Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 4: Auftakt ------------------ Seid gegrüßt, meine lieben Leserinnen und Leser! Vielen vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Ehrlich, ich dank euch sooooo sehr!!!!!!!!! Euer Feedback ist mir echt viel wert. Freut mich, dass ihr euch schon Gedanken über den Boss gemacht habt- wie ihr euch wohl denken könnt, hülle ich mich aber noch in Schweigen, wen ich dafür ausgewählt habe ^.~ Nun… wie der Name schon sagt, dies ist ein Auftaktkapitel- es werden Weichen gestellt für den weiteren Verlauf der Geschichte. Ich wünsch euch viel Vergnügen damit- Bis nächsten Dienstag, eure Leira :D ______________________________________________________________________ Kapitel 4: Auftakt Ai saß zusammen mit den Detective boys und dem Professor etwas abseits von der anderen Campergruppe auf einer Decke vor dem Zelt und stierte in den Boden. In ihren Händen hielt sie eine Dose Cola, die sie langsam aber beständig immer mehr zusammendrückte; hin und wieder war das knackende Geräusch sich verformenden Bleches zu vernehmen. Getrunken hatte sie noch keinen Schluck; stattdessen versuchte sie krampfhaft, nicht zu Azusa zu sehen, die gerade einen Schlafsack zusammenrollte, nur ein paar Meter von ihr entfernt. Diese Frau, diese rothaarige Hexe, dessen war sie sich sicher, war für Conans Verschwinden verantwortlich. Ai seufzte, bohrte ihre Zehenspitzen in die Sohlen ihrer Schuhe, nahm nun doch einen Schluck der zuckersüßen, koffeinhaltigen Flüssigkeit, um deren Rezeptur man so ein großes Geheimnis machte. Sie machte sich Sorgen um ihn. Die junge Forscherin zog ihre Augenbrauen kraus. Sie wusste nicht, ob man ihn schon umgebracht hatte, oder noch lebte. Ob man ihn womöglich in diesen Momenten befragte, und er sich weigerte, etwas zu sagen… Bestimmt würde er sich weigern… Und sie wusste genau, wie man mit jenen verfuhr, die sich als wenig gesprächsbereit erwiesen. Mit zitternden Fingern stellte sie die Coladose ab, fuhr sich durch die Haare, immer wieder; es schien, als würde sie versuchen, mit ihren Fingern diese Vorstellungen aus ihren Haaren und damit aus ihrem Kopf zu kämmen. Es gelang ihr nicht. Die Detective Boys, der Professor und sie hatten die letzten paar Stunden Conans anhand der Reifenspuren, auf die sie gestoßen waren, nach ihrer Suche, folgendermaßen rekonstruiert: Conan war als erster aufgewacht, sofern er überhaupt geschlafen hatte, in dieser Nacht… und hatte sich völlig planlos und kopflos auf den Weg zum Meer gemacht, warum auch immer. Für Ai war der Grund absolut klar; er hatte nachdenken müssen, wegen Ran. Wegen Ran. Wie so oft... Er hatte überlegt, was er ihr sagen sollte. Dazu, ihr irgendwas zu sagen, war er wohl nicht mehr gekommen; und würde es vielleicht auch nie... Sie hob ihren Kopf, blickte nun doch zu Azusa. Die Sonne ließ ihr Haar wie Kupfer leuchten. Ai blinzelte, wandte aber den Blick nicht von ihr. Die Spuren am Strand waren offensichtlich, und in ihrer Offensichtlichkeit überwältigend. Ihr war richtig schlecht geworden, bei dem Gedanken, dass Shinichi Kudô, eigentlich ein junger Mann, sportlich, trainiert… aber in seiner momentanen Erscheinungsform einfach nicht in der Lage, sich gegen die Frau zu wehren… einfach so überwältigt werden konnte. Er war so hilflos gewesen. Er war ein Kind. Und als solches hatte er den Kampf gegen jeden Erwachsenen verloren, bevor er angefangen hatte. Sie biss sich auf die Lippen. Sie waren den Spuren gefolgt, bis zu einer