlen? Und wie hatte sie nur so blöd sein können, es nicht vorher zu verstehen...? Nicht zu verstehen, dass sie es brauchte... es nicht hergeben durfte? Dann hörte sie einen Vogel schreien, starrte nach oben. Über ihr im Geäst saß sie – ein schwarzer Vogel mit weißen Flügelspitzen; eine Elster. In ihrem Schnabel hing die Kette. Ran erstarrte, dann trat sie langsam, sehr vorsichtig und sanft noch ein wenig näher, um sie nicht zu erschrecken, ließ den Vogel nicht aus den Augen. „Gibs mir wieder... bitte. Du musst verstehen, das war ein Missverständnis.“, flüsterte sie. Ihre Stimme bebte, sie streckte bittend ihre Hände aus, langsam, um die Elster nicht zu verschrecken, zu riskieren, dass sie davonflog. „Bitte, gibs mir wieder. Du kannst es nicht haben.“ Sie gab wohl ein Bild für Götter ab, als sie für die, die weiter weg standen, scheinbar mit einem Geist sprach. „Bitte... bitte...!“, murmelte sie leise. Ihr Flehen blieb ungehört. Der schwarze Vogel neigte sein Haupt, blickte sie aus neugierigen Knopfäuglein an. Die Kette in seinem Schnabel pendelte, der Anhänger blitzte und funkelte, warf sein buntes Muster auf Blätter und Äste. „Komm schon...“ Ihre Gedanken überschlugen sich, suchten nach Plänen, um der Elster ihre Beute wieder abzuluchsen, aber ihr fiel nichts ein. Und so stand sie unter dem Baum, Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen, als ihr die Ausweglosigkeit ihrer Situation bewusst wurde. „Bitte... bitte gibs mir wieder... es ist meins. Es gehört mir. Behalt meinetwegen die Kette, aber gib mir den Anhänger!“ Ihre Stimme wurde lauter, drängender. Und dann sprang sie. Sprang in die Luft, mit ausgestreckten Armen, wollte nach der Elster greifen, aber verfehlte sie. Mit einem empörten, keckernden Laut flog der Vogel auf, stieß kurz auf sie herab, bevor er mit ausholenden Flügelschlägen das Weite suchte. Aber das registrierte Ran gar nicht mehr. Sie ging mit zitternden Beinen dorthin, wo die Elster im Eifer des Gefechts etwas hatte fallen lassen... als sie sie angeschrien hatte, hatte sie den Schnabel öffnen müssen... und dabei war ihr die Kette entglitten. Ran sank zu Boden ins Gras, zupfte die Kette aus dem Gras, hielt das Herz auf ihrer Handfläche, ließ es funkeln. Dann stand sie wieder auf, ihre Beine immer noch wacklig vor Erleichterung, und warf seinem Grab einen kurzen Blick zu. „E... entschluldige.“ Dann senkte sie den Kopf, ihre Wangen waren hochrot, ehe sie den Friedhof verließ und den nächsten Juwelier aufsuchte. Sie brauchte eine neue Kette. Sonoko seufzte lange und laut, als sie das Päckchen vor sich auf dem Tisch betrachtete. „Und das hast du gefunden?“, fragte sie überflüssigerweise. „So sieht’s aus.“, murmelte Sayuri zustimmend. „Und seither war ich nicht mehr daheim... weil ich mich mit ihr zerstritten hab.“ Sie seufzte leise. „Lass mich raten... jetzt weißt du nicht, was du tun sollst. Wie du dich verhalten sollst, wenn du ihr wieder unter die Augen trittst? Ob und, wenn ja, wie du ihr das Päckchen geben sollst?“ Das Mädchen nickte. „Ja. Alles.“ „Hm.“ Sonoko verdrehte die Augen gen Himmel. „Ich denke, am Weitesten kommen wir damit, wenn wir uns eine Frage stellen...“ „Die da wäre?“ Sonoko schmunzelte. „Was hätte dein Vater getan?“ Sayuri zog überrascht die Augenbrauen hoch. Die blonde Frau nickte nachdrücklich. „Genau. Ich bin zwar ihre beste Freundin, aber ich... ich kannte sie bei weitem nicht so gut wie dein Vater, und ich kenne sie nicht in allen Lebenslagen, so wie er es tat, und du es tust. Also... Shinichi...“ Sie überlegte kurz. „Shinichi wäre wieder heimgegangen zu ihr, und hätte abgewartet. Wenn sie seine Hilfe, seine Hand gebraucht hätte, hätte er sie ihr gereicht. Wenn sie hätte reden wollen, hätte er zugehört, und wenn sie hätte zuhören wollen, hätte er geredet... und ich denke, so wirst du es auch halten müssen, meine liebste Patentochter.“ Sonoko lächelte ihr zu. „Geh nach Hause, geh zu ihr, sie sorgt sich bestimmt schon wahnsinnig und vermisst dich sicher... du solltest sie nicht mehr länger warten lassen. Schau einfach, wie die Lage ist. Vertrau deinem Instinkt, damit bist du immer gut beraten.“ Sayuri seufzte leise. „Wahrscheinlich hast du Recht...“, murmelte sie dann. „Na, aber klar doch.“ Sie stand auf, scheuchte ihr Patenkind ebenfalls hoch. „Und nun geh schon. Geh. Na los! Ab mit dir, ab, ab, ab!“ Ein breites Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. Sayuri stolperte vor ihr her, schaffte es gerade noch, nach dem Päckchen zu greifen, bevor sie sich wenige Minuten später mit höchst verdutztem Gesicht vor der Tür wiederfand. Dann seufzte sie, drehte sich um und stiefelte die Treppe hinunter. „Vertrau deinem Instinkt. Na toll.“, murmelte sie vor sich hin, drehte grübelnd eine Locke ihres Haars um ihren Finger. „Das sagt die Frau so einfach...“ Gedankenverloren warf sie einen Blick nach oben, blinzelte. Die Sonne schien, wärmte ihr das Gesicht. Vertrau deinem Instinkt… Generalprobe ------------ Guten Abend, liebe Leserinnen und Leser, die sich Woche für Woche hier wieder einklinken! Dankeschön für die Kommentare zum letzten Kapitel! Ich freu mich ehrlich über jeden, lese alle und nehm sie mir auch zu Herzen :) In diesem Sinne lest und richtet über dieses Kapitel. *hust* Ich sag hierzu mal nichts mehr, ich denk, es spricht für sich. Gute… Unterhaltung. Viele Grüße, eure Leira :) ______________________________________________________________ Kapitel 24: Generalprobe Vergangenheit Sie wachte auf, weil sie ein leises Stöhnen hörte. Erschrocken setzte sie sich auf, drehte sich um, suchte mit ihren Augen nach ihm. Und sie fand ihn auch. Shinichi lag neben ihr, hielt sich eine Hand an die Stirn, stöhnte leise, war fast noch weißer im Gesicht als das Kopfkissen. Es ging ihm schlecht. Ziemlich schlecht, wie’s aussah. „Shinichi…“, wisperte sie leise, Sorge und Bekümmertheit stand in ihrem Gesicht. Sie hob die Hand, strich ihm eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn, eine Berührung so sanft wie das Streicheln einer Feder. Er sah so erschöpft aus, so erschöpft… Sie schluckte schwer, ertrug den Anblick seines blassen Gesichtes nur schwer. Dann beugte sie sich über ihn, hauchte ihm den zärtlichsten aller Küsse auf die Lippen. Er öffnete die Augen, die er bis jetzt zusammengekniffen hatte und schaute sie an. Die Qual, den Schmerz in seinen Augen zu sehen, versetzte ihr einen Stich. „Ran?“, murmelte er heiser. „Hab ich dich geweckt? Das tut mir…“ Sie legte ihm einen Zeigefinger auf die Lippen. „Hör auf damit.“ Sie gab ihm einen weiteren Kuss auf die Schläfe. „Hör auf…“, wisperte sie sie. Dann griff sie nach einem Taschentuch aus ihrer Nachttischschublade, wischte ihm vorsichtig den Schweiß von der Stirn, schaute ihn besorgt an. Sie wusste, diese Anfälle kamen und gingen. Wahrscheinlich war es nur wieder an der Zeit, die Dosierung des Schmerzmittels zu erhöhen… die Tatsache, dass ihm die Zeit langsam wirklich ausging, sie die Prognose schon hinter sich gelassen hatten... daran dachte sie nicht. Sie verdrängte es. Ein leiser Seufzer verließ ihre Lippen. Er blinzelte, schaute sie traurig an. „Und jetzt?“, flüsterte er fragend. „Ich mach Frühstück.“, antwortete Ran. Sie wusste nicht, warum sie das gesagt hatte, wahrscheinlich, weil sie sich ein Stückchen Normalität bewahren wollte; und weil ihr irgendetwas sagte, dass er etwas essen sollte. Er richtete sich auf, langsam. Sie legte ihm eine Hand auf die Brust, drückte ihn zurück in die Kissen. „Bleib liegen, Shinichi. Ich mach das Frühstück und bring es hierher ins Bett.“, sagte sie, bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte. „Lass gut sein, Ran. Ich kann gar nichts essen jetzt. Wirklich nicht…“ Sie schnitt ihm das Wort ab. „Ich will das nicht hören. Du wirst was essen. Du musst. Das weißt du.“ Sie schaute ihn streng an, schüttelte mit zusammengekniffenen Lippen den Kopf, um eine Entgegnung seinerseits im Vorfeld abzuwürgen, dann machte sie sich auf den Weg in die Küche. Eine halbe Stunde später war die Sonne aufgegangen, ein leiser Lufthauch wehte durchs offene Fenster, fing sich in den Gardinen, brachte frische Morgenluft ins Zimmer. Ran seufzte, schaute ihn an. Viel hatte er nicht gegessen, aber er war nicht mehr ganz so weiß im Gesicht. Und es schien ihm… wieder ein wenig besser zu gehen. Anscheinend waren die Schmerzen vergangen. Sie stützte sich auf dem Ellenbogen auf, schaute ihn an, der gedankenverloren an die Decke starrte. „Ich muss heut zur Untersuchung.“ Langsam drehte er den Kopf. „Ich hab gestern mit deinen Eltern telefoniert, sie fahren mich hin und gehen anschließend noch einkaufen mit mir. Meine Eltern sind leider beide beschäftigt heute.“ Er nickte, blinzelte. „Und...?“ „Willst du mitkommen...?“ Sie flüsterte den Satz nur, wusste die Antwort schon. Nach heute Morgen war sie eigentlich klar. „Ich würde ja gerne, aber… ich denke eher nicht. Ich werd wohl hier bleiben und ein wenig schlafen, Ran.“ Er seufzte leise, streichelte ihr über den Unterarm, in ihre Handfläche, wo sich ihre Finger um die seinen schlossen. „Ist gut... aber... ich meine... du bist sicher, dass du allein...?“, murmelte sie leise. Man sah ihr an, dass sie ihn widerstrebend allein ließ. Er lächelte verhalten. „Ran, was soll schon sein. Es sind doch nur ein paar Stunden.“ Sie schluckte bitter. „Du weißt, was sein kann...“ Er schüttelte den Kopf, schaute sie ernst an, legte ihr seinen Zeigefinger auf die Lippen. „Nein.“ Er beugte sich vor, gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Heute nicht, ich versprechs. Denk nicht dran. Mach deine Untersuchung, geh einkaufen... wenn’s mir schlecht geht oder so, kann ich ja den Professor oder Shiho anrufen. Aber ich denke, ich werd' den Tag echt verschlafen.“ Shinichi lächelte sie an, dann strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. „Na komm, lass uns aufstehen.“ Er grinste, setzte sich auf, nahm die Bettdecke und zog sie ihr weg, hörte, wie sie aufschrie, als ihr die Kühle in ihrem Schlafzimmer eine Gänsehaut verursachte und lachte. Sie schlug spielerisch nach ihm, zog ihm dann die Decke ebenfalls weg und zerrte ihn mit sich ins Badezimmer. Und doch merkte sie deutlich, so heiter er auch versuchte, sich zu geben... dass der Zeitpunkt langsam immer näher rückte. Dass er... der immer so stark gewesen war... immer schwächer wurde... diesen Kampf sichtbar verlor, langsam, aber kontinuierlich, und sie nichts tun konnte, um ihm zu helfen. Und das machte ihr Angst. Ihm war langweilig. Ran war mittlerweile mit seinen Eltern unterwegs, und er war also wirklich allein zuhause. Er hatte darauf bestanden, hatte geglaubt, er brauchte mal Zeit für sich... ein paar Stunden ohne Wachhund. Mittlerweile war er sich da nicht mehr ganz so sicher. Zuerst hatte er sich seine Zeit damit gefüllt, sein aktuelles Buch weiter zu schreiben und zwei Geschenke einzupacken. Dann hatte er sein Büro ein wenig aufgeräumt, wobei ihm KIDs Monokel wieder in die Hände gefallen war. Fünf Minuten lang hatte er überlegt, ob er es ihm wieder zurückgeben sollte; dann hatte er zufrieden grinsend beschlossen, es doch als Souvenir zu behalten. Wann wurde schließlich schon mal ein Meisterdieb beklaut? Noch dazu von einem Meisterdetektiven? Nein... das hier würde KID, wollte er es wieder haben, wenn dann schon persönlich abholen müssen. Im Zuge dieser Überlegung war er in die Bibliothek gewandert, wo er sich ein Buch aus dem Regal zog und es zu lesen begann. Es war der Krimi seiner Eltern, und er las ihn jetzt zum fünften Mal. Aber konzentrieren konnte er sich nicht. Nachdem er heute Morgen richtig müde, ja erschöpft, gewesen war, eigentlich nur liegen bleiben hätte können und den Tag im Bett verbringen, hatte er nun keinen einzigen Moment der Muße. Er konnte, wollte nicht schlafen. Er musste sich beschäftigen, zwanghaft. Und das irritierte ihn. Shinichi begann nachzudenken, warum dem so war, er versuchte, den Grund zu finden, und nach ein paar Minuten in der Stille des Hauses wusste er, was ihn so umtrieb, den ganzen Tag schon. Es war die Stille selbst. Das Haus war zu leer. Es war zu still. Totenstill. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich langsam umsah. Ran hielt einen Babystrampler in ihren Händen, als das Gefühl sie übermannte. Es schlich sich leise an, wie ein Gangster näherte es sich von hinten, unbemerkt, bis es sie einfach überfiel, ihr die Luft zum Atmen raubte. Sie ließ den Anzug sinken, wandte sich zu Yukiko um, die gerade ein paar Kindersöckchen in den Händen hielt. „Ich will nach Hause.“ Es war nicht mehr als ein Flüstern, aber der Tonfall ihrer Stimme sagte alles. Yukiko steckte die Socken zurück, schaute Ran alarmiert an. Ihre Schwiegertochter war sehr blass um die Nase, aus ihren Augen sprach die Angst. Die ehemalige Schauspielerin nahm sie bei der Hand, zog sie mit sich in die Buchhandlung des Kaufhauses, um ihren Mann zu holen. Rans Unruhe übertrug sich auf sie wie ein ansteckender Virus. Hör auf, dich wie ein kleines Kind aufzuführen, Kudô! Es ist verdammt noch mal nicht das erste Mal, dass du allein zuhause bist. Es ist ruhig, das haben leere Häuser so an sich. Sonst nichts. Shinichi fuhr hoch, schüttelte den Kopf, versuchte diesen irren Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben, aber es gelang ihm nicht. Die Stille schien auf ihn herabzudrücken, ihn zusammenzupressen. Shinichi schaute um sich, sah die Schatten in den Winkeln des Zimmers, glaubte, sie würden wachsen, ihm entgegenkommen, sich ausbreiten. Die Finsternis war gekommen, um ihn zu holen. Er blinzelte, merkte, wie sein Puls zu rasen begann, schalt sich selber einen Narren; fing an zu lachen, lachte sich selber aus, aber dieses Gelächter kam ihm geisterhaft vor und so ließ er es bald wieder bleiben. Shinichi schluckte, fuhr sich mit kalten Fingern über die Augen. Das hier waren nur seine Nerven. Er bildete sich was ein. Es wurde Zeit, dass Ran wiederkam, damit ihr geschäftiges Räumen und Kramen das Haus mit Leben erfüllte. Langsam ging er ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein, in der Hoffnung, die künstliche Geräuschkulisse möge diese unheimliche Stille ein wenig vertreiben. Ein paar Minuten hörte er den Schauspielern einer billigen Soap bei ihren noch billigeren Texten zu, ohne irgendwie den Sinn zu verstehen, dann schaltete er wieder ab. Er merkte, wie er panisch wurde, und das ärgerte ihn. Er war doch sonst so vernünftig. Er war eigentlich nicht der Mann für Panik. Shinichi setzte sich hin, betrachtete seine Finger. Warum war er heute so empfindlich? Warum reagierte er so seltsam? Was war nur los...? Schließlich stand er auf, wollte in die Küche gehen, um sich Kaffee zu kochen, das Getränk, das seit jeher allen seinen Problemen zur Lösung verhalf, als sich plötzlich alles um ihn drehte. Haltsuchend klammerte er sich an der Sessellehne fest, schwankte, keuchte, merkte, wie sein Atem schwerer ging. Ihm wurde fast schwarz vor Augen, und in ihm brach nun die blanke Panik los. Er stöhnte unterdrückt auf, als stechender Schmerz sich seiner Brust bemerkbar machte. Ihm schwindelte und er ließ sich zu Boden sinken, kniete auf allen vieren, bekam kaum noch Luft. Es war ganz plötzlich gekommen. Bestimmt war das nur wieder ein Anfall. Er kannte ja die Symptome. Ihm war schlecht, das Stechen in der Brust, und ihm war heiß. So heiß… Eigentlich war das schon fast klassisch. Wie heut morgen. Er musste nur ein wenig warten. Er hob eine Hand, presste sie gegen seine Rippen, als sein Herz immer schneller, immer schmerzhafter in seinem Brustkorb schlug. Er kannte es ja... und er würde es durchhalten müssen, wie immer. Am besten, er legte sich einfach auf den Boden. Das schien ihm eine gute Idee. Nur ein wenig liegen und warten. Langsam ließ er sich auf den Teppich sinken, der das Parkett bedeckte, drehte sich auf den Rücken, versuchte, seine Angst in den Griff zu kriegen, versuchte, sich einzureden, dass es gleich vorbei sein würde. Dass es nicht mehr lange dauern konnte. Er starrte die Decke an, strich sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn, versuchte, sich zusammenzureißen, nicht durchzudrehen. Yusaku saß im Wagen, warf seiner Frau neben sich einen fragenden Blick zu. „Fahr einfach.“, murmelte sie gepresst, schaute kurz zu Ran nach hinten, die, kreidebleich, ihre Hände um ihren Bauch geschlungen, auf der Rückbank kauerte. Der Kriminalautor schluckte kurz, versuchte, sachlich und ruhig zu bleiben. „Wenn es Shinichi nicht gut gehen würde, hätte er sich doch gemeldet...“ Seine Worte verhalten ungehört im Wageninneren. Er schluckte nur, schüttelte den Kopf. Kein Wunder, dass er keinen Menschen beruhigen konnte, wenn er selber nicht hinter dem stand, was er sagte. Er gab Gas, bog scharf um die nächste Ecke und ignorierte ein wütendes Hupen, das ihm entgegenschallte. „Wir sind ja bald da...“, murmelte er nur noch leise, sagte dann nichts mehr. Shinichi stöhnte leise auf, hielt sich den Handrücken an die Stirn. Es tat weh. Alles. Es war schrecklich... in solcher Intensität hatte er diese Qual schon lange nicht mehr erlebt. Und es hörte nicht auf. Das war nicht normal, das ging ihm langsam auf. Und mit diesem Gedanken brach das Gefühl der Furcht wieder aus in ihm, durchflutete ihn, breitete sich aus in seinem Kopf, von dort in jede Faser seines Körpers. Er begann zu zittern, ohne es zu wollen. Er hatte Angst, wusste nicht, was los war. Ahnte es, aber wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Als das Schwindelgefühl nicht abebbte, die Schmerzen nicht nachließen, ihm langsam wirklich kalt wurde, tat er es doch. Sterbe ich jetzt…? Er biss die Zähne zusammen, vergrub seine kalten, nassgeschwitzten Finger im Teppich. Nicht doch…! Noch nicht… Das kann doch nicht wahr sein... das ist doch nicht wahr, bestimmt geht’s gleich wieder... Bestimmt... Mein Gott, ich hab's ihr doch versprochen... Die kleine Stimme in seinem Ohr, die ihm das Gegenteil glauben machen wollte, überhörte er tunlichst. Dann hörte er die Haustür aufgehen - und wieder zufallen. „Shinichi…?“ Seine Mutter. Er blinzelte erschrocken. Sie waren wieder da! Aber im Gegenteil zu vorhin wollte er sie jetzt ganz und gar nicht hier haben... er wollte nicht... „Shinichi, wo steckst du…?“ Schritte näherten sich. Mehrere Schritte. Offensichtlich waren seine Eltern und Ran mit den Einkäufen und der Untersuchung fertig und wollten wohl noch ein wenig hier bleiben. Er kniff die Augen zusammen. Er wollte nicht, dass sie das sahen, aber Einfluss hatte er darauf nicht wirklich. Er stöhnte unterdrückt auf, hielt sich mit einer Hand den Mund zu. „Shinichi, sag doch was…!“ Das war Rans Stimme. In ihr schwang leise Panik. Er hörte sie laufen. Dann ging die Tür zum Wohnzimmer auf, und er sah sie in der Tür stehen, alle drei. „Haut ab…“ Seine Stimme war kaum zu verstehen. Er starrte wieder an die Decke, versuchte ruhig zu atmen. Es ging nicht. Es gelang ihm nicht. Sein Atem ging stockend, Schweiß perlte ihm von der Stirn. „Bitte... geht doch...!“ Seine Bitte blieb ungehört. Ran wurde bleich, rannte zu ihm, ließ sich neben ihm zu Boden sinken. Ihre Hände fühlten sich eiskalt in seinem Gesicht an. Und er sah die Angst in ihren Augen. Angst, ihn zu verlieren, jetzt. Er wusste, sie war nicht ganz unbegründet. Er fühlte sich wirklich schwach. Ausgelaugt, erschöpft. Kraftlos. Leblos… „Shinichi!“ Sie wimmerte leise, nahm seinen Kopf in beide Hände. „Shinichi! Shinichi, was hast du denn...?“ Angst. Das Gefühl war allgegenwärtig und allmächtig. Er merkte, wie die schwarzen Finger einer nahenden Ohnmacht nach ihm griffen. Oder war es schon die Hand des Todes…? Nein! Er presste die Augen zusammen, biss die Zähne zusammen. Es war fast nicht auszuhalten, es tat so weh. Einerseits wollte er ein Ende... ein Ende dieser Qualen, aber nicht... nicht dieses endgültige Ende. Er wollte noch nicht sterben. „Noch nicht…!“ Seine Stimme war leise, ein hervor gepresstes Wispern. Yusaku ging neben ihm in die Knie, legte ihm die Finger an die Schläfe, erschrak ob der Hitze, die seiner Haut entgegen strömte. Er ahnte, wie ernst es um seinen Sohn stand. „Du… du wirst es dir…“ „Nicht aussuchen können?“, vollendete Shinichi seinen Satz. „Das ist mir egal. Ich will jetzt noch nicht sterben. Das ist zu früh. Ich will sie noch sehen… bitte, das kann…“ Er hielt inne, biss die Zähne aufeinander. „… das… das kann doch nicht zu viel verlangt sein… nur noch ein paar Wochen… bitte…“ Seine Stimme verlor sich. In ihm herrschte die nackte Angst. Er wusste, er wandelte genau auf der Grenze - auf der Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten. Und er wollte diesen Schritt noch nicht machen. Er wollte zurück. Ich will nicht! Noch nicht… bitte… ich will sie doch noch sehen… Ihm wurde wieder schwindlig. Im Liegen noch drehte sich alles. „Bitte, bitte nicht… bitte… nur noch ein wenig, bitte…“ Yusaku verzog das Gesicht, schloss gequält die Augen, als er ihn betteln hörte. Als er seinen Sohn mit seinem Schicksal hadern sah, mit dem Tod verhandeln… Das war fast mehr, als er ertragen konnte. Ran legte ihm sanft ihren zitternden Finger auf die Lippen. „Sprich nicht... das strengt dich an...“ Sie schloss die Augen, kurz, atmete durch, versuchte ruhig zu werden. „Sei ganz ruhig...“ Immer und immer wieder strich sie ihm über die Stirn. Yukiko glitt am Türrahmen nach unten. Ihr Maskara hatte sich schon längst im Strom ihrer Tränen aufgelöst. Sie spürte den Hauch des Todes in diesem Raum, und er ließ sie frösteln. Was bist du bloß für ein Gott…? Wie kannst du ihm das antun…?! Shinichi blinzelte. „Mir ist... kalt...“ Ran schluckte, schaute ihn an, schüttelte den Kopf. „Schhht... sei ganz ruhig...“ Dann griff sie seine Hand, presste sie auf ihren Bauch. Legte sich hin, ihren Kopf auf seiner Brust und lauschte seinem Herzen, kuschelte sich an ihn. Sein Atem streifte ihr Haar. Bitte... jetzt noch nicht... Dann wurde es schwarz um ihn. Als er die Augen wieder aufschlug, war das erste, was er sah, ihr Gesicht. Er lag auf der Wohnzimmercouch, und sie saß neben ihm, war in Tränen aufgelöst, brach zusammen, klammerte sich an ihn, als sie sah, dass er wieder wach war. Langsam legte er seine Arme um sie, drückte sie sacht an sich. In seinem Hals bildete sich ein Kloß, als er seine Eltern um sich stehen sah. Man hatte ihn wohl auf das Sofa gelegt, wie lange er ohnmächtig gewesen war, wusste er nicht - aber er war noch am Leben. Sie starrten ihn an. Sie wussten genau, wie eng es gewesen war. Danke. Eine halbe Stunde später kamen Shiho und der Professor, und es war ihm nicht Recht. Er hätte ihnen seinen Anblick gern erspart. Agasa sah aus, als würde er gleich ohnmächtig werden, seine Augen glänzten verdächtig glasig und Shiho... Shiho sah aus wie die personifizierte Schuld. Sie fühlte seinen Puls, testete seine Reflexe, nahm ihm Blut ab und sagte während alldem nichts. Er verstand sie auch ohne Worte. Abends saß er noch lange wach. Hielt seinen Füller in der Hand, die Spitze schwebte zitternd über dem Papier. Seit Minuten dachte er darüber nach, ob er ihr das antun konnte. Aber er wollte es nicht verschweigen, irgendwie. Er dachte, sie hätte ein Recht darauf es zu erfahren. Und er hatte Angst, er käme sonst nie mehr dazu, es ihr zu sagen, wenn er noch länger wartete. Ihm lief die Zeit davon. Der heutige Tag hatte das mehr als deutlich bewiesen. Er wäre fast gestorben, und das war kein schönes Gefühl gewesen. Nie hatte er sich ohnmächtiger gefühlt, nie hilfloser... Und er wusste jetzt, wovor er sich fürchtete. Er fürchtete die Stille. Die Dunkelheit. Die Kälte. Deswegen war er jetzt auch ins Wohnzimmer gegangen, schrieb dort, im Gegensatz zu seiner Gewohnheit, die Abgeschiedenheit seines Büros zu nutzen. Shinichi ertrug die Stille dort nicht. Die Einsamkeit. Er hatte Angst, dass der Tod seine Finger wieder nach ihm ausstreckte, nachdem er ihn heute so knapp noch mal hatte davon kommen lassen. An seinem Rücken lehnte Ran, hatte ihre Finger in sein Hemd gekrallt, ihre Nase in seinem Nacken vergraben und atmete ruhig vor sich hin. Er spürte, wenn sie ab und an die Position ihrer Hände änderte, war froh, sie jetzt in seiner Nähe zu haben. Sie vertrieb die Kälte... vertrieb die Stille, und die Dunkelheit. Aber für wie lange noch...? Er drehte kurz den Kopf, küsste ihre Schläfe, griff mit einer Hand ihre Finger, hielt sie fest. Ja, er hatte Angst. Sein Vater saß im Sessel gegenüber, schaute in unentwegt an. Er konnte nur ahnen, wie schlimm es für seine Eltern gewesen sein musste, ihn so zu finden. Halbtot auf dem Wohnzimmerfußboden. Seine Mutter hatte noch lange hinterher geweint, sich kaum beruhigen lassen. Ran war im Gegensatz zu ihr ganz ruhig gewesen; aber sie hatte ihn seither nicht mehr allein gelassen. Sie wollte den Kontakt zwischen ihnen nicht abreißen lassen, heute, sie wollte unbedingt spüren, dass er noch lebte, noch bei ihr war. Yukiko war gerade dabei, Tee zu kochen, in der Küche. Sie hatte sich Beschäftigungen gesucht, seit sie sich wieder gefasst hatte, hatte zuerst was zu Essen gekocht, dann abgespült, die Küche saubergemacht, und jetzt machte sie Tee. Sie war mit den Nerven am Ende. Shinichi seufzte laut, starrte auf die Seiten seines Buchs. Dann setzte er die Spitze aufs Papier und begann seinen Eintrag. Und während er schrieb, beherrschte ein Gedanke sein Denken. Er würde sterben. Wirklich. Bald. Geständnis ---------- Hallo, meine lieben Leserinnen und Leser! Vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Um mal eine Frage zu beantworten: Ja, das war die Generalprobe; beim nächsten Mal wirds ernst. Und was Ran machte... war nicht unbedingt verdrängen, da noch nicht, das kommt heute... Sie will irgendwie das Leben am Laufen halten... indem sie den Tagesablauf einhält. Nichts wiegt einen so sehr in Sicherheit, wie gewissen Rhythmen und Abläufe zu pflegen. Das will sie... sie sehnt sich nach normalem Leben. Glaubt, es geht einfach weiter, wenn sie weitermacht wie immer. Ein bisschen ist das vielleicht doch Verdrängen... aber nicht im Sinne von aus den Gedanken schieben und nicht wahrhaben wollen. Nun denn ^^ Ich wünsche euch viel Vergnügen mit einen Kapitel der Gegenwart! Viele Grüße, Eure Leira :) PS: kleine Eigenwerbung: man höre und staune, aber es gibt nun schon zwei Jahre DC-Fanfiction von mir auf Mexx! Am Sonntag hatte ich Jubiläum ^.~ Wer die zu diesem Anlass geschriebene Fic (Oneshot, kläglicher Versuch einer Songfic) lesen will, der tue sich keinen Zwang an. _____________________________________________________________ Kapitel 25: Geständnis Gegenwart Als Sayuri schließlich das Haus betrat, war niemand da. Ein langer Seufzer entfloh ihrer Kehle, als sie die Tür hinter sich schloss und sich der Leere des Hauses gewahr wurde. Sie wusste nicht genau, ob sie darüber nun glücklich oder eher verärgert sein sollte; schließlich schob das den Showdown mit ihrer Mutter noch ein wenig auf, und sie war eigentlich eher diejenige, die Probleme gleich lösen wollte. Andererseits gewährte das ihr noch eine Galgenfrist, in der sie überlegen konnte, was sie ihr genau sagen wollte. Und wie. Der Ton machte die Musik. Sie wollte ihr sagen, dass es ihr Leid tat. Ihr sagen, dass sie egoistisch gewesen war, und sich entschuldigen, und erklären... erklären, warum sie im Büro gewesen war. Sayuri wollte reinen Tisch machen mit ihrer Mutter... unbedingt. Denn erst jetzt... erst reichlich spät hatte sie wirklich, wirklich und wahrhaftig, das Ausmaß der Liebe ihrer Mutter zu ihrem Vater voll und ganz erfasst. Ihr komisches Verhalten, ihre Ablehnung ihm gegenüber rührten nur von einer Ursache her – Selbstschutz. Sie hielt den Gedanken nicht aus, an ihn... an ihn, dem sie ihre Seele gewidmet, ihr Herz geschenkt hatte. Der sie nie enttäuscht hatte, nur in einem Punkt; als er sie viel zu früh verließ. Wie musste es für ihre Mutter gewesen sein, ihn sterben zu sehen...? Über Monate hinweg zusehen zu müssen, wie der, für den ihr Herz schlug, für den sie atmete, lebte, verging... Ohne helfen zu können. Ohne es verhindern zu können. Wie musste es für sie gewesen sein zu sehen, wie ihr Vater, der so lebensfroh, so stark, so enthusiastisch und voller Elan, immer weiter Abstriche machen musste... auf immer mehr verzichten musste, immer schwächer wurde, bis schließlich... Es musste die Hölle gewesen sein. Die Hölle auf Erden, im eigenen Haus. Einen geliebten Menschen auf diese Art zu verlieren... ein grausameres Schicksal konnte sie sich kaum vorstellen, und sie schämte sich, dass sie das nicht schon viel früher erkannt hatte. Nun. Sie wusste es jetzt und wollte es wieder gut machen. Sie wollte... wollte alles wieder gut machen. Wenn ihre Mutter denn dann wiederkam; was noch etwas dauern konnte. Sayuri warf einen leicht genervten Blick auf die Uhr. Solange musste sie warten, offensichtlich hatte sie keine andere Wahl; und so ging sie in die Küche, wo sie sich erst einmal eine Tasse Kaffee kochte, um sich anschließend damit ins Wohnzimmer zu verziehen und in ihrem Buch weiter zu schmökern. Als sie dann aber zu lesen begann, musste sie sich eingestehen, dass von schmökern, im Sinne von entspanntem Lesen, diesmal nicht die Rede sein konnte. Ganz und gar nicht. Schon in den ersten Zeilen fing es an. Guten Abend, Töchterchen. Vorab entschuldige ich mich für das, was jetzt kommen wird. Solltest du zarte Nerven haben, dann ließt du diese Stelle nun einfach nicht… überspringst dieses Datum. Andererseits wäre es mir wichtig, dass du’s liest, schließlich… würde ich es nicht schreiben, wäre es das nicht. Ich könnt hier einfach wieder aufhören, und gut. Aber… ich… kann einfach nicht. Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, aber... ich muss dir etwas Wichtiges sagen. Ein wenig sträube ich mich, dir hier alles aufzuschreiben, aber ich fürchte fast, ich bin es dir schuldig, und ich denke, ich muss dir erklären, warum ich dir diesen Eintrag heute schreibe. Sayuri stutzte. Die Worte klangen mehr als ernst, und die Art, wie sie geschrieben worden war, sprach ihre eigene Sprache. Tief hatte sich die Feder ins Papier gedrückt, an Stellen, wo sie abgesetzt hatte, war ein leichtes Ausbluten der Tinte zu sehen, als der Füller einen Tick zu lange auf einem Punkt verharrt hatte und sich die schwarze Farbe in die Fasern gesogen hatte. Unruhe erfasste sie, und sie verflog nicht, als sie weiter las. Ich… ich liebe dich unendlich. So sehr, wirklich… So sehr, wie ein Vater seine Tochter nur lieben kann, und es ist… unfassbar, ein unglaublich großes, überwältigendes Gefühl. Wahrscheinlich behauptet das jeder einigermaßen gute Vater, und ich kann nun sagen, es stimmt. Was du mir bedeutest, lässt sich kaum in Worte fassen… Du bist zwar noch nicht da, aber ich denke, ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich keinen Menschen auf dieser Welt je mehr geliebt habe als dich, mit Ausnahme deiner Mutter. Warum ich das jetzt schreibe, liegt daran, dass Grund zu der Annahme besteht, dass… dass ich es eiliger haben könnte als du. Es tut mir Leid, eigentlich wollte ich dich damit nie konfrontieren, aber... mir ist es gerade ein großes Anliegen, dir das zu sagen, und ich fürchte fast, ich muss begründen, warum mir das so wichtig ist, ich es so dringend, so unbedingt, loswerden will... mir so wahnsinnig wichtig ist, dass du weißt, was du für mich bist, was ich für dich fühle, auch wenn es sich kitschig anhört. Ich hoffe, du verstehst… was ich meine. Ich hoffe es wirklich. Aber der Grund ja… Der Grund für mein Schreiben ist… Heute… ich weiß nicht, ob ich dir das sagen soll oder kann. Aber jetzt ist es ja ohnehin schon zu spät, nicht wahr? Ich hätte… hätte den heutigen Tag fast nicht überlebt. Sayuri setzte das Buch ab. Ihr drehte sich fast der Magen um, ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Tot. Er wäre fast gestorben. Sie fing an zu zittern, ihre Finger wurden kalt und fragte sich, warum sie der Gedanke so aufwühlte. Er war doch schon tot... schon so lange... aber wenn er ihr hier schrieb, dass er ihr unbedingt sagen wollte, wie lieb er sie hatte, weil er Angst hatte, es bald schon nicht mehr zu können, es ihr nicht mehr persönlich sagen zu können... es so dringend und unbedingt loswerden wollte, irgendwie... Hauptsache, sie wusste es, konnte irgendwie verstehen, was er ihr so gern gesagt, gegeben hätte… Das alles machte sie fertig und seinen Tod reeller, als er es je gewesen war. In ihren Büchern lebte er noch für sie, das wurde ihr jetzt mehr denn je klar; und nun verstand sie, musste mit ansehen, wie sein Leben auch hier dem Ende zuging - und es raubte ihr fast den Verstand. Eine Träne bahnte sich über ihre Wange. Sie wollte nicht, dass es aufhörte. Ran verließ das Juweliergeschäft, eine Hand über dem Herzchen, dass jetzt wieder ordnungsgemäß um ihren Hals hing, und schlenderte heimwärts. Sie war erleichtert; ungeheuer erleichtert. Kurz hatte sie wirklich einen kleinen Schock erlitten, am Grab, als das Schmuckstück weg war – kurz hatte sie sich fast dem Glauben hingegeben, er selbst, nicht der Vogel, hätte es weggenommen. Natürlich war der Gedanke absurd, aber erst jetzt merkte sie, wie viel Unbehagen es ihr doch verursachte, nicht zu wissen, ob sie sein Herz noch hatte... ob seine Liebe ihr immer noch gehörte. Sie wollte sie nicht hergeben. Sie brauchte sie, brauchte das Gefühl, geliebt zu sein, auch wenn der, der diese Gefühle ausdrücken konnte, nicht mehr bei ihr war. Aber er hatte es doch versprochen. Hatte versprochen, sie ewig zu lieben… und bei ihr zu sein. Dann seufzte sie, verbannte den Gedanken wieder aus ihrem Kopf, drängte ihn in die hinterste Ecke, wo er erträglich war, wo seine Liebe ein namenloses Gefühl war, das ihr Wärme spendete, aber nicht wehtat. Denn so sehr sie es auch brauchte, dieses Gefühl – es wog den Schmerz nicht auf, den der Verlust ihr verursachte. Dieses Vermissen... Dann riss ein Ruf sie aus ihren Gedanken. Ran fuhr hoch, wandte kurz den Kopf und stutzte. Es war Sonoko, die ihr entgegen rannte, hektisch winkte und fast stürzte, als ihr einer ihrer in High Heels steckenden Füße seitlich wegknickte. „Ran! Ran!!! Weißt du, wer bei mir war?“ Ran blieb stehen, wartete, bis ihre beste Freundin bei ihr angekommen war, hektisch atmend und seufzte. „Sonoko, diese Schuhe sind nicht zum Laufen gemacht…“ „Interessiert mich nicht. Weißt du, wer bei mir war?!“, entgegnete die junge Schwerreiche. Ran seufzte, ging nun doch auf ihre Frage ein. „Nein. Wer denn?“ Die blonde Frau richtete sich schwer schnaufend zu voller Größe auf, bewegte vorsichtig ihren Fuß. „Na, deine Tochter!“ „Sayuri?“, murmelte Ran erstaunt, schaute sie fragend an. „Na, hast du sonst noch eine?“, erwiderte Sonoko leicht genervt. „Natürlich, Sayuri! Wer denn sonst?“ Sie seufzte, dann begann sie neben Ran her zu gehen; ihre Freundin setzte sich ebenfalls in Bewegung. „Sie hat mir... hat mir erzählt, dass ihr euch gestritten habt.“ Ran schaute auf. „Ha... hat sie das?“ „Ja, hat sie. „Aha. Hat sie das also.“ Sonoko verdrehte die Augen. „Willst du nicht wissen, was ich ihr gesagt hab? Was wir geredet haben…?“ „Nein.“ Ran berührte unbewusst das Herz um ihren Hals. Sonoko entging die Bewegung nicht. „Ran? Willst du drüber reden?“ „Nein.“ Die blonde Frau steckte ihre Hände tief in ihre Taschen. „Es gibt Momente, da bist du unmöglich, weißt du das?“ Ran nickte unglücklich. „Ja, das weiß ich.“ Sie seufzte leise, aber aus tiefster Brust, schaute Sonoko lange an. Schließlich nickte sie. „Na schön.“ Sonoko blickte sie aufmunternd an. Ran räusperte sich, dann begann sie, zu erzählen. „Ich war am... am Grab. Ich war ihn besuchen. Ich – dieses ständige Hin und Her hab ich nicht mehr ausgehalten. Ich wollte ihn immer, das weißt du- aber entweder ganz oder gar nicht. Momentan hab ich ihn halb... was ist das für ein Zustand? Ich ertrag das nicht... länger… es geht nun schon so lange so und ich dachte, heute wäre endgültig das Maß voll, es geht einfach nicht mehr. Und da wollt ich... ich wollt, dass er’s zurücknimmt. Sein Herz. Seine... seine... Liebe.“ Sie war rot geworden im Gesicht, das Blut war ihr in die Wangen geschossen. „Das hört sich albern an, nicht?“ „Nein. Ran, erzähl weiter.“ Sonoko legte ihr eine Hand auf ihren Arm, drückte ihn sacht. Ran schaute zu Boden, lächelte bedrückt. „Du... weißt... ich wollt ihn vergessen. Ich wollte...vergessen. Sonoko. Als er gestorben ist... du weißt nicht, wie das war...“ Sie presste sich die Faust auf die Lippen, fing an zu zittern. „Du weißt nicht, wie das war. Ich dachte immer, ich könnte stark sein. Ich hatte Angst, vor dem Danach, aber ich wollte doch stark sein. Für sie. Für unsere Tochter! Und ich hatte ihm versprochen, ihn nie zu vergessen. Ihn immer in meinem Herzen zu tragen, ihn als Vater seiner Tochter in Erinnerung zu rufen. Und was tu ich? Nichts dergleichen. Die guten Vorsätze gingen den Bach runter, als Shinichi starb. Keinen Tag lang haben die guten Vorsätze gehalten. Keine Minute lang. Es war… anders, als ich es mir je vorgestellt hatte. Viel schlimmer, als ich es je erträumt hätte.“ Sie vergrub ihre Hände in ihren Taschen, zur Faust geballt. „Und nun… Ich... ich kann ihn nicht wiederhaben und der Verlust macht mich fertig. Jetzt, nach fünfzehn Jahren immer noch. Ich bin nie damit klargekommen. Also wollt ich heut... ich wollt ihm wiedergeben, was ihm gehört. Ich ging zum Grab, hab ihm gesagt, dass er sein Herz wiederhaben kann. Hab ihm das Ding auf den Grabstein gelegt und bin gegangen.“ Sie starrte stur vor sich auf die Straße. Dann schüttelte sie resignierend den Kopf. „Ich habs nicht mal bis zum Portal geschafft. Nicht mal bis zum Portal. Wie jämmerlich ist das.“ Sonoko schaute sie an, ihre Augen waren groß und voller Mitgefühl. Sanft legte sie ihrer Freundin einen Arm auf die Schulter. Ran schluckte, wandte dann den Kopf und lächelte sie dankbar an. „Ich kann nicht mit ihm, aber ohne geht’s auch nicht. Ich weiß nicht mehr, was ich will und was nicht, ich weiß nicht, was ich tun soll. Es tut weh, an ihn zu denken, aber noch schlimmer schmerzt es, wenn er ganz weg wäre... ich hab’s nicht ausgehalten. Ich bin zurück und hab mir das Herz wiedergeholt. Ich... ich bin echt am Ende mit meinem Latein.“ Sie seufzte noch mal, schaute dann die Straße entlang. „Und wie ging euer Gespräch über unseren Streit aus?“, wechselte sie dann das Thema. „Sie will wieder nach Hause kommen.“, antwortete Sonoko leise. Ran blieb stehen. „Sie kommt wieder heim?“ Die blonde Frau nickte. Ran schloss kurz die Augen, Erleichterung flackerte über ihr Gesicht. „Danke...“ „Nichts zu danken. Aber du wirst mit ihr reden müssen. Sie teilt deine Einstellung bezüglich ihres Vaters nicht so ganz...“ Ran lächelte traurig. „Ja, ich weiß. Und irgendwie... bin ich wohl auch froh darum... so hat er wenigstens eine seiner zwei Damen, die voll hinter ihm steht, ihm die Aufmerksamkeit schenkt, die er verdient hat.“ Sonoko klopfte ihr auf die Schulter. „Kopf hoch, Ran. Glaub mir, irgendwann wird sich das alles wieder einrenken. Du wirst einen Weg finden, mit ihm. Und ich glaub – irgendwann liegt gar nicht in allzu ferner Zukunft.“ Ran schaute sie skeptisch lächelnd an. „Meinst du?“ „Ich meine nicht, ich bin mir sicher.“ Sonoko nickte, verschränkte die Arme bestimmt vor ihrer Brust, in ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von unantastbarer Würde und Bestimmtheit. „Du weißt doch, meine prophetischen Künste sind berühmt.“ „Ach ja?“ Ran lächelte spöttisch, schlenderte neben Sonoko her. „Ja!“ Sayuri las weiter, die Seiten vibrierten in ihren zitternden Händen. Deine Mutter… sie ist mit den Nerven völlig am Ende. Sie will nicht schlafen gehen, sie hat Angst… Angst… Ich auch, mal davon abgesehen. Ich will auch nicht schlafen. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Was ich sagen will ist... ich weiß... weiß natürlich, dass meine Zeit hier nur noch begrenzt ist, das wusste ich seit Monaten... und ich glaubte in letzter Zeit wirklich, gelernt zu haben, damit umzugehen. Das glaubte ich wirklich. Jetzt weiß ich... ich kann es nicht. Bei Gott, ich kanns nicht. Allein der Gedanke an vorhin macht mich fertig... die Gesichter meiner Eltern, deiner Mutter, als... Ich nehme es hin, ja. Ich weiß, ich kann nichts ändern, und ich kann auch… vielleicht wieder etwas gelassener sein, in ein paar Stunden. Mit ein wenig Abstand wieder etwas ruhiger werden... Ich kann es ja nicht ändern. Aber ich habe Angst. Angst vor dem, was kommt, wenn ich weg bin… was mich erwartet; und was meine Eltern, was Ran, was alle anderen erwartet. Ich will sie nicht so sehen, ich kann sie so doch nicht zurücklassen... einen Vorgeschmack darauf, wie es für sie sein wird, wenn ich... tot bin, hab ich heute bekommen und ich weiß, ich will das nicht... Ich will nicht, dass sie so traurig, nicht so niedergeschlagen, so verzweifelt sind, ich würde ihnen das so gern ersparen, irgendwie... Himmel, was tu ich ihnen bloß an… aber ich kann nichts ändern! Nichts. Es ist… zum Verrücktwerden. Ich sollte dir das hier eigentlich gar nicht schreiben. Ich bin ein Feigling und dich sollte ich mit solchen Dingen wirklich nicht belasten. Was bin ich nur für ein Vater -.-; In diesem Sinne ist es vielleicht gar nicht mal so schlecht, dass du mich nicht mehr ertragen musst... aber dieses Erlebnis war wirklich etwas, das mich aus der Bahn geworfen hat, auch wenn das meinen Redeschwall hier nicht entschuldigt... Vergib mir, ich hab mich treiben lassen, ich war nicht Herr über mich... vielleicht sollt ich diese Seite einfach herausreißen... Ich wollte dir eigentlich nur eines sagen: ich hab dich lieb. Sehr lieb … auch wenn ich dich nie wirklich lieben kann, so, dass du auch was davon hast… dich in diesem Sinne nie wirklich lieben darf. Du wirst dich nie an mich erinnern, selbst wenn du mich noch siehst, selbst wenn ich es noch schaffe. Du wirst zu jung sein, als dass es für dich Bedeutung haben wird, ob ich dich im Arm halte oder wer anders… aber für mich wärs so wichtig… In diesem Sinne werde ich es dir nie zeigen können, du wirst es von mir nie fühlen, aber will, dass du es weißt. Du darfst dir da ganz sicher sein. Und wenn ich nicht einmal mehr dazu kommen sollte, es dir persönlich zu sagen, dann musst du erst Recht diesen Worten glauben… Nun... wie dem auch sei. Das Gute an diesem Eintrag ist, ich lebe noch! Ich sollte mich wirklich freuen. Vielleicht kann ich das irgendwie deiner Mutter glaubhaft machen, dass das ein Grund zur Freude ist, vielleicht beruhigt sie sich dann ;-) Denn sie sollte wirklich ein wenig schlafen... Also... du weißt nun, was ich dir noch sagen wollte. In diesem Sinne... mach ich für heute Schluss. Bis demnächst! Hab... hab dich lieb. Ach ja, eins noch, etwas Erfreuliches nach diesem etwas… anderen… Eintrag… es gibt noch etwas, das ich dir noch gar nicht erzählt habe… wir haben jetzt einen Namen für dich. Er lautet… Sayuri. Nun hatte sie also einen Namen, aber das bekam sie nur am Rande mit. Sayuri fing an zu zittern, fing hektisch an, die Seiten umzublättern. Die Schrift ging weiter... das hier war noch nicht die letzte Seite gewesen, er… er hatte wohl doch noch… Etwas mehr Zeit gehabt. Die gleichen, schmalen Schriftzeichen füllten auch noch die nächsten Seiten, und das erleichterte sie ungemein. Sie atmete tief durch. Tränen begannen über ihr Gesicht zu rollen, und ein unglaublich flaues Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Sie wollte nicht weiter lesen. Denn wenn sie weiterlas, dann würde sie unweigerlich zum Ende seiner Aufzeichnungen kommen - und damit zum Ende seines Lebens. Sie schlug das Buch zu, vergrub ihren Kopf im Sofakissen. Sayuri schluchzte immer noch, als die Haustür aufgesperrt wurde und Ran und Sonoko das Haus betraten. Ran hörte sie sofort, fing zu laufen an, ungeachtet der Hauspantoffeln, die darauf warteten, dass sie sie anzog. „Sayuri?!“ Sie stürmte ins Wohnzimmer, wo sie ihre Tochter fand, auf dem Sofa kauernd, die Beine an den Körper gezogen, das Buch gegen ihre Brust gepresst, hemmungslos weinend. Rans Unruhe wuchs. „Sayuri, was ist denn?! Rede mit mir!“ Als sie die Nummer des Buchs sah, dämmerte es ihr. Sie seufzte tief, merkte, wie ihre Augen zu brennen anfingen. Sie streichelte ihrer Tochter über den Rücken, murmelte beruhigende Laute vor sich hin. Nach einer Zeit fing sie sich wieder; hob den Kopf, sehr langsam. Ran schluckte hart als sie den erschütterten Gesichtsausdruck ihres Mädchens bemerkte, setzte sich auf die Tischkante, als ihre Knie nachgaben. Sonoko hinter holte tief Luft. Ihre Tochter starrte sie an, sehr blass im Gesicht. „Er wird sterben, Mama...“ Es war nur ein Flüstern, und Sayuri wusste, wie albern der Satz in den Ohren ihrer Mutter klingen musste, aber sie konnte nichts dagegen tun. Er brach einfach aus ihr hervor, hatte ihr Denken seit den ersten Zeilen des Eintrags beherrscht. Bisher war ihr Vater ihr immer so stark erschienen, so lebensfroh; selbst der eine schwarze Tag, den er gehabt hatte, hatte diesen Eindruck nicht verändern können. Und nun musste sie mit ansehen, wie der Mann, der sein Leben lang sich von nichts aufhalten gelassen hatte, immer so voller Leben gewesen war, so voller Tatendrang, verging. Und nichts tun konnte dagegen, sich seinem Schicksal fügen musste, ob er wollte oder nicht. In ein so grausames Schicksal... Der Satz traf Ran wie ein Pfeil in die Brust. Sie hatte jetzt eine wirklich gute Ahnung, welchen Eintrag ihre Tochter gerade gelesen hatte. Sie schluckte, dann setzte sie sich neben ihre Tochter auf das Sofa, zog sie in ihre Arme, nahm ihr das Buch aus den Händen und legte es auf den Sofatisch. „Ich weiß...“, murmelte sie leise, begann, ihr über die Haare zu streicheln wie schon ihm früher, immer wieder. „Schhht... ich weiß...“ „Es tut mir Leid...“ „Ich weiß.“ Ran biss sich auf die Lippen, lehnte sich zurück, zog ihre Tochter vorsichtig an sich, nahm sie noch ein wenig fester in die Arme, drückte ihr einen Kuss aufs Haar. Sonoko nickte ihr nur kurz zu, dann hob sie die Hand zum Abschied. Sie wurde hier nicht mehr gebraucht. Als die Haustür ins Schloss gefallen war, schwiegen sie beide lange Zeit. Erst als Sayuri sich wieder einigermaßen gefasst hatte, begann Ran erneut, zu reden. „Du hast... du hast den Eintrag gelesen... nicht wahr? Den, den er an dem Tag verfasst hat, an dem er fast gestorben wäre...“ Sayuri nickte wortlos. Ran seufzte leise. „Mir gings an dem Abend genauso wie dir jetzt. Ganz genauso... noch ein wenig schlimmer wohl, denn er war ja noch hier, in Fleisch und Blut und lebendig und ich konnte ihn noch festhalten, wissend, dass dem nicht mehr lang so sein würde... aber ich konnte ihn noch festhalten, immerhin. Nun ist er zwar schon... tot... aber die Situation ist doch eine ähnliche, für dich. Er ist nun... obwohl du ihn nie gekannt hast, doch zu jemandem geworden in deinem Leben, der für dich unheimlich wichtig ist, wie’s scheint... und solche Menschen gehen zu sehen tut unheimlich weh. Du hast... hast trotz allem, was passiert ist, das Glück... das große Glück, einen Vater gehabt zu haben, dem es nicht egal ist, was du von ihm denkst. Der sich dir selbst vorgestellt hat, mit allen Stärken und Schwächen die er hatte, auch in dieser Extremsituation...“ Sie seufzte schwer. „Das ist ein Geschenk. Auch wenn du ihn... wie ich... verlieren wirst.“ Ran atmete tief durch. „Lass es nicht zu nah an dich ran. Versuch, es auf Abstand zu halten... das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann, wenn er nicht schon zu spät kommt.“ Sayuri horchte auf. Gerade eben hatte sie noch gehofft, mit ihrer Mutter jetzt endlich ein vernünftiges Gespräch führen zu können, jetzt, da sie hier war, und das Thema sogar selber angeschnitten hatte. Aber die Richtung ihrer Worte ging genau entgegengesetzt der, die Sayuri hatte einschlagen wollen. „Verlieren.“ Ran seufzte, ihr Gesichtsausdruck war unergründlich, als sie sich aufsetzte. „Du wirst ihn genauso wenig halten können wie ich... du wirst genauso tatenlos mit ansehen müssen, wie er... wie ein so wunderbarer Mensch... stirbt. Und wie ich wirst du wohl mit dem Gedanken nicht leben können...“ Sayuri erschrak. Eigentlich hatte sie gedacht, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um mit ihrer Mum über ihn zu reden - aber sie fing gerade wieder genauso an, wie sie aufgehört hatten, als sie geredet hatten, vor ihrem Streit. Denk nicht an ihn. Das Mädchen setzte sich auf. Was hatte Tante Sonoko ihr geraten? Zu tun, was ihr Vater getan hätte? Was hätte ihr Vater denn getan, wäre er jetzt hier? Er war Detektiv... seine Berufung war, es die Wahrheit zu finden. Und wie fand man die Wahrheit? Indem man Fragen stellte. Und genau das würde sie jetzt tun. Fragen stellen. „Warum tust du das...?“ Ran fuhr hoch, als sie den leicht schneidenden Ton in der Stimme ihrer Tochter hörte. „Warum tu ich was...?“, konterte sie mit einer Gegenfrage. „Warum willst du ihn vergessen? Warum rätst du mir, ihn zu vergessen? Warum...?“ Ihre Stimme war bohrend, und ebenso stechend war ihr Blick. Ran kam sich vor wie bei einem Verhör – schlimmer noch, sie kam sich vor, wie damals, wenn Shinichi sie zur Rede stellte. Er war genauso unnachgiebig, genauso zielstrebig, eine Antwort zu bekommen, wie seine Tochter. Ran seufzte leise. Shinichi hatte das nicht oft gemacht; aber wenn er angefangen hatte, hatte es nie ein Entrinnen gegeben. Er hatte seine Antworten gekriegt, wenn er sie haben wollte; es war ihm zugute zu halten, dass er nicht immer welche gewollt hatte. Gewusst hatte, wann er welche verlangen durfte, und wann nicht. Sayuri blinzelte, wandte ihren Blick aber nicht ab. „Weißt du das noch nicht?“, murmelte Ran leise. „Ich dachte, du hast es mittlerweile begriffen. Ich verdränge, versuche zu vergessen, weil es weh tut, wenn ich daran denke, was ich hatte, und was nicht mehr ist und nie mehr sein wird...“ Sie wandte den Blick ab. „Und wird es besser, durchs Verdrängen?“ Sayuris Stimme war leise, aber bestimmt. „Ich weiß nicht.“ Ran schluckte. „Warum versuchst du dann nicht mal etwas anderes...?“ Hoffnung keimte in ihr auf. „Das da wäre?“ Ihre Mutter wandte sich ihr wieder zu. „Lass ihn in unserem Leben, Mama... Erinnere dich daran, wie schön es war. Es wäre doch zu schade, wenn all das vergessen würde. Tante Sonoko hat gesagt...“ Ran verdrehte die Augen und verfluchte im Stillen ihre beste Freundin. „Was sagt sie denn...?“, hakte sie dann nach. „Sie hat gesagt, ihr hättet euch wirklich geliebt. Ihr hättet gelebt, füreinander. Ihr wärt seelenverwandt gewesen... sie hat’s mit vielen schönen Metaphern ausgeschmückt, die ich jetzt hier nicht wiederholen will, aber wenn das stimmt, Mama... wenn das alles stimmt... dann lass doch den Teil, der von ihm noch bei dir ist, auch wirklich bei dir sein, und sperr ihn nicht immer weg. Ich kann verstehen, der Schmerz über den Verlust muss kaum zu ertragen sein und deshalb...“ Das Päckchen. Jetzt wäre ein Zeitpunkt, der günstig schien. Allerdings... machte ihr ihre Mutter einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Sie stand auf, schaute ihre Tochter ernst an. „Sayuri, nun hör mir mal zu. Es ist nicht meine Sache, wie du mit ihm umgehst, das hab ich nun begriffen. Und wenn du jemanden brauchst, bei dem du deinen Kummer loswerden kannst, bin ich da für dich. Aber misch dich nicht ein, wie ich damit umgehe, hast du mich verstanden!?“ Sie atmete heftig, hatte nicht vorgehabt, so zu reagieren, aber sie konnte nicht anders. „Es ist schön und gut, dass ihr alle wisst, wie sehr ich ihn geliebt hab, ja. Wie sehr er mich geliebt hat. Aber wirklich gespürt hab nur ich diese Liebe, nicht du, nicht Sonoko, nicht seine Eltern oder meine...! Und ihr könnt deswegen auch nicht in den Verlust spüren wie ich...! Ihr wart nicht dabei, als er gestorben ist... als er ging... keiner kann das verstehen, wie sehr das wehtut...“ Ihre Stimme wurde zum Satzende immer höher, ihr letztes Wort kaum mehr als ein leises Wispern. „Ich mach euch da keinen Vorwurf... wie könnt ihr es wissen... aber bitte hört auf, hört endlich auf, so zu tun als könntet ihr mich verstehen! Das kann keiner von euch! Auch du nicht, wenn du auch, zugegebenermaßen, dem wohl sehr nahe kommst...“ Sie schluckte, wischte sich eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel, dann sammelte sie sich wieder. „Ich mach jetzt das Essen. In einer halben Stunde ist es fertig.“ Damit ging sie. Sayuri saß auf dem Sofa, wie vom Donner gerührt. Beschäftigungstherapien ----------------------- Hallo, meine sehr verehrten Leserinnen und Leser! Vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Ehrlich, ich kann euch gar nicht sagen, wie dankbar ich für Rückmeldungen bin, vor allem, weil ich ja wirklich lang gezögert hab, ob ich die Fic hier lade oder nicht... Ich hab heute mal nochmal nachgezählt und kann euch nun sagen- ihr habt noch 7-8 Wochen vor euch; dann ist diese Geschichte zu Ende. Es geht vorwärts. Ob und was danach von meiner Seite noch kommt, darüber reden wir, wenn wir hiermit durch sind ^.^ Wenn ihr dann nicht ohnehin die Schnauze voll habt von Leira'schen Monsterfics *lacht* Aber in diesem Sinne, viel Vergnügen mit einem wenig ereignisreichen Kapitel; ein kleines Intermezzo für zwischendurch und hauptsächlich dafür da, um die Frage zu beantworten: Was passiert eigentlich mit Shiho...? In diesem Sinne... viel Vergnügen, eure Leira :D PS: Das nächste Kapitel kommt nächste Woche etwas später (Donnerstag) weil ich außer Landes bin *g* _____________________________________________________________________ Kapitel 26: Beschäftigungstherapien Vergangenheit „Ran.“ Sie saßen beim Frühstück, der Duft von frisch gebrühtem Kaffee lag in der Luft und die noch sehr zurückhaltende Frühlingssonne warf vorsichtig ein paar Strahlen durch das Fenster. Mittlerweile war März; und so langsam brach nun doch der Winter, egal wie widerwillig auch immer, seine Zelte ab in Tokio. „Ran.“, wiederholte Shinichi, als seine Angebetete sein Rufen nicht erhörte, gar nicht reagierte sondern weiterhin mit starrem Blick ihr Beobachtungsobjekt fixierte, und schaute von seiner Zeitung auf, warf ihr einen angesäuerten Blick über die Seiten hinweg zu. Ein schweres Seufzen entrang sich seiner Kehle, als er schließlich die Zeitung sinken ließ. „Ran… bitte… bitte versteh das nicht falsch, du weißt, ich liebe dich über alles, du weißt, ich verstehe dich, wirklich, das tu ich… aber... du nervst.“ Ran, die ihm gegenüber am Frühstückstisch saß, mit beiden Händen ihre Kaffeetasse hielt, und immer noch observierte, was sie schon seit einer halben Stunde nicht aus den Augen ließ, nämlich ihn, ihren Gatten, zog leicht verärgert die Augenbrauen zusammen. „Ich tu... was? Na, nun hör aber mal…!“ Shinichi stöhnte innerlich auf. Es war abzusehen gewesen, dass sie das in den falschen Hals bekam. Vielleicht wollte sie das ja auch… er wusste es nicht. „Was ich damit sagen will...“, er schluckte, suchte nach Worten, „... ist... dass... deine überbordende... Fürsorge... mir langsam aber sicher die Luft zum Atmen und den letzten Nerv raubt. Ich kann...“ „Himmel, du wärst vor zwei Tagen fast gestorben, du musst verstehen, dass...“, fing sie an, mit erhobener Stimme aufgebracht ihre Meinung kundzutun, als er sie wiederum das Wort abschnitt. „Ich kann ja verstehen, dass du dich sorgst!“ Er schrie den Satz fast, um sich Gehör zu verschaffen, knallte die Zeitung auf den Tisch. Ran schwieg, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute ihn beleidigt an. Seine Züge wurden milder, als er leise aufseufzte. „Ich kann verstehen, dass du dich sorgst. Ich kann verstehen… dass du Angst hast. Wirklich.“, wiederholte er sanft, warf ihr einen liebevollen Blick zu. „Aber versteh doch, das was du machst, ist… ein wenig zu viel des Guten. Außerdem bringt es auch nichts, wenn du mir rund um die Uhr auf der Pelle sitzt - wir wissen beide, wenn es soweit ist, wird es soweit sein, und der... Tod...“, sie zuckte bei dem Begriff merklich zusammen, „wird sich nicht aufhalten lassen, ob du nun dabei bist oder nicht. Lass mir doch ein wenig Raum, Ran. Wenigstens ab und an. Es irritiert, wenn du vor der Toilette wartest, weißt du.“ Er wurde rot. Ran ließ ihre Arme sinken. „Ich weiß.“ Auch auf ihren Wangen breitete sich ein rosa Schimmer aus. „Und wenn ich die Bücher schreibe, würd ich da auch gern meistens meine Ruhe haben. Wenn ich Gesellschaft will, dann komme ich schon… aber ich will dich nicht ständig neben, vor oder hinter mir sitzen, stehen oder liegen haben, denn egal was du sagst, ich bin mir sicher, wenn du nicht gerade emotional neben dir bist, du versuchst zu lesen, was ich da verzapfe.“ Ran öffnete den Mund um zu protestieren, aber Shinichi unterbrach sich. „Aber das sei mal dahingestellt. Vielleicht tust du’s auch nicht, darum geht’s mir auch gar nicht. Mir geht’s… ums Prinzip. Es ist einfach nicht immer so angenehm, deinen Atem im Nacken zu haben... wenn auch zugegebenermaßen, ab und an ist es das wohl...“ Er griff sich unwillkürlich an den Hinterkopf, lächelte verlegen. „Aber momentan komm ich mir meistens vor wie ein Verbrecher, der im Begriff ist, eine große Schandtat zu verüben, wenn du das tust. Und du kannst doch deine Zeit auch sinnvoller nutzen.“ „Ich weiß...“, murmelte Ran, verknotete ihre schlanken Finger leicht beschämt, seufzte leise, strich sich dann über ihren Bauch. „Ich weiß das ja, aber…“ Shinichi wollte gerade zu einer weiteren Bemerkung ansetzen, als es an der Haustür klingelte. „Geh schon.“, meinte er, dankbar für die Unterbrechung des Gesprächs, das in einer weiteren Diskussionsrunde geendet hätte, denn Rans aber war im Grunde genommen schon der Auftakt gewesen; stattdessen stand er nun langsam auf und tappte in die Eingangshalle. Ran starrte ihm hinterher, seufzte lange. Sie wusste ja, er hatte Recht, und sie hatte es wohl wirklich etwas übertrieben – aber das Bild von ihm, wie er auf dem Wohnzimmerfußboden lag, totenblass und kaum am Leben, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Seine Stimme, sein Betteln und Flehen und der Gedanke, der Gedanke… dass er starb, verfolgten sie. Der Gedanke, dass er aufhörte, zu leben, und dass sie es nicht verhindern konnte. Nichts tun konnte. Sie ertrug es kaum, dieses Gefühl, das sie so intensiv wie vor zwei Tagen noch nie gespürt hatte, sie aber jetzt kaum mehr losließ... das Gefühl, ihn zu verlieren. Mit jedem Tag, der verging, der sie näher an sein Ende brachte, begriff sie umso mehr, wie sehr sie ihn liebte. Wie sehr sie ihn brauchte. Und so... überwachte sie ihn, kontrollierte sie jeden seiner Schritte, obwohl sie wusste, wie sehr ihn das nerven musste. Und wie wenig es nützte. Aber sie wollte bei ihm sein, in seinem Wachen wie seinem Schlafen, jede Sekunde des Tages. Glaubte wohl, durch ihre Anwesenheit könne sie das Unvermeidliche verhindern. Sie wusste, dass sie sich etwas vormachte. Und dennoch tat sie es. Shinichi öffnete die Tür mit Schwung und schaute dann einigermaßen erstaunt den vier Personen ins Gesicht, die vor ihm standen. „Was macht ihr denn hier?“, brach es schließlich aus ihm hervor. Heiji räusperte sich, verschränkte die Arme vor der Brust und trat ein. „Wir haben gehört, was du angestellt hast.“ Shinichi starrte ihm hinterher, warf dann Shiho, die neben Kazuha und Sonoko die Eingangshalle betrat, einen angesäuerten Blick zu. Seine Stirn legte sich in Falten, als er sich zu ihr umdrehte, sie am Arm festhielt. „Konntest du deine Klappe nicht halten?!“, zischte er ihr leise zu. Unterdrückter Ärger schwang in seiner Stimme mit. Sie warf ihm nur einen gelassenen Blick zu und schüttelte den Kopf in mildem Unverständnis, zog ihren Arm aus seinem Griff, tippte ihn in die Rippen, was ihm ein leises Ächzen entlockte. „Freu dich doch.“, meinte sie trocken. Er verdrehte die Augen, warf die Tür hinter sich mit einem Fußtritt ins Schloss. „Und was wollt ihr jetzt hier?“, rief er ihnen hinterher. Heiji drehte sich um, lachte ihn breit an. „Wir geh’n ein Fußballspiel ansehen.“ Shinichi zog interessiert die Augenbrauen hoch. Okay, das Ganze nahm anscheinend doch eine erstaunlich erfreuliche Wendung. „Wie das denn?“, fing er an zu sticheln. „Du willst dich meinetwegen der Folter aussetzen, ein ganzes Spiel anzusehen? Das dauert mindestens 90 Minuten, plus Halbzeitpause, eventuell Nachspielzeit und Elfmeter, also...“ „...besteht nicht mal der Hauch einer Chance, dass er mitkommt.“ Ran war in der Tür erschienen, stemmte sich die Hände in die Hüften, funkelte Heiji böse an. Sie gab mit ihrem gerundeten Bauch in dieser Pose eine imposante Figur ab, das musste man ihr lassen. Heiji sah sie mitfühlend an, schüttelte jedoch den Kopf. „Ran, nun schau doch mal…“ "Vergesst es." Sie ließ ihn gar nicht ausreden, war innerhalb von Sekunden fast in Rage geraten. Er konnte sie ja verstehen, dass sie auf ihren Shinichi aufpassen wollte, aber… Heiji schüttelte erneut den Kopf. So ging’s ja nun auch nicht… schließlich hatte er noch ein Leben, dass er leben konnte. Also sollte man ihm das nicht noch mehr einschränken, als es das ohnehin schon war. Ran war blass geworden, langsam trat sie näher, baute sich vor Heiji auf. „Du weißt anscheinend, was passiert ist, also wie kommst du nur auf diese hanebüchene Idee, ihn für so lange außer Haus...“ „A...aber Ran...!“, fing Shinichi an zu protestieren, kam allerdings nicht weit, als er ihren bitterbösen Blick auffing. Es würde nicht leicht sein, sie zu überzeugen. Heiji trat ihr entgegen. „Ran... komm schon... es tut ihm bestimmt mal gut, wieder unter Leute zu kommen…“ „Nein.“ Ran lehnte sich gegen den Türstock, kniff die Lippen zusammen, verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Nein.“, wiederholte sie bestimmt. „Ihr könnt euch aus dem Kopf schlagen, dass ich ihn gehen lasse. Nicht, nach dem, was passiert ist. Das müsst ihr doch einsehen… es tut mir ja Leid, aber…“ Shinichi seufzte tief. Hier gab es nur einen Weg - Naturgewalt gegen Naturgewalt. Wollte er sich durchsetzen, durfte er das nicht mit Betteln und Erklärungen versuchen. Er musste ein Statement setzen. Er wollte schließlich gerne mal wieder raus... und wenn Heiji schon mal mit ihm zum Fußball ging… Im Prinzip glich das einem Wunder, und Wunder durfte man nicht vorbeiziehen lassen. Er warf seinem besten Freund einen kurzen Blick zu, dann räusperte er sich, straffte die Schultern. Heiji zog die Augenbrauen hoch; er ahnte, was die Stunde geschlagen hatte, als er den entschlossenen Blick in den Augen seines Freundes sah. „Wir gehen.“ Seine Stimme klang entschlossen und es war klar, dass er keine Widerworte hören wollte. Ran riss die Augen auf. Irgendwie hatte sie zwar damit gerechnet, aber sie war nun doch überrascht. „Aber - aber wie kannst du!? Du weißt genau...“ „... was ich dir vorhin zu der Sache gesagt hab. Wir sitzen uns ohnehin gerade zu sehr auf der Pelle, da kommt ein wenig Abwechslung doch gerade Recht. Und ich nehm an, um dir ein wenig Ablenkung zu bescheren, sind die Damen da.“ Er warf einen fragenden Blick in Richtung Kazuha, Sonoko und Shiho. Die zwei ersteren nickten bestätigend mit dem Kopf, während Shiho ihn sacht schüttelte. „Ich komm mit euch mit. Als Nanny... eine muss auf euch Kindsköpfe ja aufpassen.“ Ran sah immer noch alles andere als überzeugt aus. „Ihr spinnt wohl. Ihr wart nicht dabei. Ich lass ihn doch nach diesem Zwischenfall nicht allein weg...“ Shinichi seufzte, wandte sich um, zog seinen Mantel vom Haken. „Sag mal, was tust du da?!“, rief Ran entsetzt. „Wir gehen uns das Spiel ansehen. Ich bin dein Mann, Ran, es ehrt mich, dass du dir solche Gedanken machst, aber nicht dein Kind, den Platz wird wer anders einnehmen... und ich will wirklich ein wenig raus jetzt... wir sehen uns nachher. Mach dir einen schönen Tag und versuch, ein wenig abzuschalten. Versuchs, ich bitte dich...“ Er trat auf sie zu, nahm ihre Hände in seine, zog sie an sich, küsste sie sanft auf die Lippen. „Ich werd’ brav sein, ich versprechs, Mama.“ Er zwinkerte ihr zu. Ran schnaubte. „Ich mach mir aber nun mal Sor...“ Weiter kam sie nicht, weil er ihr seinen Zeigefinger auf die Lippen legte. „Bis später, Ran.“, wisperte er leise, dann drehte er sich um, verschwand mit Shiho und Heiji aus der Haustür, ehe sie noch ein Wort dagegen setzen konnte. Shiho grinste unverhohlen auf dem Weg zum Gartentor. „Na sag’s schon.“ Shinichi seufzte leise. „Danke, Leute.“ Heiji lachte leise. Shinichi wandte sich ihm zu. „Das hört sich lustiger an, als es ist. Sie macht sich unglaubliche Sorgen, dabei weiß sie, wie es enden wird... ich kann sie ja verstehen, ich liebe sie, aber in den letzten Tagen... hat sie mich fast erdrückt... ich konnt keine fünf Minuten mal allein sein...“ Er schluckte, kratzte sich am Hinterkopf, als er in Heijis Auto stieg. „Ich weiß nicht, was ich machen soll... wenn der Ernstfall kommt. Er wird kommen, das wissen wir... das weiß sie... aber allein...“ Shinichi fuhr sich übers Gesicht, Sorge lag in seinem Blick. Heiji schaute ihn nachdenklich an; dann streckte er die Hand aus, drückte kurz Shinichis Arm. „Sie wird nich’ allein sein, Kudô, ich versprech’s dir. Wir werden auf sie aufpassen. Auf sie alle beide.“ Der Tokioter Ex-Detektiv blickte ihn an, blinzelte. „Ich... ich dank dir.“ „Das musst du nich’.“ Damit startete Heiji den Motor des Autos, fuhr los. Ran tigerte im Wohnzimmer auf und ab, zerzauste sich das Haar. „Ihr spinnt doch total...!“ Sie war wütend, Sonoko und Kazuha sahen ihr das deutlich an. Sie war wütend, aufgebracht und voller Sorge, voller Angst. Sonoko seufzte, schaute sie lange an. Dann ging sie hinaus in die Eingangshalle, und kam mit zwei voll gepackten Körben wieder herein. „Ran...“, murmelte sie leise. „Ran, mach dir keine Sorgen. Nach dem Spiel sind sie wieder da. Und wir hatten eigentlich vor, mit dir ein wenig zu feiern...“ „Was denn feiern?!“, fauchte Ran wütend, starrte aus dem Fenster aufs Gartentor, als könne sie allein durch ihre Blicke ihren Mann dazu bringen, wieder durch dieses Tor zu treten und ins Haus zu kommen. Das war Schwachsinn, das wusste sie. Er war auf dem Weg in ein Stadion, würde sich unter tausenden anderen grölenden, lauten, vielleicht sogar schlagenden Fans ein Fußballspiel anschauen... und sich köstlich amüsieren. Ganz sicher seinen Spaß dabei haben. Und in jeder anderen Situation hätte sie es ihm gegönnt. Aber jetzt… hatte sie nur Angst… dass es passierte, und sie nicht bei ihm war. Sie hatte Angst. Ran strich sich die Haare fahrig hinter die Ohren, seufzte laut. „Es gibt nichts zu feiern. Shinichi stirbt in ein paar Wochen, Tagen, vielleicht schon Stunden, ich kann da nicht feiern, das müsst ihr verstehen, welchen Anlass gäbe es auch.... für eine Feier... deshalb will ich ihn ja hier haben… hier… versteht ihr? Was würdet ihr denn an meiner Stelle tun…? Was soll ich denn feiern…? Es gibt nichts zu feiern…“ Sie lehnte ihre Stirn gegen das kühle Glas, merkte, wie ihr eine Träne aus den Augen quoll. Die Sorge zerfraß sie fast. „Shinichi...“, wisperte sie leise. Sonoko räusperte sich, dann sammelte sie sich, trat zu Ran, legte ihr eine Hand auf die Schulter und drehte sie um. Lange sah sie ihr ernst in die Augen, dann lächelte sie sie an, streichelte ihr mit beiden Händen über den Scheitel, über die Haare, bis ihre Hände auf ihren Schultern zu liegen kamen. „Aber Ran, natürlich gibt es einen Grund zu feiern. Dein Baby, Ran. Eure Tochter. Wir machen eine Babyparty. Mit Muffins, Kuchen, Kakao und Luftballons. Wie man halt eine bevorstehende Geburt so feiert. Zwar ist der Brauch wohl amerikanisch, aber Kazuha und ich...“, sie warf ihrer Mitstreiterin einen kurzen Blick zu, „fanden, dass Sayuri-chan auch eine Babyparty verdient.“ Ran schluckte, merkte, wie ihr vor Rührung die Tränen in die Augen stiegen, umarmte ihre Freundin dann. „Das ist so lieb von euch, aber...“ „Kein Aber.“ Sonoko strich ihr über den Rücken, und auch Kazuha kam näher. „Ran. Bitte... glaub’s uns, Heiji und Shiho passen bestens auf Shinichi auf. Sollte sich irgendwas andeuten, bringen sie ihn sofort her. Ansonsten kommense nachm Spiel zurück… Und wir wollen wirklich feiern, mit dir. Wir haben alles dabei! Du willst uns doch jetz’ hoffentlich nich’ auf unseren Muffins sitzen lassen? Die sin’ selbst gemacht!“ Sie zog einen kleinen, mit rosa Glasur und Zuckerperlen verzierten Kuchen aus ihrem Korb, hielt in Ran entgegen. Ran seufzte tief, ließ Sonoko los und nahm den Kuchen in die Hand. „Selbst gemacht?“ „Höchstselbst!“, nickte Kazuha. „Genauso wie die Sandwiches, die Puddingcrème und die Eclairs. Also bitte.“ Sie lächelte breit. „Lass uns doch dein kleines Mädchen feiern, bevor sie dir so viel Stress macht, dassde nich’ mehr zum Feiern kommst...!“ Die werdende Mutter schaute den Muffin gedankenverloren an. „Wahrscheinlich habt ihr Recht.“, wisperte sie dann. „Nicht nur wahrscheinlich, meine Liebe!“, bekräftigte Sonoko ihr kleines Zugeständnis, zog sie mit sich und platzierte sie auf dem Sofa. „So. Und nun lass Kazu und mich mal machen.“, plauderte sie geschäftig, und begann die Körbe auszupacken. Ran seufzte, schnupperte an dem Muffin, den sie immer noch in der Hand hielt, und biss dann hinein, schloss genießerisch die Augen. Der Muffin war mit Vanillecreme gefüllt. Wahrscheinlich war es wirklich gut, eine kleine, klitzekleine Auszeit zu nehmen. Viel Spaß, Shinichi… hoffentlich gewinnt die richtige Mannschaft. Heiji hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und hielt sich den Kopf, verfolgte träge die Fußballspieler, die unten auf dem Rasen dem Ball hinterher liefen. Nach dreißig Minuten war er eigentlich schon lange bedient. Dann drehte er langsam den Kopf, beobachtete seinen Sitznachbarn, der voller Anspannung das Spiel verfolgte, unterdrückte ein Gähnen und lehnte sich wieder zurück. Allerdings lohnte es sich augenscheinlich, sich das hier anzutun. „Nun mach doch!!!“ Shinichi war zusammen mit den anderen Spirit-Fans aufgesprungen, als ein Spieler dem gegnerischen Tor immer näher kam, fing an, ihn mit den anderen anzufeuern. Heiji seufzte, zog seinen seiner Ansicht etwas zu enthusiastischen Freund wieder auf den Stuhl, lachte dann aber leise. „Glaubstde, er schießt besser, wennsde dich heiser brüllst, Kudô?“ „Die Hoffnung stirbt zuletzt!“, grinste Shinichi, nippte an seiner Cola. „Außerdem gehört das dazu!“ „Na, wenn das so ist, dann schrei ruhig rum. Aber sei so gut und machs bitte im Sitzen, weil Ran mich kaltmacht, wenn dir was passiert. Du solltest dich nich’ so aufregen.“ „Dann macht’s aber keinen Spaß.“ Shiho neben ihm verdrehte die Augen. „Manchmal benimmst du dich wie ein kleines Kind.“ Im nächsten Moment wurde ihr bewusst, was sie gerade gesagt hatte, wollte sich entschuldigen, als sie das das Lächeln auf seinen Lippen bemerkte. „Nun, ich war auch lang genug eins, oder?“, antwortete er gelassen, nahm erneut einen Schluck Cola. Dann zog eine Bewegung in seinem Augenwinkel seine Aufmerksamkeit auf sich, die ihn herumfahren ließ. Ein Spieler der Spirits war im Ballbesitz, nicht im Abseits und dem Tor von Big Osaka gefährlich nahe. Shinichi beugte sich angespannt vor, vergaß sowohl Shiho als auch Heiji, als der den Ball auf dem Rasen verfolgte. „Bitte, bitte, bitte…“ Shiho zog die Augenbrauen belustigt hoch, während Heiji ein Gähnen unterdrückte. Dann… „TOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOR!!!!!!!!!“, brüllte die Fankurve der Tokio Spirits wie ein Mann, und er brüllte mit, war aufgesprungen und hielt beide Hände in die Luft. Shiho fing an zu lachen, als sie die Begeisterung auf seinen Zügen sah. Shinichi ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken, trank einen weiteren Schluck Cola und verfolgte das Spiel aufmerksam. Sie fing einen Blick von Heiji auf, der gerade zu ihr herübersah. Er lächelte sie erleichtert an, hielt die Daumen hoch. Sie hob ihre Fruchtsaftschorle und prostete ihm zu. Selbst wenn er keinen Sinn für diese Sportart hatte, musste er doch zugeben, dass allein seinen Freund so ausgelassen zu sehen, für alle Qualen hier entschädigte. Mittlerweile war das Wohnzimmer mit hellrosa und weißen Luftballons dekoriert, und auf dem Tisch stapelten sich Leckereien und ein kleiner Haufen Geschenke. Ran saß auf dem Sofa, schaute die beiden jungen Frauen von unten herauf an, die sie erwartungsvoll anblickten. „Nun... es ist überwältigend...!“, presste sie hervor, starrte dann auf die Luftballons. „Aber findet ihr die nicht ein wenig... zuviel?“ Sie wedelte unsicher mit ihrer Hand in der Luft herum. „Willst du damit sagen, zu viel im Sinne von kitschig im Sinne von zu süß im Sinne von zu...“, begann Sonoko sie zu tadeln, stemmte ihre Hände in ihre Hüften. „Ich, äh...“, stammelte Ran, wurde rot. Sonoko und Kazuha drehte sich um, begutachteten die fünfunddreißig Luftballons, die sie mit Mühe und einer sehr ausgelaugten Luftpumpe aufgeblasen hatten. „Doch ja. Is schon kitschig, aber das gehört sich so.“ Sonoko lächelte breit, ließ sich neben Ran aufs Sofa fallen. Auf der anderen Seite nahm Kazuha Platz. „Doch, es is’ schon ziemlich krass...“, bemerkte die junge Frau aus Osaka. „Aber was soll’s. Was muss, das muss.“ Ran begann leise zu lachen. „Und für wen sie die Geschenke?“, fragte sie dann. „Für unsere kleine Madame.“, zwitscherte Sonoko, streichelte über Rans Bauch. „Für meine kleine Patentochter...“ Sie grinste breit, drückte ihr einen Kuss auf den Pullover. Ran lachte, warf ihr einen amüsierten Blick zu, streichelte ebenfalls über ihren Bauch. Kazuha lächelte, zog ein Geschenk heran. „Und da sie’s aber noch nicht aufmachen kann, obliegt dir diese verantwortungsvolle Aufgabe, werdende Mama. Und danach, wenn du alle geöffnet hast, stärken wir uns.“ Ran seufzte leise, dann zog sie mit einem sanften Lächeln das Geschenkband vom Päckchen. Sonoko und Kazuha ließen sich zufrieden in die Sofakissen sinken. Mittlerweile war das Spiel vorbei, und Shinichi, Heiji und Shiho schlenderten gemächlich zum Auto zurück. Auf Shinichis Gesicht lag ein hochzufriedener Ausdruck; die Spirits hatten ihr Heimspiel haushoch gegen ihre Herausforderer gewonnen, und er ließ es sich nicht nehmen, die Höhepunkte des Spiels zu wiederholen, um seiner Begeisterung Luft zu machen. Heiji hingegen schien durch und durch erleichtert, endlich das Stadion verlassen zu können, mimte aber perfekt den aufmerksamen Zuhörer. Für ihn war allein der Gedanke tröstend gewesen, dass er seinem Freund etwas wirklich Gutes tat – das allein hatte ihn diese langen, langen Minuten durchstehen lassen – ansonsten hatte er sich mehr oder weniger zu Tode gelangweilt. Ein Opfer, das er allerdings gern gebracht hatte, wenn er ihn so ansah, und sich an die vergangenen Stunden erinnerte. Shiho war ebenfalls zufrieden. Sie hatten ihn heute erfolgreich ablenken können, er machte einen fröhlichen, munteren Eindruck auf sie. Fußball war das Richtige gewesen; sie hatten Glück gehabt, die Karten noch zu kriegen. Aber sie ahnte auch, dass er jetzt auch gern wieder nach Hause kam; dass er sich wohl auch darauf freute, Ran von ihren Sorgen befreien zu können. Ein fast ein wenig neidisches Lächeln huschte über ihre Lippen. Er tat wirklich alles für sie. Sie seufzte leise, dann schob sie kurz ihre Hand in seine, drückte sie, ließ sie dann wieder los. Shinichi warf ihr einen milde überraschten Blick zu. Dann seufzte er leise, als ihm ein Gedanke kam, der ihn schon lange beschäftigte. „Shiho... ich weiß, ich sollte dich das nicht fragen, aber... weißt du schon... was mit dir... ist?“ Die rotblonde Forscherin geriet kurz aus dem Tritt, blieb stehen, schaute ihn verwundert an, schwieg lange. „Ich werds überleben.“, murmelte sie dann leise, schaute ihn nicht an. Ihre Stimme klang schuldbewusst und die Worte schienen ihr so unendlich schwer über die Lippen zu kommen. Er blickte sie fragend an, wartete darauf, dass sie fortfuhr. „Ich hab unsere Blutproben verglichen, bei mir zeichnet sich noch keine Entwicklung in der Art ab wie bei dir. Und ich... ich hab... hab ein Mittel gefunden... das es stoppt...“ Sie kniff die Augen zusammen, versuchte, mit aller Gewalt, die Tränen zurück zu halten. „Allerdings... erst... erst vor ein paar Tagen... Es wirkt nur in sehr frühem Stadium, leider. Es wird dir... bei dir ist einfach schon viel zu viel...“ Er schluckte, dann zog er sie kurz an sich, drückte sie leicht. „Ist schon gut, Shiho. Es ist... schon gut...“ Sie presste die Lippen zusammen, sagte nicht, was sie dachte, weil sie wusste, sie würden ohnehin nur wieder streiten. Nein, verdammt, ist es nicht. Ist es nicht. Ist es nicht! Es war nicht gut. Ganz und gar nicht gut. Aber er… Er dachte mal wieder überhaupt nicht an sich, wie so oft. Leise seufzte sie, als Shinichi sie wieder losließ. „Hast du’s genommen?“ Sie schüttelte zögernd den Kopf. „Nein. Ich wollte...“ „Nimm es.“ Es klang nicht wie eine Bitte, eher, viel mehr... wie ein Befehl. Und sie wusste, so war er wohl auch eher aufzufassen. Sie schaute ihn stur an, schüttelte dann den Kopf. „Ich will aber nicht.“ Ihre Stimme klang trotzig. Er wandte sich ihr zu, und sie erschrak. In seinen Augen spiegelte sich Wut. „Du wirst das Mittel nehmen, Shiho. Damit du nicht so endest wie ich. Hast du mich verstanden?“ Seine Stimme klang scharf und schneidend. „Für was hast du es sonst entwickelt, wenn du nicht wenigstens einem von uns das Leben retten kannst?! Wer hat denn erst vor nicht allzu langer Zeit behauptet, der Ort, der nach dem Sprung in den Abgrund auf uns wartet, wär kein schöner Ort? Benimm dich deinem Alter gemäß und hör auf mit diesen kindischen Spielchen. Das Leben ist das Wertvollste, was wir haben, damit zu pokern steht uns nicht zu. Du wirst deins nicht riskieren, nur weil du dich einer Sache schuldig fühlst, die du nicht zu verantworten hast. Du wirst es nehmen. Heute noch. Versprichs mir.“ Shinichi starrte sie an, ohne zu blinzeln. Sein Blick war fest, er würde ein Nein nicht gelten lassen. Und so nickte sie ergeben. Bei jedem anderen hätte sie sich weigern können… aber nicht bei ihm. Noch nie bei ihm. Sie fühlte sich elend, aber sie gab ihm ihr Versprechen und wusste, sie würde es halten. Sie würde ein Versprechen, die sie ihm gab, nie brechen, genauso wenig wie er eins brechen würde. „Gut.