Stelle, wo ein Auto geparkt war. Von dem Auto führten frische Spuren weg; und frische kamen an. Ein Indiz dafür, dass der Wagen vor kurzem weggefahren und wieder geparkt worden war. Dieser Wagen hatte ihn an einen Ort gefahren, der ihnen ungekannt war. Sie waren den Spuren bis auf die Straße gefolgt; ab dem Zeitpunkt, wo das Auto auf den Asphalt gerollt war, hatten sie keine Chance mehr gehabt, ihm zu folgen. Sie wussten zwar die Richtung; aber sie hatten keine Ahnung, wie weit gefahren worden war, ob irgendwann einmal abgebogen worden war… und deswegen hatten sie die Suche vorerst abgebrochen. Das hier war ein Fall für die Polizei, soviel war ihnen klar geworden, wenn auch manchen mehr als anderen. Ai stand auf, drehte sich um, blickte wieder in Richtung Meer. Warum hat sie dich erkannt… und nicht mich? Immer wieder kreiste dieser eine Gedanke in ihrem Kopf. Erklärung gab es nur eine; sie war ein neues Mitglied, und wusste nichts von Sherry, oder hatte zumindest noch kein Bild von ihr gesehen, erst recht nicht als Kind. Zusätzlich musste sie aber den Namen Shinichi Kudô gehört haben, und zwar in Zusammenhang mit der Organisation… und sie musste herausgefunden haben, dass Shinichi Kudô Conan Edogawa war. Eine seltsame Faktensammlung. Der Professor schaute seine kleine Mitbewohnerin sorgenvoll an, trat dann zu ihr, nahm sie bei der Hand. Sie schaute auf, dann klammerte sie ihre kleinen Finger um seine großen Hände, biss sich auf die Lippen. Sie strahlte Angst ab wie ein Heizkörper Wärme. Mitsuhiko, Genta und Ayumi hingegen waren entrüstet, vergessen war der Konflikt vom vorangegangen Tag; man hatte Conan entführt, und Conan war ihr Freund. Sie warfen der rothaarigen Frau immer wieder böse Blicke zu. Ai hatte sie soweit eingeweiht, dass wohl die Frau die Täterin sein könnte; allerdings mit der Begründung, dass sie heute erst als Letzte erschienen war, als man schon nach Conan suchte. Den Kindern schien der Grund auf jeden Fall zu genügen. Alles andere, was noch hinter dieser Entführung steckte, die wahre Motivation dieser Frau - das mussten sie nicht wissen. Noch nicht. „Wir müssen die Polizei informieren.“ Mitsuhikos Stimme klang entschlossen und riss sie alle aus ihren Gedanken. Ai schluckte, beobachtete Azusa aus ihrem Augenwinkel. Agasa schaute hinab zu seiner kleinen Mitbewohnerin, runzelte sorgenvoll die Stirn. Das rotblonde Mädchen spürte seinen Blick auf ihr ruhen, schaute auf; sah die unausgesprochene Frage in seinen Augen, ob man Mitsuhikos Vorschlag Folge leisten sollte, und nickte. „Informieren können wir sie ja… wenn wir Glück haben, glauben sie uns. Aber es kann auch sein, dass man unseren Fall erst nach vierundzwanzig Stunden bearbeitet, wie es halt für… Vermisstenmeldungen üblich ist.“ Sie seufzte leise, schaute wieder auf den Boden. Agasa neben ihr zückte sein Handy, und bald darauf hörte man ihn mit einem Beamten diskutieren. Als er aufgelegt hatte, schauten sie ihn alle, bis auf Ai, erwartungsvoll an, auch wenn sie sein Gespräch eben hatten gut mitverfolgen können. „Leider hatte Ai Recht. Meguré kam zwar auf meine Bitte selber ans Telefon, aber er bedauert, uns erst nach vierundzwanzig Stunden helfen zu können; es sei denn, wir können beweisen, dass diese Azusa ihn entführt hat.“ Mitsuhiko seufzte laut und entnervt auf, dann stand er auf, begann hin und her zu laufen. Ayumi und Genta taten es ihm gleich. Der Professor schaute den drei Kindern beim Nachdenken zu, als er merkte, wie Ai mit etwas vor seiner Nase herumwedelte. „Was soll ich mit deinem Handy…?