“, murmelte er leise. Dann setzte er sich wieder in Bewegung. Shiho liefen stumm die Tränen übers Gesicht. Schnell wischte sie sich weg, riss sich zusammen, damit er es nicht sah. Er sollte nichts merken. Heiji schaute die beiden beklommen an, dann holte er auf, zog seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche. Die Stimmung war immer noch angespannt, als sie vorm Haus angekommen waren, und Shinichi nach seinen Hausschlüsseln kramte. Lautes, vergnügtes Gelächter schallte ihnen entgegen, als er die Tür schließlich öffnete, was ihn dazu veranlasste, Heiji und Shiho, die jetzt ebenfalls etwas überrascht drein schaute, einen verdutzten Blick zuzuwerfen. Er zog seine Schuhe und den Mantel aus, schlüpfte in seine Hauspantoffeln und ging durch die Eingangshalle, machte die Wohnzimmertür auf und blieb auf der Stelle stehen wie vom Donner gerührt. Auf dem großen Teppich saßen Ran, Sonoko und Kazuha in einem Haufen Luftballons und Geschenkpapier, jede von ihnen hielt einen Teller mit Kuchen in der Hand, und sie alle schütteten sich aus vor Lachen. Er merkte, wie Heiji und Shiho neben ihn traten, schaute zuerst den einen, dann die andere an. „Danke.“, murmelte er dann nur. Heiji wusste genau, was er meinte. Er nickte ihm nur zu, dann ging er hinein ins Wohnzimmer, wobei er immer wieder einen Luftballon aus seiner Bahn kicken musste. „Ladies! Wir sin’ wieder da!“, verkündete er. „Habt ihr noch was zu Essen für uns?“ Ran, Kazuha und Sonoko schauten auf. „Du denkst aber auch wirklich nur ans Essen, oder, Heiji?“, frotzelte Kazuha, deutete dann aber auf die Sandwichplatte und den Muffinkorb. Shinichi watete ebenfalls durch das Ballonmeer, ließ sich neben Ran zu Boden sinken, die sich leise seufzend an ihn lehnte, legte einen Arm um ihre Hüfte und nahm ein Sandwich vom Tablett, das Heiji ihm reichte. Shiho schluckte, als sie die beiden sah. Bitterkeit stieg in ihr hoch, Schuldgefühle machten sich in ihr breit, ließen ihr kaum mehr Luft zum Atmen. Sie ertrug das nicht... das Leid zu sehen, dass sie ihnen bringen würde. Zwei Menschen, die sich so liebten, durch ihr Gift zu trennen... Kurz stand sie da, unschlüssig, wusste nicht, ob sie bleiben sollte oder doch lieber verschwinden. Dann drehte sie sich um und ging. Ran starrte ihr hinterher, wollte aufstehen, ihr nachgehen, aber Shinichi hielt sie am Boden. „Lass sie.“ „Aber...“ Er seufzte tief, als er sie ansah, lag in seinen Augen ein Ausdruck von Bitterkeit. „Sie hat ein Mittel dagegen gefunden, Ran. Nur dass es... dass es mir nicht mehr hilft. Ihr schon. Und damit... damit kommt sie grad nicht so ganz klar, fürchte ich.“ Shinichi blinzelte, spürte ein unangenehmes Ziehen im Bauch, erst jetzt wurde ihm eines so richtig klar. Dass er es vielleicht hätte überleben können... hätten sie früher über diese Nachwirkungen gewusst. Ran schaute ihn an, merkte, wie ihre Augen zu brennen anfingen, fühlte die Enttäuschung in sich aufkeimen. So kurz, so flüchtig war der Gedanke, der Funken Hoffnung gewesen, als er von dem Gegengift gesprochen hatte. Kaum hatte sie ihn realisiert, war er schon wieder weg gewesen… Hoffnung, Rettung… gab es nicht. Sie biss sich kurz auf die Lippen, dann nahm sie seinen Kopf in beide Hände, küsste ihn zärtlich, schmiegte sich dann an ihn. Er legte ihre Hand auf ihren Bauch, streichelte ihn sanft. Wie kann das Leben nur so verdammt unfair sein… so makaber, so bitter, so… …so unglaublich ungerecht. So ungerecht… Agasa stutzte, als er kurz vor Mitternacht immer noch Licht im Kellerlabor brennen sah, ging langsam die Treppe runter und blieb erschrocken vor der Tür stehen. Er hörte sie schluchzen. Leise drückte er die Tür ein wenig weiter auf, fand seine Mitbewohnerin vor ihrem Computer, auf dem Bildschirm flackerten Zahlen und Formeln. Sie selber saß vornüber gebeugt und schluchzte hemmungslos, neben ihr stand ein Glas Wasser, neben dem eine kleine Kapsel lag. Er trat näher; sie schien ihn nicht zu bemerken. „Shiho?“, begann er vorsichtig. „Shiho, ist der Tag heut etwa nicht gut gelaufen? Geht es ihm denn schon so schlecht?“ Agasa fuhr sich mit einer Hand durch sein weißes Haar. Sein sorgenvoller Blick ruhte auf ihr; er dachte, ihr Zustand rührte daher, dass sie den Nachmittag vielleicht nicht so hatten durchführen können wie geplant. Dass es ihm nach seinem Zusammenbruch neulich so schlecht ging, dass er das Haus nicht mehr verlassen konnte. Der alte Mann merkte, wie sich in seinem Hals ein Kloß bildete. Er schluckte hart, dann legte er ihr eine Hand auf die Schulter. „Shiho, so sag doch was...“ „Der Tag war wunderbar.“ Erleichtert seufzte er auf, aber das Gefühl währte nur kurz. „Was... warum weinst du dann...?“ Ihm wurde unwohl. Langsam drehte sie sich um. Agasa erschrak, zog seine Hand zurück. Sie sah entsetzlich aus. Ihre Augen waren rotgeädert, vom Weinen wund und verquollen. Ihre Gesichtshaut hatte rote Flecken, wie immer, wenn sie sich aufregte, ihre Hände zitterten wie Espenlaub, ihre Haare waren wirr, standen ihr vom Kopf ab und ihr Atem ging flach und stoßweise. „Ich kann ihm nicht helfen. Mir kann ich helfen, aber ihm... ihm... ihm nicht...“ Tränen perlten über ihre Wangen. „Das ist nicht fair! Das ist nicht fair... ich wollte doch ihm helfen... ihm... nicht mir...“ Sie presste ihre Augen zusammen, wischte sich mit einer Hand die Tränen von den Wangen, erfolglos. „Ich wollte ihm sein Leben wieder geben. Ich wollte, dass er Papa werden kann. Dass er bei Ran bleiben kann. Aber ich habs nicht geschafft! Es geht einfach nicht mehr… ich war viel zu langsam, es ist viel zu spät, ich… er…“ Der Professor schloss kurz die Augen. „Was ist mit ihm…?“ „Er verlangt von mir zu leben, wo ich doch lieber sterben will...“ Agasa schaute sie starr an. „Also weiß er es? Alles?“ „Ja.“ „Und... er will, dass du dich rettest.“ „Ja.“ Sie schluckte, strich sich die Tränen von den Wangen. „Ja. Er war nicht… nicht traurig, nicht enttäuscht, wenn doch, hat er es nicht gezeigt. Er hat es… einfach akzeptiert. Ich… und er will, dass ich es nehme. Dass ich mich rette. Unbedingt will er das…“ „Shiho, das war zu erwarten... und du weißt auch, dass er Recht hat...“ Der Professor schaute sie betrübt an, gestikulierte hilflos mit den Händen. „Shiho, du weißt das doch...“ „Ich will aber nicht.“ Sie drehte sich leicht weg von ihm, schaute starr auf den Boden. „Ich will nicht. Was bringt mir diese Welt noch, wenn ich ihn nicht retten konnte... ich hab verloren, versagt... wer bin ich noch... was kann ich noch...“ Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. „Ich musste ihm versprechen, dass ich’s nehme! Wie kann er mir das antun! Manchmal glaub ich, er weiß ganz genau, dass ich alles tu für ihn...“ In ihrem Gesicht stand Entsetzen. „Alles... aber alles ist nicht genug... nicht genug... war es nie, wird es nie...“ Ihre Lippen bebten. „Wenn du es ihm versprochen hast, musst du es nehmen.“ Agasas Stimme klang sachlich, und er bemühte sich auch um einen diesen Ton, ging nicht auf ihre Antwort ein. Er wollte sie wegbringen von der Schiene, auf der sie gerade fuhr. Es ging doch nur um eins... ihre Liebe zu ihm. Sie liebte ihn, seit Jahren, so sehr, dass sie ihm sein Glück mit Ran gönnte, nie versucht hatte, sie zu trennen, ihn unterstützte in jeder Situation... und dass sie es jetzt nicht konnte, ihm jetzt nicht helfen konnte, trieb sie an ihre Grenze. Und wie es aussah... wollte sie, wenn er nicht leben durfte, auch nicht mehr leben. Aber er wusste... Agasa wusste nur allzu genau... dass Shiho ihr Versprechen halten würde. Und so sah er ihr nur wortlos zu, als sie die Kapsel nahm, mit zitternden Fingern in den Mund steckte und mit Wasser runterspülte, auf ihren Zügen ein Ausdruck von Verachtung, von Selbsthass und Widerwillen. Ihre Augen waren zusammengekniffen, und sie schlug sich nach dem letzten Schluck Wasser schnell die Hand vor den Mund, um zu verhindern, alles gleich wieder auszuspucken. Der Professor schaute sie nur an. Er wusste nicht, was er sagen oder tun könnte, um ihr zu helfen. Für sie... gab es keine Hilfe. Sie würde ihr Leben leben, das sicher. Aber in gewisser Hinsicht gab es auch für sie, wie für ihn, keine Rettung mehr. Die letzte Seite ---------------- So ^-^ Hallo und entschuldigt die Verspätung- ich war ein paar Tage nicht da :) Ab jetzt gibts das Kapitel wie gehabt am Dienstagabend/Mittwochvormittag. Ich wünsche euch viel Spaß beim lesen! Vielen, vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Viele liebe Grüße, eure Leira :D ____________________________________________ Kapitel 27: Die letzte Seite Gegenwart Heute war Montag. Ein strahlend schöner Frühlingstag, rundum herrlich, wirklich wunderbar. Die Sonne schien, die Luft war lau und am Himmel zeigte sich nicht eine noch so kleine Wolke. Sayuri seufzte tief. Sie stand am geöffneten Fenster, die warme Luft strich ihr übers Gesicht – und starrte ins unendliche Blau des Himmels, wartete. Auf was genau, wusste sie nicht. Ihre Mutter war gerade zum einkaufen gefahren, und so kam es, dass sie wieder einmal allein zuhause war. Sie hätte zum Professor gehen können. Oder zu Tante Sonoko. Zu ihren Großeltern mütterlicherseits oder väterlicherseits. Oder mal wieder in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu Onkel Heiji fahren. Sie hätte mit Freunden etwas unternehmen können oder einfach ein wenig spazieren gehen, stattdessen war sie hier, in diesem Haus, und wusste genau, was sie hier hielt, an diesem wundervollen Frühlingstag. Ein weiterer leiser Seufzer entfloh ihrer Kehle, dann schloss sie das Fenster, wandte sich um, strich unruhig durchs Haus, minutenlang. Schaltete den Fernseher ein und nach ein wenig Rumgezappe wieder aus, fing an, in einen Roman zu lesen und legte ihn nach fünf Minuten wieder beiseite. Es war ein neues Buch, eigentlich sehr interessant, aber heute konnte es sie nicht fesseln. Sie wusste genau, an was das lag. Was sie so herumtrieb. Es war eine Sache, die sie seit ein paar Tagen schon aufschob. Das letzte Buch. Sayuri hatte es fast zu Ende gelesen. Und nun zögerte sie das Ende hinaus. Sie war sich dessen voll bewusst, und das war es auch, das ihr das Ganze noch schwerer machte. Sie schämte sich schon direkt für ihr kindisches Verhalten, schließlich war ihr Vater schon tot, schon lange… aber sie wollte ihn wenigstens in ihren Büchern am Leben halten. Irgendwie kam er ihr so noch ein wenig… lebendig vor. Solange er dort noch nicht Lebewohl gesagt hatte... solange er ihr noch erzählte, von sich, und über andere, solange er nicht endgültig den letzten Punkt gemacht hatte, solange… Solange es noch nicht so schrecklich endgültig war… Er wenigstens in diesem Medium noch greifbar sein durfte... Solange war es für sie noch nicht ganz real… dass sie ihn wirklich nie treffen würde. Nicht in diesem Leben. Sie ließ sich auf das Sofa sinken, kippte vornüber und landete mit ihrem Kopf auf der Tischplatte, ihre Arme baumelten nach unten, ihre Finger streiften den Teppichboden. Ein weiterer, langer Seufzer verließ ihre Lippen. Fest kniff sie die Augen zu, atmete tief ein und aus. Einerseits brannte sie darauf, zu lesen, was er noch zu sagen hatte. Andererseits hielt dieses alberne Aufschieben, dieses verzweifelte Sich-an-etwas-Klammern, das es gar nicht mehr gab, davon ab. Sie schloss die Augen, spürte die Tischplatte kühl an ihrer Stirn. Dann fasste sie ihren Entschluss. Entschlossen setzte sie sich auf, stand auf und ging ihr Zimmer. Sie würde es zu Ende bringen. Jetzt. Jede Minute, die sie es hinauszögerte, würde es nur noch schlimmer machen. Ein paar Augenblicke später war es soweit. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie, als sie auf ihrem Bett saß, das letzte Buch in ihrem Schoß. Sie war sich immer noch unschlüssig, ob sie lesen sollte oder nicht; irgendetwas hielt sie ab, etwas anderes trieb sie an. Und da dieser Antrieb gerade eben die stärkere Macht war, und das Objekt ihrer Begierde zudem schon vor ihrer Nase lag, begann sie, den Eintrag zu lesen. Er hatte kein Datum mehr. Er fing nicht mal mit einer Begrüßung an. So… Sayuri. Ich hoffe, der Name gefällt dir, den ich da einfach ausgesucht habe für dich… ich hab dich das noch gar nicht gefragt, nicht wahr? Gut… die Antwort werde ich ohnehin nie hören, aber ich hoffe doch, er gefällt dir. Mittlerweile haben wir April…der Termin deiner Geburt rückt immer näher… und ein anderer Termin wohl auch. Aber reden wir nicht darüber… Nun... Dieser Eintrag ist für mich wohl mindestens genauso schwer zu schreiben wie er für dich zu lesen sein wird; Tatsache ist allerdings... dass du im Prinzip jetzt alles weißt, was wichtig ist zu wissen für dich, ich dir alles mitgeteilt habe, von dem ich glaubte, es wäre von Nutzen für dich, sogar Sachen erzählt habe, von denen ich mir im Nachhinein nicht sicher bin, ob ich sie dir nicht hätte verschweigen sollen. Ich bin nicht erfahren in solchen Dingen, ich weiß nicht, wann ich was besser nicht erzählt hätte, weil ich dich davor beschützen hätte sollen… ich… Wahrscheinlich hättest du ein paar Sachen besser nie erfahren, aber jetzt ist es zu spät, und ich will nichts herausreißen… das scheint mir unehrlich. Betrug an dir. Es gibt nichts, was ich dir verschweigen sollte… ich will vor dir kein Geheimnis haben. Also schön… weiter im Text. Ich… ich hoffe, du weißt nun, wenigstens ungefähr, wer ich war. Weißt, wer du für mich warst, bist… immer sein wirst. Ich hoffe, du konntest erkennen, dass auch ich ein Mensch mit Stärken und Schwächen war; ich hab dir bewusst beide Seiten gezeigt, dir nichts vorenthalten, auch nichts mehr rausgerissen, obwohl ich manche Stellen im Nachhinein für sehr fragwürdig halte, wie gesagt… Aber… mir war wichtig, dir alles zu zeigen, restlos alles, damit du nicht mal auf die Idee kommst, ich wäre perfekt gewesen. Immer stark, immer klug, immer Herr der Lage… Das war ich bestimmt nicht. Ich war alles, aber nicht perfekt. Keiner ist das wohl, obwohl deine Mum schon sehr nah dran ist :) Aber was ich eigentlich sagen will... ist folgendes. Hiermit… hiermit endet sie wohl, die Geschichte von Shinichi Kudô. Und nachdem nun aber wirklich alles gesagt ist, was zu sagen war, fehlt nur noch eines... Sayuri schaute auf, ihre Augen waren aufgerissen, ihre Finger auf einmal starr. „Nein.“, flüsterte sie. Kurz überlegte sie, ob sie das Buch nicht doch weglegen sollte, nicht weiterlesen sollte, denn sie ahnte, was jetzt kam. Der Abschied. Und sie wollte sich nicht verabschieden von ihm. Nie. Dann schob sie diese albernen Gedanken beiseite, las weiter. Sie war es ihm schuldig, ihn sich von ihr verabschieden zu lassen. Sie musste es ihm zugestehen, ihr Lebewohl zu sagen, sie spürte, wie wichtig das für ihn war. Auch wenn es ihr jetzt schwer fiel, das zu lesen. … und zwar… mich von dir zu verabschieden. Da ich nicht weiß, wie lange ich noch habe... will ich dir das lieber zu früh schreiben, als nie mehr die Gelegenheit dazu bekommen. Ich glaube, bis jetzt hatte ich immer ein ziemlich gutes Timing... Also. Das Letzte, was ich hier noch schreibe, nach diesem Eintrag, wird die erste Seite sein; die Einleitung die Erklärung für diese Bücher… und damit schließt sich dann der Kreis. Ich hoffe doch, sie haben dir etwas gebracht, diese Seiten - dir ein wenig Aufschluss gegeben über den Mann, den du nie kennengelernt hast, nie kennenlernen wirst, aber dem du wohl auch dein Leben verdankst. Deinem Vater. Ich muss gestehen, ich habe mich lange nicht als solcher gefühlt. Du schienst mir zu abstrakt, zu gering war die Hoffnung, dich kennen zu lernen, dich auch nur zu sehen. Dann… nach der Entführung… und erst Recht, als der fünfte Monat herum war… und ich noch immer lebte… deine Bewegungen spürte, die du im Bauch deiner Mutter machst… da… wurde bei mir wohl langsam ein Schalter umgelegt. Und bei diesem Schreiben an dich… wohl erst Recht. Wo es mir noch am Anfang schwer fiel… an jemand Unbekanntes zu schreiben… so fühle ich mich mittlerweile beinahe so, als würde ich mich mit dir unterhalten. Ich habe gelernt, dich als das zu sehen, was du bist. Du bist meine Tochter. Auch wenn du mich nicht kennst… auch wenn ich dich vielleicht nie sehe; du bist meine Tochter. Und als solche liebe ich dich. Du hast von mir die Hälfte von dem, was du bist… du wirst mir ähnlich sehen, vielleicht. Vielleicht wirst du mir auch charakterlich ähneln. Ein paar meiner Marotten erben… :) Auf alle Fälle… bist du ein Teil von mir. Und damit ich ein Teil von dir. So etwas verbindet. Auch wenn wir uns nicht kennen, werden wir uns auf die eine oder andere Weise doch nahe sein. Ich hoffe, der Gedanke kann dich ein wenig trösten, in Zeiten, wo du dich um all das hier betrogen fühlst... Ich hoffe, es wird schön sein, dein Leben. Und glücklich. Und ich hoffe, du bist jetzt nicht zu traurig. Das hier war mein Schicksal, und das Schicksal lässt sich nun mal nicht ändern… man kann es nur hinnehmen, auch wenn mir das in letzter Zeit immer öfter immer schwerer fällt. Aber irgendwie hoffe ich auch, dass du nun, da du eine Ahnung hast, wer ich war, dann und wann an mich denkst… Ich weiß nicht, ob es dir ein Trost ist - aber wenn man an dem Ort, an den wir gehen, wenn wir unser irdisches Leben verlassen, denken kann - so werde ich in Gedanken immer bei dir sein. Bei dir und deiner Mutter. Ich werde auf auch aufpassen, so gut es eben in meiner Macht steht. Ich hab dich lieb… gib auf dich Acht. Sei so gut und versuch bitte, nicht die gleichen Fehler zu machen wie dein alter Herr :) Und so ist dies - das Ende. Lebwohl. In Liebe, für immer dein Vater, Shinichi Kudô Tränen rannen ihr übers Gesicht. Stumm, schon seit sie begonnen hatte, den Eintrag zu lesen. „Nein...“, wimmerte sie, schüttelte immer wieder den Kopf. „Nein... Nein, nein, nein...“ Sie sah genau, mit wie viel Mühe die letzten Worte geschrieben worden waren. Tief hatte der Füller sich in das Papier gedrückt, die Tinte hatte bis auf die nächste Seite durchgeschlagen. Er wusste, hatte gewusst, dass es zu Ende ging mit ihm… dass er nun bald… Sie schluchzte auf. Dann begann sie hektisch zu blättern, suchte, suchte… aber sie fand sie nicht. Die letzten paar Seiten waren leer. Kein weiteres Wort stand mehr geschrieben. Keine Aufzeichnung über ihre Geburt. So etwas Wichtiges hätte er doch bestimmt noch aufgeschrieben… so sehr wie er dafür gekämpft hatte… um jeden Tag gerungen hatte... hätte er das doch sicher nicht tot geschwiegen. Tot… Also hatte er es nicht geschafft… Hatte er es wirklich nicht geschafft…? War er gescheitert… so knapp… gescheitert? Sayuri schrie auf, voller Frust, schlug das Buch zu, warf es in den Karton und zog ihre Decke zu sich, bis ans Kinn, schlang ihre Arme um ihren Oberkörper. Tränen strömten ihr über die Wangen, haltlos. Eine halbe Stunde später saß sie immer noch auf ihrem Bett, starr. Sie weinte immer noch, Tränen liefen ihr unaufhörlich über die Wangen, Schmerz wühlte in ihr wie Feuer, brannte in ihrer Brust. Er war weg. Und wahrscheinlich hatte er auch noch ganz umsonst so gekämpft. Umsonst... Ran hörte sie weinen, als sie an ihrer Zimmertür vorbeiging. Sie ahnte, dass sie nun mit dem Lesen der Bücher fertig war; aber sie ging nicht hinein, um sie zu trösten. Sie sollte trauern können. Ungestört. Sie hatte damals auch keinen brauchen können, damals, als er... Ein tiefer Seufzer verließ ihre Brust; sie hob die Hand, hielt sie sich an die Stirn, wie als ob sie so ihre Erinnerung an jene Tage im Zaum halten wollte. Tatsache war allerdings... sie hatte damals allein sein wollen. Und sie war sich ziemlich sicher, dass ihr ihre Tochter in dieser Hinsicht sehr ähnlich war. Sayuri würde, wie sie selber damals, jetzt sicherlich untröstlich sein; es war besser, sie jetzt ihrem Kummer, ihrem Schmerz zu überlassen, und mit ihr zu reden, wenn sie wieder einigermaßen bei sich war. Vorher würden alle Worte ohnehin nur abprallen an ihr. Ran seufzte leise, strich sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie wünschte, er wäre jetzt hier, und würde sie in seine Arme nehmen. Und noch mehr wünschte sie sich, er wäre hier und würde seine Tochter in die Arme nehmen. Sie kniff die Lippen aufeinander, ging langsam weiter in ihr Bücherzimmer, um ein paar Ordner, die sie nicht mehr brauchte, aber aufheben musste, dort zu deponieren, um in ihrem Büro wieder mehr Platz für neue Fälle zu haben. Sie hatte sich geirrt, das wurde ihr nun langsam klar. Sayuri hatte es schwerer als sie. Sie selber hatte ihn wenigstens noch persönlich kennen dürfen, trotz all dem Schmerz, der sie quälte, der Verlust, der sie nun verfolgte – sie hatte die Erinnerung an ihn. An sein Lächeln, an seine Worte, an seine Gesten und Gefühle. Sie hatte ihn spüren dürfen. Sayuris Wunsch, ihren Vater zu kennen, diese Wärme, Liebe und Zuneigung, die sie aus seinen Worten erfahren durfte auch wirklich kennen zu lernen, würde nie in Erfüllung gehen. Ihr war so deutlich vor Augen geführt worden, was sie hätte haben können, und doch jegliche Möglichkeit genommen, es auch wirklich zu bekommen. Und das war ein Schicksal ungleich unfairer und härter als ihrs. Das erkannte sie nun. Langsam wandte sie sich um, schaute auf die Tür, hinter der ihre Tochter um ihren Vater trauerte. Shinichi... Das hattest du wohl auch nicht gewollt, nicht wahr...? Als Ran ein paar Minuten später merkte, wie die Tür zum Zimmer ihrer Tochter langsam aufging, streckte ihren Kopf aus ihrer Tür. Sayuri war bleich, verheult und schüttelte nur stumm den Kopf, als sie sie fragend anschaute. Sie ging die Treppe runter in die Eingangshalle, nahm sich eine Jacke vom Haken und verließ das Haus. Sie konnte jetzt nicht hier bleiben, hier fiel ihr die Decke auf den Kopf. Sayuri musste sich beschäftigen. Sie musste frische Luft schnappen, sich ein wenig fangen. Sie war zu aufgewühlt, um ein vernünftiges Gespräch führen zu können, und so dachte sie, würde ihr ein Spaziergang nur gut tun. Sie hoffte es zumindest. Ran seufzte, schaute ihr durch das Fenster hinterher. In diesem Verhalten glich sie ihrem Vater mehr, als sie selber es wohl ahnte. Sie dachte daran, wie er damals auch gegangen war; die Flucht ergriffen hatte, oder wohl eher den taktischen Rückzug; damals, als er es ihr gesagt hatte, was kommen würde… als er ihr die Hiobsbotschaft überbracht hatte. Und damals, als er erfahren hatte, dass sie schwanger war. Er war gegangen, hatte seine Situation überdacht, und war dann wieder gekommen, um sich erneut in die Schlacht zu stürzen. Gekniffen hatte er nie, und das würde Sayuri auch nicht. Aber sie brauchte jetzt... wohl ihre Ruhe. Um sich zu sammeln, um sich klar zu werden, was sie nun mit all dieser Information machen sollte, wie sie damit fertig werden konnte. Wie sie ihn aushalten, ertragen sollte, diesen unerfüllbaren Wunsch, den sie nun wohl hatte. Und wie sie profitieren konnte, von diesem Wissen um ihren Vater. Auch wenn ihre Gedanken wohl erst etwas später in diese Richtung gehen würden… wie sehr ihr Leben doch trotz allem bereichert worden war. Langsam strich Ran sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Bereichert, ja. Sie fragte sich, warum sie dieses Wort in Zusammenhang mit ihrer Tochter verwenden konnte, es aber für sich ablehnte. Dann stieg sie ebenfalls ins Erdgeschoss, griff sich das Telefon und rief seine Eltern an. Yusaku hob ab. Ran schluckte, räusperte sich, ehe sie sprach. „Yusaku... sie... sie ist fertig.“ „Mit den Büchern...?“ Er wusste, die Frage war nur rhetorisch, aber sie kam ihm über die Lippen, ehe er nachdenken konnte. „Ja. Ich wollts dir nur sagen… damit du weißt, was los ist, falls… sie kommt. Wenn sie kommt.“ Rans Stimme krächzte. „Wie... wie geht’s ihr?“ „Wie soll’s ihr gehen, Yusaku. Erinnerst du dich daran, wie es mir damals ging? Es ist vergleichbar...“ Er hörte das Bemühen seiner Schwiegertochter, sachlich zu klingen. Aber er hörte am Ton ihrer Stimme, wie sehr sie das mitnahm. Er seufzte laut, auf seinem Gesicht machte sich ein betrübter Gesichtsausdruck breit. „Wo ist sie jetzt?“ „Spazieren.“ Yusaku dachte kurz nach. „Dann lass sie. Wenn sie bis heute Abend nicht zurück ist, dann ruf mich bitte an. Ja?“ „Ist... ist gut.“ Sie nickte, von Yusaku ungesehen, zustimmend. Er legte auf, schaute Yukiko, die gerade in den Flur getreten war, müde an. Sie musste nicht fragen, um zu wissen, über was geredet worden war. „Yukiko, es ist nicht fair...“, murmelte er. Sie schluckte, trat dann näher, strich ihm eine Strähne aus der Stirn, lehnte sich dann an ihn. „Ich weiß.“ „Soll ich ihr das Buch leihen? Seinen… seinen Roman?“ „Unbedingt.“ Sie schaute auf, sah in seine blauen Augen, lächelte ihn an. „Ich kann mir vorstellen, das zu lesen tut ihr gut. Und ich denke, ihm würde der Gedanke auch gefallen. Aber ich würde es ihr nicht sofort geben. Warte, bis sie sich wieder einigermaßen gefasst hat, sie wird jetzt wohl am Boden zerstört sein. Aber dann, schätze ich… wird sie es mit Vergnügen lesen.“ Auf Yukikos Lippen erschien erneut ein sanftes Lächeln. Yusaku erwiderte es zaghaft, nickte, zog sie weiter an sich. „Da kannst du Recht haben. Wenn sie ein wenig Abstand hat… dann bring ich es ihr.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, in Gedanken jedoch war er, wie sie, bei seiner Enkelin. Sayuri wusste nicht, wohin sie lief. Passanten gingen an ihr vorbei, schauten ihr verwirrt, verwundert, mitfühlend hinterher, als sie das brünette Mädchen mit diesen unglaublich traurigen Gesichtsausdruck und den verheulten Augen durch die Straßen eilen sahen. Sie bekam nicht mit, wohin ihre Füße sie trugen, immer wieder verschleierte eine Träne kurz ihren Blick. Sie rannte nicht, aber sie schritt zügig aus; als sie wieder soweit zu sich gekommen war, dass sie erkannte, wo sie war, stellte sie fest, dass sie vorm Polizeirevier stand. Sie seufzte leise, ließ ihre Augen über den Block schweifen, fragte sich, warum sie sich jetzt eigentlich wunderte. Er ließ sie nicht los, so einfach war das. Sie hob die Hand, um ihre Augen vor der Sonne abzuschirmen; und so stand sie da, eine Weile, das Gebäude nicht aus den Augen lassend. Das war also seine alte Arbeitsstelle. Das Morddezernat im Gebäude der Kriminalhauptpolizei. Sie seufzte leise, schaute sich um; eine Bank fiel ihr ins Auge. Sie ging langsam auf sie zu, ließ sich auf die Sitzfläche sinken und betrachtete den Bau weiterhin. Kommissar Meguré war schon lang in Rente gegangen, das hatte sie mitbekommen. Wer all die anderen gewesen waren, mit denen er gearbeitet hatte, wusste sie nicht. Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust, ihre Hände umklammerten die Kante der Sitzfläche so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten; ihre Haltung war angespannt, sie saß leicht nach vorn gebeugt, ihre Kiefer aufeinander gepresst. Gedanken schossen durch ihren Kopf, nicht eine Sekunde hatte sie Ruhe. Er war draufgegangen für seine Berufung. Sie konnte verstehen, warum er nicht wollte, dass sie den gleichen Beruf ergriff. Tatsache war, sie hatte noch keine Ahnung, was sie einmal beruflich machen wollte... aber sie musste sich eingestehen, er hatte sie neugierig gemacht. Genau das Gegenteil bewirkt von dem, was er erreichen hatte wollen. Aber war Gerechtigkeit nicht immer eine Sache, für die es zu Kämpfen lohnte? Allerdings... existierte sie überhaupt? Sie schluckte, rutschte ein wenig nach hinten, hob die Hände und starrte auf ihre Finger, gedankenverloren… merkte nicht, wie sich ihr eine blonde Frau mittleren Alters näherte. Sie schaute erst auf, als die Frau sie ansprach. „Excuse me, dear...“ Sayuri schaute in ein paar blaue Augen, umrahmt von einer großen, auffälligen Brille. „Entschuldige, dass ich dich so anspreche... but you look so familiar to me.“ Sayuri schluckte, schaute sie überrascht an. Sie war es nicht gewohnt, von fremden Frauen auf Englisch angesprochen zu werden; noch dazu hatte sie einen zwar feinen, aber doch gut hörbaren Akzent. Eine Amerikanerin, vermutete sie. Die Blondine deutete ihren erstaunen Gesichtsausdruck wohl eher als Unverständnis, weshalb sie sich eine Strähne aus den Augen strich, seufzte, und dann ihre Worte auf Japanisch wiederholte. „Du… du siehst jemandem sehr ähnlich, den ich mal kannte...“ Das Licht der Welt ------------------ Hallo, ihr Lieben! An dieser Stelle möchte ich mich bei euch allen sehr für eure Kommentare zum letzten Kapitel bedanken! Ich meine, ich weiß, mit wie viel Zeug ich euch eindecke, da weiß ich durchaus zu schätzen, dass man mir nach Monaten des Hochladens immer noch Kommentare schreibt *lacht* Ich weiß nicht, ob ich soviel Durchhaltevermögen hätte ^.~ Aber nun… wird mal eine wichtige Frage geklärt… Erlebt Shinichi Sayuris Geburt? Lest selbst. Ich sage hierzu nichts mehr, außer, dass mir das Kapitel lang im Magen lag… und ich im Nachhinein zu allem steh, was ich hier geschrieben hab… auch wenn manches vielleicht etwas seltsam zu lesen sein wird. Vielleicht. Ich weiß nicht, wie ihr es seht ^-^ Viel Vergnügen kann ich diesmal wünschen, MfG, bis nächste Woche, eure Leira _________________________________________________________ Kapitel 28: Das Licht der Welt Vergangenheit Er wachte auf, als er ein leises Stöhnen neben sich hörte. Ruckartig drehte er sich um, kämpfte die Kissen nieder und sah in zwei schmerzerfüllte, blaue Augen. „Ran?“ Er merkte, wie er plötzlich panisch wurde. Irgendetwas war los, das ahnte er. Irgendetwas stimmte nicht. „Shinichi…“, wisperte sie leise. Sie tastete nach seinem Arm, grub ihre Finger in seine Haut. „Shinichi…!“ Mehr brauchte sie nicht sagen. Er fiel fast aus dem Bett, als er sich eiligst anzog. Dann schnappte er sich die Wagenschlüssel, half Ran aus den Kissen, in einen Mantel und die Treppe hinunter. „Geht’s?“, flüsterte er besorgt. Sie nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Er sah die Tränen in ihren Augenwinkeln glitzern und ahnte, was mit ihr los war. Das Baby. Vorsichtig setzte er sie ins Auto, versuchte, sich einigermaßen in den Griff zu kriegen um einen klaren Kopf zu bekommen und fuhr mit ihr unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln ins Krankenhaus. Es eilte, soviel war ihm klar. Dann waren sie in der Notaufnahme im Haido-Zentralklinikum angekommen. Man hatte Ran bereits auf eine Trage gelegt und aufgenommen; sie warteten nur noch, dass man sich endlich um sie kümmerte. Es waren wohl nur Minuten vergangen, aber ihm kam es vor wie eine halbe Ewigkeit, seit er mit ihr hier eingetroffen war. Shinichi ging das alles viel zu langsam. Er stand neben ihr, streichelte ihr mit einer Hand immer und immer wieder über ihr Haar. Die andere Hand hielt sie, drückte sie mit kalten, nassen Fingern und fühlte sich furchtbar machtlos. Sie hatte Schmerzen, das sah man ihr an. Sie biss sich auf die Lippen, aber mehr als ein leises Stöhnen erlaubte sie sich nicht. Wohl, um ihn nicht zu beunruhigen… in der Hinsicht schenkten sie sich wohl nichts. Shinichi seufzte, warf ihr einen besorgten Blick zu, beugte sich dann zu ihr, gab ihr einen zarten Kuss auf die Stirn. Dann, endlich, eilte ein Arzt heran. „Na, dann werden wir mal sehen, was uns fehlt“, meinte er gutgelaunt, schob Ran in ein Zimmer. Shinichi warf ihm einen genervten Blick zu; ihm stieß die Fröhlichkeit des Arztes angesichts des Zustands seiner Frau einfach nur sauer auf. Er war besorgt; und er hatte Angst. Wirklich Angst. Angst um seine Frau und seine ungeborene Tochter. Sie waren zwar auf den Tag pünktlich, aber Ran ging es nicht gut, das war offensichtlich. Und wenn es Ran nicht gut ging… ging es wohl dem Baby auch nicht gut. Soviel konnte er sich denken und so viel sagte ihm auch sein Gefühl. Und das stellte auch der Arzt fest, als er mit dem Ultraschallgerät Rans Bauch untersuchte. „Oh…“ Er erbleichte. „Oh… nicht gut…“ „Was…?“, wimmerte sie leise. Furcht klang in ihrer Stimme, in diesem Wort, das zitternd in der Luft stehen blieb. Der Arzt wandte sich langsam vom Ultraschallmonitor ab. „Wir müssen die Kleine holen, jetzt gleich. Sie hat sich wohl gedreht, dabei hat sich die Nabelschnur um ihren Hals… Herr Kudô, setzen Sie sich!“ Er sprang auf, zog Shinichi auf die Kante der Liege, auf die Ran gebettet war. Ihm war schlecht, er war leichenblass im Gesicht geworden, als er die Nachricht gehört hatte. Schweiß brach ihm aus allen Poren, sein Herz schlug bis zum Hals. „Aber… aber wie geht es ihr…?“ Seine Stimme war leise. Langsam sah er Ran an. Sie schluckte, ihr Herz schlug schnell. Nie hatte sie ihn so gesehen. Nie hatte sie diesen Ausdruck von Angst in seinen Augen gesehen… Sie griff nach seiner Hand. „Das wird schon…“, flüsterte sie, presste dann die Lippen zusammen. Der Arzt studierte das Ultraschallbild. „Wie geht es ihr?!“, wiederholte er etwas lauter. Es war offensichtlich, seine Nerven lagen blank. „Das kann ich noch nicht sagen. Wir machen jetzt gleich einen Kaiserschnitt und hoffen das Beste.“ Der Arzt sah sie nervös an, stand dann auf, lief auf den Gang und kam mit einer Schwester wieder. „Schwester Sachikawa wird Sie jetzt für die OP fertig machen, Frau Kudô. Und Sie, Herr Kudô, warten am besten auf dem Gang. Und setzen sich. Sie sehen grauenhaft aus…“ Die Schwester nickte, wollte Ran gerade aus dem Zimmer schieben, als sie Widerstand spürte. Shinichi umklammerte die Kante der Liege. „Ran!“, flüsterte er. Sie sah ihm an, wie unwohl er sich fühlte, wie ungern er sie allein ließ. Wie gern er ihr geholfen hätte und wie fertig es ihn machte, dass er genau das nicht konnte. „Mach dir keine Sorgen. Du kannst uns sicher bald besuchen.“ Sie versuchte ein Lächeln. „Aber…“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Geh jetzt. Es geht ihr bestimmt gut. Warte bitte, ja? Versuch, dich nicht aufzuregen, hörst du…? Ich hätte gern, dass du… dass du da bist, wenn ich wieder aufwache...“ Ihre Stimme war schwach. Die Schmerzen setzten ihr zu. „Ist gut. Mach… mach dir um mich keine Sorgen, hörst du?“ Ran nickte. „Ruf… ruf unsere Eltern an, sie sollen sich um dich kümmern. Bis… bis später…“ Sie hob die Hand, ließ sich von ihm noch ein letztes Mal die Finger drücken, dann war sie draußen auf dem Gang. Er rannte hinterher, blieb mitten auf dem Klinikflur stehen. „Ran…“ Shinichi flüsterte den Namen, aber kein Laut kam über seine Lippen. Er sah ihr hinterher, fing an zu zittern, schlang seine Arme um seinen Oberkörper. Er hatte Angst, ja. Er fürchtete, sie zu verlieren. Ran, seine Tochter, Sayuri… oder beide. Und er wollte keine… keine von beiden hergeben. Es reichte, wenn das Schicksal ein Leben forderte – seins. Der Arzt neben ihm schaute ihn besorgt an. „Kommen Sie, setzen Sie sich. Mehr als hier warten können Sie nicht. Ich hol Ihnen eine Tasse Kaffee, rufen Sie solange Ihre Eltern an. Kommen Sie... Mehr können Sie nicht tun.“ Er drückte ihm die Schulter, dann verschwand er in der Menge der Ärzte und Schwestern. Mit klammen Fingern zückte er sein Telefon, wählte die Nummer seiner Eltern. Als Yusaku und Yukiko wenige Minuten später eintrafen, sahen sie ihn vorm OP Kreise laufen, den Kopf gesenkt, die Lippen zusammengenkiffen und die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten geballt. „Shinichi…?“ Der Angesprochene schüttelte stumm den Kopf, drehte noch eine Runde; dann ließ er sich neben seine Eltern auf die Bank sinken. „Sie hat sich die Nabelschnur um den Hals gewickelt.“, flüsterte er leise. Er merkte, wie seine Augen zu brennen anfingen. „Sie… sie… man macht jetzt einen Kaiserschnitt… um sie zu holen… damit ihnen nichts passiert…“ Er wischte sich über die Augen. „Verdammt noch mal, könnt ihr mir sagen, warum in meinem Leben nichts so funktioniert, wie es soll? Warum kann nicht einmal unser Baby ohne Komplikationen auf die Welt kommen? Hab ich das Unglück gepachtet, oder was?!“ Shinichi schrie fast. Yusaku fasste ihn im Nacken, zog ihn zu sich. „Schhhht...“ Shinichi schien es nicht einmal zu merken. Sein Blick war starr, seine Haltung angespannt. Als Eri und Kogorô kamen, stand er auf, erklärte ihnen den Sachverhalt. Sehr ruhig diesmal, mit leiser Stimme. Als er fertig war, wandte er sich ab. Er stellte sich an die Wand, vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen, berührte mit seiner Stirn die kalte Mauer, kniff die Augen zusammen. Bitte, bitte, bitte… bitte… Wenn es irgendwo doch einen Gott gibt, dann… bitte…! Kogorô starrte ihn an, wollte sich ihm nähern, aber Eri hielt ihn zurück. „Lass ihn. Du siehst doch, seine Nerven liegen blank.“ Sie griff nach seiner Hand. Er drückte sie sacht. Dann ließ er sie los, begann seinerseits durch den Flur zu tigern. Shinichi stand einfach nur da, an die Wand gelehnt, mit geschlossenen Augen, versuchte ruhig zu bleiben, wo er doch eigentlich selbige hätte hochlaufen können. Yusaku schaute ihn nur an, sagte nichts mehr. Keine Worte der Welt hätten ihm jetzt helfen können. Er stand nur auf, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand neben ihn, drückte ihm so stumm seine Unterstützung aus. Und so warteten sie. Nach einer Ewigkeit, wie es ihnen schien, ging die Tür auf. Eine Ärztin trat heraus, auf ihrem Kopf noch die OP-Haube. „Herr Kudô?“ Shinichi wandte sich von der Mauer ab, hob die Hand leicht. „Das… das wär ich.“ Seine Stimme klang heiser. „Wie geht es…?“ „Kommen Sie mit.“ Sie winkte ihn mit sich. Mit einem letzten Blick auf ihre Eltern trat er durch die Tür. Ein kollektives Seufzen entrang sich den Kehlen der werdenden Großeltern, weiterhin zum Warten verdammt. Shinichi folgte der Ärztin. Er hatte einen Kloß im Hals, sein Magen drohte zu rebellieren, seine Hände waren kalt und feucht. Er ahnte das Schlimmste und wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Dann traten sie in ein kleines Zimmer. Dort stand Schwester mit dem Rücken zu ihnen vor einem kleinen Tischchen. „Schwester Yonnehara, das wär der Papa.“, meinte die Ärztin gutgelaunt, als sie im Raum standen. „Ich glaub, wir können ihn übernehmen lassen.“ Die Krankenschwester drehte sich um, hielt in den Armen ein kleines Bündel, lächelte ihn freundlich an. „Na, dann darf ich gratulieren, Herr Kudô! Wie soll die Kleine heißen?“ „Sa… Sayuri.“, murmelte er tonlos, schaute nur auf das kleine zerknitterte Gesicht, dass aus dem Handtuch hervorlugte. Begriff nur langsam, was gerade passierte. Und was nicht. Erleichterung machte sich zögernd in ihm breit. Und etwas anderes. „Hübscher Name. Also…“ „Hätten Sie nichts sagen können?!“, fuhr er die Ärztin entnervt an. Er merkte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel; gleichzeitig flackerte Wut in ihm auf. „Haben Sie eine Ahnung, was ich gerade durchgemacht habe, da draußen am Gang, in den letzten anderthalb Stunden?!“ Die Ärztin schaute ihn betreten an. Es war offensichtlich, dass sie sehr jung war; und wohl auch noch ziemlich unerfahren. „En…Entschuldigen Sie bitte. Daran hab ich nicht gedacht… ich hab... hab einfach... vergessen... Es gut mir Leid... Also...Ihrer Tochter geht es gut… und ihrer Frau auch. Zu ihr gehen wir gleich. Aber zuerst…“ Sie nahm der Säuglingsschwester das Baby ab, trat ihm entgegen, macht Anstalten, ihm das Kind zu übergeben. Er nahm es in die Arme, etwas hilflos, spürte das Gewicht und die Wärme die davon ausging und vergaß seinen Ärger. Seine Augen wanderten nach unten, blickten in das kleine Gesicht seiner Tochter. Unwillkürlich schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. Sie öffnete träge die Augen, blinzelte ihn an. „Hallo…“, wisperte er leise. Eine einzelne Träne stahl sich aus seinem Augenwinkel. Er verlagerte sein Töchterlein kurz auf einen Arm, wischte sie sich weg. Ein tiefes Seufzen entfuhr ihm, als er sie ansah. „Du hast mir vielleicht Stress gemacht…“ … weißt du, was ich mir für Sorgen gemacht hab…? Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sich auch endlich ein anderes Gefühl in die grenzenlose Erleichterung mischte, die er bis jetzt noch empfand, nach den letzten Ereignissen, der ausgestandenen Angst… Er war stolz. Und er freute sich unglaublich, sie nun in den Armen zu halten... So sah sie also aus, seine Tochter. Seine und Rans Tochter. Sayuri Kudô. Langsam riss er sich dann aber doch los, von seiner Tochter, als eine andere Sorge wieder in den Vordergrund seines Denkens rückte. „Wo… wo ist denn nun meine Frau? Ran?“ „Dazu kommen wir jetzt.“, antwortete die Ärztin dienstfertig, wohl wild entschlossen, heute keinen Fehler mehr zu machen. „Wenn Sie mir folgen möchten. Sie wird wohl bald aufwachen.“ Sie wandte sich zu ihm um, als sie den Gang entlang marschierte, erhaschte einen Blick auf sein Gesicht. Er war sehr blass. Das war ihr vorhin schon aufgefallen. Er musste sich wohl entsetzliche Sorgen gemacht haben… ihr schlechtes Gewissen meldete sich mit Macht zurück, als sie ihn so sah. Es war wirklich fahrlässig gewesen, ihm nicht gleich zu sagen, was Sache war. Sie ließ sich zurückfallen, ging neben ihm, räusperte sich verlegen. „Herr Kudô, es ist alles gut gegangen. Wirklich. Sie brauchen sich keine Sorgen mehr machen. Sie sollten sich wohl ein wenig ausruhen. Es tut mir Leid, Sie nicht gleich aufzuklären war nachlässig von mir…“ „Schon gut.“, murmelte er, sah sie dabei nicht an; er war gefesselt von einem anderen Augenpaar. Die junge Frau lächelte erleichtert, öffnete die Tür in ein Zimmer. Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen, blickte dann wieder auf das kleine Wesen in seinem Arm. Sie hatte ihn jetzt schon in ihren Bann gezogen. Seufzend ließ er sich auf einen Stuhl sinken, den die Ärztin ihm anwies. Dann fiel hinter ihr die Tür zu, und er war allein mit seiner Familie. Sanft streichelte er dem Baby über die Wange, drückte der Kleinen einen Kuss auf die Stirn. Sie gähnte. „Und was machen wir zwei Hübschen jetzt?“, wisperte er schließlich, wiegte sie sacht. Er schaute ihr in die Augen, dann zu Ran. Sie hatte die Augen geschlossen, atmete leise. Ihr Gesicht war blass, aber sie wirkte entspannt. Sie schlief. Er seufzte leise, lehnte sich zurück. „Wach doch auf… Ran. Da will dich jemand kennen lernen… von Außen, heißt das.“ Shinichi grinste, drückte die Kleine an sich, schaute ihr wieder ins Gesicht. „Wenn ichs mir allerdings recht überlege… egentlich könntest du auch noch weiterschlafen, ich glaub, wir kommen auch noch ein wenig allein zurecht.“, murmelte er, schaute dann wieder zu seiner schlafenden Frau. Langsam stand er auf, ließ sich auf die Bettkante sinken. Ran wisperte leise unverständliche Sätze, begann sich ein wenig zu bewegen. Offensichtlich wachte sie aus der Narkose auf. Shinichi griff nach ihrer Hand, drückte sie sacht. Ran seufzte leise, blinzelte. Sie spürte Stoff unter ihren Fingerspitzen, warme Finger in ihrer anderen Hand. Erschöpfung ergriff sie, wollte sie zurück in das Reicht der Träume ziehen. Die Hand zog in die andere Richtung, und sie ließ sich leiten. Dann tauchte ein Gesicht in ihrem Blickfeld auf. „Shinichi…“, murmelte sie leise, merkte, wie die Erleichterung über seine Anwesenheit ihr ein Lächeln auf die Lippen malte. Er blinzelte. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Erleichterung. „Bevor du mich fragst, wie’s ihr geht, frag sie selber…“ Sie kämpfte sich ein wenig hoch, er drehte sich noch ein wenig mehr zu ihr hin, damit sie das Baby in seinen Armen sehen konnte. Ran stiegen die Tränen in die Augen; sie schaute von ihrer Tochter zu ihm, wieder zu ihrer Tochter und schniefte leise. Es war ihr anzusehen, wie froh sie war, dass nun alles gut überstanden war. Dass ihr Baby endlich auf der Welt war; greifbar, sichtbar für sie; und für Shinichi. Vor allem für ihn. Eine Welle des Glücks schwappte über sie. „Hey, Kleines…“, wisperte sie, streckte die Hand aus, berührte den Kopf des Babys. Sie schaute auf, sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich. Ran schmunzelte. „Sag mal weinst du?“, fragte sie leise. Er schüttelte den Kopf – dann seufzte er, nickte ergeben. „Aber nur ein Bisschen.“, murmelte er. „Nur ein ganz klein wenig…!“ Sie lachte leise. Shinichi atmete tief durch, wandte dann den Blick ab. „Lach nicht, Ran. Ich hatte solche Angst, dass ich euch beide noch verlier… allein der Gedanke mach mich jetzt noch wahnsinnig...“ Shinichi schluckte hart. Ran griff ihn am Arm, zog ihn zu sich. Er beugte sich ein wenig nach vorn, berührte mit seinen Lippen die ihren. „Aber du hast es geschafft…!“, wisperte sie leise, stupste seine Nase mit ihrer. „Du hast es geschafft…“ Eine Träne rann ihr über die Wange. Er beugte sich vor, küsste sie weg. „Nein. Wir haben es geschafft…“ Er lehnte seine Stirn gegen ihre, dann gab er seiner Tochter ein Küsschen auf die Stirn. „Ich kanns selbst kaum fassen…“ Shinichi lächelte sie strahlend an. Selten hatte sie ihn so glücklich gesehen, vor allem in letzter Zeit, und ihr tat es so gut, ihn so zu sehen – es war unglaublich, welche Wirkung sein Lachen auf sie hatte… sie liebte es. Liebte ihn. „Komm schon…“, murmelte sie dann. „Komm. Leg dich auch her.“ „Aber…“ „Bitte…“ Er seufzte, dann ließ er sich auf die Kissen sinken, neben sie. Ran schmiegte sich an ihn, legte ihren Arm um ihn, zog ihn an sich. „Papa?“, murmelte Ran ihm ins Ohr. Er grinste die Decke an, dann drehte er den Kopf. „Was ist, Mama?“ „Komm, gib sie mir auch mal…“ Er schüttelte den Kopf. Sayuri lag auf seinem Bauch, döste. „Nein. Du hattest sie lang genug. Und du…“ ...wirst sie noch lange genug haben... Shinichi biss sich auf die Lippen, sprach seinen letzten Gedanken nicht aus. Dann setzte er sich auf, legte Ran die Kleine in die Arme, drehte sich auf die Seite und nahm Ran seinerseits in den Arm, küsste sie auf die Schläfe. „Shinichi…“ Sie drehte den Kopf, blickte in seine Augen, wusste, was er gedacht hatte. „Ist schon gut, Ran. Ich hätt nicht anfangen sollen…“ Er lächelte schief, streichelte sie mit seinen Fingern sanft über die Wange. Sie schaute ihn lange an; dann kuschelte sie sich an ihn, gab ihrer Kleinen einen Kuss auf die Haare. „Sie ist so winzig.“ „Ja, das ist sie.“ Er seufzte leise. „So kleine Finger…“ Ran streichelte die kleine Hand, die sich aus den Stofflagen befreit hatte. „Und eine so kleine Nase…“, ergänzte Shinichi, strich seiner Tochter über das Näschen. Sie öffnete träge die Augen, gähnte leise. Er seufzte, schwieg lange; dann räusperte er sich. Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, als er schließlich sprach. „Ich bin so froh, Ran, ich kann es dir gar nicht sagen… das kann man nicht in Worte fassen, das Gefühl ist einfach unglaublich…“ Sie wandte den Kopf, strahlte ihn an. „So soll es auch sein…“, hauchte sie. „Ich liebe dich.“, murmelte er leise, bevor er ihre Lippen erneut berührte. „Und dich auch. Auch wenn du es nicht mehr wissen wirst…“ Er küsste das Baby zart auf die Stirn, und für Sekundenbruchteile huschte ein Schatten über sein Gesicht – doch dann gewann das Glück über diesen Augenblick wieder die Herrschaft. Im nächsten Moment ging die Tür auf. Shinichi drehte sich um, starrte seinen Eltern unwillig ins Gesicht. „Geht wieder, ihr stört.“, motzte er halbherzig, wohl wissend, dass ihn keiner ernst nahm. Langsam setzte er sich auf, kämpfte sich in eine sitzende Position, half Ran, sich ebenfalls aufzusetzen. Yukiko grinste, rannte eilenden Schrittes näher, betrachtete mit leuchtenden Augen ihre Enkeltochter und brach in Begeisterung aus. Eri folgte ihr auf dem Fuße, nicht weniger entzückt, Kogorô und Yusaku folgten ein wenig langsamer. Shinichi wollte aufstehen, aber Ran hielt ihn fest. „Nein.“ „Hah?“ „Du bleibst.“ Sie zog ihn wieder runter, lehnte sich wieder an ihn. Er seufzte leise, küsste sie auf die Schläfe, streichelte seiner Tochter über die Finger, lächelte sanft. Yusaku starrte ihn an, atmete leise, stockend aus, schaute dann betroffen zu Boden. Er freute sich, freute sich wirklich; aber trotzdem entging ihm die Bitterkeit dieser Szene nicht. Shinichi hatte geschafft, was zu schaffen war; es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er aufgeben musste, ob er nun wollte, oder nicht. Dann hörte er ihn lachen, hob den Blick wieder, sah, wie seine Enkeltochter ihren Papa am Finger festhielt, sah, wie er sich freute; und musste ebenfalls lächeln. Es tat gut, zu wissen, dass sein Sohn wenigstens das noch erleben durfte. Wenigstens dieses Gefühl noch spüren durfte. Langsam trat er nun auch näher, trat neben Yukiko und musterte das jüngste Mitglied der Familie Kudô; Shinichi bemerkte es, schaute auf. Yusaku blinzelte. „Sie wird dir mal sehr ähnlich sehen…“, murmelte er. „Meinst du?“ Shinichi seufzte leise, schaute seine Tochter seinerseits musternd an, während Eri neben ihm mit Ran redete, und Kogorô stumm daneben stand. Auch ihm ging der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass diese Idylle schon bald zerstört sein würde. Dass das niedliche, kleine Wesen in Rans Armen, seine bezaubernde Enkelin, schon sehr bald einen der wichtigsten Menschen in ihrem Leben verlieren würde. Dann hörte er Yusaku wieder sprechen. „Sie kriegt deine Augen. Und wahrscheinlich auch…“, er griff seinem Sohn ins Haar, „deine Stirnfransen.“ Shinichi warf seiner Tochter einen gleichermaßen stolzen wie bedauernden Blick zu, musterte Ran, die vor Freude strahlend mit ihren Müttern plauderte, warf ihr einen betrübten Blick zu. „Ich hoffe, du irrst dich…“ Dann ging die Tür erneut auf. „Entschuldigen Sie, aber ich muss Sie… wohl leider jetzt rauswerfen.“ Eine Schwester hatte das Zimmer betreten. „Die frischgebackene Mama und ihr Baby müssen jetzt schlafen. Und Sie sehen auch so aus, als ob sie eine Mütze voll Schlaf vertragen könnten.“ Sie schaute Shinichi musternd an. „Aber…“, murmelte Ran. Ihre Stimme klang fast weinerlich. Es war klar, woran sie dachte; wovor sie sich fürchtete. Die Stimmung im Zimmer war mit einem Mal umgeschlagen. Shinichi stand auf, langsam, beugte sich dann zu ihr runter, gab ihr einen Kuss. „Mach dir keine Sorgen. Ich komme morgen wieder.“ „Aber…!“ Sie hielt sich an ihm fest. „Shinichi…“ Ihre Stimme zitterte. „Ran.“ Seine Stimme klang leise, ruhig, sanft... er versuchte, sie zu beschwichtigen, zu beruhigen, aber er scheiterte kläglich. „Nein!“ Eine Träne rann ihr aus dem Augenwinkel, ihr Griff wurde noch fester. Sie wollte ihn behalten. Ihre Familie behalten. Sie waren nun endlich komplett, alles war wunderbar und… „Nein... “ Langsam atmete Shinichi aus, schaute ihr betrübt in die Augen, gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ran, versteh doch... ich komm ja wieder... du... du brauchst keine Angst zu haben.“ Rans Schultern zuckten, heftig schüttelte sie den Kopf. „Ich will, dass du bleibst...“, flüsterte sie heiser. Er ertrug die Panik, die Angst und die Verzweiflung in ihrer Stimme kaum, strich ihr übers Haar, versuchte, ihr ein wenig von ihrer Furcht zu nehmen, aber es gelang ihm nicht. Gelang ihm nicht, weil er insgeheim das Gleiche fürchtete. Er seufzte schwer, strich ihr die Tränen aus dem Gesicht. „Kann nicht wenigstens er bleiben?“, bat sie die Krankenschwester, schaute sie flehend an. „Bitte!“ Die etwas rundlichere, gemütlich aussehende Schwester schüttelte bedauernd den Kopf, war ob der Szene, die sich ihr bot, sichtlich überrascht. „Nein, leider nicht. Aber ab acht Uhr beginnt die Besuchszeit, und wenn Sie sich gut machen, dann dürfen Sie bald nach Hause.“ Sie lächelte die frischgebackenen Eltern milde an. Ran krallte ihre freie Hand immer noch in sein Hemd, machte keine Anstalten, ihn loszulassen. „Bitte! “ Sie schrie fast. Die Schwester schaute sie erschüttert an. Mit der Reaktion hatte sie nicht gerechnet. „Lass mich nicht allein...“, wisperte sie flehend, schaute ihn an, fixierte ihn mit ihren klaren blauen Augen. Shinichi seufzte, entkrampfte ihre Finger, hielt sie in beiden Händen, holte tief Luft, lehnte seine Stirn gegen ihre. „Ran, es ist jetzt… vier Uhr morgens. Ich komm in vier Stunden wieder, versuch ein wenig zu schlafen, du musst dich ausruhen. Denk dran, nur vier Stunden… das ist doch gar nichts... verschlaf sie einfach...“ Er beugte sich zu ihr, gab ihr einen Kuss auf die Lippen, zärtlich; und ebenso zart strich er seiner Tochter über den Kopf. „Ich versprechs…“, wisperte er ihr ins Ohr, „ich versprechs dir, ich komm wieder…“ Damit drehte er sich um, ging, konnte ihr nicht mehr ins Gesicht sehen. „Ich liefere ihn persönlich bei dir ab.“ Yusaku nickte ihr zu, dann ging er seinem Sohn hinterher, und ihm folgte der Rest der Truppe. Beklemmung machte sich breit. Ran blieb zurück, ihr Baby in den Armen, weinte lautlos. Sie hatte Angst. Zuhause angekommen konnte er nicht schlafen. Ruhelos strich er durchs Haus, versuchte sich abzulenken... er war müde, aber er konnte, wollte nicht schlafen. Er fürchtete sich. Fürchtete, sein Versprechen nicht halten zu können. Yusaku seufzte, als er ihn durch die Flure gehen hörte, setzte sich auf, verließ das Schlafzimmer, in dem er mit Yukiko übernachtete, folgte seinem Sohn. „Shinichi…“ Der Angesprochene lehnte an einer Wand, drehte langsam den Kopf. Lange schwieg er, sagte nichts. Dann... „Es wird bald soweit sein…“, murmelte er leise. „So bald schon… ich bin froh, dass ich wenigstens das noch… aber machen wir uns nichts vor… du hast gesehen, wovor sie Angst hatte. Und ich hab genauso Angst wie sie, aber sehen darf sie das nicht...“ Yusaku schluckte, stellte sich vor ihm, legte ihm die Hände auf die Schultern. „Du kannst es nicht ändern. Genieße, was du hast, mehr kannst du nicht tun... Aber du solltest wirklich ins Bett, du siehst tatsächlich müde aus. Komm jetzt.“ „Aber...!“ Yusaku schluckte schwer. „Shinichi... wenn ich sagen würde, ich verstünde, wovor du dich fürchtest, wäre das gelogen. Das kann ich nicht. Dazu muss man in deiner Situation sein... Aber glaubst du nicht auch... du schadest dir mehr, wenn du deinem Körper mit Gewalt verwehrst, wonach er verlangt...?“ Shinichi löste sich von der Mauer, schaute ihn an. Was sein Vater sagte, klang logisch. „Schlaf im Wohnzimmer. Ich bleib heute Nacht bei dir.“, bot Yusaku zögernd an. „Wenn… du das willst… heißt das...?“ Er schaute ihn unsicher an, wusste nicht, wie sein immerhin schon erwachsener Sohn auf dieses Angebot reagieren würde, das man normalerweise kleinen Kindern machte, wenn sie sich vorm Monster unter dem Bett fürchteten. Diese Monster waren imaginär; das Monster, vor dem sein Sohn sich fürchtete war jedoch real, und das machte es noch schrecklicher. Es war der Tod selbst. Und er stand schon vor der Tür, lauerte wirklich unter dem Bett, sie alle wussten das. Und genau das... machte die Situation so anders. Shinichi schluckte, nickte kurz, als ihm die Röte ins Gesicht stieg. „Da... danke...“ Er drehte sich um und ging ins Wohnzimmer. Yusaku folgte ihm, seufzte schwer, aber unhörbar. Der Gedanke, warum das hier alles stattfinden musste, quälte ihn unsäglich. Ran wurde nach drei Tagen entlassen. Zwar war die Ärztin von ihrem Wunsch nicht wirklich erbaut, aber ihre Narbe verheilte gut, und das Mädchen machte sich prächtig. Die junge Mutter wollte um keinen Preis einen Tag länger im Krankenhaus bleiben als nötig, hatte von Anfang an klargestellt, sie wolle nach Hause. Und wenn man sich ihren Ehemann genauer ansah… dann ahnte die Medizinerin auch langsam, warum. Eigentlich hätte er erleichtert sein müssen. Er hätte sich erholen sollen, wieder etwas frischer, gesünder aussehen nach der ausgestandenen Angst… aber dem war nicht so. Und langsam dämmerte ihr, dass egal, wie viel Zeit noch vergehen würde... Herr Kudô würde deswegen auch nicht besser aussehen. Er war krank. Dass ihr das nicht vorher aufgefallen war, verwunderte sie; jetzt, wo sie darüber nachdachte, waren die Zeichen eigentlich untrüglich. Er war todkrank. Sie wusste nicht, wie lange er noch haben würde… aber lange war das nicht mehr, soviel war abzusehen. Und deswegen unterschrieb sie Rans Entlassungsbescheid, allerdings nicht, ohne sie vorher noch hundertmal zu warnen, sofort zu kommen, wenn sie Schmerzen hätte oder sich auch nur unwohl fühlte. Ran nickte nur ernst, schaute der Frau in die Augen versprach hoch und heilig, sich zu schonen. Als sie ging, drehte sie sich noch einmal kurz um. „Danke.“, murmelte sie. Dann verließ sie das Besprechungszimmer, trat hinaus auf den Gang, wo Shinichi mit dem Baby im Arm zusammen mit ihrem Vater wartete. Die Kleine schlief und hatte ihre kurzen Fingerchen in die Maschen seines Pullovers gekrallt; Sorgsam hatte er sie unter seinen Mantel geschoben, damit sie auch ja nicht fror. Ran lächelte ihn an, wollte nach ihrer Tasche greifen, aber Kogorô hielt sie davon ab. „Du sollst dich nicht anstrengen.“, bemerkte er tadelnd. Ran seufzte ergeben, nickte nur, griff nach Shinichis freier Hand und ging mit ihm voran. Zuhause angekommen wartete eine Überraschung auf sie. Sie hatte sich schon gewundert, warum keiner sie im Krankenhaus besuchte hatte, von ihren Freunden; jetzt ahnte sie auch, warum. Ihr Wohnzimmer war nicht wieder zu erkennen, alles war geschmückt und dekoriert, und in der Mitte des Raums standen Shiho, der Professor, Heiji, Kazuha und Sonoko und strahlten sie an, überrannten dann fast Shinichi, der Ran sein Töchterlein übergab, damit sie sie allen vorstellen konnte. Er selbst ließ sich in einen Stuhl sinken. Heiji trat leise neben ihn. Lange sprach er nichts. „Also hastdes geschafft.“, murmelte er dann leise. Shinichi nickte, ohne aufzuschauen, ließ seine Augen nicht von Ran, in Sorge, die Aufregung könne zu viel für sie sein. Beruhigt sah er, wie sie sich auf das Sofa setzte, sich alle anderen um sie gruppierten. Kurz fing sie seinen Blick ein; er lächelte, und sie lächelte zurück, schaute dann zu Sonoko, legte ihr behutsam kurz ihre Patentochter in die Arme. Sonoko fing an vor Rührung zu heulen, was wiederum Shinichi ein Grinsen entlockte. Dann seufzte er lange. „Ja, ich habs geschafft. Ich hab fast nicht mehr dran geglaubt, um ehrlich zu sein.“ Heiji ließ sich in den Sessel neben ihm sinken, schaute ihn ernst an. „Und wie geht’s dir?“ Shinichi wandte sich ihm nun doch zu. „Selten so glücklich gewesen...“, murmelte er leise, warf einen Blick auf seine Tochter, die nun wieder sicher in den Armen ihrer Mutter ruhte. „Ganz ehrlich...“, fügte er an. Shiho löste sich aus der Gruppe, schlenderte zu den beiden Detektiven, ließ sich vor sie auf den Teppichboden sinken. „Herzlichen Glückwunsch, Papa.“ Sie lächelte, aber er sah die Trauer in ihren Augen. „Danke.“ „Sie wird... wird dir mal sehr, sehr ähnlich sehen.“, wisperte sie leise. „Das hat mein Vater auch schon gesagt.“ Heiji wandte den Blick, musterte das Baby erneut. „Könnt’ stimmen, ja...“ Shiho seufzte. „Freust... freust du dich?“ Shinichi schluckte, dann beugte er sich vor, schaute ihr in die Augen. „Ja. Und das solltest du auch, Shiho.“ „Das tu ich!“, beteuerte sie. Er zog skeptisch die Augenbrauen hoch. „Oh ja. Ich kann deine Euphorie schon fast nicht mehr ertragen, meine Liebe.“ Shinichi lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen aneinander. „Sei so gut, Shiho... bitte vergiss wenigstens für diesen einen Tag, dass ich bald sterben werde, sondern freu dich einfach mal uneingeschränkt, dass Sayuri auf die Welt gekommen ist. Das bist du ihr schuldig. Und du würdest mir eine Freude machen damit.“ Er schaute sie an. Shiho seufzte leise. „Du hast ja Recht.“ „Das weiß ich. Ich hab meistens Recht.“ „Idiot.“ „Danke. Und wenn du schon dabei bist, lieb zu mir zu sein, könntest du mir ein Stück Kuchen besorgen.“ Sie schaute in sein unverschämt grinsendes Gesicht, verdrehte die Augen und musste dann doch auch lächeln, zog los, und holte ihm seinen Kuchen, um anschließend zu Ran zu gehen und seine Tochter willkommen zu heißen. Er hatte ja wirklich Recht. Sie hatte ein herzliches Willkommen verdient. Irgendwann gegen Abend waren sie dann alle verschwunden, hatten Ran, ihn und ihre Tochter wieder der Ruhe ihres Hauses überlassen. Shinichi seufzte leise, genoss die Stille. Ran stand in der Küche, brühte sich eine Tasse Tee auf und warf einen Blick ins Wohnzimmer. Er lag in seinem Sessel, seine Füße, die in Wollpantoffeln steckten, lagerten auf dem dazugehörigen Hocker. Er hatte sich eine Decke umgeworfen, weil er, wie sie wusste, in letzter Zeit leichter fror, und las. Das Licht der Leselampe warf ein warmes Licht auf ihn; und auf das Baby, das ebenfalls sorgfältig in die Decke gehüllt, auf seinem Oberkörper lag und schlief. Sayuri lag auf ihrem Bäuchlein, beide Händchen zu kleinen Fäusten geballt, ihr Köpfchen ruhte auf seiner Brust und sie atmete leise und ruhig vor sich hin, während ihr Vater langsam Seite für Seite umblätterte. Ran seufzte, ließ den Tee stehen, trat näher und lehnte sich gegen den Türstock. Das Bild war zu schön. Die Atmosphäre so ruhig, so friedlich… wenn es doch nur immer so bleiben könnte… Sie schluckte, nahm jedes Detail der Szene in sich auf. Dann zückte sie den Fotoapparat, machte den Blitz aus und schoss ein Foto. Und obwohl es nicht blitzte, merkte er es trotzdem, legte sein Buch in seinen Schoß, drehte den Kopf und schaute sie an. „Du musst wohl alles für die Nachwelt festhalten, was?“ Ein müdes Lächeln glitt über seine Lippen. Sie trat langsam näher, während er mit einer Hand dem Baby auf seinem Bauch sanft über den Rücken strich. „Das kann nicht wahr sein...“ Sie seufzte, ließ sich eben ihn in den Sessel sinken, bettete ihren Kopf an seine Schulter, griff in die Maschen seines Wollpullovers, atmete langsam aus. „Es kann nicht wahr sein... das ist nicht fair... nicht fair...“ „Ran...“ Er seufzte, schlang seinen anderen Arm um sie, drückte sie an sich, gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Tu mir und dir und... ihr... einen Gefallen und denk nicht dran. Ich wills vergessen, bis es soweit ist.“ Er schluckte. „Ich will das hier genießen. Ich hab nicht mehr damit gerechnet, dass mir dieses Glück noch widerfährt... und jetzt will ich es auskosten. Ganz und gar. Mit dir.“ Shinichi warf einen liebevollen Blick auf seine Tochter. „Oder denkst du nicht auch, wir sind ihr das schuldig? Eine ganze Familie wird sie nicht lang haben... also sollte die Zeit, in der sie sie hat, so schön und perfekt sein, wie es nur eben geht. Und ich will das auch. Ich will wirklich.“ Er wandte den Kopf schaute in ihre blauen Augen. Sie blinzelte, dann schlich sich ein zaghaftes Lächeln auf ihre Lippen. „Da sprichst du ein wahres Wort, Papa.“ „Das weiß ich.“ Er grinste, tippte mit seiner Nase gegen ihre. Sie merkte, wie sie langsam ein wenig ruhiger wurde, merkte, wie die friedliche Atmosphäre auf sie übergriff. Warum nur muss das Leben so ungerecht sein. Warum kann es nicht so bleiben, wie es ist... es ist so schön, so, wie es ist. So perfekt… Es wäre so perfekt… Warum kannst du deine Chance nicht kriegen... warum nur muss das hier passieren. Warum... Dann wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als Shinichi sprach. „Sag, weißt du, wer uns eine Happy Birthday-Karte für Sayuri geschickt hat? Da kommst du nie drauf. Ein Geschenk war auch dabei.“ Er lachte leise. Ran schaute ihn interessiert an, schüttelte den Kopf. „Nein. Wer?“ „KID.“ Ran fuhr hoch, grinste breit. „Nicht dein Ernst!“ Shinichi nickte, grinste ebenfalls. „Doch, war heute in der Post. Eine Karte von Kaito KID. Und ich hab mir auch erlaubt, das Geschenk schon mal auszupacken. Er ist und bleibt ein Idiot, auf seine Weise.“ „Wieso? Was war denn drin?“ Shinichi seufzte theatralisch, räusperte sich, als er das Schreiben zitierte. „Hallo, jüngster Spross des Hauses Kudô! Ich äußere hiermit mein Entzücken über deine Ankunft auf dieser Welt und sende als Geschenk ein Stück Ausgleichsliteratur, die du, bei dem Vater, den du hast, wohl bitter nötig haben wirst. Voilá: Maurice Leblanc: Arsene Lupin, eine Gesamtausgabe. Mit den besten Wünschen von Kaito Kuroba, alias Kaito KID II.“ Ran vergrub ihren Kopf an seinem Hals und brach in Gelächter aus. „Literarisch sehr wertvoll, was er da schreibt. Sein Entzücken…“ Shinichi grinste breit. „Sehr edel von ihm, ein Buch von Leblanc zu senden. Is sogar ein recht altes Exemplar, es steht da drüben. Ihm muss aber klar sein, dass ich das Ding verstecke, oder?“ Sayuri blinzelte müde, schaute ihren Vater an. Er erwiderte ihren Blick, grinste immer noch, als er sprach, streichelte seiner Tochter sanft über den Rücken. „Du liest mal gute Bücher.“ Sie gähnte leise, schloss ihre Augen und schlief wieder ein. FBI --- Mesdames, Messieurs, vielen, vielen Dank für eure Kommentare zum letzten Kapitel! Es freut mich auch ehrlich zu hören, dass immer noch Leser diese Geschichte anfangen :D Ich kann mir vorstellen, dass die Seitenzahl etwas erschreckend wirken könnte, aber Hut ab vor euch :) Nun; dieses Kapitel ist eher kurz... und führt, wie ihr wohl lesen werdet, auf etwas anderes hinaus. Nach diesem und dem dazugehörenden Gegewartskapitel hat Sayuri dann wohl alle wichtigen Personen im Leben ihres Vaters kennengelernt. Nun. Für die, die's interessiert; ohne dieses Kapitel folgen noch vier Kaps; ihr habt also nur noch vier Wochen Monsterfic vor euch, so ihr sie denn noch lesen wollt *lacht* Und dann habt ihr erstmal wieder Ruhe vor mir. Das letzte Kapitel wird ein Vergangenheitskapitel sein. Der Epilog wird dann wieder im Heute spielen; und damit schließt sich dann der Kreis. Ich wünsche viel Vergnügen, Liebe Grüße, Eure Leira :D ______________________________________________________________________ Kapitel 29: FBI Gegenwart Die Sonne fing sich in ihren blonden Haaren, ließen sie golden leuchten; ihre Augen hinter der großen, auffälligen Brille waren himmelblau, aber keinesfalls kalt oder gar eisig. Sie sprachen von Intelligenz und scharfem Verstand, aber auch von Mitgefühl und Neugierde. Sayuri blickte perplex hoch, stand erschrocken auf, deutete hastig eine leichte Verbeugung an. Sie war aus ihren Gedanken gerissen worden, und sie war wohl tief, sehr tief in ihren Gedanken versunken gewesen… das merkte die blonde Frau ihr an. Dennoch fasste sich das Mädchen schnell, fand ihre Sprache wieder und schaute sie nun ihrerseits prüfend, fast ein wenig skeptisch, an. „Entschuldigen Sie... ich... kennen wir uns?“ Jodie Starling, ließ ihre Hände in die Taschen ihres Blazers gleiten, schüttelte dann langsam den Kopf. „No, wir kennen uns wohl nicht. Aber ich... wie gesagt, wahrscheinlich täusche ich mich... but you look so very familiar to me...“ Die blonde Frau runzelte die Stirn, musterte sie eingehend. Ja, sie kam ihr wirklich bekannt vor, und sie ahnte, wer vor ihr stand; allerdings konnte sie sich auch täuschen, und sie wollte das Mädchen nicht noch mehr irritieren, als sie es schon hatte. Sollte sie allerdings Recht haben… Sie spürte ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend und fragte sich gerade, was sie geritten hatte, sie anzusprechen, einfach so, wenn sie mit den Konsequenzen, die das nach sich ziehen könnte, nicht klarkam. In all den Jahren war sie wohl um kein Stück weiser geworden. Jodie seufzte leise, wusste für den Moment nicht, was sie sagen sollte. Ein Hauch von Traurigkeit trat in ihre Augen, als sie darüber nachdachte. Sayuri fühlte sich etwas unwohl. Eigentlich wollte sie weg hier, sie wollte jetzt nicht reden, erst Recht nicht mit wildfremden Menschen – schließlich war sie ja gegangen, um allein zu sein. Aber ihre Neugier hielt sie zurück, zwang sie, diese Frage zu stellen. „An wen… an wen erinnere ich Sie denn, wenn ich fragen darf?“ Jodie blinzelte, schaute sie etwas bekümmert an; der traurige Ausdruck in ihren Augen vertiefte sich. „Er ist leider... leider schon tot. Länger. Du wirst ihn nicht kennen...“ Sayuri atmete scharf ein. Merkte, wie es ihr eiskalt den Rücken hinunterlief, merkte, wie sich in ihrem Hals ein Kloß bildete. Eine Ahnung manifestierte sich in ihren Gedanken, sie wandte den Blick ab, ruckartig. Kann das denn möglich sein...? Kann es tatsächlich solche Zufälle geben…?! Langsam atmete sie aus, dann räusperte sie sich, ehe sie sprach. „Shinichi Kudô.“ Sie flüsterte den Namen, sah die Fremde dabei nicht an. Jodie starrte sie fassungslos an, wunderte sich, warum sie fassungslos war, sie hatte sie doch deswegen angesprochen... sie hatte das Mädchen auf der Bank sitzen sehen und hatte sofort gewusst… irgendwoher gespürt, dass sie es war. Seine Tochter. Aber es nun bestätigt zu kriegen… zu wissen, dass sie tatsächlich vor ihr stand… … schien doch eine ganz andere Sache zu sein. „Don’t tell me...“ Das Mädchen nickte unglücklich, schaute sie immer noch nicht an. „Doch. Ich bin Shinichi und Ran Kudôs Tochter. Ich weiß nicht, ob Sie wussten, dass er und meine Mutter noch ein Kind bekommen haben...“ Langsam blickte sie auf, schaute der Frau, die ihren Vater offenbar gekannt hatte, zögernd ins Gesicht. „Sie haben ganz Recht, ich durfte ihn nicht kennenlernen. Er… er ist vorher gestorben.“ Sie schluckte schwer, versuchte den Kloß hinunterzuwürgen, der sich wieder in ihrem Hals gebildet hatte bei dem Gedanken an seine letzten Worte. Es war noch keine Stunde her, dass sie sie gelesen hatte. Sie atmete tief durch, ballte die Fäuste und riss sich zusammen. „Aber jetzt sagen Sie mir doch bitte auch, wer Sie sind. Irgendwie fühl ich mich nämlich nicht wohl bei dem Gedanken, einer Fremden meine Lebensgeschichte auszuschütten...“ Jodie wurde rot, schaute sie verlegen an. „Entschuldige, natürlich... of course, of course... that was very impolite of me, I’m sorry... ich bin Jodie Starling. FBI.” Sie zückte ihre Marke, hielt sie dem Mädchen entgegen, damit es sie genau ansehen konnte. Sayuri schluckte, nahm die Marke kurz in ihre Hände, traute ihren Augen kaum. „FBI...?“, hauchte sie leise. Sie schaute der Frau ins Gesicht. „Sie… waren das?“ James Black stand ein wenig abseits, beobachtete die Szene aufmerksam und nicht ohne Interesse. Er hatte seine Kollegin - ehemalige Kollegin wohl, musste man sagen… er war ja seit kurzem nicht mehr dabei - überraschen und sie vom Präsidium abholen wollen, als er sie entdeckt hatte, mit einem jungen Mädchen, offensichtlich in ein Gespräch vertieft. Er hatte sie sofort erkannt. Sie konnte nur eine sein. Shinichi Kudôs Tochter. James hatte gewusst, dass er und Ran geheiratet hatten, er hatte gehört, das Ran ein Kind von ihm bekommen hatte... und er hatte von seinem tragischen Tod erfahren, allerdings erst, als es schon viel zu spät gewesen war. Er hatte sein Grab besucht, heute Morgen, wo er schon mal wieder in Tokio war; seit so vielen Jahren. James seufzte leise, strich sich mit den Fingern über seinen Bart. Er ging nicht gern auf Friedhöfe, und erst Recht nicht an die Gräber derer, die den Tod noch gar nicht verdient hatten. Fakt war; Er war hier, weil Jodie hier war, allerdings ohne, dass Jodie es wusste. Jodie, für die er schon seit jeher eine Art väterlicher Freund war, hatte sich zu einem schweren Gang entschlossen; sie hatte sich dazu durchgerungen, sie zu besuchen. Sharon Vineyard. Chris Vineyard. Vermouth. Diese Frau hatte viele Namen gehabt, aber gewesen war sie immer eines - die Mörderin von Jodie Starlings Eltern, beide ebenfalls Agenten des FBI. Jodie… hatte immer nach der Wahrheit gesucht, hatte sie immer zur Rede stellen wollen… und als sie die Gelegenheit bekommen hatte, als sie sie gefasst hatten… Da hatte sie ihr Mut verlassen… andere Dinge schienen auf einmal wichtiger. Sie hatte sie nie gefragt, nicht, in den Tagen nach der Festnahme, und auch nicht in den Jahren danach – hatte es nicht mehr gewagt, zu fragen, warum sie seinerzeit ihren Vater erschossen hatte, und ihr Elternhaus abgebrannt hatte… und sie ebenfalls guten Gewissens hätte in den Flammen umkommen lassen, sie, die damals doch noch ein kleines Mädchen gewesen war, ein Kind. Ein Kind, das dachte, sein Vater würde nur schlafen, und nur dadurch überlebt hatte, dass sie ihm eine Packung Orangensaft kaufen gegangen war. Damit er seinen Lieblingssaft trinken konnte, wenn er wieder aufwachte. Er war nie mehr aufgewacht. Als sie zurückgekehrt war, stand das Haus in Flammen und er war da gewesen, er selbst, James Black… und hatte sie mitgenommen. Sie hatte immer Antworten haben wollen auf diese Fragen, und als sie sie hätte kriegen können, hatte sie sich nicht dazu durchringen können. War sie an sich selbst gescheitert. Jetzt... nach so langer Zeit, hatten ihr Gewissen und ihre Neugier nun doch endlich gesiegt. Sie war gekommen, und sie hatte sich wohl gerade ihr Besuchervisum aus dem Präsidium geholt. James hatte nicht vor, sich einzumischen. Er war lediglich hier, um sie aufzufangen, sollte sie hinterher jemanden brauchen, der ihr wieder Halt gab. Und nun das. Nun traf sie ausgerechnet auf Shinichi Kudôs Tochter; auf das Kind jenes brillanten Detektivs, ohne den sie die Organisation nie hätten zu Fall bringen können, und der sein Leben hatte lassen müssen für die Sache. James wusste, spurlos würde diese Begegnung, genauso wie die Nachricht über seinen Tod, nicht an ihr vorbeigehen. Er steckte sich eine Zigarette an. Jodie seufzte; schluckte hart, schaute dem Mädchen in die Augen, wartete. Wartete darauf, dass sie etwas sagte. Fortfuhr. Den Gefallen tat sie ihr dann auch, wenn auch sehr zögernd. „Sie haben… mit ihm diesen Fall bearbeitet. Das… sagte zumindest Onkel Heiji. Sie und zwei andere Männer. Ein Engländer namens James Black und ein Japaner, Shuichi Akai.“ Es klang nicht wie eine Anklage; obgleich Jodie eine solche erwartet hatte. Es war eine reine Feststellung, von der Sachlichkeit, die auch ihr Vater stets an den Tag gelegt hatte. Und so nickte sie nur. „That’s correct.“ Sayuri schluckte, knetete ihre Finger; unsicher schaute sie zur Seite. „Nun...“, begann sie langsam, „nun… sie werden bestimmt zu tun haben, hier in… Tokio.“ Sie schaute sie wieder an, lächelte höflich. „Nun, da Sie mich kennen, und ich Sie, will ich Sie gar nicht weiter stören. Es war mir eine Ehre, sie kennengelernt zu haben.“ Jodie musterte sie prüfend, ballte ihre Hände in ihren Taschen kurz zu Fäusten und entspannte sie wieder. Sayuris Gesicht war kalkweiß, ihre Augen rotgerändert. Irgendwie fühlte sie sich nicht wohl bei dem Gedanken, das Mädchen so jetzt stehen zu lassen. Sie war offensichtlich schon aufgewühlt gewesen, als sie sie aus ihren Gedanken geschreckt hatte; und ihre Begegnung hatte offensichtlich nicht dazu beigetragen, sie zu beruhigen. Sie biss sich auf die Lippen, räusperte sich kurz. „How... how much do you know...?“ Sayuri blickte auf. „Über den Fall?“ Die FBI-Agentin nickte kurz. „Yes.“ „Ich denke, ich hab… einen guten Überblick.“, murmelte Sayuri, zog sich eine Strähne ihres langen Haares hinter ihrem Ohr hervor, fing an sie zu zwirbeln. Jodie bemerkte es, kam nicht umhin es zu bemerken; dieses untrügerische Zeichen von Nervosität. Das Mädchen fuhr fort, ihre Haare mit zwei Fingern zu verdrehen, als sie weitersprach. „Wie ich sagte… Onkel Heiji hat’s mir erzählt. Oder man sollte wohl eher sagen, ich hab ihn gedrängt, es mir zu sagen. Ich dachte, ich hätte ein Recht darauf zu wissen, warum er nicht da ist. Mein… Mein Vater. Wissen Sie, ich wusste lange nichts von ihm, und ich bin… gerade erst dabei, über ihn zu erfahren, und da hab ich eben all das gehört… mit dieser Organisation und Conan und warum und woran er nun… gestorben ist.“ Sie blinzelte heftig, die Worte sprudelten aus ihrem Mund wie Wasser aus einer Quelle, und dabei wollte sie doch gar nicht… wollte doch gar nicht dieser Fremden ihre Leidensgeschichte ausbreiten. Nichtsdestotrotz fuhr sie fort, sie konnte sich nicht bremsen. „Wissen Sie, ich wollte es wissen! Wollte wissen, wer er war. Warum er sterben musste. Wie es sein kann, dass ein Mensch... ein Erwachsener... wieder zum Kind wird, und dieses Gift ihn letztendlich nach Jahren auch noch umbringt... Ich wollte wissen, ob sein Tod die Sache wert war... ob es sich wenigstens… irgendwie… gelohnt hat…“ Unwillig wischte sie sich über die Augen, blinzelte heftig. „Aber warum sind Sie eigentlich in Japan? Haben Sie einen neuen Fall hier?“ Sayuri wollte das Thema wechseln. Unbedingt das Thema wechseln, wenn diese Frau sie schon so offensichtlich in ein Gespräch verwickeln wollte. Die blonde Frau kam kurz ins Stocken, Erschrecken spiegelte sich für Sekundenbruchteile in ihren blauen Augen wieder, bevor sie sich wieder im Griff hatte. „Nein, kein neuer Fall.“ Sie schob sich mit ihrem Zeigefinger die Brille auf die Nase, Entschlossenheit kehrte auf ihre Gesichtszüge zurück. „No new case. Just a little expedetion into my past... ich bin hier, um ein paar Details eines alten Falls zu beleuchten.” Sie seufzte leise. „Ich bin hier, um einer Person einen Besuch abzustatten, die deinem Vater und auch deiner Großmutter nur allzubekannt war. Sharon Vineyard. Oder wie sie sie nannten... Vermouth.“ Sayuris Augen weiteten sich. „Aus deiner Reaktion schließe ich, du kennst den Namen?“ Jodie musterte sie prüfend, kniff die Augen zusammen. Das Mädchen nickte stockend. „Ja.“ Die blonde Agentin strich sich gedankenverloren über ihren Blazer. „Weißt du... dein Schicksal ist meinem nicht ganz so unähnlich. I... lost my father as well. And his murderer was her... Vermouth. Sie tötete meinen Vater im Auftrag der Organisation, so wie Gin den deinen. Und ich bin heute hier, um von ihr Rechenschaft zu holen. Ich will wissen, warum sie das getan hat. Warum sie meine Eltern umgebracht hat, und auch mich getötet hätte, mich… das kleine Mädchen, das ich damals war… I was lucky, I survived…“ Ihre Stimme verlor sich, dann fasste sie sich wieder. „Und um ihr... zu sagen, was ich über sie denke. Und wenn ich mir dich so ansehe...“ Sayuri merkte, wie ihr Magen sich zusammenzog, ihre Fingerspitzen eiskalt wurden, diese Kälte sich ausbreitete, über ihre Hände, hoch über die Arme, bis sie ihr Kiefer zusammenpressen musste, damit man ihre Zähne nicht klappern hörte. Nervosität, Angst, Anspannung; diese drei Gefühle übernahmen die Kontrolle über sie. „You should accompany me. You really should. Sie soll sehen... soll sehen, was sie und ihr Verein angerichtet haben. Gerade sie, die immer behauptete, sie hätte Shinichi gemocht... ihn und deine Mutter. Sie nannte sie Angel, wusstest du das? Sie nannte deine Mum ihren Engel… Sie sollte sich entschuldigen bei dir, dafür, dass du ihn nie kennenlernen durftest. Sie sollte dir erklären, warum du ihn nicht haben durftest.