“ „Schauen Sie aufs Display. Das ist Jodies Nummer, sie hat sie mir gegeben, als ich mich entscheiden sollte, ob ich ins Zeugenschutzprogramm will oder nicht…“ „Das FBI wollte dich ins Zeugenschutzprogramm stecken?!“ Agasa schaute seine kleine Mitbewohnerin bestürzt an. Ai warf ihm einen genervten Blick zu. „Ja, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Rufen Sie sie an, sagen Sie ihr, was wir wissen. Wenn Sie dem FBI sagen, dass Conan von der Schwarzen Organisation entführt worden ist, werden die sofort was tun… allerdings… müssen Sie denen wohl… alles erzählen.“ Ihre letzten Worten waren nur mehr gewispert und kaum zu verstehen. Agasa wurde weiß, starrte sie mit aufgerissenen Augen erschrocken an. Langsam beugte er sich zu ihr, versicherte sich mit einem raschen Blick, dass keiner ihm zuhörte. „Alles?“, raunte er. „Auch das mit…? Bist du dir sicher?“ Ai nickte nur. „Ja. Es geht um sein Leben… sie müssen wissen, wie ernst die Sache ist. Sie müssen begreifen, wie sehr er eigentlich in die Sache mit der Organisation verwickelt ist, dass er ein Risiko ist für sie und ihnen die Suppe versalzen kann und sie das auch spätestens jetzt wissen dürfte... und dass sie alles tun wird, um sich gebührend zu rächen.“ Sie schluckte, drehte den Kopf weg. „Das FBI muss begreifen, dass die Schwarze Organisation nicht zögern wird, ihn umzubringen. Dass genau das es ist, was sie schon so lange tun wollen.“ Bedrückt seufzte das kleine Mädchen auf. „Und wenn Sie dem FBI das alles so verklickert haben… dann sollten Sie auch Kogorô anrufen. Und… die Kudôs…“ Der alte Mann schluckte, dann nahm er Ais Handy und wählte die Nummer, trat ein wenig abseits. Das Freizeichen ertönte. Dann… „Jodie Starling? How can I help you?“ Die junge Frau klang nicht so verschlafen, wie er befürchtet hatte. Schließlich musste die Zeitverschiebung ja doch in Rechnung gezogen werden. „Hallo?!“ Agasa merkte, dass er sich in Gedanken treiben hatte lassen und räusperte sich eilig. „Hallo Miss Starling, hier… hier spricht Professor Hiroshi Agasa… vielleicht erinnern Sie sich an mich…“ Er klang nervös. Jodie runzelte die Stirn. „Oh, Professor? Yes, of course, ich erinnere mich! Nice to hear you… but how did you get my number, if I’m allowed to ask…?“ Der alte Mann holte Luft. „Von Ai Haibara. Ich telefoniere mit ihrem Handy. Sie riet mir, sie über den Sachverhalt, in dem wir momentan stecken, zu unterrichten… vielleicht können Sie und ihre Kollegen uns hier weiterhelfen…“ Man konnte fast hören, wie Jodie am anderen Ende der Leitung stutzte; dann fand sie ihre Stimme wieder, leise hörte er ihren Atem an seinem Ohr. „Well then… schießen Sie mal los, Professor. Bei welchem Problem denken Sie denn, dass das FBI Ihnen helfen kann?“ Agasa schluckte, vergewisserte sich, dass ihm außer Ai keiner zuhörte. „Es geht um Conan. Und um die Schwarze Organisation. Wissen Sie, es verhält sich folgendermaßen; er steckt da weit tiefer drin, als Sie vermuten. Und heute wurde er… es besteht starker Grund zur Annahme, dass sie ihn haben. Entführt. Durch einen… dummen Zufall.“ Jodie runzelte die Stirn. Langsam ließ sie sich in den Sessel ihres geräumigen Zimmers sinken. „Welches Interesse hat die Organisation an einem kleinen Jungen? Soweit ich weiß, ist er ihnen noch unbekannt, denke ich? Und welches Interesse hat er eigentlich an ihr, das würde mich mal schon lange interessieren, abgesehen von seinen detektivischen Ambitionen, da ist doch mehr dahinter, isn’t it? Und wie tief kann er denn da drin stecken…?