“ Jodies Haltung verkrampfte sich leicht, Anspannung sprach aus ihr, als sie auf die Antwort seiner Tochter wartete. Sayuri holte tief Luft. Dann nickte sie. Sie sagte nichts; nickte nur. Und folgte der Agentin, als diese sich ein Taxi heranwinkte. James löste sich aus dem Schatten, warf die fertig gerauchte Zigarette weg, stieg in seinen Mietwagen. Ob das eine gute Idee ist, Jodie... Er ließ den Motor an, zog seine Zigarettenschachtel aus der Innentasche seines Sakkos, fischte mit zwei Fingern eine weitere Zigarette heraus, entzündete sie mit dem Zigarettenanzünder des Autos und steckte sie zwischen die Lippen. Er paffte ein wenig, blies die blauen Rauchwolken ins Wageninnere, dann fädelte er sich in den Verkehr ein; er hatte es nicht eilig. James kannte ihr Ziel. Jodie saß mit ihr auf der Rückbank des Taxis und schwieg, betrachtete das Mädchen eingehend, sich der Tatsache wohl bewusst, dass es wohl sehr unhöflich von ihr war. Aber sie konnte nicht ihre Augen von ihr wenden; sie sah ihm so unglaublich ähnlich. Die Ponyfransen, die ihr in die Stirn hingen, ein wenig abstanden, widerspenstig wie wohl auch der Geist, der sich hinter ihnen versteckte, ab und an war; sie hatte sie eindeutig von Shinichi. Und dieser Blick, diese Augen... Es musste die Hölle auf Erden sein für Ran. Täglich in diese Augen zu sehen, in seine Augen... und zu wissen, dass er nie wiederkommen würde. Dass dies nicht seine Augen waren. Jodie erinnerte sich an den Tag noch, wie als ob es gestern gewesen wäre… der Tag seiner Rückkehr. Sie sah ihn deutlich vor sich, an den Abend, nachdem sie die Organisation ausgehoben hatten, und sie, James und Shuichi ihn vom Präsidium zu den Môris gefahren hatten, damit er die Beichte seines Lebens ablegen konnte. Er hatte die ganze Fahrt über kein Wort gesprochen, die Lippen verkniffen, seine Augen starr. Jodie, die neben ihm im Fond des Wagens gesessen hatte, hatte nur den tief besorgen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen. Er hatte Angst gehabt, das war deutlich zu spüren gewesen. Angst, dass er sie verloren hatte, durch seine Lügerei. Angst, dass sie ihm das nicht verzeihen konnte. Shinichi hatte Ran geliebt, wirklich geliebt, man hatte es sehen können, hören können, wenn er über sie sprach und allein was er ertragen hatte, um sie zu schützen, sprach Bände. Es war offensichtlich gewesen, dass er sich ein Leben mit ihr wünschte, er hatte so viel auf sich genommen, um sie in Sicherheit zu wissen, wo er sich selber in Schwierigkeiten gebracht hatte und hatte gehofft... gehofft, dass die Konsequenzen für diese Lüge sich im Rahmen halten würden. Dass sie ihm vergab. Er war sich dessen nicht sicher gewesen, das hatte man ihm angemerkt. Shinichi war klar gewesen, dass Ran… jeden Grund gehabt hätte, ihm nicht mehr zu vertrauen. Wer einmal so gelogen hatte, konnte es wieder tun. Sie hatten angehalten, vor der Detektei, als die Sonne langsam unterging. Ran war aus dem Haus gestürmt, kaum dass er ausgestiegen war; sie musste das Auto vom Fenster aus kommen sehen haben, die Lösung ihres Falles war groß in den Nachrichten gekommen, sie hatte gewusst, dass er wieder da war. Er war stehen geblieben, hatte nichts gesagt, nur die Arme leicht abwehrend ausgestreckt um sie auf Abstand zu halten; er hatte nicht gewollt, dass sie etwas tat, das sie bereuen könnte, wenn er ihr seine Geschichte fertig erzählt hatte. Ran war stehen geblieben, als sie seine abwehrende Haltung bemerkt hatte, schaute ihn verwundert, vielleicht auch ein wenig verletzt an. Shinichi war da gestanden, die Schultern hängend, den Blick gesenkt. Dann hatte er tief Luft geholt… und nur einen Satz gesagt. Einen einzigen. Ich war Conan Edogawa... Ran. Erst dann hatte er es gewagt, den Blick zu heben; Jodie hatte nicht erkennen können, welchen Ausdruck Ran auf seinem Gesicht gesehen hatte; er hatte ja mit dem Rücken zu ihr gestanden. Aber sie hatte geahnt, dass es ein Ausdruck tiefster Schuld gewesen sein musste. Und Reue. Denn nur dadurch... und nur dadurch... war Rans Reaktion nachvollziehbar gewesen. Das Mädchen war nur auf ihn zugegangen, Schritt für Schritt; sie war nicht gerannt, aber ihr Schritt war entschlossen und sie hatte auch nicht innegehalten, bis sie ihre Arme um ihn hatte schlingen können, ihn an sich zog und ihren Kopf an seinem Hals vergrub. Das Seufzen, das ihre Lippen verlassen hatte, als er seine Arme um sie legte, sie an sich presste, war deutlich hörbar gewesen. Es hatte ausgesehen, als ob eine tonnenschwere Last von seinen Schultern fiel. Ab diesem Tag waren sie unzertrennlich gewesen; und glücklich. Jodie hatte sich gut gefühlt, ein nie gekanntes Hochgefühl hatte sie ergriffen, und sie hatte in den Gesichtern von James und Shuichi das gleiche gelesen; Freude und Erleichterung. Es war wieder zusammen, was zusammengehörte, das Gute hatte gesiegt, die Welt war wieder im Lot. Alles bestens. Und dann... hatte sie vor fünfzehn Jahren von seinem Tod erfahren. Und die Todesursache. Aus einem Brief seiner Eltern. Ihr hatte sich der Magen umgedreht, in ihrem Büro in New York. Lange hatte sie es nicht glauben können; es schien so unwirklich, und auch so unglaublich ungerecht- Das Gute hatte am Ende doch nicht gesiegt... der finstere Bösewicht hatte den Helden dieser Geschichte letztendlich doch noch getötet; er hatte seine späte Rache bekommen. Das war doch kein anständiges Ende für eine solche Geschichte. Die Nachricht von Shinichi Kudôs Tod hatte ihr Weltbild ins Wanken gebracht; sowas hätte nicht nicht passieren dürfen denn das stimmte so nicht, das war nicht richtig; es war so falsch... So entsetzlich falsch. Das Happy End nachträglich noch zu verdrehen, zu verkehren, ad absurdum zu führen... Das war nicht richtig. Das war nicht gerecht. Sie war den Rest des Tages zu nichts mehr zu gebrauchen gewesen, hatte nur noch an ihn und an Ran gedacht. Und nun, heute, fünfzehn Jahre später, saß sie mit seiner Tochter im Fond des Taxis, hatte das Déjà-vu ihres Lebens und wusste doch, dass die Situation eine andere war als damals mit ihm; Sayuri war nicht hier, um ein Geständnis zu machen. Sie wollte wissen. Sie würde diejenige sein, die die Fragen stellte; und andere würden ihr Geständnisse machen. Wahrscheinlich wollte sie auch einfach jemanden kennenlernen, von ihnen... von der Organisation. Es war klar, dass sie sie verteufelte, dieser Ausdruck von unterdrückter Wut in ihren Augen, als sie die Frage gestellt hatte, ob sein Opfer das alles wert gewesen war, war unübersehbar gewesen; und nun war sie auf dem Weg zu jemandem, der wirklich Schuld war an seinem frühen Tod. Und damit Schuld an der Tatsache, dass sie ohne Vater aufwachsen musste. Jodie merkte, wie sich Sayuris Haltung verkrampfte. Ihre Fäuste sich langsam ballten. Sie seufzte leise. „Bleib ruhig. Sie kann dir nichts tun; du bist diejenige, die die Fragen stellen wird. Sag mal… Wie... wie heißt du eigentlich?“ Sayuri blinzelte, schaute sie überrascht an, merkte, wie ihr dann langsam das Blut ins Gesicht stieg. „Sa... Sayuri.“, murmelte sie. „Entschuldigen Sie bitte, ich war sehr unhöflich, mich nicht gleich vorzustellen, ich...“ Die FBI-Agentin lachte leise, lächelte sie dann warm an. „Don’t worry, darling. Mach dir nichts draus, das ist doch kein Problem!“ Sie strich sich ihren Rock glatt. „Wirklich, das ist nichts, das dich beunruhigen sollte, Sayuri.“ Sie seufzte, schaute kurz aus dem Fenster. „Ein schöner Name.“ „Er hat ihn ausgesucht.“, wisperte das Mädchen, schluckte. Jodie legte ihr kurz die Hand auf die Schulter, drückte sie sacht. „Er hatte Geschmack.“ Beruhigt bemerkte Jodie, wie ein kurzes Lächeln über ihre Lippen huschte. Dann zog etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich; und zwar die Stimme des Fahrers. „Miss, wir sind angekommen.“ James parkte etwas abseits, beobachtete die beiden Personen, die aus dem Taxi stiegen. Jodie bezahlte den Fahrer, wartete dann auf Sayuri, die den Wagen umrundete und machte sich mit ihr auf den Weg zum Eingang. Der Pförtner nickte beim Anblick des Besuchervisums, stellte offensichtlich keine Fragen, als er Sayuri sah; wahrscheinlich hatte Jodie sie als ihre Tochter ausgegeben und da sie noch minderjährig war, brauchte sie auch kein Visum. Er seufzte, lehnte sich im Wagen zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete, wie das düstere Gebäude die Frau und das Mädchen verschluckte. Jetzt hieß es warten… Abschiede --------- Einen wunderschönen Tag wünsch ich euch, meine lieben Leserinnen und Leser! Es freut mich ehrlich, dass ihr immer noch dabei seid! Und mir auch immer noch kommentiert - Hut ab, ehrlich. Vielen, vielen Dank, ich kanns gar nicht oft genug sagen. *verbeug* Nun. *räusper* In diesem Kapitel nun geht es um, wie der Titel schon sagt, Abschiede. Es kann sein, dass es an manchen Stellen fast ah... böses Wort... kitschig ist, für manche, ich denke, das hängt vom subjektiven Empfinden ab. Andere werden vielleicht glauben wollen, ich hüpfe mit aller Gewalt auf ihrer Tränendrüse herum. Ganz ehrlich, ich kann das nicht beurteilen, auch wenn oder gerade weil ich es geschrieben habe; es ist wohl traurig, was jetzt kommt, das liegt in der Natur der Sache. Wie nah oder fern mancher am Wasser gebaut ist, wie rührend oder rührselig es ist, mag jeder für sich ergründen. ^.~ In diesem Sinne viel Vergnügen mit dem vorletzten Vergangenheitskapitel und damit verlasse ich euch, in der düsteren Vorahnung, was übernächste Woche zu lesen sein wird... Machts gut, wir sehen uns (hoffentlich) nächste Woche mit Sharon wieder, Viele liebe Grüße, Eure Leira ^-^ ______________________________________________________________________ Kapitel 30: Abschiede Vergangenheit Der Karton war groß genug. Shinichi stand in seinem Büro, hielt sich den Handrücken an die Nase, atmete tief ein, versuchte, das Brennen in den Augen zu bekämpfen und den Kloß im Hals hinunterzuschlucken. Er wusste, viel Zeit blieb nicht mehr; er musste es jetzt tun, sonst könnte es bald zu spät sein. Er seufzte tief, fasste sich, dann sortierte er seine Bücher durch, nummerierte sie sorgfältig, begann, sie in den Pappkarton zu stapeln. Ran stand an der Tür und sah ihm zu. Sie hielt die Kleine auf dem Arm, schaute ihm zu, streichelte ihr mit einem Finger gedankenverloren über die kleine Hand, die sie in ihren Pullover gekrallt hatte. Er hatte die Bücher nicht mehr angefasst, seit er die letzte und die erste Seite geschrieben hatte, das wusste sie. Er hatte einen Schlusspunkt gesetzt und dabei sollte es bleiben. Er hatte seiner Tochter nicht auch noch einen Bericht schreiben wollen, wie sehr er die Zeit mit ihr genoss; erstens, weil er es als sinnvoller empfand, jede Minute, die er hatte, mit ihr persönlich zu verbringen, ihr der Vater zu sein, der er sein wollte und den sie verdiente… und zweitens, weil er es als seelische Grausamkeit ansah, ihr zu schreiben, wie schön das alles war, und sie davon beim Lesen nichts haben würde als einen bitteren Geschmack im Mund. Und er wollte ihr die Abschiede ersparen. Dass er jetzt also die Bücher einpackte, hieß nur eines - Shinichi regelte seine Angelegenheiten. In ihr krampfte sich etwas zusammen. Als er sich aufrichtete, um nach dem ersten Päckchen zu greifen, sah er sie in der Spiegelung eines Vitrinenfensters. Langsam drehte er sich um. „Ran…“ Sie sah ihn an, schluckte schwer. Man sah ihm die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stehen. Er sah so furchtbar müde aus. Sie biss sich auf die Lippen, wandte den Blick jedoch nicht ab. Er seufzte leise, nährte sich ihr mit langsamen Schritten, gab der Kleinen einen Kuss auf die Stirn, strich ihr über ihre kleine Faust. Sie öffnete die Finger, griff blitzschnell zu. Ein sanftes Lächeln schlich sich auf seine Lippen, dann bog er vorsichtig ihre Finger wieder auseinander. Sie gab einen leisen, quengelnden Laut von sich. „Sie will dich auch nicht gehen lassen.“ Rans Stimme war fast nicht zu hören. Shinichi schaute auf, zupfte ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, gab ihr einen zarten Kuss auf die Lippen, schaute ihr dann bedauernd in die Augen. „Sie hat aber mein Leben genauso wenig in ihrer kleinen Hand wie du… oder ich.“ Er seufzte leise, steckte seine Hände in seine Hosentaschen. „Hör zu Ran, ich bitte dich nicht gern darum, aber…“ „Du willst allein sein?“ Er nickte nur schweigend. Ran verlagerte Sayuri ein wenig, drückte sie an sich. „Und wann kommt… wann kommt Heiji?“ Ihre Stimme schwankte. Shinichi warf einen schnellen Blick auf die Uhr. „Um halb drei. Jetzt ist es grad mal halb neun…“ Sie schluckte, man merkte ihr ihren Widerwillen an. Sie wollte ihn nicht alleinlassen, eigentlich. Da sie ihn liebte, tat sie es doch. „Also gut… dann geh ich jetzt. Ich könnte Kekse backen.“, murmelte sie. Er schenkete ihr ein aufmunterndes Lächeln, merkte doch, wie es auf seinen Lippen gefror. Er griff nach der Tür, zog sie ein wenig zu sich. „Ja, könntest du, Kazuha freut sich bestimmt. Aber überanstreng dich nicht… bitte. Leg dich doch einfach mal hin… und ruh dich aus…“ Sie nickte geistesabwesend, drehte sich gerade um, als ihr noch etwas einfiel. „Shinichi, wenn was…“ „Dann ruf ich…“ Er schloss die Tür. „… bestimmt nicht nach dir… Ran…“ Einen Moment schaute er die geschlossene Tür noch an, ließ seine Hand auf dem kühlen Holz ruhen; dann wandte er sich wieder seinem völlig überfüllten Schreibtisch zu. Heute war der Tag des Abschieds. Ohne ein Lebewohl wollte er nicht gehen; also würde er heute einem nach dem anderen adieu sagen. Er schluckte, dann straffte er die Schultern und schichtete die Päckchen für seine Tochter in den Karton, zwanzig an der Zahl; je eins für jeden ihrer Geburtstage. Als er damit fertig war, war der Tisch schon bedeutend leerer. Er klebte die Schachtel zu, verschnürte sie mit Paketschnur und schob sie ein wenig zur Seite, hob einen anderen Karton auf die Tischplatte, machte ihn auf. Darin befanden sich die Sachen, die er vererben wollte, allerdings bevor er starb. Und mit Shiho und dem Professor fing er an. Heute Nachmittag kam Heiji. Am Abend seine Eltern. Er hielt sich den Kopf. Gedanken strömten auf ihn ein, Bilder, die ihm den heutigen Tag vor Augen führten. Es war so vorhersehbar, wie der heutige Tag verlaufen würde… Tränenreich und schmerzvoll. Shinichi stöhnte leise, strich sich über das Gesicht. Ihnen allen Lebewohl sagen, die Päckchen überreichen und gehen… Das würde nicht einfach werden. Ganz und gar nicht einfach. Aber ohne Lebewohl gesagt zu haben, wollte er nicht gehen. Das schien ihm nicht richtig, nicht, wo er doch diese Chance hatte… sich ordentlich zu verabschieden. Also musste er da wohl durch. Und heute schien der richtige Tag dafür zu sein. Er zog einfarbiges, grünes Paketpapier hervor. Sayuris Geschenke hatte er vor Wochen schon eingepackt, in schönes, gemustertes Papier; aber für diese Abschiedsgeschenke wäre das nicht unbedingt geeignet. Er kippte den Karton um, machte ihn auf und grinste unwillkürlich, auch wenn ein Hauch Zynismus sich nicht von seinen Zügen verabschieden wollte. Die Zeit war seltsam gewesen… einerseits sehr lehrreich, irgendwo auch schön… andererseits hatte sie sein Leben ruiniert. Vollständig ruiniert. Seine Zeit als Conan Edogawa… und es waren Conans Sachen, die in dieser Schachtel aufbewahrt worden waren. Die Brille, die Fliege, das Skateboard, die Schuhe, das komische Lunchpaket-Faxgerät, das er ein einziges Mal verwendet hatte, die Hosenträger, das Narkosechronometer, das ihm unzählige Male bei der Fallauflösung unersetzlich gewesen war, den Fußball-Gürtel, das Ohrringtelefon und sein Detective-Boys-Abzeichen. All diese Dinge, die ihm so wertvolle Hilfe geleistet hatten während seiner Zeit als Conan Edogawa, würde er dem Professor heute zurückgeben. Das alles, zusammen mit einem Brief und noch einer Sache, die er besorgt hatte. Einer Erinnerung. Fertig verpackt lag sie auf dem Schreibtisch. Er nahm das Päckchen, legte es zu den anderen Sachen in den Karton und verschloss ihn, packte ihn ein. Shihos Geschenk hatte er heute Morgen erst besorgt. Er ging um den Tisch herum und schaute in den Karton, der mit einem alten Pullover von ihm ausgepolstert war. In der Kiste schlief ein Kätzchen. Er wusste, Shiho war tierlieb. Und er wusste auch, von selber würde sie sich nie eine Katze kaufen. Also hatte er ihr eine gekauft… etwas, an dem sie sich noch ein wenig festhalten konnte, wenn… ja wenn… Er holte tief Luft, schaute an die Decke, stemmte die Hände in die Hüften und rang erneut um Fassung. Dann lenkte ein leises Geräusch seine Aufmerksamkeit wieder auf den Inhalt des Kartons. Ein leises Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als das Katzenbaby seine kleinen Krallen im Schlaf ausfuhr und in die Wolle grub. Shinichi bückte sich, hob die Schachtel hoch. Die Katze öffnete träge ein Auge, miaute zart. „Na, Tigerchen?“ Er streichelte ihr mit zwei Fingern über ihr graublau getigertes Fell. Sie blinzelte, schaute ihn an. Shinichi seufzte, stellte die Kiste auf das ausgeschnittene Packpapier und bog die Kanten hoch, befestigte die Enden in der Kiste. Richtig einpacken konnte er den Karton ohnehin nicht, schließlich wollte er die Katze lebend verschenken, aber es sollte doch aussehen, wie ein Geschenk; also ließ er die obere Seite offen, verklebte die Kanten des Papiers an der Innenseite, unter den wachsamen Augen des Miezekätzchens. Der wurde es anscheinend irgendwann zu langweilig, und sie stand auf, begann, seine Hand zu fangen. Erst lachte er darüber, fand es durchaus amüsant, dann schimpfte er, weil es ihn störte und aufhielt und irgendwann hatte er dann doch mit viel Klebeband alles festtapeziert. Entnervt seufzte er auf, schaute die kleine Mieze noch einmal an, dann holte er ein weißes Schleifenband und band es außen um die Schachtel zu einer Schleife. Sie Katze stützte sich auf die Hinterbeine, versuchte sich mit den Vorderpfoten aus der Kiste zu ziehen. Er schubste sie mit einer Fingerspitze wieder hinein. „Nichts da. Ausbüxen is‘ nicht.“ Er griff auf den Tisch, zog den Brief für Shiho zu sich und schob ihn sich in die Sakkoinnentasche. Dann nahm er Agasas Geschenk unter den Arm, hielt Shihos Katze mit dem anderen am Körper fest, um kurz eine Hand frei zu haben, um die Tür aufzukriegen. „Ran?“ Sie erschien in der Küchentür, hatte sich eine Schürze umgebunden, an der Mehlstaub klebte. „Ich bin dann mal kurz weg. Könntest du..?“ Er nickte zur Tür. „Klar.“, sie eilte an ihm vorbei, öffnete die Haustür, warf einen Blick in den Karton. „Ist die aber süß…!“ Ran strahlte in den Karton, strich dem Kätzchen über den Kopf. „Also bis später.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, winkte ihm nach, als er um die Ecke bog. Sie wusste, dass der Gang, den er jetzt antrat, nicht einfach war. Sie wusste es… weil sie es jeden Abend mitmachte. Jeden Abend aufs Neue Angst hatte… Jeden Abend die gleiche Prozedur mitmachte, wenn auch für sich und nur in Gedanken… Abschied. Er seufzte tief, sobald er außer Sichtweite war. Er wusste nicht, was ihm lieber war; wenn Ran ihre Trauer offen zeigte oder versuchte, sie um seinetwillen zu überspielen. Im Prinzip hatte es ihm egal zu sein… was immer ihr half, damit fertig zu werden, würde er akzeptieren… unterstützen. Dann verdrängte etwas anderes seine Gedanken an Ran; er stand an der Gartentür von Professor Agasas Anwesen und merkte, dass ihm unglaublich flau im war Magen, wenn er daran dachte, was er jetzt gleich tun musste. Ihm wurde fast übel, er spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, seine Finger kalt wurden. Dann klingelte er bei Agasa am Tor, indem er sich an den Klingelknopf lehnte. Nach ein paar Augenblicken erschien der alte Mann höchstpersönlich an der Tür. „Shinichi?“ Er eilte den Gartenweg herunter, öffnete das Tor. „Shinichi, Hallo! Schön… schön dich zu sehen…“ Der Angesprochene starrte ihn zuerst einmal wortlos an, dann nickte er. „Ich freu mich auch, Sie zu sehen. Haben Sie und… und Shiho vielleicht ein wenig Zeit für mich?“ „Aber immer…“ Der Professor schluckte. „Kann ich dir… was abnehmen?“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Nein, es geht schon. Sie müssten mir nur… nur die Tür aufhalten.“ Der alte Mann nickte, lief voran. „Wie geht’s Sayuri?“ „Prächtig, Danke.“, murmelte Shinichi. Agasa sah ihn von der Seite her an. Er ahnte, weswegen Shinichi gekommen war. Und deswegen fragte er auch nicht weiter, sondern schwieg, würde warten, bis Shinichi von sich aus anfing. Ein paar Minuten später saß er auf dem Sofa, neben sich den Karton mit der mittlerweile wieder eingeschlafenen Katze, die Agasa mit einem verwunderten Blick registriert hatte, vor einer Tasse Tee und wartete auf Shiho und den Professor, der auf der Suche nach ihr verschwunden war. Ihm war schlecht. Gerade eben überlegte er es sich zum fünften Mal, ob er nicht einfach wieder gehen sollte, als die Tür zum Wohnzimmer aufging und Agasa mit der rotblonden Forscherin im Schlepptau auftauchte. Sie weinte. Sie weinte jetzt schon, und er hatte den Mund doch noch gar nicht aufgemacht. Er stand auf, ging um den Tisch herum, zog sie wortlos in die Arme, und sie fing an zu schluchzen. Shinichi warf dem Professor einen bedrückten Blick zu, streichelte der jungen Frau in seinen Armen dann etwas hilflos über den Rücken, zog sie zu dem Sessel neben dem Sofa, in dem er gesessen hatte, drückte sie in die Kissen und fing an, ihr beruhigend zuzureden. Der Professor nahm auf dem anderen Sessel Platz. Nach ein paar Minuten hatte Shiho sich wieder soweit gefangen, dass sie ihm ins Gesicht sehen konnte und verstand, was er sagte. Shinichi rutschte auf dem Sofa ein wenig zurück, trank einen Schluck Tee, als er merkte, wie ausgetrocknet sein Mund war, ehe er zu sprechen begann. „Ich nehme… nehme an… ihr wisst, warum ich hier bin…“ Seine Stimme brach. Er wandte kurz den Kopf ab, biss sich auf die Lippen, versuchte sich zu sammeln. „Ich meine, wir müssen uns nichts vormachen, wir wissen alle, dass… dass… dass es nun nicht mehr allzu lange dauern wird, bis…“ Er seufzte. „Bis… bis ich… gehen muss…, und deswegen… deswegen wollte ich mich verabschieden, solange ich es noch kann…“ Shiho schluchzte erneut auf, unterdrückt diesmal, presste sich die Finger an die Lippen; und auch Agasas Augen begannen, langsam glasig zu werden. Shinichi starrte betrübt, fast verzweifelt von einem zum anderen. Verdammt noch mal, jetzt macht es mir doch nicht so schwer…! Seine Lippen begannen zu zittern und er kniff sie zusammen, um keine Schwäche zu zeigen. Das würde es ihnen auch nicht unbedingt einfacher machen. Er krallte seine Hände in das Sofakissen, schluckte. Shiho neben ihm starrte an die Decke, hielt die Luft an. Tränen perlten aus ihren Augenwinkeln, ihre ganze Statur war verkrampft. Professor Agasa zog ein Taschentuch aus seinem Kittel, wischte sich über die Augen und blies sich vernehmlich die Nase. Shinichi holte Luft, räusperte sich geräuschvoll und schluckte. Es half nichts, er musste es hinter sich bringen. Er wollte es ja. Und deshalb fing er an, mit leiser Stimme zu reden. „Ich wollte… wollte mich bei euch bedanken. Für… für eure Unterstützung in den letzten Jahren, insbesondere während der Zeit als Conan und… und in den letzten Monaten. Und Shiho…“ Er schaute sie an. „Shiho!“ Langsam wandte sie ihm ihren Blick zu. In ihren blauen Augen spiegelten sich Trauer und Schmerz. „Shiho, gib dir nicht die Schuld… bitte…“ Er schaute sie flehend an. „Bitte… ruinier dir nicht dein Leben damit, ich bitte dich… du hast noch so viel vor dir.“ „Aber du nicht!“ Es platzte einfach aus ihr heraus. „Aber du nicht!!“ Ihre Augen waren gerötet, ihre rotblonden Haare schienen wie elektrisiert. In ihr kochte die Wut, Wut auf sich selber und Wut auf ihn, der immer noch so unglaublich nett und nachsichtig mit ihr war. „Aber dafür kannst du nichts.“ Er versuchte, sie zu beschwichtigen. Er scheiterte. „Doch.“ Sie starrte ihn ein zornig an. „Doch, das kann ich. Ich bin schuld. Ich habe an dem Gift weitergeforscht, ich hab’s getan! Ich hätte es lassen können, aber ich hab nicht die Finger davon gelassen! Du kannst es drehen und wenden, wie du willst, aber ich bleibe schuldig… Himmel noch mal, Shinichi, lass mir doch meinen Hass auf mich selbst, wenn du mich schon nicht hassen willst, ich…“ „Nein.“ Er schaute sie fest an, blinzelte nicht. Sie stutzte. „Nein, das werd’ ich nicht zulassen.“ Ein leiser Hauch von mitleidigem Spott schlich sich in ihren Blick. „Das wirst du nicht verhindern können. Ich bin deine Mörderin, und als solche werde ich mich mein Leben lang fühlen. Ich hab den besten Menschen, der jemals meinen Weg gekreuzt hat, getötet. Ich hab das personifizierte Gute kaputtgemacht. Ich hab die Hand, die mich auf die Beine gezogen hat, gebrochen… ich hätte doch früher merken müssen, das was nicht stimmt… ich hätte das Gegengift nicht so oft an dir ausprobieren dürfen… ich…“ Sie lachte bitter. „Was bin ich für eine Freundin. Und du kommst extra noch, um dich von mir zu verabschieden. Von mir! Verdammt noch mal, das solltest du dir nicht antun! Ich seh dir doch an, wie schwer dir das fällt, wie du dich quälst, wenn du den Professor und mich so sitzen siehst, und…“ „Halt die Klappe, Shiho!“ Er war aufgesprungen, atmete heftig. In seinen Augen funkelte es gefährlich. „Wenn ich noch einmal so einen Mist von dir höre…!“ Er schrie sie fast an. „Du hast das Gift weiterentwickelt, schön! Vielleicht hast du auch ein paar Menschen auf dem Gewissen, ich weiß nicht, was du in deinem Labor getrieben hast. Und ich will’s auch gar nicht wissen. Das war Sherry, und die kannte ich nicht; das warst nicht du. Du…“ Seine Stimme wurde wieder leiser. „Du, Shiho, hast mir das Gift nicht gegeben. Das war Gin. Du wolltest mich damit nicht töten; das war Gin. Dich trifft an meinem Schicksal keine Schuld; du hast es nicht bewusst herbeigeführt. Also ich bitte dich, ich flehe dich an, hör auf mit deinem Hass! Du zerstörst dich selbst damit! Das will ich nicht…“ Er zitterte, merkte, wie sein Kreislauf absackte. Er tastete nach hinten, ließ sich langsam wieder aufs Sofa sinken. „Ich will das nicht.“, wiederholte er etwas ruhiger. Shiho schaute ihn gleichermaßen betroffen und besorgt an. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Kitteltasche, beugte sich vor, wischte ihm vorsichtig den kalten Schweiß von der Stirn. „Shinichi…“ Sie seufzte den Namen. „Shinichi, es tut mir Leid… ich wollte dich nicht aufregen, bitte…“ Er wischte unwillig ihre Hand beiseite. Er hasste es, wenn man ihn so bemutterte. Shiho schluckte. „Aber du musst doch verstehen… wie scher das ist für mich. Wie unerträglich der Gedanke. Ich meine, ich seh dich… ich seh Ran… ich seh die Kleine…“ Sie biss sich auf die Lippen. „Ich sagte immer, ich wünschte du hasst mich, das… das stimmt nicht.“ Er legte den Kopf schief. „Ich bin so froh, dass du mich nicht hasst…“ Sie schluckte, presste die Lippen zusammen. „Aber ich muss mich hassen, verstehst du? Sonst dreh ich durch. Ich muss jemandem die Schuld geben, und ich seh keinen anderen, weit und breit… denn Gin hätte dich ohne das Gift nicht in diese Lage bringen können. Also… lass mich bitte…“ Shinichi seufzte tief, schaute sie betroffen an. Sie schüttelte den Kopf, fuhr fort. „Ich… ich bin… wirklich dankbar, dass du bei mir warst… und geblieben bist… “ Sie schluckte die Tränen, die ihr wieder in die Augen stiegen, hinunter. Er setzte sich langsam wieder auf, und sie steckte ihr Taschentuch wieder ein. „Ich bin so unendlich froh und so unglaublich dankbar, jemals einen Freund gehabt zu haben, wie dich. Du hast mir so viel gegeben, zu viel, als dass ich es dir je zurückgeben hätte können… ich… es tut mir Leid…“ Er schaute sie müde an. „Du hörst also nicht auf damit… mit deinem Selbsthass?“ „Das kann ich nicht…“ „Shiho…“ Er schaute sie traurig an. „Hör zu… das kann ich nicht… aber ich… ich werd mich nicht zugrunde richten damit, wenn es dir damit besser geht… wenigstens das kann ich dir versprechen.“ Aber ich werde mich ein Leben lang quälen damit. Er schaute sie prüfend an. Betrübt schüttelte er den Kopf. „Es hat keinen Sinn, oder? Weiter zu versuchen, dich dazu zu bringen, es nicht als deine Schuld zu sehen…“ „Nein. Dafür… dafür hast du mir zu viel Gutes getan, und dafür musst du jetzt auf zu viel Gutes verzichten, als dass ich mich nicht irgendwie schuldig fühlen könnte.“ Sie lächelte bitter. „Ich… ich werde dich so vermissen, wenn du weg bist… du warst der beste Freund, den ich je hatte… der erste, neben meiner Schwester, der sich je um mich geschert hat… die Tatsache, dass ich zumindest Teilschuld habe, an deinem Schicksal, an deinem… Tod… und streits jetzt nicht ab, bitte… wird mich mein Leben lang quälen. Nicht nur, weil ich dir so unendlich viel genommen habe damit… so viel… so viel… Sondern auch weil ich jetzt ohne dich leben muss… weil ich auf deinen Rat, deine Schulter verzichten muss… Shinichi… das kann ich nicht vergessen… weil ich dich nicht vergessen kann…“ Er schluckte, legte ihr einen Finger auf die Lippen, damit sie schwieg. „Du sollst mich auch gar nicht vergessen, Dummkopf. Du sollst nur das tun, was ich nicht tun kann; leben, Shiho.“ „Wenn… wenn es dir so viel bedeutet…“ „Das tut es.“ Shiho seufzte. „Na gut… dann… werde ich leben. Für dich.“ Shinichi lächelte. „Dankeschön. Ach ja… für dich.“ Damit zog er die Schachtel zu sich, hob sie hoch, drückte sie ihr in die Hand. Ihre Augen wurden groß vor Staunen, als sie hineinblickte. Ein lautloser Schrei verließ ihre Lippen. Dann fasste sie sich. „Oh…“ Sie hob das kleine Tier heraus. Ihre Hände zitterten, als ihre Finger sich ins weiche Fell gruben. Die Katze blinzelte, miaute leise. „Du schenkst mir eine Katze.“ Sie sah ihn immer noch ein wenig perplex an. Es war klar, dass sie wohl mit allem gerechnet hatte; nur nicht damit. Er grinste schief, zuckte hilflos mit den Schultern. „Tja, ich wusste nicht, was ich dir sonst zum Abschied schenken soll.“ Sie drückte das Tier an sich, gab ihr einen Kuss auf das Köpfchen. Shiho merkte, wie ihre Augen schon wieder feucht wurden, kniff ihre Augen unwillig zusammen, blinzelte energisch. „D… Danke. Ich freu mich. Ehrlich. Ich werd gut auf sie aufpassen…“ Ihre Stimme wurde heiser. „Na, das hoffe ich doch schwer.“ Er zog den Brief aus seiner Sakkotasche, legte ihn auf den Tisch. „Erst lesen, wenn ich…“ Sie starrte ihn an. Dann nickte sie. Und während Shiho ihrer Katze übers Fell streichelte, sich von ihrem Kummer abzulenken suchte, wandte sich Shinichi an Agasa. Der alte Mann sah ihm mit einem Blick an, der jenseits von Kummer und Schmerz lag. „Shinichi.“, murmelte er leise. „Shinichi, ich hätte nie gedacht, dass es einmal so ausgehen würde…“ Der Detektiv versuchte ein Lächeln. „Sie meinen, dass ich vor Ihnen diese schöne Welt verlasse? Nun, Professor...“, er lächelte zögernd, dann biss er sich auf die Lippen, sah kurz beschämt zur Seite. „Nichts für ungut, aber ich auch nicht, wenn ich ehrlich sein soll…“ Shinichi unterdrückte ein Seufzen, schluckte stattdessen. „Ich auch nicht. Aber was sich nicht ändern lässt… lässt sich eben nicht ändern. Und eines Tages muss wohl jeder...“ Er brach ab, legte das Paket vor ihn auf den Tisch, räusperte sich. „Professor…“, begann er dann zögernd. Sein Kopf fühlte sich mit einem Mal so leer an. Alle Worte, die er sich für diesen Moment zu Recht gelegt hatte, waren wie weggeblasen, alle, in Gedanken schön vorformulierten Sätze waren verschwunden, hatten sich in Nichts aufgelöst. Lang hatte er überlegt, was er dem Professor sagen wollte, sagen sollte... es gab so viel, was er ihm noch mitteilen wollte, wofür er ihm danken wollte, schließlich kannten sie sich schon sein Leben lang, aber in seinem Kopf war nichts mehr. Nicht ein einziges Wort war mehr vorhanden. Er versuchte sich zu sammeln, aber es misslang ihm, und zwar gründlich. Mit beiden Händen fuhr er sich übers Gesicht, holte ein paar Mal tief Luft und trank, als auch das nichts half, seinen Tee auf Ex aus, ehe er sich räusperte und erneut ansetzte. „Professor, ich wollte Ihnen danken…“, begann er dann. „Ich hätte das schon viel früher mal tun sollen… ich wollte schon so lange mal Danke sagen, dafür, dass sie für mich da waren… immer… Wenn ich mal wieder Stress mit meinen Eltern hatte... oder sie, wie sie es wohl ausdrücken würden, Stress mit mir hatten... wenn ich allein war, weil sie mal wieder etwas zu beschäftigt waren. Ich danke für die unzähligen Tassen Tee, für die Stunden, in denen sie mir zugehört haben, oder ich auch einfach nur hier rumsitzen konnte. Sie waren immer… da. Egal was es war. Welchen Mist ich auch gebaut hab… gerade auch in der Zeit als Conan. Ich weiß nicht, wie das ausgegangen wäre, hätte ich Sie nicht gehabt... wären Sie nicht da gewesen, ich... Sie…“ Er blickte auf, von seinen zitternden Fingern, sah im Augenwinkel, dass Shiho ihn ansah, schaute dann den Professor mit festem Blick an. „Sie waren wie ein Großvater für mich, Professor Agasa. Dafür wollte ich mich bedanken… ich bin wirklich froh, dass ich sie hatte… wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn nicht…“ Er lächelte hilflos. Agasa strich sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „… wenn nicht Sie gewesen wären…“ „Shinichi…“ Der alte Mann schaute ihn voller Gram an. „Himmel, Shinichi… so sollte das nicht laufen… Die Jugend sollte das Alter gehen sehen, nicht umgekehrt... es sollen doch nicht die Kinder vor den Eltern... sterben... so sollte das nicht sein...“ Seine Stimme war rau. Der Detektiv schaute zu Boden, faltete seine Hände locker in seinem Schoß, holte Luft und seufzte tief. „Es… es läuft aber nun mal so…“ Ihn fröstelte. Der Professor schüttelte den Kopf, immer und immer wieder, schien nicht begreifen zu wollen, in welcher Situation er sich befand. Shinichi schluckte, dann griff er über den Tisch, fasste kurz das Handgelenk des alten Mannes. Agasa schaute auf. „Du warst wie der Enkel für mich, den ich nie hatte.“ Der Professor schaute betroffen weg. „Ich hab dich aufwachsen sehen. Ich hab gesehen, wie aus einem Baby ein Kind wurde, aus dem Kind ein Teenager... und dann musste ich mit ansehen, wie du als Teenager im Körper eines Kindes deinen Weg finden musstest. Ich hab gesehen, wie du erwachsen wurdest, und ich hab mich so gefreut, als du mit Ran... entschuldige, jetzt werd ich wohl sentimental…“ Er lächelte entschuldigend. Shinichi nahm seine Hand langsam zurück. Agasa kramte ein Taschentuch aus seinem Laborkittel. „Und dann das! Dann das... das ist nicht fair, das ist nicht richtig, nicht gerecht... du hast so viel riskiert, soviel gekämpft, und der Lohn für deine Mühe ist, dass du deine junge Frau mit eurem Kind allein lassen musst, dass du mit vierundzwanzig Jahren...“ Er schaute ihn gramerfüllt an. Shinichi schrak zusammen, hatte sich jedoch gut im Griff. „...sterben musst.“ Shinichi schluckte, wandte den Blick ab. „So ist das Leben. Es ist nicht fair. Das wissen wir doch.“ Er seufzte, versuchte zu lächeln, zwang sich dazu. „Nun, ich hoffe, sie werden dafür für mich mindestens hundert Jahre alt.“ Agasa lachte leise. „Ich würd mit dir teilen.“ Shinichi schüttelte traurig lächelnd den Kopf. „Ich fürchte, so funktioniert es nicht.“ „Ich weiß, Shinichi.“ Agasa seufzte, strich sich durch die Haare, fing sich langsam wieder. „Wir... werden uns um Ran und Sayuri kümmern, hörst du? Ich wollts dir nur noch mal gesagt haben...“ Shinichi seufzte leise. „Dankeschön.“ Er schaute auf, lächelte sanft. „Im Prinzip sind sie dann jetzt Urgroßvater.“ Agasa blinzelte ihn an. Eine Träne sammelte sich in seinem Augenwinkel. Wie kannst du immer noch so stark sein...? „Stimmt wohl.“ Agasa schluckte, schaute dann auf das Paket. Shinichi bemerkte es. „Sie können es gleich aufmachen oder später, das ist mir… egal, ich überlasse es ihnen…“ Der Professor zog das Band auf, riss das Papier ab, hob den Deckel an und erstarrte. „Mein Gott, Shinichi…“ Der Angesprochne schaute ihn müde lächelnd an. „Ich dachte mir, ich gebe zurück, was ich nicht mehr brauche… und ich will nicht unbedingt, dass meine Tochter damit spielt… Aber ich danke dafür, dass ich sie mir ausleihen durfte.“ Er grinste leicht. „Wie Sie ja wissen, haben mir die Sachen gute Dienste geleistet.“ Der alte Mann nickte geistesabwesend, nahm mal das eine, dann das andere Teil in die Hände, schaute sie an. Dann fiel ihm ein weiteres Päckchen ins Auge. Er zog die kleine Schachtel hervor, wickelte sie aus, klappte sie auf. Darin lag eine Uhr. „Du schenkst mir eine Uhr…?“, murmelte Agasa leise. Shinichi schluckte. „Sie haben doch keine mehr... gingen die eigentlich alle mal für ein Narkosechronometer drauf? Ich seh‘ auf alle Fälle nie eine an ihrem Handgelenk…“ Er seufzte. „Sehr pragmatisch von dir...“ Agasa schaute ihn forschend an. Er konnte sich nicht vorstellen, dass da nicht noch mehr dahinter steckte. „Warum eine Uhr, Shinichi?“ „Das ist nicht nur eine Uhr. Auch ein Kalender. Und ich schenke sie Ihnen deswegen, weil sie meistens die Zeit vergessen, nie eine Ahnung haben, welches Datum wir haben und...“ Er seufzte. „Weil die Zeitmessung eigentlich Nebensache ist. Meinetwegen werfen Sie sie gleich wieder weg. Nutzen Sie jede Minute, die Sie haben, ich hoffe, es werden noch viele sein... andererseits ist so eine kleine Erinnerung an das Wichtige ihm Leben wohl auch nicht verkehrt.“ Shinichi legte den Kopf schief. „Und es schadet sowieso nie, das Datum zu wissen.“ Er grinste. „Sie vergessen jetzt hoffentlich nie wieder einen Geburtstag, und das sind einige. Da wären dann ihr Geburtstag, Shihos Geburtstag Rans Geburtstag, Sayuris Geburtstag, …“ „Dein Geburtstag.“ Shinichi schluckte. „Den dürfen Sie vergessen.“ „Das kannst du dir abschminken.“ Agasa klang leicht verärgert. „Eher werde ich ein anderes Datum aus meinem Kopf verbannen. Aber...“ Er ließ die Armbanduhr durch seine Finger gleiten. „Das ist wirklich eine schöne Uhr. Und wenn ich mir die so ansehe... Agasa starrte die Armbanduhr immer noch wie hypnotisiert an. „... die kann doch nicht…“ „… billig gewesen sein? Nein, war sie nicht. Aber machen Sie sich keine Sorgen, für Ran und Sayuri blieb noch genug auf dem Konto.“ Er lächelte leicht. „Aber schenken sollte man, solange man noch die Reaktionen der Beschenkten sehen kann… nun, ich denke, ich habe gesehen... und ich glaube, ich sollte jetzt… wohl besser gehen.“ Shinichi erhob sich. Agasa starrte ihn überrascht, fast ein wenig entsetzt an. Er wusste nicht, ob er wollte, dass er jetzt ging. Ein seltsames Gefühl befiel ihn. „Willst du nicht noch bleiben?“, fragte er leise. Shinichi schüttelte sachte den Kopf. „Nein... Danke, aber ich glaube wirklich, ich sollte gehen. Und heute Nachmittag kommen auch noch Heiji und Kazuha und abends meine Eltern und... ich hab noch einen langen Tag vor mir.“ Er seufzte schwer, und Agasa und Shiho, die sich nun auch erhoben, konnten die Last auf seinen Schultern fast sehen. Shinichi schluckte, steckte seine Hände in seine Hosentaschen, drehte sich ein letzte Mal um seine eigenen Achse, sich um in dem Haus, in dem er so viele Stunden verbracht hatte, und es machte ihn fertig, das alles zu sehen, die vertraute Umgebung wahrzunehmen und zu wissen, dass er dem hier nun Lebwohl sagte. Nicht nur die großen Abschiede taten weh; nein, auch all die kleinen Dinge stachen und pieksten wie hunderte kleiner Nadeln. Jetzt, wo das Ende nahe rückte, merkte er immer mehr, wie unglaublich viel… er eigentlich verlor. Und wie grausam es war, dass er das wissen musste. Vor der Tür umarmte er den Professor und Shiho noch einmal kurz, dann drückte er die Klinke runter, öffnete sie. Die beiden Bewohner des Hauses sahen ihn sichtlich mitgenommen an. Bevor Shinichi allerdings das Haus ganz verließ, drehte er sich noch einmal um, hielt inne. Sie alle wussten, was jetzt kam. In Professor Agasas Augen war seine Trauer überdeutlich zu lesen. Shiho sah ihn flehend an, schüttelte sacht den Kopf. „Bitte geh einfach. Geh, mach die Tür zu und… und sag’s nicht…“ Er stand in der Tür, schüttelte hilflos den Kopf. „Das könnt ihr von mir nicht verlangen.“, murmelte er leise, versuchte, nicht allzu mitgenommen zu wirken. Aber er wollte es sagen. Wollte es ausgesprochen haben, dieses Wort. Erst dann hatte er sich wirklich verabschiedet; erst dann galt es auch. „Deswegen bin ich doch gekommen… ich kann doch jetzt nicht gehen, ohne…“ Shiho drückte die Katze an sich, stumme Tränen rannen ihr über die Wangen. Agasa stand da, rang sichtlich um seine Fassung. „Bitte Shinichi,… bitte nicht… es muss doch nicht…wer weiß, vielleicht…“ Shinichi starrte auf den Boden, die Hände zu Fäusten verkrampft, ignorierte ihn. Sein Magen drehte sich fast um, als er ansetzte, ihr Betteln ignorierte. „Nein…“, wisperte Shinichi leise, blickte zögernd auf. „Ich will es gesagt haben… für den Fall, dass wir uns nicht mehr sehen…“ Shiho schüttelte erneut den Kopf, presste die Augen zusammen. Shinichi schluckte schwer, strich sich über die Augen. …sag’s nicht… „Lebt… lebt wohl.“ Dann machte er die Tür zu, sah aus dem Augenwinkel noch, wie Agasa sich zu Shiho beugte, die zusammengebrochen war. Lebwohl… Die Endgültigkeit, die dieses kleine Wort besaß war kaum zu ermessen. Nie hätte er daran geglaubt, würde er es jetzt nicht selbst erleben. Langsam sank er gegen das Holz, versuchte sich zu sammeln. Ihr Schrei zerriss ihm fast das Herz, aber er wusste, nicht zu gehen, wäre ein Fehler gewesen. Es nicht zu sagen, wäre ein Fehler gewesen. Es war kein Fehler, die Wahrheit zu sagen, auch wenn es wehtat. Die Wahrheit war nie ein Fehler. Ein Fehler wäre, wenn er jetzt wieder rein ging, um sie zu beruhigen; denn dann würde der nächste Abschied umso schmerzvoller ausfallen. Er musste sich verabschieden, denn dieses Gefühl ließ ihn einfach nicht los. Irgendetwas sagte ihm, dass es höchste Zeit war… Er musste Lebewohl sagen und endlich gehen. Er konnte nicht zurück. Aber es fiel ihm so unendlich schwer, die Menschen, die ihm so lieb geworden waren, in solchem Schmerz zurückzulassen. Allerdings… hatte er wohl kaum eine Wahl. Sehr, sehr langsam stieg er die Stufen herunter, schritt er den Weg entlang. Zum letzten Mal, wahrscheinlich. Öffnete das Tor, schloss es, ging um die Kurve, hinein in seinen Garten. Den Weg rauf zu seinem Haus. Ran öffnete die Tür, bevor er auch nur die Hand nach der Klingel ausgestreckt hatte. Sie sah seine rot geränderten Augen, sein fast kreideweißes Gesicht, seine zitternden Lippen. Man sah ihm an, wie mitgenommen er war. Sie brauchte ihn nicht zu fragen, wie es gelaufen war. Es war ein Abschied gewesen, der Wunden hinterlassen hatte, auf beiden Seiten. Doch während eine Partei nun ihre Verletzungen versorgen konnte, würde die andere noch mehr einstecken müssen. Wortlos streckte sie die Arme nach ihm aus, griff in den Stoff seines Sakkos, zog ihn an sich, so fest es ging. Sie merkte, wie er seinen Kopf an ihrem Hals vergrub, einen Arm um ihre Taille legte, die andere Hand in ihre Haare krallte, und sie an sich presste, so fest, dass es ihr fast weh tat. Sie hielt die Luft an, spürte seine Qualen fast körperlich. „Shinichi…“, wisperte sie. Das Gefühl überwältigte sie fast. Sie ging ein paar Schritte rückwärts, zog ihn mit sich ins Haus, stieß die Tür zu. „Shinichi…“ Sanft strich sie ihm über den Hinterkopf, spürte seinen Atem auf der Haut, in ihrem Nacken. Nie war er ihr verletzbarer erschienen als in diesem Moment. Sie hatte das Gefühl, dass er fallen würde, wenn sie ihn jetzt losließ. Sie drückte ihn an sich, vergrub ihr Gesicht an seinem Hals, versuchte, ihm Halt zu geben. Und langsam lockerte sich sein Griff. Er wich zurück, ein wenig, schaute sie erschüttert an. So sehr hatte er sich nicht gehen lassen wollen. Sie litt ohnehin schon genug wegen ihm, er wollte nicht, dass sie auch noch mit ihm litt. „Ran… ich…“ „Schhhht.“ Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, strich ihm über die Schläfe. „Nicht doch… nicht doch…“ Sie schüttelte den Kopf. „Du weißt es doch… in… in guten wie… in schlechten Zeiten.“ Er kniff die Lippen zusammen, nickte langsam. „Ich danke dir.“ Sie seufzte, näherte sich ihm, langsam, berührte mit ihren Lippen sanft die seinen. „Nicht doch. Dafür hast du mich.“ Er versuchte ein zaghaftes Lächeln, gab es aber bald wieder auf. „Ran, es war entsetzlich… was… was tu ich euch an? Ich… ist es nicht egoistisch von mir, mich verabschieden zu wollen, wo ich euch doch… wo ich euch allen so weh tu damit… Shiho… Shiho, sie war am Ende, gerade eben…“ Shinichi strich sich über die Augen. „Am Ende… Ran. Am Ende. Und was soll ich jetzt… Heiji sagen? Oder meinen Eltern? Ich kann euch das doch… ich sollte irgendwohin…“ Sie hielt ihm den Mund zu, schüttelte energisch den Kopf. „Nein. Du machst das ganz… ganz richtig so. Sie… ich denke, alle… alle würden es eher… furchtbar finden, und traurig, und egoistisch, wenn du nicht Lebewohl sagen würdest, sondern einfach gingest. Wir… wir wissen alle, dass es dir wohl noch viel, viel mehr wehtut als uns…“ Ran streichelte ihm über die Wange. „Ist Heijis Päckchen fertig?“, fragte sie dann. Er nickte leicht. „Na, dann hast du ja Zeit… komm. Die Kekse sind fertig, und eine kleine Lady hat wohl Sehnsucht nach dir.“ Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich. Er schaute sie nur an, als er sich von ihr führen ließ. Sie war so stark, in diesem Moment. Natürlich hatte sie auch schwache Augenblicke, und die zeigte sie auch; dann lag es an ihm, sie zu stützen. Aber in den letzten Tagen, hatte sich das Verhältnis doch gewaltig verschoben. Sie war es, die ihn trug. Ran… ich liebe dich. Es war Nachmittag, als er am Fenster im Wohnzimmer stand und das Auto vorfahren sah. Nach ein paar Keksen und Kaffee und einem Schläfchen, das er mit seiner Tochter abgehalten hatte, die wiedermal auf seinem Bauch eingeschlummert war, als er selbst im Sessel einnickte, fühlte er sich ein wenig, wenn auch nicht viel, besser. Und das war auch nötig, für das, was ihm nun bevorstand. Heiji und Kazuha waren gerade angekommen; sie hatten sich seit der Babyparty in einem Hotel eingemietet und waren seither oft zu Besuch gewesen. Insofern rechnete Heiji nicht damit, was kam, als Shinichi auf ihn zuging, und fragte, ob er mit ihm etwas besprechen könne. Unter vier Augen. Als er dann aber auf die Bank am Küchentisch verfrachtet worden war und sein Freund mit einem Päckchen und einem Brief in der Hand ebenfalls Platz nahm und ihn erst mal lange anschwieg, ahnte er, was heute kommen würde. Und es behagte ihm nicht. Nervös knetete Heiji seine Hände, warf Shinichi einen fast anklagenden Blick zu, der ihm gegenüber am Tisch saß. „Also regelst du jetzt deine Angelegenheiten…“, bemerkte er heiser. „Heiji!“ Shinichi schaute ihn bestürzt an. Er schluckte, schüttelte hilflos den Kopf. „Du wusstest doch, dass irgendwann… der Tag des Abschieds kommt…“ „Aber warum heute?!“ Heiji war aufgestanden, ging unruhig hin und her. Shinichi blieb sitzen, schaute ihn von unten her traurig an. „Weil du genau wie ich weißt, dass jeder Tag der letzte sein könnte…“ Er wisperte es nur. Heiji ließ sich langsam wieder auf seinen Platz sinken. „Aber das hätte es schon seit Wochen sein können, Kudô… warum den heute… warum hast du es auf einmal so eilig…???“ Seine Stimme klang verzweifelt. „Weil ich Lebewohl gesagt haben will…“, murmelte Shinichi. „Nicht dass ich am Ende gehen muss, ohne mich verabschiedet zu haben, Hattori… und außerdem hab ich es nicht eilig, wie du siehst. Hätte ich es eilig gehabt, wär ich vor drei, vier Monaten schon...“ Seine Stimme war kaum hörbar. „Kudô…“ Er starrte ihn betroffen an. „Es tut mir Leid, Heiji…“ Shinichi blickte auf, räusperte sich, setzte dann neu an. „Ich wünsch dir ein schönes Leben mit Kazuha. Untersteh dich, einen Sohn nach mir zu benennen, der Name Shinichi ist längst aus der Mode. Lies endlich Sherlock Holmes, glaub mir, es ist keine Zeitverschwendung. Versuch, nicht immer so aufbrausend zu sein. Bitte… bau nicht so einen Mist wie ich… Du… du musst mir versprechen, dass du auf dich aufpasst, hörst du?!“ „Shinichi…“ Heijis Stimme krächzte. „Versprichs mir! Versprich mir, dass du auf dich aufpassen wirst!“ Shinichi schaute ihn ernst an, hatte seinen Arm gegriffen, fest zugedrückt; dann ließ er ihn wieder los, als es ihm gewahr wurde, was er tat, und verschränkte seine Arme vor sich auf dem Tisch. Heiji nickte steif, er wandte den Blick nicht ab, als er fast mechanisch seinen Kopf einmal nach oben und unten bewegte. „Aber… Kudô…“ Shinichi lächelte hilflos, schüttelte sacht den Kopf, um ihm das Wort abzuschneiden. Er war noch nicht fertig. Dann sammelte er sich wieder, sprach leise, aber sehr deutlich, fast ein wenig angestrengt weiter. Man hörte genau, dass er das alles sagen wollte; dass er vorher reiflich überlegt hatte, was er ihm noch alles mitteilen wollte, bevor er vielleicht letzten Endes keine Gelegenheit mehr bekommen würde. „Heiji… ich danke, dass ich dein Freund sein durfte, als Detektiv und als Mensch, der seine Fehler und Schwächen hat… danke für deine Hilfe in den letzten Wochen, das war weit mehr als ich erwarten durfte, ich… ich danke dir…“ Er brach ab, vergrub seinen Kopf in seinen Händen. Heiji setzte sich neben ihn, atmete tief durch. „Entschuldige, Hattori…“ Heiji streckte seine Hand aus und drückte seine Schulter. Er merkte, wie auch seine Augen zu brennen anfingen, starrte an die Decke, versuchte, Fassung zu bewahren. Er hatte geahnt, dass der Augenblick, so er denn gekommen war… der Augenblick des Abschieds… schwer werden würde. Aber damit… damit hatte er nicht gerechnet. Er verlor fast den Verstand. Er wollte es nicht wahrhaben. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Mensch, der neben ihm saß, morgen vielleicht schon nicht mehr hier war. Shinichi ließ seine Arme sinken. Er war leichenblass im Gesicht, seine Augen gerötet. Seine Finger zitterten und sein Atem ging stoßweise. Er schaute seinen Freund an, konnte Heijis Gedanken von seinem Gesicht ablesen. „Eigentlich sollt ich mich hier zusammenreißen…“, murmelte Shinichi, strich sich über die Augen. Heiji schluckte schwer. „Halt die Klappe.“ Seine Stimme brach. Er griff nach seinem Kaffee, kippte die ganze Tasse in einem Zug runter. Er warf seinem Freund einen Blick zu, und der Gedanke… dass heute das letzte Mal sein könnte, dass er ihn sah, ließ ihn fast verrückt werden. „Ich werde dich vermissen…“ Shinichi wandte den Kopf ab. „Du wirst mir so sehr fehlen… Kudô…“ „Hör auf, ich bitte dich…“ Shinichi sank gegen die Lehne der Sitzbank. „Du warst der beste Freund, den ich je hatte… das Leben ist nicht fair, dass ausgerechnet du…“ „Heiji… bitte…“ „Ich pack’ das nich’.“ Shinichi beugte sich nach vorn. „Doch, das wirst du. Das wirst du. Du hast Kazuha… du hast deine Eltern… deinen Beruf… das Leben wird weitergehen für dich.“ „Aber du wirst nicht mehr da sein. Wenn ich Vater werde, kann ich mir von dir keine Tipps holen. Wenn ich in einem Fall hänge, kann ich dich nicht fragen. Wenn ich irgendein Problem hab, kann ich dich nicht um Rat fragen, wenn ich Erfolg habe, kann ich mein Glück nicht teilen mit dir… oder vor dir angeben, wie auch immer…“, er versuchte ein schiefes Lächeln und scheiterte jämmerlich. „Ich hab keinen mehr, den ich ärgern kann... mit dem ich mich messen kann...“ Er lächelte traurig. „Es wird alles so unvollständig sein…“ Shinichi schluckte. Dann griff er wortlos nach dem Umschlag und dem Päckchen für Heiji. „Den Brief erst lesen, wenn ich weg bin. Also… ganz weg.“ „Schon verstanden…“, murmelte Heiji abwesend, steckte ihn ein. „Und das ist für dich. Als Erinnerung… an mich.“ Shinichi versuchte ein Lächeln. „Ich dachte, bei dir ist es am Besten aufgehoben.“ Heiji griff zögernd nach dem Paket, wog es prüfend in seiner Hand. „Was ist drin?“ „Würde ich wollen, dass du es gleich weißt, hätte ich’s nicht eingepackt. Es ist ein Geschenk, und die wickelt man ein, damit der Überraschungsmoment bleibt, wusstest du das nicht, Hattori?“ Langsam hatte er sich wieder besser im Griff, und das beruhigte ihn ein wenig. Heiji verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Scherzkeks.“ „Meinetwegen machst du’s gleich auf. Das ist mir egal... ich überlass es dir.“ Heiji wog das Päckchen in seinen Händen. „Ein Buch.“ „Jup.“ „Holmes.“ Shinichi lachte leise, Heiji stöhnte gespielt gequält auf. „War klar, dass das letzte, was ich von dir krieg, ein Holmes ist.“ „Na, es freut mich, dass ich so durchschaubar bin, Hattori.“ Shinichi seufzte leise. „Und welcher Band?“ „Woher soll ich’n das...“ „Glaub mir, du weißt es.“ Shinichi seufzte leise, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich zurück. Langsam beruhigte er sich wieder. Der schlimmste Teil hier war wohl vorbei. Er atmete durch, und beobachtete Heiji beim Nachdenken. Nach ungefähr drei Minuten zog Shinichi die Augenbrauen hoch, als ihm Heijis Grübelei zu lange wurde, warf ihm einen missbilligenden Blick zu. „Sag, Hattori, willst du mich beleidigen? Daran musst du dich doch erinnern!“ Er starrte ihn an. Heiji seufzte, verzog schuldbewusst das Gesicht. „Du hörst dich an wie Kazuha, wenn ich ihr den Tag nich’ nennen kann, als wir ein Paar wurden...“ „Aber das ist doch nichts vergleichbares! Das war... unser erster gemeinsam gelöster Fall...“ Heijis Augen weiteten sich langsam, als die Erkenntnis ihn traf. Langsam wandte er sich um. „Na, dämmerst dir langsam?“, frotzelte Shinichi. „Wie konnt’ ich das auch nur nen Moment vergessen? Das is so offensichtlich, dass man gar nich’ drauf kommt. Der Mord beim Holmes-Gewinnspiel...“ Shinichi nickte zufrieden. „Jetzt sag nich...“ Heiji starrte auf das Päckchen in seinen Händen. „Ich wusst’ nich, dass du’s hast...“ Der Tokioter Detektiv lächelte versonnen. „Tja, ich dachte auch nicht, dass ich’s noch krieg. Aber die junge Assistentin hielt es für ihre heilige Pflicht, die Prüfungsbögen der Überlebenden...“, er grinste sarkastisch, „noch auszuwerten und dem rechtmäßigen Gewinner das Buch zu schicken. Und so ist sie in meinen Besitz gekommen, „A Study in Scarlet“, eine Erstausgabe - per Post...“ Ein leises Seufzen entfloh seiner Kehle, als er das eingewickelte Buch betrachtete. „Warum schenkst du’s mir...?“, murmelte Heiji leise. „Weil du mein bester Freund bist. Und ich einfach denke... dass, auch wenn du den Autor nicht kennst, und kein so versessener Fan bist wie ich, dieses Buch zu schätzen weißt und es in Ehren hältst, mehr, als irgendein anderer es könnte.“ Shinichi schluckte, warf ihm einen vorsichtigen Blick zu. „Und tu mir einen Gefallen... lies es auch mal.“ Damit stand er auf. „Lass uns... wollen wir wieder reingehen, zu Ran und Kazuha? Oder... willst du noch...?“ „...etwas sagen?“ Heiji schaute ihn an. „Ich denke nicht, dass das, was mir im Kopf rumschwirrt, in Worte zu fassen ist.“ Seine Stimme war rau, und deshalb sprach er sehr leise. Shinichi nickte nur, trat zur Tür, wollte sie gerade öffnen. „Nur eins vielleicht.“ Der Detektiv hielt inne, drehte sich wieder um. Heiji starrte ihn unverwandt an. „Ich werde dich wirklich vermissen. Sei dir da sicher, Shinichi...“ Der Angesprochene kniff die Lippen zusammen, nickte nur. Es war spätabends, als Shinichi mit Ran schließlich in ihrem Bett lag. Sie hatte sich an ihn gekuschelt, hatte die Kleine mit unter die Decken genommen, ließ sie auf ihrem Bauch schlafen und starrte mit wachen Augen, genauso wie er, an die Zimmerdecke. Und wie er schwieg sie. Sie wusste, wie sehr ihn der heutige Tag mitgenommen hatte, und sie würde nicht reden, bevor er nicht anfing damit. Es quälte sie, dass sie ihm nicht mehr helfen konnte. Nicht mehr für ihn tun konnte, als einfach für ihn da zu sein, hier neben ihm zu liegen. Shinichi hing seinen Gedanken nach. Dachte an das Treffen, mit Agasa und Shiho; mit Heiji... und mit seinen Eltern, vorhin. Er hatte gewusst, er musste nichts sagen, als sie das Zimmer betraten. Sie hatten beide eine sehr gute Ahnung, was heute für ein Tag war. Warum er sie gebeten hatte, zu kommen. Yukiko und Yusaku hatten ihm gegenüber Platz genommen. Ran hatte an ihn gelehnt neben ihm gesessen, die ganze Zeit über geschwiegen, als er geredet hatte. Die Erinnerung an dieses Gespräch wollte und wollte ihn nicht loslassen. „Ich... hab alles unterschrieben, jetzt. Die Unterlagen für die Versicherungen, die Kontovollmachten, die Übertragungspapiere für Ran... ich hab alles in einen Ordner geheftet, er steht auf meinem Schreibtisch, wenn ihr mal was braucht... falls etwas noch unklar ist.“ Yusaku nickte ernst. Yukiko drehte ihren Kopf zur Seite, starrte auf den Boden, sagte nichts. Rührte sich nicht. Er konnte sehen, wie sich ihre Augen wieder mit Tränen füllten. Es war klar ersichtlich gewesen, dass sie bereits geweint hatte, als sie hergefahren waren. Shinichi schluckte. „Ihr... ich muss euch wohl nichts vormachen, wir wissen alle, dass es nun... jederzeit... soweit sein kann, und deshalb wollte ich... habe ich mich entschieden, diesen Tag zu nutzen, um zu sagen, was ich noch zu sagen habe, bevor ich unter Umständen... nicht mehr dazu komme. Ich war heute schon bei Agasa, und bei Shiho; und von Heiji... hab ich mich auch schon verabschiedet...“ Er fuhr sich müde über die Augen. „Ich wollte... wollte euch Danke sagen. Danke... dass ihr euch seinerzeit für ein Kind entschlossen habt...“ Er lächelte sanft. „Ohne diese Entscheidung hätte ich mein Leben nie gehabt, und auch wenn es doch nicht so lang währte, wie ich es gern gehabt hätte, und manch anderer wohl auch...“, er schluckte. „... danke ich dafür.“ Er stierte auf die Tischplatte, biss sich auf die Lippen. „Danke, dass ihr meine Eltern wart. Danke, für das Leben, das ihr mir ermöglicht habt; Danke für eure Ideale, für eure Werte, und danke, dass ihr mich in meinem Bestreben meistens...“, er grinste verstohlen, „...unterstützt habt. Ihr habt mir so viel beigebracht, mir so viel gegeben, ihr...“ Shinichi hielt inne. „Danke für das, was ihr für Ran und Sayuri noch tun werdet...“ Yukiko schluchzte auf, erstickt, leise, hielt sich die Hand vor den Mund. Yusaku schaute ihn nur fest an, nickte entschlossen. „Dafür musst du nicht danken...“ „Doch muss ich. Und ich muss mich auch entschuldigen...“ Seine Haltung wurde immer verkrampfter, immer angespannter, seine Hände ballten sich zu Fäusten, als er sich schließlich soweit durchgerungen hatte, weiter zu sprechen. „Ich entschuldige mich ehrlich, aufrichtig, in aller Form und aus tiefstem Herzen für alles, was ich euch angetan habe, antue und antun werde.“ Er atmete stockend aus. „Ich kann nicht ermessen, wie schlimm es für euch sein muss, zusehen zu müssen, wie ich dafür bezahle, mein Leben ruiniert zu haben. Es tut mir unendlich leid, euch deshalb so viel Kummer, soviel Schmerz und Leid bereitet zu haben und zu bereiten. Ich... hätte mir das auch für euch so gern ganz anders gewünscht.“ Er stand auf, schaute sie an. Sein Blick war starr, genauso wie seine Haltung, sein Gesicht fast weiß und seine Lippen blutleer. „Ich danke euch so sehr... und es tut mir... tut mir wirklich leid. Ich wollte euch sagen, nur falls...“ Er stockte. „Lebt wohl.“ Damit stand er auf, drehte er sich um, verließ fast fluchtartig das Zimmer. Ran warf seinen Eltern einen verängstigten Blick zu. Yusaku stand langsam auf, legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter, dann ging auch er hinaus. Er wusste genau, wo er ihn fand. Shinichi saß in der Bibliothek, in einem Sessel, starrte in die Flammen des Kamins. Yusaku ließ sich ihm gegenüber in einen weiteren Sessel sinken, schaute ihn an. Er hatte die Fingerspitzen aneinandergelegt, das Feuer des offenen Kamins spiegelte sich in seinen Augen, tanzte in ihnen, verliehen ihnen noch mehr Lebendigkeit, als ohnehin schon ihn ihnen lag. Lange sagte keiner der beiden etwas. Das Holz knisterte und knackte, Funken stoben in die Höhe, als ein Scheit entzweibrach, durch die Hitze zermürbt. „Es tut mir Leid. Dass ich davongerannt bin.“ Shinichi seufzte. Yusaku blickte ihn aufmerksam an. „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt solange hätte sitzen bleiben können, an deiner Stelle.“ „Es war feige. Ich hätte...“ „Lass es.“ Der Schriftsteller schüttelte den Kopf. „Du... wirst sehr bald sterben. In deiner Situation würden andere die Decke hochgehen, aber du reißt dich zusammen. Du kümmerst dich um alle anderen, gibst ihnen, was sie brauchen und bietest ihnen die Gelegenheit, sich zu verabschieden. Nicht viele können das... nicht oft ist es den Hinterbliebenen vergönnt, sich richtig zu verabschieden. Wir dürfen dass, weil du es erträgst, und das ist sehr großzügig von dir. Es ist nur natürlich, dass du dann auch mal Luft brauchst.“ Er schluckte, presste seinen Kiefer zusammen. „Aber es wäre nett, jetzt, wenn du wieder mit ins Wohnzimmer kämest. Deine Mutter... braucht dich... verweigere ihr nicht, was du heute allen anderen schon gewährt hast.“ Yusaku beugte sich vor, griff kurz Shinichis Hand, drückte sie. „Na komm. Du bist nicht allein, du wirst es nie sein; wir schaffen das zusammen...“ Langsam stand er auf; Shinichi tat es ihm gleich und zusammen gingen sie zurück ins Wohnzimmer, wo sie nun die Plätze tauschten. Yukiko weinte immer noch, als ihr Sohn neben ihr Platz nahm, und leise auf sie einredete. Sie zog ihn nur an sich, weinte weiter. Das war heute Abend gewesen. Nachdem er fast eine Viertelstunde beruhigend auf sie eingeredet hatte, war seine Mutter dann auch wieder einigermaßen gefasst. Sie hatten noch eine Stunde miteinander verbracht, sich unterhalten, über alles geredet; nur nicht über ein Thema. Als sie gegangen waren, mit der Ankündigung, am nächsten Tag wieder zu kommen, hatte er nur tapfer gelächelt und genickt. Und nun lag er im Bett, mit Ran, und ließ den Tag Revue passieren. Er machte sich Sorgen. Die Reaktionen seiner Freunde und Familie heute hatten ihm eines offenbart; er würde hier mehr fehlen, als er je geglaubt hatte. Und das machte ihm Angst. Wie konnte er sie so zurücklassen? Das durfte er doch nicht... Er wurde doch noch gebraucht... …aber wurde dazu gezwungen, zu gehen. Er seufzte, Verzweiflung machte sich in ihm breit. Noch war er hier, um zu helfen, zu trösten, wenn es nötig war. Was passierte, wenn er nicht mehr war, und jemand ihn brauchte? Was geschah dann? „Was passiert dann... was ist, wenn ich...“, wisperte er in die Dunkelheit. Ran drehte den Kopf, ließ ihren Blick über sein Gesicht wandern. Er hörte es rascheln, wandte sich ihr zu. Sie sah die Furcht und den Schmerz in seinen Augen, diese Sorge in seinen Zügen. Wusste, woran er dachte. Aber sie konnte ihm nicht helfen. Seine Sorgen nicht nehmen, denn sie teilte sie. „Ich weiß es nicht, Shinichi.“ Er schluckte hart, dann zog er sie näher an sich, vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Ran legte die kleine Sayuri zwischen ihn und sich, schlang dann ihre Arme um ihn, streichelte ihm über den Rücken, seufzte bedrückt. „Shhhhttt.“, hauchte sie. „Wie auch immer, es wird weitergehen. Auf irgendeine Art und Weise wird es immer weitergehen...“ Er wusste, sie meinte es gut. Er wusste, sie wollte ihm Mut machen. Ihn beruhigen. Aber er hörte den Zweifel in ihrer Stimme. Yukiko und Yusaku Kudô lehnten nebeneinander im Sofa ihrer Hotelsuite, schauten aus dem Fenster, schauten der Nacht zu, wie sie über Tokio hereinbrach, wie die Lichter der umliegenden Häuser langsam erloschen, eins nach dem anderen, als sich die Einwohner dieser Stadt zur Ruhe betteten. In Yusaku löste dieser eigentlich so friedliche Anblick ein Gefühl von Unwohlsein aus, das er so noch nie verspürt hatte. Ausgehende Lichter. Die herauf kriechende Dunkelheit. Ruhe. Alles Synonyme für etwas ungleich Tragischeres, weil endgültigeres; das Sterben, den Tod. Ich... hab alles unterschrieben, jetzt... Yusaku schluckte, ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Ja, er hatte unterschrieben, alles. Sogar sein Testament; und zwar vorgestern. Er war mit ihm beim Notar gewesen, und der Moment, in dem sein Sohn seine Unterschrift unter das Schriftstück setzte, und er selbst eine Beglaubigung unterschrieb, war einer der schwersten in seinem ganzen Leben gewesen. Ihm war es vorgekommen, als hätten sie beide sein Todesurteil unterschrieben. Er blinzelte, bewegte sich unruhig. Yukiko merkte es, schaute ihn bedrückt an; dann schließlich war auch sie es, die die Stille durchbrach; und sie sprach seine Gedanken aus, als sie zu reden begann. „Wie lange hat er wohl noch...?“ Ihre Stimme zitterte, und er wusste, sie war den Tränen nahe. Fest drückte er sie an sich, merkte, wie sie ihre Hände in sein Hemd krallte. „Ich fürchte, nicht mehr lang, Yukiko. Und er weiß das auch. Ich glaube, er spürt es. Sonst wäre ihm der heutige Tag nicht so wichtig gewesen...“ Er schloss die Augen, atmete tief durch, als er daran dachte. Als er ihn noch mal sprechen hörte, in Gedanken. Sich bedanken hörte; sich entschuldigen hörte; und ihn dann flüchten sah, vor dieser unerträglichen Last des Abschieds, des Leids. Und wiederkommen. Weiterkämpfen, obwohl er doch schon kapituliert hatte. „Ich will nicht, dass er stirbt, Yusaku.“ Es war nur ein Satz, aber er ging ihm unter die Haut. Er dachte das Gleiche, aber er schwieg. Wandte seinen Blick ab von der Tokioter Skyline, richtete ihn auf ein sorgfältig verpacktes Päckchen vor ihm auf den Tisch. Als sie gegangen waren, hatte er es ihnen in die Hand gedrückt. Man hatte ihm angesehen, wie viel Mühe es ihn gekostet hatte, aber auch, wie wichtig es ihm war, es ihnen noch zu geben. Yusaku hatte keine Ahnung, was drin war. Yukiko offensichtlich auch nicht, denn als er den Kopf ein wenig drehte, um sie anzusehen, merkte er, dass sie ebenfalls ihren Augen auf das kleine Paket geworfen hatte. Und ihn ihnen stand die Frage, die er sich stellte. Was war das... was hatte er sich als Abschiedsgeschenk für sie ausgesucht..? Sie bemerkte, dass er sie ansah, sah seinen fragenden Blick, nickte. Dann beugte er sich vor, griff das Geschenk, reichte es ihr. Mit zitternden Fingern zog sie die Schleife auf, löste ganz vorsichtig die Klebestreifen, um das Papier aufzuwickeln. Zum Vorschein kam ein brauner Karton. Yukiko hob den Deckel ab, schaute hinein – und ließ sich zurücksinken, fing hemmungslos zu weinen an. Yusaku nahm ihr den Karton ab, dann griff er hinein, zog den Gegenstand heraus, den er beinhaltet hatte, merkte, wie der Kloß in seinem Hals immer größer würde. Es war sein Zimmerschlüssel. Daran hing ein Zettel. Vielleicht wollt ihr euch ja manchmal in die Vergangenheit flüchten... dies wäre ein Ort dafür, denke ich; in diesem Zimmer durfte ich meine Jugend verbringen, und ich hab nichts darin verändert. Es war mein, nun ist es euer. Mit Ran ist alles abgesprochen, sie war einverstanden, dass ich euch mein Zimmer schenke :) Ich weiß nicht... vielleicht wird es euch helfen, vielleicht auch nicht; aber damit will ich Danke sagen, für den Platz, den ihr mir in eurem Leben und in eurem Haus gegeben habt.. Bitte... Gebt euch nicht die Schuld. In Liebe, euer Sohn, Shinichi Er ließ ihn zurück in die Schachtel fallen, zog Yukiko noch fester an sich, atmete stockend. So sollte das nicht laufen, Shinichi... So sollte das nicht laufen. Sharon ------ Joa. :D Hallo, guten Abend, meine Lieben. Ich danke euch wirklich viiiiieeeelmals für die Kommentare zum letzten Kapitel! Nun sind wir also angekommen, beim drittletzten Kapitel... Sayuris und Jodies Begegnung mit Sharon, die… wohl etwas anders verlaufen wird, als sie sich viele von euch wohl jetzt vorstellen. Ich bin gespannt, was ihr sagt. Für das nächste Kapitel, das letzte Vergangenheitskapitel, kann ich wohl denen von euch, die etwas näher am Wasser gebaut sind, heute schon eine Warnung aussprechen. In diesem Sinne sehen wir uns nächste Woche, gleiche Zeit, gleicher Ort :D Viel Vergnügen mit Sharon, Liebe Grüße, eure Leira :D ________________________________________________________________ Kapitel 31: Sharon Gegenwart Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in ihrer Magengegend aus, als sie am Pförtner vorbeitraten, und es intensivierte sich nur noch mehr, als sie die vielen Gänge im Zellentrakt entlang gingen, bis sie von den Gemeinschaftszellen zu den Doppelzellen bis hin zur Einzelhaft in der Abgeschiedenheit des Hochsicherheitstraktes gelangten. Vor ihnen marschierte eine gut gebaute Gefängniswärterin mit kurzen, schwarzen Haaren und grimmigen Gesichtsausdruck durch die mit Linoleum ausgelegten Gänge, die im kalten Neonlicht giftig grün schimmerten. Neben ihnen reihten sich Zelle an Zelle, manchmal sah man ihre Bewohner, manchmal nicht. Immer wieder wurden Türen für sie aufgesperrt und wieder verschlossen; immer wieder wurden sie angeschaut, von anderen Wärtern, manchmal auch von Zelleninsassen, die durch die kleinen Fenster ihrer Zellentüren blickten, und von denen Sayuri kaum mehr erhaschen konnte, als ein paar Augen, die ihr musternd, manchmal auch neidisch oder aggressiv entgegenblickten. Ihr schauderte, als sie versuchte, mit Jodie Schritt zu halten, und sie fragte sich, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, der Agentin zuzustimmen und mit hierher zu kommen. Sharon Vineyard war hochgradig kriminell, sie war eine Mörderin, und dementsprechend war sie bestraft worden; Lebenslänglich, weil sie immerhin als Kronzeugin gegen die Organisation gearbeitet und ausgesagt hatte; ansonsten wäre auch sie schon längst nicht mehr unter den Lebenden. In Japan galt die Todesstrafe noch, und sie hätte sie verdient. Jodie warf ihr einen beunruhigten Blick von der Seite her zu. Sayuri war kalkweiß im Gesicht, ihre Fingerspitzen waren blau angelaufen, ein Zeichen dafür, dass sie sehr nervös war, ihr Kreislauf langsam absackte. Sie beugte sich ein wenig zu ihr, als sie der grimmig dreinsehenden Wärterin an den Zellen vorbei folgten. „Du brauchst dich nicht vor ihr fürchten, hörst du?“ Das Mädchen nickte nur. Dann stieß die kräftig gebaute Frau die Tür auf, winkte Jodie und Sayuri hinein. An einem Tisch, die Beine locker übereinander geschlagen und trotz der unvorteilhaften Einheitskluft des Gefängnisses immer noch umwerfend gut aussehend, saß sie. Sharon Vineyard. Vermouth. Sayuri blieb wie angewurzelt stehen, starrte die Frau mit aufgerissenen Augen an. Jodie legte ihr sacht eine Hand in den Rücken, schob sie weiter. Die blonde Gefangene hatte bis jetzt desinteressiert und abweisend gewirkt; nun wandte sie den Kopf, als sie ihre Besucher aus den Augenwinkeln herantreten sah. Als ihre Augen Sayuri erblickten, hob sie nur kurz interessiert eine Augenbraue, schwieg sich aber aus. Jodie und das Mädchen nahmen Platz, während die Wärterin den Raum verließ und draußen vor der Tür Stellung bezog, wo sie zusammen mit ihrer Kollegin zwar alles sehen, aber nichts hören konnte. Eine Weile schwiegen sie sich nur an; und schließlich war es Sharon, die das Wort ergriff. „Du hast mich lange warten lassen, my dear. Ich dachte, du kämest viel früher, gemessen an deinem Verhalten seinerzeit am Hafen. Du schienst so wissbegierig... and so angry. Ich dachte, du könntest es nicht erwarten, mir all deine kleinen Fragen zu stellen. The reason I killed your daddy, and burned your house, afterwards, for example. Sind denn deine Fragen immer noch dieselben? Willst du die Antworten heute hören, bist du den heute bereit dazu?” Jodie nickte unwillig. Es demütigte sie, dass diese Frau sie immer noch wie das kleine Mädchen von damals behandelte, aber sie hielt sich zurück. Sayuri zuliebe. Und genau sie war es auch, der Sharon nun ihre Aufmerksamkeit widmete. „Well, then. Perhaps I’ll do you the favour today. Aber es wundert mich, dass du dir Verstärkung mitgebracht hast? Hast du Angst, dich mir allein zu stellen?“ Sie wandte ihren schönen Kopf wieder dem Mädchen zu, schaute sie aus eisblauen Augen interessiert an. Sie lächelte, ein Lächeln, immer noch einer Diva würdig; ihre Lippen immer noch voll und rot, perfekt geschwungen; ihre Zähne immer noch strahlend weiß und gepflegt. „I think I know, who you are...“ Offensichtlich war er bei Ran nicht in Ungnade gefallen, seinerzeit, hatte erreicht, was er sich so sehr gewünscht hatte... eine Familie mit der Frau, die er liebte. „Shinichi Kudô‘s little princess.“ Aufmerksam musterte sie sie. „Du hast viel von ihm.“ Sayuri blickte zur Seite. Die Situation war ihr unangenehm. Sharon hingegen redete weiter; sie schien jetzt erst richtig in Fahrt zu kommen, wandte sich wieder der blonden FBI- Agentin zu. „Und, warum habt ihr ihn nicht gleich mitgebracht? Ich denke doch, er hatte auch noch einige Fragen.“ Sharon schaute die beiden fragend an, und setzte doch einen fast gelangweilten Blick auf. Mit der Reaktion, die ihrer scheinbar harmlosen Frage folgte, hatte sie allerdings nicht gerechnet, und so verließ die Gelassenheit ihr Gesicht, machte einem Ausdruck von Verwirrung Platz, ihr Lächeln ein festgefrorener Schatten seiner Selbst. Sayuri fiel die Kinnlade runter, verlor alle Farbe im Gesicht, wandte sich kreidebleich ab. Die Erkenntnis, warum diese Frau diese Frage geäußert hatte, ließ nicht lange auf sich warten, aber wahrhaben wollte sie sie nicht. Sie bemerkte, wie Jodie sich verspannte, ihre Hände so fest verkrampfte, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Ihr ging es wohl ähnlich wie ihr selbst; auch sie konnte es offensichtlich kaum glauben. Eine Weile war nur das heftige Atmen der beiden Besucherinnen zu hören, die mit Mühe um ihre Beherrschung kämpften. Sharon beugte sich verwundert vor. „What’s the matter with you two?“ Jodie schluckte, schüttelte ungläubig den Kopf. „Don’t tell me… Sag... sag bitte nicht, du weißt es noch nicht.“ Die Blondine schaute sie fassungslos an. Sharon legte ihren Kopf schief, ihr Lächeln glitt ihr nun vollends von den Lippen. Jetzt merkte auch sie, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. „Was weiß ich noch nicht...?“, flüsterte sie fragend. Jodie schluckte, warf Sayuri, die aufgestanden war und im Besucherraum hin und her ging, einen ernsten Blick zu. Sie war aufgewühlt, das war ihr anzusehen. Damit hatte wohl auch sie nicht gerechnet. „Hast du... dich auf den Laufenden gehalten, was die letzten fünfzehn Jahre außerhalb dieser Mauern vor sich ging?“, fragte die FBI- Agentin die Ex-Schauspielerin und Mörderin zögernd. Sharon schüttelte bestimmt ihren blondgelockten Kopf. „Nein. Informiert wird man hier nur, wenn man es wünscht; ich wollte keine Nachrichten von der Außenwelt, nachdem ich das Tageslicht ohnehin nie wieder sehen würde. Why should I torment myself with hearing news from an outside world, I’d never again be able to lay my eyes upon? Nein. Ich wollte keine Nachrichten. Ich weiß nicht, was mir entgangen ist.“ Sie schaute von Sayuri zu Jodie. „Was ist denn nun passiert?“ Ihre Stimme klang drängend. Langsam ahnte sie nun etwas; ihr Unwohlsein hatte sich verstärkt, sie spürte, dass etwas Schlimmes passiert war. Die FBI-Agentin seufzte tief, schloss kurz die Augen, fuhr sich mit einer Hand über die Stirn; ihre Finger waren eiskalt, leicht feucht und zitterten. „I never thought, I’d be the one to tell you…” Sharon wurde unruhig; sie warf ihr einen leicht verärgerten Blick zu, sie hasste es, wenn man sie auf die Folter spannte, egal ob die Nachricht, die man ihr überbrachte, gut oder schlecht war. „Nun sag schon...! Don’t make me...“ Jodie öffnete ihre Augen wieder, fixierte ihr Gegenüber, holte tief Luft. Sharon unterbrach sich selber, beobachtete die Agentin, wartete, hing fast an ihren Lippen. Die FBI-Agentin beugte sich langsam vor. Ihre Stimme war leise, aber deutlich hörbar, als sie sprach. „Shinichi Kudô... ist tot.“ Sie atmete gepresst aus, wartete auf die Reaktion ihrer Gesprächspartnerin. Die Frau schaute sie nur an, blinzelte, schien den Sinn der eben gehörten Worte nur sehr langsam zu verstehen. Tatsächlich kam es Sharon vor, wie wenn die Worte durch Watte an ihre Worte drangen, sich einzeln durch das flockige Material kämpfen mussten, bis sie sich zu ganzen Sätzen fügte und sie sie auch endlich verstand. Bis sie kapierte, was sie bedeuteten. „Was...?“, wisperte sie dann langsam, stierte mit unfokussierten Augen auf die Tischplatte. Die Frau vom FBI konnte deutlich sehen, wie sich auf Sharons Unterarmen eine Gänsehaut bildete - sie fröstelte, begann zu zittern. Jodie schluckte. „Er ist tot, Vermouth. Euer Gift hat ihn umgebracht. Shinichi Kudô starb im Alter von vierzundzwanzig Jahren. Sie...“, sie schaute betroffen zu Sayuri, die sich auf die Lippen biss und ihr Kiefer zusammenpresste, um nicht los zu weinen, „hat ihn nie kennen gelernt.“ Jodie schluckte, versuchte den Kloß, der sich in ihrem Hals bildete, hinunterzuwürgen, wartete ab. Wartete auf eine Reaktion, die auch umgehend kam. „Du lügst!“, entfuhr es Sharon; fast schon wütend blickte sie die Agentin an, stand auf, begann, Kreise zu laufen. Sie war hektisch, ihre Bewegungen wirkten fahrig, als sie wild gestikulierte, dabei Jodie immer wieder böse Blicke zuschoss. „Du lügst doch! You’re just kidding! Du willst mich nur ärgern, gib‘s doch zu, das ist deine Art von Rache, das… That can’t be the truth.” “It is.” Jodie nickte langsam. „No!“ Sie schrie sie an, atmete heftig, stützte sich auf der Tischplatte mit beiden Händen ab. „He can’t be dead!“ Sharon war stehen geblieben, stützte sich mit beiden Händen an den Armlehnen von Jodies Stuhl ab. „Das kann nicht wahr sein! Ich war dabei! Ich war dabei, als er die Organisation zerstört hat, und da hat er gelebt, er war neunzehn Jahre alt und es ging ihm gut! Du lügst, Miss Starling! Das sagst du nur, um mich zu zermürben, um mich weichzuklopfen, damit ich dir...“ „It is the truth. The sad truth, one might say, but nevertheless...“ Die blonde Frau vom FBI versuchte, ruhig zu bleiben. „Es ist die Wahrheit. Es tut mir Leid… dass du es so erfahren musstest. Dass du es von mir erfahren musstest.“ Es war klar, dass Sharon tief betroffen war; nur so war sich ihre Reaktion zu erklären. Sie verdrängte die Wahrheit, wollte sie nicht wahrhaben. „Shinichi Kudô ist tot..“, wiederholte sie langsam und deutlich, ließ die Frau nicht aus den Augen. „Ask her.“ Sie warf Sayuri einen Blick zu. „Frag sie, wenn du mir nicht glaubst.“ „Nein.“ Sharon presste ihren Handrücken an ihre Lippen, starrte auf den Boden, schüttelte den Kopf. „Nein. Nein. Nein.“ Jodie schüttelte langsam den Kopf, schaute sie ernst an. „Du kannst mir glauben. Er starb an den Nachwirkungen von APTX 4869. Und er wusste es. Er wusste es neun Monate vorher und musste damit leben, seinen Todestag zu kennen.“ Jodie war etwas lauter geworden, aber hatte sich noch im Griff, beobachtete ihr Gegenüber genau. Trotz des Mitleids, dass sie für Vermouth empfand, konnte nichts sie über die Tatsache trösten, warum er gestorben war. Und dass Sharon die Mörderin ihrer Eltern war. Sie wollte für sie doch gar kein Mitleid empfinden, und deshalb ließ sie auch zu, dass in ihr langsam der Zorn wieder hochkochte, über all das Unrecht, dass diese Frau und die Organisation angerichtet hatten. „Ihr habt ihn umgebracht.“ Diese Aussage, diese Erklärung, schien endlich zu Sharon durchzudringen. Sie hob den Kopf, in ihren Augen blitzte die Erkenntnis, und sie schmetterte sie nieder. Sie wankte zu ihrem Stuhl, griff haltsuchend nach dem Tisch, ließ sich dann schwerfällig auf ihn sinken und sackte merklich zusammen. Ihre Hände glitten von der Tischplatte in ihren Schoß. Ihre Augen waren ausdruckslos, ihr Gesicht leichenblass. „No...“ Sie schüttelte den Kopf, langsam zuerst, dann immer schneller. „No, no, no...“ Sie griff sich mit ihren Fingern ins Gesicht, kratzte sich mit ihren Fingernägeln über ihre Wangen. „Guter Gott, nein... warum er? Warum ausgerechnet er?!?“ Ihr Kopf fuhr ruckartig hoch, ihr Blick huschte verstört von Jodie zu Sayuri. „Mein Gott...“ Die ersten Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen. „Ran... wie... wie geht es ihr...?“ Sayuri drehte sich langsam um, es hatte den Anschein, als würde sie langsam zu sich kommen, nach dem ersten Schock, den ihr die Unwissenheit und die Reaktion Sharons eingejagt hatte. Sie schluckte, wandte sich ihr zu, und der Blick ihrer Augen erschrak die sonst so abgebrühte Ex-Profikillerin zutiefst. Sie hatte seine Augen. Vorhin war es ihr gar nicht ausgefallen, nur die rein äußerliche, offensichtliche Ähnlichkeit; aber, sie hatte ihr nicht genug Beachtung geschenkt. Tatsache war: sie sah ihm nicht nur ähnlich. Aus ihr blickte ihr Vater. „Wie soll es ihr gehen...? Sie kam nie darüber hinweg...“, wisperte das Mädchen tonlos. Sharon starrte sie wie versteinert an. Ihre Betroffenheit stand ihr quer übers Gesicht geschrieben. Sayuri schniefte leise, eine Träne quoll aus ihrem Augenwinkel, perlte ihr über die Wange. Unwillig wischte sie sich weg, schämte sich dafür. Sie war wütend auf die Frau, die da um ihren Vater trauerte, wo sie doch ein Mitglied der Organisation gewesen war, die ihm das Leben genommen hatte. Sie hatte kein Recht, um ihn auch nur eine Träne zu vergießen. Sie nicht. Wut kochte in ihr hoch. „Sie vermisst ihn heute noch. Sie tut alles, um es sich irgendwie leichter zu machen. Sie hat ihn sterben sehen, ihre große Liebe, wie soll es ihr gehen!? Was denken SIE denn?!“ Sayuri schrie, fasste sich aber schnell wieder, hielt sich den Mund zu und schaute wieder weg. Sie wollte raus hier. Jodie neben ihr schaute sie nur an, dann stand sie auf, zog sie sie langsam auf den Stuhl neben sich, setzte sich selber ebenfalls wieder hin, nahm eine Hand in ihre und strich ihr über ihre Finger, hoffte, sie etwas zu beruhigen. Das war ganz und gar nicht so gelaufen, wie sie sich das vorgestellt hatte. Im Stuhl ihr gegenüber saß Sharon wie paralysiert. Man konnte zusehen, wie sie langsam immer mehr den Verstand zu verlieren schien. „Tot... er ist... aber... wie konnte das passieren...? Welche… Nachwirkungen waren denn das…?“, murmelte sie fragend. Langsam hob sie den Kopf, suchte mit ihren Augen die Jodies, schaute sie zerschmettert an. Jodie schluckte. „Ich weiß es nicht.“ „Aber ich weiß es.“ Sayuris Stimme klang beinahe gespenstisch. Sharon und Jodie wandten sich ihr zu, beide sehr angespannt, und warteten. Das Mädchen schluckte, starrte auf seine Finger, als es zu erzählen begann. „Er war... vierundzwanzig, als er die Diagnose kriegte, aber angekündigt hat es sich schon vorher, er wusste nur nicht, was es war. Er... er hatte wohl Schmerzen. Diese... Anfälle. Er... hielt es für... eine Nebenwirkung, mit der er leben musste, vorerst. Er dachte, das wäre... Conans Erbe, oder so ähnlich. Erst als es sich häufte, als es... schlimmer wurde, erzählte er es Tante Shiho. Die untersuchte ihn... und stellte fest;“ Sie holte tief Luft, schniefte vernehmlich, aber schaute nicht auf. „... stellte fest, dass sich seine Zellen umbrachten. Apoptose. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Telomerase das Zellsterben gut ausgleichen können, aber mit jedem Anfall starben immer wieder Zellen. Und mit... seinem Alter kam es, dass... das Zellwachstum einfach nachließ. Es ist natürlich, wenn wir ausgewachsen sind, dann pendelt es sich ein. Nur... reichte dieser Stand einfach nicht, den kontinuierlichen Zellselbstmord aufzuhalten. Der Anfang vom Ende begann damit. Er war auch noch bei anderen Ärzten; sie sagten wohl alles das Gleiche. Und so kam es auch.“ Ihre Lippen zitterten. „Er toppte zwar die Prognose, die Ärzte gaben ihm nur ein halbes Jahr, aber... aber gewinnen konnte er letzten Endes nicht.“ Sharon atmete stockend aus. „Und Sherry?“ „Lebt noch. Sie... setzte sich an ihre Reagenzgläser und fand auch ein Heilmittel, nur ihm half es nichts mehr, da war es längst zu spät. Er zwang sie aber, es zu nehmen, soweit ich das erfahren habe.“ Diesmal war es Jodie, die gesprochen hatte. Sharon schluckte, merkte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. „Mit vierundzwanzig...?“ Sayuri nickte. „So jung... mein Gott, so jung... und Ran...” Ihre Augen wurden glasig, eine Träne bahnte sich ihren Weg aus ihrem Augenwinkel über ihre Wange. “My pretty angel... surely smiles no more...“ Das Mädchen schaute sie verwirrt an. Jodie seufzte, biss sich auf die Lippen. Lange war es still, nur das unterdrückte Schluchzen der Gefangenen war zu hören. „My darling... es tut mir so leid für dich...!“, brach es dann aus ihr hervor. Sie stand auf, beugte sich vor. Sayuri wich ängstlich zurück. „Wirklich, es tut mir so leid! I’m so sorry, so sorry! Ich… das war so nicht geplant, ich wollte nie, dass er umkommt, dear god… wie muss es für ihn gewesen sein... zu sterben, mit dem Wissen, was er alles nicht mehr erleben wird...“ Sie schluckte hart, fixierte Sayuri mit ihren eisblauen Augen, starrte sie unentwegt an, als ihr ein neuer Gedanke kam, sie sich voller Entsetzen die Hand vor den Mund schlug. „Und wie muss es Yukiko gegangen sein... den eigenen Sohn sterben zu sehen... Yukiko...“ Sie sank zurück auf ihren Stuhl. „Warum zur Hölle leb ich noch?! Why couldn’t I die instead...?“ „Weil du damals den Prototyp gekriegt hast, Sharon, laut Laborprotokoll. Shinichi bekam die die weiterentwickelte Version. Sie unterschieden sich...“ Jodie schluckte. Ihr war die Situation wirklich unangenehm. „Ich denke, es ist besser, wenn wir jetzt gehen.“ Sie stand auf. Antworten würde sie von dieser Sharon heute ohnehin keine mehr bekommen; und sie war sich auch gar nicht sicher, ob sie überhaupt noch Fragen stellen wollte. Sayuri neben ihr schaute die Frau mit einer Mischung aus Angst, Betroffenheit, Wut und Trotz an, nickte nur. Jodie trat zurück, die völlig am Boden zerstörte Sharon nicht aus den Augen lassend, klopfte an die Tür. Die Wärterinnen traten ein, bedeuteten den beiden Besucherinnen zu warten, und legten Sharon Handschellen an, führten sie ab. Sie ließ sich willenlos und mit hängenden Schultern mitnehmen. Von der selbstbewussten Schönheit, die sie zu Anfangs hier getroffen hatten, war nicht einmal ein Schatten mehr übrig; diesen Raum verließ eine kaputte, um Jahre gealterte Frau. Jodie trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. Ja, sie hatten sie gebrochen. Aber nicht auf die Art und Weise, die sie eigentlich beabsichtigt hatte. Neben ihr stand Sayuri, ihr Gesicht zu einer Maske erstarrt, ausdruckslos. Sie war bedient für heute, wollte nur noch nach Hause. Als sie das Gebäude verließen, liefen sie James Black in die Arme; er sagte nichts, fragte nichts, bedeutete den beiden nur, ihm zu folgen. Und Jodie hielt es genauso; fragte nicht, warum er hier war; sondern war nur erleichtert, dass er es war. Sie stiegen ins Auto, und er fuhr los. „Beika 221b?“, fragte er, an Sayuri gewandt, drehte sich im Sitz nach hinten um. Sie nickte nur, sagte nichts, schaute aus dem Fenster und schwieg. Schwieg, bis sie vor ihrem Haus hielten, dann stieg sie aus, ohne ein Wort zu sagen, nickte der FBI-Agentin nur noch einmal kurz zu. Dann ging sie, langsam, schleppend, den Weg entlang zum Eingang des Hauses, zog den Hausschlüssel hervor, sperrte auf und fiel fast durch die Türöffnung. Als sie hinter ihr zu fiel, sank sie dagegen und fing zu schluchzen an. Mühevoll schleppte sie sich auf ihr Zimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Ihr Plan, durch einen Spaziergang den Kopf frei zu kriegen, war gründlich nach hinten losgegangen. Sie vermisste ihn mehr als je zuvor. Und das nur, weil sie gesehen hatte, wie sogar seine ehemalige Feindin um ihn trauerte. Es war nicht gerecht. Shiho hatte am Fenster in ihrem Arbeitszimmer gestanden, als das Auto vorgefahren war. Sie hatte die beiden Personen im vorderen Teil des Wagens sofort erkannt, auch die leichte Tönung in der Windschutzscheibe hatte sie nicht täuschen können, und auch die fünfzehn Jahre, die auch an ihren Gesichtern nicht spurlos vorbeigegangen waren, nicht. Jodie Starling und James Black. Sie seufzte leise, wobei sich die Scheibe vor ihrer Nase leicht beschlug. Sie hatte sich denken können, warum die blonde Agentin im Lande war; und warum James hier war, begründete sich wohl damit auch. Allerdings stutze sie, als sich eine der hinteren Türen öffnete und Sayuri mehr herausfiel als ausstieg. Sie wirkte sehr mitgenommen, winkte jedoch den beiden Agenten noch tapfer zu, ehe sie hinter der Mauer, die das Anwesen der Kudôs umgab, verschwand. Der Wagen fuhr wieder an, verschwand; Shiho aber blieb stehen, blickte nach wie vor zum Haus. Ihre Augenbrauen waren fragend in die Höhe gerutscht, ein unbestimmtes Knurren verließ ihre Kehle. Sie konnte sich denken, wo Sayuri gewesen war und sie billigte es nicht. Sie hatte Sharon kennen gelernt, bestimmt. Was hatte das FBI nur geritten, dass sie sie in diesem Zustand mit ins Japanische Staatsgefängnis in Tokio mitgenommen hatten. Es war zu sehen gewesen, wie sehr sie die Lektüre der Notizbücher mitgenommen hatte, jedes Mal, wenn sie ihr über den Weg gelaufen war… es war zu sehen gewesen, wie sehr sie trauerte, und stets war in ihren Augen dieser Wunsch zu sehen gewesen… dieser Wunsch, ihn doch noch kennen zu lernen. Irgendwie. Irgendwie… Und anhand der Niedergeschlagenheit, die nur zu deutlich in ihren Augen zu sehen gewesen war, sah sie, dass dieser Wunsch seinen Höhepunkt erreicht hatte – dafür gab es nur einen Grund. Shinichi war tot. Offensichtlich war sie am Ende der Bücher angekommen, und damit war er ein weiteres Mal gestorben, und damit toter, aber auch lebendiger für sie als je zuvor. So sehr sie wohl auch versucht hatte, das Ende hinauszuzögern, nun war es soweit, und es war schrecklich für sie. Sie hatte ihn festhalten wollen, wie Ran, das war sehr deutlich zu sehen gewesen… so oft, wie sie die Bücher in letzter Zeit weggelegt hatte… konnte der Grund nur einer gewesen sein: das Unvermeidliche aufschieben. Sie hatte es gesehen, in den Tagen, als Sayuri hier gewesen war. Es war auffällig gewesen, wie sie einerseits nicht die Finger von den Büchern hatte lassen können, und andererseits fast nach jeder Seite eine Pause machte. Nun war vorbei… und doch fing es auch gerade erst an; jetzt wusste sie, wer er gewesen war. Sie konnte jetzt ihr Leben weiterführen, mit dem Gedanken, was er für ein wundervoller Mensch gewesen war. Sie wusste jetzt, wer ihr Vater war. Sobald die ersten Wunden wieder etwas verheilt waren, würde sie dadurch umso stärker sein. Sobald sie diesen katastrophalen heutigen Tag abgeschlossen hatte und einigermaßen verdaut hatte, würde es ihr besser gehen. Langsam strich sie sich eine rotblonde Strähne aus ihrem Gesicht hinter die Ohren. Das Leben würde weiter gehen für sie. Auf jeden Fall. Sie würde ihn stolz machen wollen, auch wenn sie diesen Stolz in seinen Augen nicht sehen würde. Sie würde seine Tochter sein… und leben. Leben, ja. Ai sprang neben ihr auf das Fensterbrett, miaute zart. Shiho hob die Hand, begann ihr den Kopf zu kraulen. Leben… Seltsamerweise war das auch sein einziger Wunsch gewesen… dass sie lebten, ohne ihn. Nur das. Einfach… weiterleben. Aus dem Leben das Beste machen, so wie er es versucht hatte. Nicht einfach zu verharren und sich nicht mehr zu bewegen. Nicht aufhören, zu sein… Aber wer von ihnen hatte ihm denn diesen Wunsch erfüllt? Wenn sie es genau betrachtete… war für alle Beteiligten, jetzt vielleicht einmal abgesehen von Sonoko, Eri und Kogorô, die Welt stehen geblieben an dem Tag, an dem er sie verlassen hatte. Ran verdrängte den Gedanken an ihn, weil er so wehtat. Ran hatte Shinichi mit jeder Faser ihres Körpers geliebt, und als es ihn traf, traf es sie nicht minder hart. Er war ein Teil von ihr gewesen, den man ihr entrissen hatte, und die Wunde blutete immer noch, so sehr Ran auch versuchte, es zu verhindern. Er fehlte ihr. Wie viel diese drei Wörter auszusagen vermochten, wurde Shiho am Tag, nachdem er gestorben war, bewusst geworden, und die Erkenntnis hatte sie niedergeschmettert. Sie hatten Ran besucht. Eine Ran, die kaum mehr atmen konnte, kaum mehr weinen konnte, nicht reden und erst Recht nicht lachen… Das Bild von Ran, die im Wohnzimmer gestanden hatte, vorm Fenster, hatte sie nie vergessen. Sie hatte die Arme um sich geschlungen gehabt, so fest, als müsse sie sich selber halten, und das war es wohl auch wirklich, was sie tat. Ihre so lebendigen, blauen Augen waren leer, blickten in den Garten und schienen doch nichts zu sehen. Ihre Haut war blass, ihre Haare hingen ihr ins Gesicht, sie hatte ihren Kopf leicht gesenkt… obwohl das Zimmer voller Menschen war, die sie kannte, die sich um sie kümmern wollten, schien sie nie einsamer gewesen zu sein. Sie wirkte so zerbrechlich, so verletzt, so hilflos… Sie schien sich in ihrer Welt nicht mehr auszukennen… wirkte wie ein Kind, das sich verlaufen hatte und nicht mehr nach Hause fand. Sie war in ihrem Heim, aber nicht mehr zuhause. Alles in ihrem Haus erinnerte an ihn, aber nichts brachte ihn ihr zurück. Shiho schluckte, fuhr sich über die Augen, rieb sie sich, um das Bild zu verscheuchen. Ran hatte sich wieder einigermaßen gefasst, schließlich gab es noch Sayuri- und für sie musste sie funktionieren. Sie lernte ihre Welt neu kennen, wie es schien, fand eine neue Rolle, aber die alte war vergessen… die alte Ran war mit ihm gegangen. Agasa war ein wenig anders; er war einer der wenigen, die es regelmäßig an sein Grab schafften, wohl, weil er sich in gewisser Hinsicht dazu verpflichtet fühlte… es fiel ihm etwas leichter, weil er doch ein wenig mehr Abstand wahren konnte. Er trauerte nach wie vor, aber er lebte. Er war da für sie selbst, für Ran und für Sayuri, die wie eine Enkelin für ihn, war; er kam mit ihrer Ähnlichkeit zu ihrem Vater gut klar, wollte sich um sie kümmern, wollte ihm, so er denn von da oben irgendetwas von hier unten sah, zeigen, dass er sich kümmerte. Ihm fehlte er sicher auch, aber er hatte eine Aufgabe. Für Ran war der Verlust da ungleich schwerer. Yusaku und Yukiko gingen tapfer damit um, keine Frage. Yukiko ging in ihrer Rolle als Oma voll auf, was vorher nie jemand in dem Maße geahnt hätte. Yusaku hatte seine Schwächen, wie sie wusste… aber er versuchte, sich zu arrangieren. Damit leben war allerdings was anderes. Sie vermissten ihn. Sie hatten ihren Sohn verloren, solcher Schmerz verging nie. Und sie selber… sie selber war im Fach „Leben genießen“ wohl auch nicht unbedingt Musterschülerin. Sie hatte seinerzeit das Gegengift genommen ja. Das, und sich nicht zwischenzeitlich doch noch von einem Hochhaus zu stürzen, waren die einzigen Maßnahmen gewesen, die sie ergriffen hatte, um seiner Bitte irgendwie gerecht zu werden. Sie fühlte sich noch genauso schuldig wie am ersten Tag. Sie hatte versagt. Hatte nicht erkannt, was mit ihm los war, war zu langsam mit dem Gegengift gewesen, hatte von vorneherein seine Gesundheit gefährdet, er hatte ihr nie einen Vorwurf gemacht aber sie fühlte sich schuldig. Er hatte alles getan, soviel riskiert, um sie am Leben zu halten- hatte sie beschützt vor Gin und der ganzen Organisation, hatte sie zu Fall gebracht, hatte ihr ihr Leben geschenkt - und sie… kam sich vor, als hätte sie ihm im Gegenzug das seine genommen. Ja, sie fühlte sich schuldig. Verdammt schuldig. Das Gefühl hatte sie nicht losgelassen. Und deshalb sah sie sich als unwürdig, noch am Leben zu sein. Sie seufzte, hörte auf, die Katze zu kraulen, vergrub ihre Hände in den Taschen ihrer Weste und zog die Schultern hoch. Er wollte, dass sie glücklich waren, lebten. Mehr hatte er nie gewollt, und sie alle hatten den Teufel getan, ihm da entgegen zu kommen. Verdammt, wenn er sie von da oben sah, musste ihn die Sorge und das schlechte Gewissen nahezu zerfressen. Siehst du es denn? Sie verdrehte die Augen und biss sich auf die Lippen, legte dann den Kopf in den Nacken. Dass ihr die Erkenntnis erst kam, als sie über alle anderen nachdachte, dass sie erst überhaupt nachzudenken begann, als sie seine Tochter so niedergeschlagen gesehen hatte… dafür schämte sie sich. Dann straffte sie die Schultern, schnappte sich ihre Handtasche und ging… ging nach draußen, sie wollte zum Friedhof. Es gab etwas, was sie ihm sagen wollte. Ein paar Minuten später saß sie zwischen den Gräberreihen im Gras und schwieg, starrte den Grabstein an, berührte mit den Fingern eine Rosenblüte, die vor ihrer Nase hing. Dann holte sie tief Luft. „Mach dich nicht lustig, ich warne dich. Wehe, du lachst.“ Sie räusperte sich, dachte lieber nicht daran, wie sie auf andere Besucher des Friedhofs wirken musste. Durchgeknallt, bestimmt. Mein Gott, was tu ich hier… ich rede mit einem Toten… ich hoffe nur, er hört mich wenigstens… Dann biss sie sich auf die Lippen, atmete durch, fing wieder an, leise, sehr leise zu reden. „Ich… bin hier… weil ich nachgedacht habe. Ja, verdammt ich weiß, ich bin spät dran.“ Sie schluckte. Es war ihr fast unheimlich, aber sie konnte beinahe sein Gesicht vor ihrem inneren Auge sehen. Nervös starrte sie auf ihre Finger, rupfte einen Grashalm nach dem anderen aus, versuchte, ihre Umgebung auszublenden, starrte auf ihre Knie. „Ich hab nachgedacht. Über das, was du gesagt hast, über das Leben. Mach dir keine Hoffnungen, ich bin immer noch der Ansicht, ich bin schuld. Bin ich auch. Lass mir das.“ Unsicher strich sie sich eine rotblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Der Wind wehte sacht, strich durch die Äste und ließ die Blätter rascheln, die Sonne schien, der Himmel war wolkenlos und unglaublich blau… der Tag schien wirklich ideal, wie geschaffen, für das, was sie vorhatte. Sie hob den Kopf, schaute auf den blankpolierten Marmorstein, sah in ihr eigenes Spiegelbild, irgendwo hinter seinem Namenszug, der in der Sonne golden strahlte. „Ich wollte mich entschuldigen, für meine Unfähigkeit und meinen Unwillen. Du… du hast eigentlich nicht viel verlangt, aber irgendwie… schien es für die meisten von uns doch zu schwer. Du… hast uns so viel bedeutet. Mir besonders. Du… du fehlst mir immer noch, weißt du…?“ Ihre Lippen bebten, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Warum ich mich entschuldigen will ist… weil… ich mich verdammt nochmal gehen lassen hab. Ich hab zwar meinen Beruf und all das… aber im Prinzip waren die letzten Jahre vergeudete Zeit. So hast du nie gelebt und so würdest du von uns auch nicht wollen, zu leben, das hab ich jetzt begriffen. Dir geht’s nicht darum, dass wir einfach am Leben sind… sondern wirklich… leben…“ Sie seufzte, stand langsam auf. „Ich bin hier, um dir zu sagen, dass ich heute damit anfange. Ich versprech‘s. Du musst dir um mich keine Sorgen mehr machen.“ Shiho lächelte in sich hinein. „Ich beginne heute, zu leben. Ich hoffe, du freust dich jetzt. Letztendlich hast du doch mal wieder deinen Willen bekommen.“ Damit drehte sie sich um, ging. Ein erleichtertes Lächeln lag auf ihren Lippen, ein Gefühl von Glück keimte in ihr auf, ein Gefühl… das sie für längst verloren geglaubt hatte. Danke…! Jodie saß in James’ Auto, schwieg lange. Als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme heiser. „I didn’t ask a single question. Not one…” Er schaute sie fragend an. „Ich kam nicht dazu. Sie sah... sah Sayuri, und fragte... sie fragte, warum wir ihn nicht mitgebracht hätten.“ Der alte Mann vom FBI starrte sie entsetzt an, kurz vergaß er den Verkehr um sie herum.. „Sag nicht...“ „Doch. Sie wusste es nicht. Sie wusste es wirklich nicht.“ Jodie wandte den Kopf ab. „God... she didn’t know that he had died… she didn’t know at all. Und ich war da mit seiner Tochter und dann bricht sie in Tränen aus… sie...“ Aus den Augen der Agentin perlten die ersten Tränen. „Himmel, James, sie ist seine Tochter! Und sie hat ihn nie kennengelernt! Ich dachte, mein Schicksal wäre hart, weil diese Frau meinen Vater ermordet hat, aber ich durfte ihn wenigstens kennen... ich durfte seine Zuneigung spüren. Ihr blieb das verwehrt... und ihm...“ Sie wandte sich ihm zu. Ihre Schultern zuckten. „Ich denke, er wäre...“ „Shhht...“, James schluckte, dann beugte er sich zu seiner Beifahrerin, zog sie zögernd mit einem Arm zu sich. „Sie hätte es verdient... sie hätte es verdient, ihn als Vater zu haben, sie...“ „Ich weiß...“ James schluckte, dann ließ er die Frau wieder los. „Aber das lässt sich nicht mehr ändern. Sie muss ohne ihn klarkommen und ich denke, sie ist stark… sie wird das schaffen. Schließlich… ist sie seine Tochter.“ Jodie schluckte tapfer, nickte, setzte sich wieder gerade hin und strich sich die Tränen aus den Augen. „Aber wie es für ihn gewesen sein muss... in dem Wissen zu sterben, sie zurücklassen zu müssen, mag ich mir nicht vorstellen. Ich hatte...“ Er schluckte trocken, fuhr sich über die silbernen Haare. „Ich hatte nie Kinder. Aber ich kann mir vorstellen, es war die Hölle für ihn zu wissen, seine Tochter und Ran allein zurücklassen zu müssen.“ Er schluckte schwer. „He was far too young to die... but it seems to be true; the good die young. Always.” Jodie nickte beklommen, dann ließ sie sich von James zurück ins Hotel fahren, in Gedanken jedoch war sie bei dem Mädchen, das sie heute kennen gelernt hatte. Bei Sayuri Kudô. Das Letzte, was sie von Sharon Vineyard, dem einst so glänzenden Stern am Schauspielerhimmel, hörte, war, dass sie starb, ein paar Monate nach ihrem Besuch, unter mysteriösen Umständen. Einsam und allein in ihrer Zelle einschlief, und nie wieder erwachte, ihre Wangen von Tränen nass und scheinbar um Jahrzehnte gealtert. Es überraschte sie nicht. Sharon hatte geglaubt, sie hätte für Gerechtigkeit gekämpft, hätte die Welt ins Gleichgewicht gebracht, als sie ihm geholfen hatte, die Organisation zu besiegen. Das war, wie sie nun wohl hatte eingestehen müssen... nie passiert. Gerechtigkeit gab es nicht. Ein Gleichgewicht auch nicht. Ein guter Mensch hatte verloren, war gestorben... es wurde Zeit, dass auch ein böser Mensch diese Welt verließ, um die Waage, die sich zu Ungunsten des Guten verschoben hatte, wieder auszugleichen. Lebwohl ------- So. Ich kann hierzu nicht mehr sagen. *schluck* Ich überlass es euch, mir den Kopf hierfür abzureißen, nie hatte ich mehr Zweifel, ob ich ein Kap laden sollte, ehrlich. O.o Ich verzieh mich lieber. *Temposdalass* Für die, die's vielleicht brauchen. Bis nächste Woche zum Epilog... MfG, eure Leira ______________________________________________________________ Kapitel 32: Lebewohl Vergangenheit Es waren nun genau sieben Tage vergangen, seit der Entbindung seiner Tochter, und irgendwie hatte er das Gefühl, dass es nun genug war. Dass er einen achten nicht kriegen würde. Er wusste schon, als er an diesem Morgen aufwachte, dass das sein letzter Sonnenaufgang sein würde. Shinichi hatte keine Ahnung, woher dieses komische Gefühl rührte... aber es war da. Er blinzelte an die Decke, kuschelte sich kurz noch tiefer in die warmen Kissen. Dann stand er doch auf, griff sich seinen Morgenmantel, ging zum Schlafzimmerfenster, öffnete es und trat auf den Balkon. Über Tokio ging die Sonne auf. Er stand nur da und sah ihr dabei zu. Ohne sich zu bewegen, ohne irgendeine Regung. Er fühlte den lauen Frühlingswind auf seinem Gesicht, atmete die frische Luft tief ein, seufzte leise. Merkte nicht, wie sie neben ihn trat, erst, als sich ihre Hand in seine schob. „Was machst du hier draußen?“ Shinichi schwieg, nickte nur in Richtung Sonnenaufgang; dann zog er sie an sich, hielt sie fest, roch den Duft ihrer Haare. Ran schluckte, schlang ihre Arme um ihn und schaute mit ihm der aufgehenden Sonne zu. Er schien so ruhig; mit sich im Reinen. Sie fragte sich, ob das einen besonderen Grund hatte, aber sie wagte nicht daran zu denken, was das genau für ein Grund sein konnte. Und so schaute sie mit ihm den Sonnenaufgang an und begann danach den Tag wie jeden anderen, wahrte die Routine, versuchte, dadurch dem zu entgehen, was sie insgeheim fürchtete. Es gelang ihr nicht. Sie war übersensibel, das wusste sie. Alles in ihr stand auf Bereitschaft. Immer wieder warf sie ihm einen Blick zu, und auch seine und ihre Eltern, die zum Mittagessen kamen, konnten sich der gespannten Atmosphäre nicht entziehen. Allein er selbst war die Ruhe in Person, ließ sich von nichts aus dem Gleichgewicht bringen. Es war mittlerweile kurz nach Mittag, als Babygeschrei durchs Haus hallte und die Nerven der Bewohner, die ohnehin schon blank lagen, noch mehr strapazierte. Sayuri quengelte und weinte und war nicht willens, sich beruhigen zu lassen. Ran seufzte, schaukelte sie in ihren Armen, ging mit ihr durchs Zimmer, summte ihr ein Liedchen vor - aber es half einfach nichts. Das Baby weinte weiter. Shinichi seufzte, schaute auf von dem Buch, das er gerade las. „Vielleicht ist sie müde?“ Vielleicht ahnt sie etwas... Yusaku wandte den Kopf, Yukiko warf ihr einen grübelnden Blick zu. „Nun... könnte sein. Sie hat getrunken, sie hat ihr Bäuerchen gemacht, sie hat eine frische Windel und sie hat Leute die sie kennt um sich, also fürchtet sie sich wohl auch nicht.“ Shinichi seufzte, dann stand er auf, nahm Ran sein Töchterchen ab. „Gib sie mir mal. Ich bring sie ins Bett.“ Die Kleine war sofort still, griff, wie sie es so gerne tat, in die Maschen seines Pullovers. Ran seufzte entnervt, konnte sich nicht helfen, als ein leichtes Neidgefühl in ihr empor kroch, und fühlte sich doch schäbig, in Angesicht der Tatsache, dass Shinichi... ihr ihre Tochter bestimmt nicht abspenstig machen konnte. Oder sie ihn lieber haben könnte als sie. Leise seufzte sie, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Jetzt ist sie ja ruhig.“ „Ja, aber trotzdem müde.“ Er lächelte sanft. „Schau doch, ihr fallen die Augen zu.“ „Dann bleib doch einfach hier mit ihr und lass sie...“, begann Yukiko, aber Shinichi würgte ihren Vorschlag mit einem Kopfschütteln ab. „Nein. Ich bring sie hoch, da hat sie mehr Ruhe. Bis gleich.“ Damit wandte er sich um, stieg die Treppen hoch. Als sie im Bettchen lag, war sie wieder hellwach. Sie griff in die Luft, strampelte mit den Beinen, schnatterte vor sich hin. Shinichi lachte amüsiert, die Arme auf dem Geländer der Wiege verschränkt. „Hey, du kleine Schauspielerin. Du solltest doch schlafen, jetzt…" Er berührte zärtlich mit seinem Zeigefinger ihre Wange, wanderte nach unten zu ihrer Hand. „Komm... sei ein braves Mädchen und schlaf schön... gerade wolltest du doch unbedingt schlafen, weißt du nicht mehr?“ Kleine Fingerchen umschlossen seine Fingerspitze. Shinichi lächelte. Die Kleine schaute ihn mit wachen Augen an, blinzelte. „Ach... das ist nicht fair…“, murmelte er. „Das ist einfach nicht fair. Nicht für dich und nicht für mich…“ Es kam aus heiterem Himmel, dieses Gefühl. Plötzlich, rücklings übefiel es ihn... kurz, ganz kurz wurde ihm schwarz vor Augen. Haltsuchend klammerte er sich am Geländer des Bettchens seiner Tochter fest, atmete stockend aus. Und er wusste, dass es nun soweit war. Dass der Zeitpunkt nahe war. Dass er sich nicht geirrt hatte, heute Morgen. Dass sein Gefühl ihn nicht getrogen hatte. Er seufzte, schluckte schwer, blickte zur Tür. Bis gleich...? War wohl gelogen... Unwillkürlich begann es in seinen Augen zu brennen, seine Mundwinkel zogen sich nach unten, als er ihre kleinen Finger von seinem löste, wischte sich unwillig übers Gesicht. Er wollte nicht weinen. Nicht vor ihr. Er schluckte den Kloß, der sich in seinem Hals festgesetzt hatte, hinunter, verdrängte das Gefühl von Unglück und Bitterkeit, dass sich in ihm ausbreitete und riss sich zusammen. Dann beugte er sich nach unten, küsste das Baby sanft auf die Stirn, seufzte leise, eh er sprach. „Sayuri, ich will, dass du eins weißt..." Er seufzte, kam sich furchtbar pathetisch vor und konnte doch nichts tun; er wollte, musste es ihr sagen. "Als....wo... wo immer ich landen werde, ich werde ein Auge auf dich haben, hörst du? Mach deiner Mama nicht zu viel Kummer, sie hatte mit mir schon genug für den Rest ihres Lebens…" Seine Stimme war nicht lauter als ein Flüstern und er hatte Mühe, nicht die Fassung zu verlieren. „Ich… es tut mir so leid…ehrlich… so leid…“ Seine Stimme verlor sich, die letzten Wörter waren kaum mehr als eine Bewegung seiner Lippen gewesen. Er hätte geglaubt, dieser Abschied würde ihm leichter fallen, denn schließlich verstand sie ihn noch nicht, verstand seine Worte nicht und auch nicht dieses Gefühl von Endgültigkeit, wenn er Lebewohl sagte… aber dennoch… ihre klaren blauen Augen hafteten auf seinem Gesicht und es fiel ihm so schwer – so schwer sich von ihr abzuwenden. „Leb wohl, Töchterchen…“ Ein letztes Mal streichelte er ihr über den Kopf, schenkte ihr ein Lächeln - und sie lächelte zurück. Yusaku wusste nicht, warum er aufstand. Es war fast automatisch... er erhob sich aus seinem Sessel, wanderte hinaus, die Treppe hinauf. Irgendetwas führte ihn. Shinichi flüchtete fast, er wollte raus, nur raus aus dem Kinderzimmer. Eine Tür weiter lag ihr Schlafzimmer. Da wollte er hin. Weg von seiner Tochter, weg von allen… Und dann erstarrte er, lehnte sich langsam an die Wand. Sein Vater stand da. Er war wohl gerade die Treppe hinaufgekommen. Yusaku sah ihn an, sein Blick war voll Gram. Er schaute ihn nur an, brauchte nicht zu fragen. Er wusste, dass es jetzt soweit war. Dass der Augenblick, den er so gefürchtet hatte, nicht weit war. Also verlässt du uns jetzt…? Shinichi blinzelte. Ja… Er atmete schwer, versuchte sich zusammenzureißen. Mit zitternden Fingern strich er sich die Haare aus der Stirn. „Vater…?“ Seine Stimme klang heiser. „Shinichi?“ Yusaku schluckte schwer, versuchte den Kloß, den er ihm Hals hatte, herunterzuwürgen. Er wollte jetzt nicht schwach sein. Nicht jetzt, nicht vor ihm. Er musste stark sein, wo sein Sohn es nicht mehr sein konnte. Shinichi räusperte sich leise. „Du erinnerst dich doch an dein Versprechen…?“ „Natürlich… mach dir keine Sorgen, Shinichi…“ Die Stimme seines Vaters klang rau. „Danke.“ Shinichi blickte nach unten. Er blinzelte erneut, heftiger als vorhin. „Vielen Dank…“ Er schaute auf, seinem Vater ins Gesicht, sah seinen Kummer… lächelte ihn an. „Seid nicht traurig, bitte… wir wussten es doch… wussten doch was kommt. Ihr müsst nach vorn schauen. Ich will nicht… dass ihr mich vergesst, aber ihr… ihr dürft nicht zu verzweifelt sein. Hörst du?“ Yusaku nickte schwer. „Shinichi…“ Der Schriftsteller hielt inne, als er den Blick seines Sohns bemerkte. „Danke, dass du mit mir gegangen bist, du ahnst nicht, wie viel mir das bedeutet; aber jetzt ist es wohl Zeit, dass sich unsere Wege trennen. Sag Mama auch Lebewohl, ja? Und sag ihr, dass ich sie lieb hab. Ich hoffe, du verstehst… ich… ich kann einfach nicht nochmal runter, jetzt. Ich… ich will auch…“ „Schhh.“ Shinichi brach ab, erkannte, dass ihn sein Vater schon begriffen hatte. „Ich versteh dich schon. Du brauchst… brauchst dich nicht zu entschuldigen…“ Shinichi schluckte. „Sag ihr auch noch mal Danke, ja? Ich danke euch nämlich wirklich… für mein Leben…“ Yusaku kämpfte mit sich, um seine Fassung. „Es gibt nichts, wofür du dich bedanken müsstest...“, wisperte er leise. Dann war es um seine Selbstbeherrschung geschehen. Er ging zu ihm hin, nahm ihn in die Arme. Er merkte, wie Shinichi kurz zusammenzuckte, wusste nicht ob vor Schmerz oder aus Überraschung, wollte gerade wieder loslassen, als er merkte, wie Shinichi seinerseits seine Arme um ihn legte und sich kurz an ihn drückte. „Lebwohl…“ Yusaku schloss die Augen, als er dieses nur geflüsterte Wort vernahm. Spürte seinen Atem an seinem Hals, als er es aussprach und ihm kam unweigerlich der Gedanke dass… dieser Lufthauch… einer seiner letzten Atemzüge war. Er drückte ihn an sich, spürte dieses Leben in seinem Körper und wusste… wusste dass es sehr bald schon erloschen sein würde. Und das trieb ihn an die Grenze dessen, was er ertragen konnte. Shinichi merkte es, schob ihn wieder etwas auf Abstand, ließ ihn aber noch nicht ganz los. Yusaku legte ihm eine Hand auf die Schulter, drückte sie kurz, schluckte schwer; es schien fast, als hielte der Vater sich am Sohn fest. Yusaku hatte geahnt, dass dieser Moment sehr schwer werden würde; dass er derart unerträglich sein würde, hatte er nicht gewusst. Er wollte nicht, dass er ging, hätte alles gegeben, um diesen Moment einfach verstreichen zu lassen, um sein Schicksal zu ändern, irgendwie… Shinichi sah die stumme Bitte in den Augen seines Vaters, schüttelte sacht den Kopf und versuchte ein Lächeln. „Du weißt, das geht nicht.“ Yusaku seufzte tief… dann verzog er auch er seine Mundwinkel zu einem Lächeln, wenngleich es auch unglaublich bitter war. Erst als er seine Hände wieder sinken ließ, löste sich auch Shinichis Griff. Er nickte ihm noch einmal kurz zu, dann ging er. „Shinichi…“ Yusakus Stimme klang heiser, und er bezweifelte, das Shinichi ihn gehört hatte. Er setzte sich auf die Treppe, als sein Sohn seinen Weg allein fortsetzte. Er wusste, er wollte ihn jetzt nicht bei sich haben. Er wusste, er wollte allein sein, wenn er diese Welt verließ, weil er es ihnen nicht noch schwerer machen wollte. Und er wusste, diesen letzten Wunsch musste er ihm erfüllen. Und doch fiel es ihm so unendlich schwer, Shinichi allein weitergehen zu lassen. Er fuhr sich über die Augen. Und langsam, ganz langsam wurde ihm klar, dass er gerade eben wohl seinen Sohn zum letzten Mal gesehen hatte… zum letzten Mal seine Stimme gehört. Tränen rannen ihm über die Wangen. Er ließ sie laufen. Shinichi wurde schwindlig, er wankte ins Zimmer, zum Bett. Langsam ließ er sich auf die Matratze sinken, legte sich hin. Alles drehte sich, aber ansonsten fühlte er sich erstaunlich gut. Er schloss die Augen, versuchte ruhig zu atmen, nicht panisch zu werden, aber das fiel ihm schwer. Furcht schlich sich in seine Gedanken. Er wusste, dass es jetzt vorbei war. Das hieß, noch nicht jetzt - aber gleich. Und das machte ihm Angst. Ran saß in der Küche, blätterte durch ein Rezeptbuch, als ihr plötzlich kalt wurde. Sie legte das Buch weg, schaute suchend um sich. Unruhe erfasste sie. Shinichi. Wo war er? Hätte er nicht längst wieder hier sein sollen? Sie nagte an ihrer Unterlippe, dann stand sie auf, drehte sich um, verließ die Küche, rannte nach oben. Ihr Herz zog sich immer mehr zusammen. „Shinichi…?“ Er presste die Augen zusammen, legte seinen Handrücken auf die Stirn. Binnen Sekunden hatte sein Körper zu glühen begonnen, aber Schmerzen fühlte er keine. „Shinichi… wo bist du? Sag doch was!?“ Ran. Er hörte sie näherkommen. Anscheinend hatte es ihr zu lange gedauert, bis er wieder runterkam. Vielleicht hatte sie auch seinen Vater gesehen. Hau ab. Ich will nicht, dass du das miterlebst… hau ab, hau ab, hau ab…! Shinichi fluchte lautlos, starrte die Decke an und fragte sich, warum die Welt so unfair war. Er wollte nicht, dass sie es sah. Er wollte nicht, dass sie sich das antat… und gleichermaßen wollte er es doch. Er wollte sie hier haben, den er hatte Angst. Schritte auf dem Gang. Ein leiser Luftzug wehte herein, als sie die Tür öffnete. „Shinichi!“ Ihre Stimme klang erschrocken. Er hörte sie zu sich eilen, spürte ihr Gewicht, als sich die Matratze etwas nach unten bog, als sie aufs Bett kletterte. Er fühlte kalte Hände in seinem Gesicht, und war sich klar, dass sie ihm nur so kalt vorkamen, weil ihm so heiß war. Sie strich ihm die Haare aus der Stirn, suchte seinen Blick. Er musste nichts sagen. Sie wusste es auch so. Eine Träne rollte ihr über die Wange, als sie sich neben ihn legte, ihm ins Gesicht schaute. Er drehte sich auf die Seite, schaute in ihre klaren blauen Augen. „Geh doch… bitte. Tu dir das nicht an…“, wisperte er. „Nein.“, flüsterte sie. Sie musste sich beherrschen, um nicht einfach loszuheulen. Seit Wochen fürchtete sie diesen Augenblick, und nun war er gekommen - und es war entsetzlich. Die Hilflosigkeit machte sie fast wahnsinnig. Sie wollte nicht, dass er ging. Aber sie wollte auch nicht, dass er sich Sorgen machte. Das eine konnte sie nicht verhindern, dessen war sie sich bewusst - aber das andere konnte sie mit etwas Selbstbeherrschung vermeiden. Also riss sie sich zusammen, versuchte, sich ihre seelischen Qualen, ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Immer und immer wieder strich sie ihm über die Wange. „Ich hab dir gesagt, ich geh diesen Weg zu Ende mit dir. Ich will das. Ich will bei dir sein. Ich will jede Sekunde, die uns noch bleibt…“ Sie griff nach seiner Hand, sah ihn an. „… bei dir sein…“ Eine weitere Träne rann ihr aus dem Augenwinkel. Langsam bewegte er seinen Kopf ein wenig nach vorne, bis seine Stirn die ihre berührte. „Es tut mir so leid, Ran…“ Seine Stimme klang brüchig. „Nicht doch…“ Sie versuchte zu lächeln. „Nicht doch… du musst dich nicht… entschuldigen…“ Sie schluckte die Tränen runter, wischte sich über die Augen. Sie wollte nicht, dass er sie weinen sah. Er sollte sie lächeln sehen, wenn er sie verließ. Er sollte doch wissen, dass es ihr gut ging. Dass er sie guten Gewissens zurücklassen konnte. Und er schien ihre Gedanken zu lesen. „Kommt ihr…“ „Klar? Natürlich.“ Sie nickte, strich ihm über die Wange. „Darüber haben wir doch schon geredet, Shinichi. Mach dir keine Sorgen. Mach dir keine Sorgen…“ Er blickte sie nur an, stumm, hielt ihre Hand, drückte ihre Finger. Ran schluckte, näherte sich ihm, zog ihn an sich, gab ihm den letzten Kuss auf die Lippen, versuchte, ihn ihre bedingungslose Liebe für ihn spüren zu lassen, ein letztes Mal. „Ich... ich liebe dich…“ Seine Stimme klang heiser, war kaum noch zu hören. „Ich dich auch…“ Eine Träne verließ seinen Augenwinkel, perlte langsam über seine Wange ins Kopfkissen. Ran presste ihre Lippen aufeinander. „Ich dich auch… so sehr… Ich werde dich so vermissen, Shinichi… so vermissen… glaub mir, ich werde dich nie vergessen… ich werde nie wieder jemanden so lieben können wie dich, ich… bitte… bleib doch…“ Ihre Stimme verlor sich zu einem Wimmern. Ihre Verzweiflung war ihr anzusehen. Er hob die Hand, fuhr mit seinen Fingern sanft die Kontur ihres Gesichts nach, bis sein Zeigefinger auf ihren Lippen zu liegen kam, sie zum Schweigen brachte. „Schhh… nicht doch... ganz ruhig...“ Er atmete tief ein, merkte, wie ihm langsam das Luftholen schwer fiel. „Ich werde immer bei dir sein, hörst du…? Wo immer ich auch bin, ich werde auf euch aufpassen...“ Sie schluckte. Der Kloß in ihrem Hals wurde immer großer. Sie wusste fast nicht mehr ein noch aus, wusste nicht wohin mit ihrer Trauer, ihrem Schmerz. Er sah ihr ihre Qualen an. „Sei nicht traurig, hörst du, Ran? Sei nicht traurig…“ Er schaute sie drängend an; sie schwieg, presste ihre Lippen aufeiander, zwang sich dann zu einem Lächeln, von dem sie wusste, dass er es ihr nicht abkaufte, merkte doch, wie sie zitterte. Sie versuchte, sich zu beruhigen, dann setzte sie sich vorsichtig hin, lehnte sich gegen die Kissen, zog ihn ein wenig zu sich, so dass sein Kopf auf ihrer Brust lag. Sie spürte den sanften Hauch seines Atems, der ihren Hals streifte, schlang beide Arme um ihn, hielt ihn fest. "Versuch, nicht zu traurig zu sein, wenigstens... das..." Sie antwortete nicht, hauchte ihm stattdessen einen Kuss auf die Haare; ihre Kehle schnürte sich zu, als sie merkte, wie seine Atmung immer flacher wurde und er ihr immer mehr entglitt, egal wie fest sie ihn an sich presste, ihn festhalten wollte. „Shinichi…?“ Rans Stimme zitterte merklich; sie griff seine Hand, drückte sie fest. „Schhht...“, wisperte er. „Es ist schon gut...“ Ran presste die Augen zusammen, versuchte, nicht zu weinen. Sie merkte, wie er schluckte, als er sich sammelte, seinen Kopf hob, ihr in die Augen sah. „Ran…?“ Sie schaute ihn an, versuchte, diesen Moment, diesen letzten Moment, so intensiv zu erleben wie möglich. Sie wollte nichts an ihm vergessen. Nichts. „Lebwohl und Danke für alles… Danke... Danke für alles...“ Ran vergrub ihre Hand in seinen Haaren, presste ihre Stirn an seine, mit der anderen hielt sie immer noch seine Finger umklammert. „Nein. Ich danke dir…“ Rans Stimme bebte - aber sie lächelte. Er erwiderte ihr Lächeln, ließ zu, dass sie seinen Kopf wieder an ihre Schulter drückte. Ein leises Seufzen entrang sich seiner Kehle, als er merkte, wie große Ruhe ihn umfing. Ran schluckte, beobachtete ihn, hielt seine Hand. Das Gefühl, dass sie ergriff, als sein Leben ihn verließ, war unglaublich, schien so unfassbar gewaltig zu sein. Eine Macht, der man sich nicht entgegen stellen konnte… der man im wahrsten Sinne des Wortes machtlos, ohmächtig gegenüberstand. Sie fühlte sich fast, als würde es sie mitreißen, und doch wusste sie, nur er würde gehen… er würde nicht zulassen, dass sie mitkam. Sie würde hierbleiben müssen. Ihr... blieb nichts anderes übrig. Sie konnte nur zusehen, wie er die Augen schloss. Langsam… wie als ob er einschlafen würde. Sein Kopf sank noch ein wenig mehr gegen ihren Hals, sein Körper entspannte sich. Er drückte ihre Hand, atmete aus, ganz ruhig. Und nicht wieder ein. Sein Griff lockerte sich wieder. Er sah wirklich aus, als ob er schlief, sein Kopf sacht auf ihre Schulter gebettet, seine Hand in ihrer; aber er schlief nicht… er war gegangen. Für immer. „Ich danke dir…“, wiederholte sie tonlos. Er war gegangen. Zuerst war es ganz still im Raum... dann brach die Wirklichkeit über ihr zusammen. Ran schluchzte unterdrückt auf, presste ihre Finger gegen ihre Lippen. Sie kuschelte sich an ihn, krallte ihre Hände Halt suchend an ihm fest und ließ ihren Tränen freien Lauf, schluchzte, weinte, wie noch nie in ihrem Leben. Der Schmerz über diesen Verlust drohte sie fast zu zerstören; sie merkte, wie es an ihr riss und zerrte, aber sie ignorierte es. Die Liebe ihres Lebens war tot; und mit Shinichi war auch ein Teil von ihr gegangen. Yusaku saß immer noch draußen auf der Treppe, den Kopf in den Händen vergraben und schloss die Augen, atmete langsam aus. Hörte Ran herzzerreißend schluchzen. Vorbei. Ein paar Minuten blieb er einfach noch sitzen. Presste seine Kiefer aufeinander, spürte den Schmerz in ihm toben, diesen Schmerz über seinen Verlust. Er wollte sich fangen, bevor er zu den anderen ging, ihnen die Nachricht überbrachte… und dafür brauchte er ein paar Minuten. Seine Augen brannten, seine Hände zitterten, als er sich immer wieder die Haare aus der Stirn strich. Dann stand er auf, ging nach unten. Er brauchte nicht einmal ins Wohnzimmer gehen, um es ihnen zu sagen, Eri, Kogorô und seiner Frau… der Mutter seines Sohnes, der sie gerade für immer verlassen hatte. Sie standen schon am Treppenabsatz. Genau genommen brauchte er auch gar nichts zu sagen. Er nickte nur, als er ihre fragenden Gesichter erblickte. Yukiko brach in seinen Armen zusammen. Shiho stand vorm Telefon. Es klingelte. Klingelte. Klingelte. Sie ließ es klingeln, starrte es nur an, ein schmutzigweißes, leicht angestaubtes Plastikteil, das seine besten Jahre auch schon sichtbar hinter sich gelassen hatte; aber solange es seinen Dienst versah, behielt man es, und wie man nun merkte, machte es seine Sache immer noch gründlich. Der Klingelton wurde um keinen Deut leiser, nachgiebiger. Es schien, als ob der Anrufer wusste, dass jemand zuhause war, und sich nur nicht traute, den Anruf entgegenzunehmen; und so klingelte es weiter. Und auch weiterhin hob sie nicht ab. Sie hatte Angst. Angst vor der Nachricht, die die Person am anderen Ende ihr überbringen könnte. Agasa, aufgescheucht durch das penetrante Klingeln, trat in den Flur, sah sie vorm Telefon stehen. Sie blickte es nur an, machte immer noch keine Anstalten, abzuheben. Er ahnte, warum. Und so schluckte er, riss sich zusammen und beantwortete den Anruf selber. „Agasa.“ Er lauschte nur der Stimme am anderen Ende; sagte nichts, als er auflegte, mit einer fast gezwungenen Geste den Hörer geradezu auf die Gabel presste, ein paar Sekunden einfach in dieser Position verharrte, mit sich kämpfte und sichtbar um seine Fassung rang. Dann wandte er sich langsam um, schaute seiner jungen Mitbewohnerin ins Gesicht. Ihr liefen die Tränen bereits über die Wangen, in ihren Augen stand die Furcht vor der Botschaft, die er ihr gleich überbringen würde. „Er ist... gestorben. Vor ein… paar Minuten. Er… er ist tot…“ Agasas Stimme klang brüchig, Tränen schimmerten in seinen Augen. Shiho kniff die Augen zusammen, als sie die Welle auf sich zurollen sah. Der Schmerz, die Schuldgefühle, die Reue, die Verzweiflung sie mit sich rissen. Sie schmeckte Blut, als sie sich fest auf die Lippe biss, spürte den Schmerz, aber er interessierte sie nicht. Ihr Atem ging keuchend, stoßweise, ihre Brust hob und senkte sich heftig. Dann war es vorbei mit ihr. Sie schrie auf; ein Laut, der durch Mark und Bein ging, der ihren Schmerz hörbar machte; ein Laut, den Agasa nie vergessen würde, solange er lebte. Der Boden brach weg unter ihren Füßen, sie stürzte, krallte sich in den Teppich bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten und schluchzte. Sein Herz wurde immer schwerer. Es war klar, worum Shiho trauerte. Nicht nur um einen Freund. Du hast ihn geliebt. Agasa atmete tief durch, strich sich die Tränen aus den Augen, merkte doch, dass seine Wangen immer nasser wurden. Dann ging er langsam in die Knie, zog seine Mitbewohnerin zu sich. „Du hast das Richtige getan.“ Er schluckte. „Es ihm nie zu sagen, war das Richtige...“ Shiho schluchzte, vergrub ihr Gesicht im Kittel des Professors, schrie unterdrückt auf. Als das Telefon im Hotelzimmer bimmelte, war es Kazuha, die abhob. Als sie seinen Vater am anderen Ende der Leitung hörte, wusste sie worum es ging, hörte gar nicht mehr zu, sondern winkte nur Heiji heran, wandte sich bereits ab, fing leise an zu schniefen. Heiji hörte zu, seine Miene versteinert, nur seine Kiefer pressten sich aufeinander, so fest, dass seine Zähne knirschten. Dann legte er auf, wandte sich um, ließ sich auf sein Bett sinken, vergrub das Gesicht in seinen Händen. Kazuha warf ihm einen tränenverschleierten Blick zu, dann setzte sie sich neben ihn, zog ihn in ihre Arme. „Gestern noch...“, hörte sie ihn nur wispern. „Verdammt... gestern noch...“ Er blinzelte, als ihm die ersten Tränen in die Augen stiegen. Sie strich ihm über den Kopf, den Rücken, legte dann ihren Kopf auf seine Schulter. „Shhht...“ Sie hatte ihn nie weinen sehen. Und dass er es jetzt tat, zeigte ihr, wie viel ihm die Freundschaft zu Shinichi Kudô wirklich bedeutet hatte. Sie saß neben ihm, leistete ihm einfach nur Beistand in seiner Trauer; und schwieg. Es gab nichts zu sagen, was ihn hätte trösten können, und so blieb sie stumm. Tagelang war mit Ran nichts anzufangen. Sie trauerte um ihren Shinichi, schottete sich ab, isolierte sich, wollte mit niemandem reden. Nicht über ihren Kummer. Nicht über das Wetter. Über nichts. Die Beerdigung war für sie kaum zu ertragen. Als sein Vater, Heiji, der Professor und Kogorô den Sarg zu Grabe trugen, versuchte sie sich noch zu beherrschen. Sie stand da, ihr Blick starr auf die Männer gerichtet, die mit gesetzten Mienen den wohl schwersten Gang ihres Lebens bewältigten. Gemessenen Schrittes marschierten sie durch die Gräberreihen; gekleidet in Schwarz, die Augen zum Schutz gegen die strahlende Sonne zugekniffen, trugen sie den hölzernen Sarg, auf dessen polierter und lackierter Oberfläche sich das Licht brach. Yusaku war bleich im Gesicht, man sah ihm an, wie schwer es wirklich für ihn war, wie sehr die Last, die er trug, auf seine Schultern drückte. Ran zitterte, fröstelte, und verfluchte gleichzeitig auch noch das Wetter, das heute so schrecklich frühlingshaft war. Regen. Sturm. Gewitter. Ja, das wäre passend gewesen. Aber nein, es schien die Sonne, alles war grün, ein laues Lüftchen streichelte über die Äste, brachte die ersten Blätter zum Rauschen. Ran stand einfach nur da, versuchte, Abschied zu nehmen, als sich langsam immer mehr Erde auf das Grab, seine letzte Ruhestätte, legte, aber es gelang ihr nicht. Sie kauerte noch lange, nachdem der letzte Gast gegangen war, an seinem Grab, wisperte immer wieder seinen Namen. Yukiko, Yusaku, Eri, Kogorô, Sonoko, Shiho, der Professor sowie Heiji und Kazuha warteten in einigem Abstand. Ran saß im Gras vor dem frisch aufgeschütteten Haufen Erde, der neben seinem Grabstein seine letzte Ruhestätte kennzeichnete. Sie weinte nicht. Nicht mehr. Tränen hatte sie schon lange keine mehr, ihre Trauer lag jenseits von allem, was Tränen noch ausdrücken konnten. Sie saß nur da, starrte auf den hellgrauen Marmorstein, konnte nicht begreifen, ihn nie wieder zu sehen. Shinichi Kudô Geliebter Ehemann, Vater, Sohn und geschätzter Freund Viel zu früh musstest du uns verlassen – Doch sei dir sicher, wir werden dich nie vergessen. Sie wusste, dass alle anderen ein wenig abseits standen. Dass alle nur auf sie warteten. Yukiko wohl mit der Kleinen auf dem Arm, die wahrscheinlich schlief. Sie hatten sie nicht zuhause lassen können, weil es keinen gab, der auf sie aufpassen konnte; sie alle waren gekommen, um ihm ihr letztes Lebwohl zu sagen. Ran wusste, keiner würde kommen um sie zu holen - sie würden alle warten, bis sie von selber kam. Ein Gefühl von Schmerz flackerte erneut in ihr auf. Sie bohrte ihre Finger ins Gras, konnte das leise Rascheln des Winds in den Blätter nicht genießen, nicht die ersten Sonnenstrahlen spüren, die Wärme zu verbreiten suchten, ihre tastenden Finger nach ihr ausstreckten. Sie schreckte erst auf, als sie Schritte hörte. Ran wandte ihren Blick nach oben, erstarrte. Zuerst dachte sie, er wäre es. Dann erkannte sie, wer es wirklich war, schluckte hart, schalt sich in Gedanken eine Närrin. Neben ihr stand ein junger Mann in weißem Anzug. Die Ähnlichkeit zu Shinichi war unglaublich, aber sie wusste, dass er es nicht war. Zwar trug er heute weder Umhang, noch Zylinder oder Monokel, aber dennoch wusste sie, um wen es sich bei ihm handelte; neben ihr stand KID. Sie sah, dass er schluckte. Kurz warf er ihr einen Blick zu, und sie erkannte, wie erschüttert er war. Auch er trauerte um ihn. Um seinen Gegenspieler, seinen Feind, seinen geachteten Opponenten… eine verwandte Seele. Dann trat er auf den Grabstein zu, holte mit behandschuhten Händen vorsichtig eine Taube unter seiner Jacke hervor. Sachte strich er mit den Fingerspitzen über den Grabstein. Dann streichelte er dem weißen Vogel über das Gefieder, richtete ein paar zerzauste Federn wieder gerade, gab ihr einen Kuss auf den Kopf. „Grüß ihn von mir...“, wisperte er ihr ins Ohr. Langsam setzte er sie auf dem Grabstein ab. Die Taube gurrte leise, raschelte mit den Federn, blinzelte. Ihre schwarzen Knopfaugen glänzten in der Sonne. Kaito trat zurück, neben Ran. Die Taube ruckte noch einmal kurz mit dem Kopf, flatterte probeweise mit den Flügeln - dann hob sie tatsächlich ab, entschwand gen Himmel im gleißenden Sonnenlicht, schien darin einzutauchen. Sie war fort, schien nie existiert zu haben. „Lebwohl.“ Kaito drehte sich leise seufzend um, drückte Ran die Schulter und ging zwischen den Gräberreihen davon. An seinen Eltern vorbei konnte er nicht gehen. Er wollte ihnen seinen Anblick ersparen. Ran schaute immer noch in die Sonne, an den Punkt, wo die Taube verschwunden war. Dann stand sie auf, langsam, warf einen letzten gramerfüllten Blick auf den Grabstein und ging zu ihren Eltern, Heiji, Kazuha, Sonoko und seinen Eltern, sowie dem Professor und Shiho, die geduldig ein paar Meter abseits ausgeharrt waren, zurück. Wieder zuhause angekommen, ging sie in sein Büro. In den Raum, in dem er so präsent war, wie in keinem anderen Zimmer dieses Hauses. Sie rückte seine Kiste gerade auf den Tisch, atmete tief den Duft ein, der über allem lag… Papier, alte Bücher, der Teppich, die Holzlasur… sein Aftershave... dann ging sie. Sperrte das Zimmer ab, schob den Schlüssel ein, als versuche sie, alles was von ihm noch übrig war, alle ihre Gedanken und Erinnerungen in diesem Zimmer einzuschließen. An der Tür blieb sie stehen, ließ sich dagegen sinken. Es war vorbei… Ihr Herz schien sich zusammenzuziehen, ihre Lippen bebten, als sie zurückdachte, was noch vor wenigen Tagen gewesen war. Dann schüttelte sie fast verärgert über sich den Kopf, kniff die Lippen zusammen, atmete stockend aus. Dieses Kapitel in ihrem Leben war heute zugeschlagen worden. Sie musste lernen, damit umzugehen. Aber das schien so unmöglich... Draußen strahlte die Sonne, Licht durchflutete die Eingangshalle, aber sie hatte keinen Sinn für dieses fulminante Bild. Sie betrat das Wohnzimmer, in dem ihre und seine Eltern saßen, hob ihr kleines Mädchen aus dem Kinderwagen und trat ans Fenster, schaute hinaus in den Garten, wo der Frühling die ersten Blumen bereits wach geküsst hatte, im hellen Sonnenlicht das erste Grün sich zeigte. Es war nicht dasselbe Grün, das es noch vor ein paar Tagen gewesen war. Die Sonne war nicht mehr so warm, nicht mehr so hell… Die Welt war eine andere geworden, so komplett, so total, so vollständig, dass es sie selbst fast schockierte. Ihre Welt hatte sich verändert. Nun lag es an ihr, in dieser Welt, die jetzt so anders war, ohne ihn, ihren Weg zu finden. Zärtlich küsste sie ihr Mädchen auf den Kopf. Eine Träne rann ihr aus dem Augenwinkel. Nur eine; und sie ließ sie laufen. Epilog: Epilog- Erinnerungen sterben nicht ------------------------------------------ Seid gegrüßt, liebe, hochverehrte und geschätzte Leserinnen und Leser! (und ich meine das auch so! Das ist keineswegs eine Floskel) Nun- heute ist es soweit; diese in Reinform 233 009 Wörter zählende Geschichte hat ein Ende, nach dem das Leben des Protagonisten es im letzten Kapitel gefunden hat. Vielen Dank für die Kommentare dazu! Ich hab mich sehr gefreut und fühle mich sehr geehrt, dass sich doch einige damit, wenn nicht anfreunden, aber gut damit abfinden haben können. Wie ich es immer gemacht habe, werde ich mich auch bei dieser Geschichte erst am Ende wieder zu Wort melden und überlasse euch hiermit dem Epilog von „Tagebücher“; oder überlasse ihn euch, je nachdem, mit was ihr euch wohler fühlt. In diesem Sinne, viel Vergnügen beim Lesen, bis gleich. ______________________________________________________________________ Epilog- Erinnerungen sterben nicht Gegenwart Sayuri lag im Bett, ihre Tränen waren eben erst versiegt, und starrte an die Decke. Der Besuch bei Sharon hatte sie sehr aufgewühlt; auf gewisse Weise fühlte sie sich hintergangen. Das hier war zu ungerecht. Selbst seine Feinde hatten ihn besser gekannt als sie, seine Tochter... und trauerten zum Teil sogar um ihn. Das war doch nicht fair…! Sie fand das nicht gerecht. Er hatte so früh schon sterben müssen, so grausam... und nicht einmal das Ziel, sie noch zu sehen, hatte er wohl erreicht, wie es den Anschein hatte. Sie konnte nur hier liegen und sich über derartige Ungerechtigkeit beschweren, wie er wohl auch, damals, als… Das war einfach nicht richtig. Er hatte ohnehin schon auf so viel verzichten müssen, dann nicht einmal dieses eine Zugeständnis noch zu bekommen, das war nicht gerecht. Das Leben war einfach nicht gerecht, diese Lehre zumindest hatte sie aus all dem gezogen. Doch dann traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht, ließ sie hochfahren und kerzengerade im Bett sitzen. Woher wusste sie eigentlich, dass er es nicht mehr erlebt hatte? Er hatte seine Bücher beendet... ja. Aber das hieß noch nicht, dass... Dass mit dem Ende der Bücher auch sein Leben zu Ende war. Er hatte es ja bestimmt nicht zugeschlagen und war dann... Sayuri schluckte, fuhr sich mit zitternden Fingern über die Augen. Hoffnung keimte in ihr hoch. Ob ihr Vater… ihre Geburt noch erlebt hatte, konnte ihr ein Mensch ganz sicher sagen. Ihre Mutter. Sie musste es wissen… wissen, ob er einfach willkürlich abgebrochen hatte, mit seinen Büchern… oder ob er es wirklich nicht geschafft hatte. Mittlerweile fragte sie sich ernsthaft, warum sie daran nicht früher gedacht hatte. Sie lächelte bitter, als sie sich die Antwort selber gab. Weil sie mit ihrer Mutter über ihren Vater kein vernünftiges Gespräch führen hatte können, bis jetzt. Nun... vielleicht konnte sie heute ja zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Der Tag war schlimm genug gewesen, es wurde Zeit, dass wenigstens noch eines gut wurde... Sie würde ihrer Mutter sein Geschenk geben. Sie musste es tun. Jetzt. Das Mädchen kramte den Brief und das Päckchen aus der hintersten Ecke ihrer Schreibtischschublade hervor und verließ ihr Zimmer. Ihre Augen waren immer noch rot geweint, als sie, den Plüschteddy zu ihrem ersten Geburtstag fest im Arm haltend, an die Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter klopfte. Ran öffnete ihr, ein Kissen, dass sie gerade frisch beziehen wollte, in der Hand, schaute sie abwartend an. Sie war erschüttert, als sie ihre Tochter so in Tränen aufgelöst sah, und fragte sich doch, warum es sie so erstaunte. Sie hatte doch damit gerechnet, eigentlich. Abwartend schaute sie sie an, seufzte leise. „Also bist du fertig…?“ Sayuri nickte starr. Dann brach es aus ihr heraus, in ihren Augen lag flehende Verzweiflung, ihre Lippen bebten. Sie warf ihre Selbstbeherrschung über Bord, sie musste es wissen, bevor sie hier weitermachen konnte; sie musste wissen, ob sich sein Kampf wenigstens für ihn noch in irgendeiner Weise gelohnt hatte. „Wer… wer hat es denn nun eiliger gehabt?“ Sayuris Stimme klang brüchig. Ran verstand sofort, was sie meinte. Tief atmete sie durch; dann drehte sie sich um, ging zu ihrem Nachttisch und holte aus der untersten Schublade ein Foto hervor. „Du.“ Sie hielt es ihr entgegen, und ein winziges Lächeln war auf ihren Lippen erschienen. Sayuri schaute sie erstaunt an, bevor sie das Foto in ihren Händen anblickte. Ihre Augen wurden groß, als es in die Hand nahm, jeden Quadratzentimeter aufmerksam studierte. Es zeigte ihren Vater, der verdammt blass, aber sichtlich stolz mit einem Baby im Arm in die Kamera lächelte. An ihm lehnte ihre Mutter, gab ihm einen Kuss auf die Wange. Sayuri hielt den Atem an, merkte, wie eine Welle der Erleichterung über sie schwappte, in ihr wohlige Wärme hinterließ. Er war wie auf all den anderen Fotos… Die gleichen Ponyfransen, dieselben Augen. Augen, in denen sie selbst auf dem Foto die Liebe sehen konnte, die er für das kleine Wesen in seinen Händen empfand. Für sie. Für seine Tochter. Sie umklammerte das Foto so fest, dass ihre Hände zitterten. Ihr Vater. Er hatte sie doch noch gesehen... Er hatte sie noch gehalten, ihr noch sagen können… was ihm so wichtig gewesen war. Sayuri brach erneut in Tränen aus. Ran schluckte, zog sie an sich. „Sieben Tage später…“, murmelte sie, ihre Stimme klang heiser. „Nur eine Woche hatte er mit dir… bevor er starb. Er hat sie genossen, das sah man ihm an... und an dem Tag, als er... starb... schien er mit sich im Reinen zu sein. Er hatte erreicht, was er so gern noch erreichen wollte, für das er so gekämpft hatte, aber dann musste er aufgeben, und er tat es... ohne Klagen... ohne Jammern. Er war...“ Sie schluckte. „... sehr tapfer. Ganz im Gegensatz zu mir, ich wollte stark sein, aber ich konnte es nicht... ich wollte ihn unbedingt festhalten... ich... und dann... dann ist er...“ Ran brach ab, sammelte sich. „Und seitdem… seitdem vermisse ich ihn. Es ist so schwer ohne ihn… Ich habe ihn so sehr geliebt, dass ich manchmal glaube, ich bin damals mit ihm gestorben… ein Teil ist das wohl… Du musst das verstehen, ich... ich dachte, ich käme klar damit, damals, aber schon am Tag danach stand fest für mich, dass nichts, gar nichts mehr so war wie vorher, dass ich nicht klar kam damit, dass er weg war, tot war, ich... dachte, es wäre am Einfachsten, mir den Gedanken an ihn nicht mehr anzutun, wo ich ihn doch so sehr vermisse...“ Sie lächelte sanft, strich ihrer Tochter die Tränen von den Wangen. „Wenn ich dich nicht hätte…“ Ran streichelte ihr über den Kopf. Sayuri schluckte, schaute auf das Foto in ihren Händen. Dann erinnerte sie sich an das Päckchen und den Brief, die sie immer noch unter ihrem Arm geklemmt hatte. „Mama,“, begann sie, schniefte, räusperte sich. „Wegen der Sache mit Papas Büro…“ Ran schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Ich bin nicht mehr wütend, ich hatte kein Recht, so auszurasten…“ „Nein…“, unterbrach sie Sayuri bestimmt. „Ich war da drin, weil er geschrieben hat, dass da etwas für dich wäre. Ich sollte es holen und dir geben… falls es… falls du… immer noch nicht den Gedanken an ihn ertragen kannst…“ Ran starrte sie an. „Was hat er?“ Sayuri hielt ihr das Päckchen und den Brief entgegen. „Er hat geschrieben, das wär dein Abschiedsgeschenk. Er hat einen Doyle-Roman ausgehöhlt, um es zu verstecken, es muss ihm wichtig gewesen sein, dass du’s nicht einfach so findest, er wollte ja keine alten Wunden aufreißen... und er wollte es dir damals nicht selber geben, weil es ihm zu makaber schien, sich derart von dir zu verabschieden. Und ich denke, seinen Anforderungen zur Übergabe dieses Geschenks wird unsere Situation gerecht.“ Sie drückte ihrer Mutter etwas hilflos die Sachen in die Hände. Ran ließ sich zu Boden sinken, legte das Kissen beiseite. Ihre Tochter setzte sich ihr gegenüber, das Foto immer noch in den Händen. Ran schluckte, öffnete den Brief. Schon beim Anblick seiner Schrift fingen ihre Augen an zu brennen. Hallo Ran-chan… Sie schloss die Augen, drückte den Brief an sich, atmete tief ein. Allein die Anrede… allein die Anrede reichte, um sein Bild in ihrem Kopf so lebendig wie eh und je erscheinen zu lassen… reichte, um sie glauben zu lassen, seine Stimme zu hören. Sie seufzte leise, dann las sie weiter. Wenn du diese Zeilen liest, ist wohl genau der Fall eingetreten, den ich befürchtet habe. Unsere Intelligenzbestie von einer Tochter hat auf meiner Bitte hin den Brief und das Päckchen gefunden, von dem ich in einem der Bücher geschrieben habe, und es als nötig empfunden, es dir zu geben. Also… Lass mich raten, wie dein Leben aussieht. Du sitzt wahrscheinlich abwechselnd daheim oder in der Arbeit, allein, denn du denkst, du bist mir das schuldig. Da kann ich dir wohl sagen was ich will, du wirst deine Entscheidung… selber treffen. Wahrscheinlich lebst vor dich hin, kümmerst dich bestimmt hervorragend um unsere Tochter… aber an mich denken willst du nicht. Wahrscheinlich sind seit meinem Tod so um die 15 Jahre ins Land gegangen, in unserem Haus hängen keine Bilder von mir, und Sayuri wusste, bis sie dich konkret nach mir gefragt hat, vielleicht nicht mal meinen Namen. Ran schluckte. Er hatte sie anscheinend besser gekannt, als sie je geahnt hatte. Vielleicht verfluchst du mich manchmal, und dazu hast du jedes Recht. Vielleicht verfluchst du dich… oder das Schicksal, weil es entschieden hat, dass wir uns treffen sollten… sicher aber ist, dass du, wenn du dieses Schreiben in den Händen hältst und Sayuri die Lage richtig eingeschätzt hat, als sie es dir gegeben hat, mich immer noch zu sehr vermisst, als dass du deinen Frieden finden könntest… Du Dummerchen. Du weißt, dass ich das nicht will. Ich will nicht, dass du dich quälst. Ich will nicht, dass du den Gedanken an mich nicht erträgst, dass du kein Bild von mir anschauen kannst, ohne dass du drohst, den Verstand zu verlieren, das wollte ich nie, das weißt du. Wenn du also nicht willst, dass ich dich wirklich heimsuche, Ran, und wir beide wissen, du glaubst an Gespenster, das ist also keine leere Drohung; dann hörst du auf damit. Jetzt! Ran musste unwillkürlich auflachen. Sayuri schaute sie an. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie ihre Mutter lachen hörte. Also, wie ich das sehe, hast du zwei Optionen, meine Liebe; du kannst mich entweder völlig vergessen (was dir schwer fallen sollte, bedenkt man die Tatsache, dass unsere Tochter existiert; und ich bin eitel genug zu sagen, dass ich nicht will, dass du das tust. Ich will nicht in Vergessenheit geraten. Punkt. Aus. Ende.) oder du… du denkst einfach mal darüber nach, was ich dir am Tag unserer Hochzeit gesagt habe. Solange du an mich denkst, bin ich bei dir… das solltest du doch wissen, oder merkst du es nicht? Oder versuchst du den Gedanken an mich so sehr zu verdrängen, dass du es nicht merken kannst? Ran? Ich hoffe doch, du weißt, dass ich das ernst gemeint habe, damals. Egal was es kostet, solange du mich nicht vergisst, an mich denkst, werde ich bei dir sein… ich hoffe, du fühlst das… so allein du dich auch manchmal fühlst, du bist es nicht. Ich habe damals nicht alles mitgenommen, als ich ging… ich habe mein Herz bei dir gelassen. Es schlägt immer noch für dich. Ran… ich liebe dich. Du bist die Liebe meines Lebens, warst es immer, wirst es immer sein. Ich bin unendlich froh, dass ich dich treffen durfte, dass ich dich fast vierundzwanzig Jahre kennen durfte, dass du mich nicht in den Wind geschossen hast, als ich Mist gebaut hatte, sondern im Gegenteil… mich geliebt hast. Meine Frau geworden bist, mir immer zur Seite gestanden hast und die Mutter meines Kindes bist. Ich bin so unendlich stolz darauf, der Mann an deiner Seite sein zu dürfen, ich hoffe, ich hab’s nicht zu schlecht gemacht, auch wenn ich manchmal wohl etwas schwierig war. Du hast mir so unendlich viel gegeben, dass ich fürchte, ich hab nur die Hälfte jemals zurückbezahlen können… Ein größeres Glück, als dich zu treffen, konnte mir nicht passieren… und ich frage mich manchmal, ob ich es verdient habe. Andererseits denke ich, wem so großes Glück widerfährt, dem muss auch ebenbürtiges Unglück widerfahren, und das geschieht wohl gerade… die Waage muss wohl irgendwie im Gleichgewicht gehalten werden… es tut mir nur Leid, dass du da mit als Gewicht an der Waage fungieren musst. Was ich damit sagen will, ist... ich will, dass du weißt… auch wenn mein Leben manchmal die Hölle auf Erden war, so habe ich neben all meinen Fehlern auch mal eine Sache richtig gemacht… als ich dir gesagt habe, dass ich dich liebe. Jede Sekunde mit dir habe ich genossen, jeden Augenblick mit dir… sogar unsere Streitereien… und deshalb schmerzt es mich, wenn ich weiß, dass du… nun immer noch so leidest wegen mir. Ich würde dir das so gerne nehmen… mich revanchieren für alles Gute, dass ich durch dich erfahren durfte. Ran, was passiert ist, kann man nicht ändern. Schau nach vorne, ich bitte dich. Freu dich an dem, was du hast, trauere nicht mehr hinterher, was nicht wiederkommen kann… Und vergiss nicht, ich bin bei dir, wenn du mich lässt. Ich habe dich nie verlassen, und ich habs auch nicht vor. Also… auf das wir uns eines Tages wieder sehen, Gib unserer Tochter einen Kuss von mir, Lebwohl, dein Shinichi XXX (<- Da schaust du! Ich habs doch noch herausgefunden, für was dieses dämliche x steht ;D Es ist ein Kuss! Ha! Wie kommt man auf sowas?!) Ran schniefte, weinte und lachte zugleich. Es hatte gut getan, den Brief zu lesen, doch sie fragte sich jetzt dennoch, warum es ihn eigentlich bedurft hatte, um ihr die Augen zu öffnen; die Antwort darauf kam ihr allerdings gleich selber in den Sinn. Er hatte ihr all das immer wieder gesagt, aber es schien, als hätte es davor… einfach nicht genützt. Da war er noch dagewesen… damals hatte sie seine Worte noch nicht gebraucht. Jetzt brauchte sie sie, und sie zu lesen… sie sogar irgendwie fast zu hören… tat unglaublich gut. Es tat so gut. Das war er… Shinichi, wie er immer gewesen war, und wie so oft hatte er auch diesmal Recht gehabt, das sah sie ein. Sie seufzte, ließ ihre Augen noch einmal über die Zeilen gleiten. Ran strich sich die Tränen aus den Augen, zog sie ihre Tochter an sich, gab ihr einen Kuss auf die Stirn, drückte sie an sich. „Ich war so dumm…“, flüsterte sie leise. „Ich war dumm, so dumm…“ Sayuri schmiegte sich an ihre Mutter, seufzte leise. Sie hätte nur zu gerne gewusst, was in dem Brief stand… was es gewesen war, das ihre Mutter so umgekrempelt hatte. Lange saßen sie so da und schwiegen. Dann schob Ran ihre Tochter ein wenig von sich, um das Päckchen aufmachen zu können. Sayuri schaute ihr aufmerksam zu, ihr Kinn in die Hände gestützt, ganz und gar zufrieden mit ihrer Arbeit, und der ihres Vaters. Langsam schien sich doch alles zum Guten zu wenden, es hatte wirklich lange genug gedauert… aber noch wagte sie nicht, vollends aufzuatmen. Etappensiege kannte sie ja schon… es galt aber, den ganzen Wettkampf, nicht nur die Schlacht sondern den Krieg für sich zu entscheiden, und so schwieg sie, wartete ab. Ran unterdessen wickelte das Papier auf, erstarrte, als sie sah, was sich darin befand. Ihre Augen wurden groß. In ihren Händen hielt sie ihr Hochzeitsfoto. Er hatte es wohl nachmachen lassen und gerahmt. Vorsichtig nahm sie das Foto in die Hand, berührte sein Gesicht, zog unwillkürlich die Beine an, kauerte sich zusammen. Sie erinnerte sich, wie glücklich der Tag gewesen war. Einer der… einer der glücklichsten Tage in ihrem Leben, zusammen mit Sayuris Geburtstag und dem Tag, an dem er wiedergekommen war... So hockte sie da, schwelgte in Erinnerungen und merkte, wie der Verlust, den sie erlitten hatte, wie das Loch, dass sein Verschwinden gerissen hatte, wieder von neuem aufbrach – aber diesmal schien es irgendwie richtig. Jeden Moment, den sie sich je eingeprägt hatte, rief sie sich ins Gedächtnis, und trauerte ihm hinterher, aber steckte ihn nicht in die finstere Ecke zurück, aus der sie ihn hervorziehen hatte müssen. Sie wollte sie festhalten, am besten alle auf einmal. Es war alles so schön gewesen. Eigentlich zu schön, um in Vergessenheit zu geraten, viel zu schön. Dann merkte sie, dass hinten am Foto ein Zettel steckte, und ein kleines, sehr flaches Päckchen klebte. Sie stutze, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann faltete sie zuerst den Zettel auseinander, stutzte, als sie ihre Augen über die Zeilen gleiten ließ. Sie legte ihn auf den Boden, strich ihn glatt, damit Sayuri, die neben ihr saß, sie auch lesen konnte. Auf dem Blatt standen seine Worte; die, die er gesprochen hatte, damals, am Abend ihrer Hochzeit, als die Gäste längst gegangen waren, und sie beide allein am Balkon gestanden hatten und in den sternenübersäten Nachthimmel geblickt hatten. Er hatte sie ihr aufgeschrieben. Denn wahrlich, wirklich sterben wir erst, wenn jede Erinnerung an uns verblasst, wenn unser Name nicht einmal mehr Schall und Rauch ist - erst dann sind wir gegangen - denn dann haben wir nie existiert. Aber solange noch ein Mensch an uns denkt, Ran - solange es nur eine Menschenseele gibt, die sich daran erinnert, wer wir gewesen sind - solange leben wir fort, in den Herzen unserer Lieben, in den Herzen derer, die unseren Namen nicht vergessen haben. Ich werde immer bei dir sein, solange du an mich denkst… solange du nur an mich denkst… In Gedanken wanderte sie zurück in die Nacht ihres Hochzeitstages. Stand wieder auf dem Balkon, mit ihm, schaute sich die Sterne an. Roch die klare, kühle Nachtluft, erinnerte sich an seine Augen, die sie damals so fest angesehen hatten, so entschlossen... erinnerte sich an seine Stimme, die flüsternd an ihr Ohr gedrungen war. Und erinnerte sich an das Gefühl des Trostes, das sie damals verspürt hatte, als sie seinen Worten gelauscht hatte. Welche Hoffnung sie in ihr geweckt hatten. Sie hatte seine Worte niemals vergessen… aber sie hatte vergessen, danach zu leben, so wie sie es sich eigentlich vorgenommen hatte. Der Schmerz hatte sie blind und taub werden lassen. Sie seufzte leise, wandte sich dann ihrer Tochter zu, schob ihr das Blatt hin. „Das ist von ihm. Weißt du, wann er das gesagt hat?“, murmelte sie leise, schaute ihre Tochter an. Sayuri las es leise, dann schüttelte sie den Kopf. „Am Tag unserer Hochzeit. Abends… als alle Gäste bereits gegangen waren, und ich… nun…“ Sayuri nickte, signalisierte ihrer Mutter, dass sie verstand. „Ich hab sie nie vergessen…“, murmelte Ran leise. „Nie. Ich hab… nur nicht mehr daran geglaubt, weil es so weh tat, verdammt… als er starb, es tat so weh…“ Sie schluckte hart. „Aber… er hat Recht. Er hatte es damals und heute nichtsdestoweniger. Ich hab es verdrängt, ich hab mich verschlossen, ich… sah ihn als Teil meines Lebens, der unwiederbringlich verloren ist, hab verlernt ihn als Teil meines Lebens zu sehen, der noch ist.“ Ran atmete durch, umklammerte das Bild mit beiden Händen, lächelte dann langsam. Ja, es stimmte doch, so abgedroschen diese Phrasen auch klangen, sie stimmten. Durch sie lebte er weiter. Durch ihre Liebe wurde er unsterblich. Sie würde ihn nie vergessen, und in ihren Erinnerungen, sowie in seiner Tochter, würde er ewig weiterleben. Das war sie ihm schuldig, nichts anderes hatte er verdient. Denn… er war nie ganz von ihr gegangen. Sorgsam stellte sie das Foto wieder hin, vor sich auf den Boden, begann, mit dem Ehering an ihrem Finger zu spielen. Langsam sah sie auf. „Es tut mir Leid. Ich hab mich benommen wie… ich weiß auch nicht. Ich hätte dir wirklich viel früher von ihm erzählen sollen, ich hätte… ich hab so viele Fehler gemacht. Mein Verhalten war einfach… inakzeptabel, eigentlich.“ Sie strich sich die Haare aus den Augen, atmete langsam aus. „Ich dachte wirklich, er wäre verloren und vergangen, einfach weg. Ganz und gar. Dass er alles Gute, was er brachte, wieder mitgenommen hätte… Dabei stimmt das gar nicht…“ Sie lächelte, gab Sayuri einen Kuss auf die Stirn, berührte sie kurz an der Wange. „Wir haben immer noch die Erinnerung an ihn. Viele kostbare Erinnerungen… und auf jede einzelne sollte man aufpassen …“ Sie seufzte. „Und genau das habe ich nicht getan. So lange nicht getan, obwohl ich es ihm versprochen hatte… ich hatte es ihm wirklich versprochen.“ Sie lächelte bitter, schaute das Foto an. Sayuri schluckte, blinzelte sie an. „Verzeih mir… ich muss mich wirklich bei euch beiden entschuldigen…“ Dann nahm sie das Päckchen, ihre Finger zitterten immer noch leicht; und wickelte es auf. Zum Vorschein kam ein kleines, goldenes Medaillon an einer feingliedrigen Kette. Sie strich mit ihren Fingerspitzen zart darüber; dann klappte sie es auf. In der Fotoseite klebte ein Bild von ihm; auf dem Deckel war mit Emaille eine blaue Blume gemalt, in der Innenseite standen eingraviert drei Worte. Erinnerungen sterben nicht. Ran seufzte tief, wischte sich über die Augen, schaute auf das Medaillon in ihrer Hand. Langsam hob sie die Hände, nahm die Kette mit dem Herz ab, wand ihrer Tochter das silberne Band um den Hals, blickte sie zufrieden an. „Versprich mir, dass du gut drauf aufpasst... ich habs von ihm an seinem letzten Weihnachten gekriegt.“ Sayuri nickte nur, schaute sie sprachlos an, schluckte, als sie mit ihren Fingern nach dem Kristallherz tastete, das ihre Mutter, solange sie sich erinnern konnte, immer getragen hatte; sah dann dabei zu, wie ihre Mutter den Deckel des Medaillons schloss, es sich umlegte, mit ihren Fingerkuppen darüber streichelte. Anschließend stand sie auf, stellte das Hochzeitsfoto auf ihr Nachttischchen. Als sie das getan hat, zog sie Sayuri hoch, lächelte sie an. „Stell das Familienfoto ins Wohnzimmer, Sayuri.“ Ihre Tochter schaute sie überrascht an. „Sicher?“ „Ja.“ Ran nickte entschlossen. „Er hat sich seinen Platz hier verdient… ich hab ihm viel zu lange verwehrt, was ihm gebührt. Einen Platz in unserer Mitte. Den soll er nun haben. Denn…“ Sie seufzte tief, aber befreit auf, schaute aus dem Fenster, vor dem der Wind durch die Zweige fuhr, „solange wir ihn nicht vergessen, bleibt er bei uns. Lebt er weiter… und hat ein Auge auf uns.“ Sayuri lächelte sie an, zufrieden, merkte, wie Erleichterung sie fast zu übermannen drohte. Sie hatten es geschafft, tatsächlich… endlich waren sie wieder das, was sie sein sollten. Eine Familie. Trotz dem Schmerz und der Trauer, die immer noch in ihr herrschten, erlangten nun langsam andere Gefühle wieder die Oberhand. Dankbarkeit. Stolz… und Liebe. Zuversicht. Ran schaute ihr nach, als sie sichtlich gut gelaunt mit dem Familienfoto verschwand, atmete tief durch, griff das Medaillon mit ihrer rechten Hand. In unseren Erinnerungen lebst du weiter... Shinichi. Es war ihr, als würde sie ihn lächeln sehen. _____________________________________________________________ Ja. Das wars nun ^.^ Hiermit bedanke ich mich speziell für alle Kommentare- Ehre wem Ehre gebührt, in alphabethical order ;D -Chris-Vineyard- -Lesca- Ai-alias-Shiho angelwater Anifan Baiju Black_Taipan Dans-Girl DConanFan Diracdet Doro-Li Haineko Itako_no_Anna jena210589 KaitoDC Kikili lorelai-rory le_commisaire Leylis littleangelheart LittleTui mondscheindieb Nightstalcer pluS_cheR_desiR Pirlipat RanKudo revive Ryoko-chan Shelling__Ford Sherry17 Shi_Ran-chan Shini-Girl Stellax3 SuzakuKururugi TimeladyRose vingionis waffelcrepe Ich danke euch sehr, ehrlich...!!! In diesem Sinne- vielen, vielen Dank, an alle, dass ihr diese Geschichte gelesen habt! Wirklich, das bedeutet mir mehr als ihr ahnt… Ich danke auch all den Leuten, die meine Geschichte zu ihren Favoriten zählen- Leute, das ehrt mich! *rotwerd* Nun- nachdem diese Monsterfic nun also ein Ende hat, werde ich mich für die nächsten paar Monate vom Mexxschen Server zurückziehen, zumindest was die großen Fictions betrifft; die nächste steht zwar schon in den Startlöchern, aber wer interessiert ist, muss noch bis Dezember warten. Ich verspreche dafür, dass Shinichi sie überleben wird ^.~ Das kann ich versichern ^.^ In diesem Sinne, würde es mich freuen, im Dezember wieder ein paar von euch zu sehen- Datum wird in meinem Steckbrief bekannt gegeben, wer persönliche Benachrichtigung wünscht, möge mir dies per Kommentar oder ENS mitteilen. In diesem Sinne, machts gut! Eure Leira *verbeug* Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)