“ Sie wusste, diese Fragen waren mehr oder minder rhetorisch; all diese Fragen hatte sie sich bereits hundertmal gestellt, war nie auf einen grünen Zweig gekommen, und jetzt schien die Situation gekommen, sie doch einmal zu stellen, auch wenn sie fast nicht auf eine Antwort hoffte. Zwar hatte sie versucht sie sich zu klären; aber bis auf die absolut hahnebüchene Theorie, dass Conan einfach kein kleiner Junge mehr sein konnte und sich irgendwie mit dieser Verbrecherorganisation angelegt hatte, war sie nie auf eine plausible Lösung gekommen. Irgendwann hatte sie sich damit abgefunden, dass der Junge einfach einen unglaublichen Gerechtigkeitssinn hatte, und das Unrecht, die Gräueltaten, die diese Organisation verschuldete nicht länger dulden konnte. Was auch immer einen sechsjährigen Grundschüler dazu bewog, sich dieser Verbrecherbande entgegenzustellen; er war fähig, es mit ihnen aufzunehmen, seltsamerweise. Er war schlau, intelligent, er hatte eine famose Beobachtungsgabe und kombinierte und schlussfolgerte schneller und präziser als Sherlock Holmes himself. Allerdings… so es denn eine andere Erklärung, eine andere Antwort auf ihre Fragen gab, so wollte sie sich diese gern anhören. Dann riss das leise Räuspern des Professors sie wieder in die Realität zurück. „Sagt Ihnen der Name Shinichi Kudô etwas, Miss Jodie?“ Langsam fiel ihr ihre Kinnlade nach unten. Das Gesicht eines lachenden Oberschülers trat vor ihre Augen. Der Junge, der Ran damals auf dem Sommerfest überrascht hatte. Could it be really true…? „Go ahead…“, murmelte sie, sagte dann nichts mehr, hörte nur zu, als der alte Mann erzählte, mit sehr gedämpfter Stimme; die Gesichte von Shinichi Kudô alias Conan Edogawa… die Geschichte von Shiho Miyano alias Ai Haibara. Sie hatte den Mann einfach reden lassen, hatte ihn nicht unterbrochen. Aber als ihr der alte Professor fertig erzählt hatte, was es mit Conan und auch mit Ai auf sich hatte, wer die beiden wirklich waren, und wie sie in ihre Situation gekommen waren… wäre ihr fast das Handy aus der Hand gefallen. Am Ende war sie bleich geworden, weiß wie die Wände ihres Appartements, als er fertig erzählt hatte. Conan, das hieß, Shinichi, der eigentlich schon längst tot hätte sein sollen, war erkannt und entführt worden. Von der Schwarzen Organisation. Fakt war… er war wohl so gut wie tot. Sie presste das kleine Mobiltelefon fest gegen ihr Ohr, seit ein paar Minuten herrschte Schweigen in der Leitung. „Und Sie schwören, dass das alles die Wahrheit ist?“, fragte sie. Ihre Stimme zitterte leicht und sie schämte sich dafür. „Every single word is true?” Ihre Worte klangen drängend; fast so, als wollte sie es nicht wahrhaben. „Miss Jodie…“, seufzte Agasa. „Sie kennen doch Vermouth, nicht wahr?“ Dieser Satz traf Jodie wie ein Schlag ins Gesicht und räumte mit einem Mal all ihre Zweifel aus. „Ich informiere Mr. Black und Shuichi Akai.“ Sie schob sich nervös ihre Brille auf die Nase. „Sie haben wirklich Glück, wir sind momentan alle in Japan. Wir kommen unverzüglich zu Ihnen. Wo sind Sie nochmal genau?“ Nachdem er ihr eine genaue Wegbeschreibung geliefert hatte, legte er auf, trat zurück zu Ai und gab ihr ihr Handy wieder. „Haben Sie große Überzeugungsarbeit leisten müssen?“, fragte sie leise. Der Professor schüttelte sein Haupt. „Nein. Der Namen Vermouth reichte aus, um die letzten Zweifel zu beseitigen. Wenigstens etwas.“ Er seufzte tief. „Dann informiere ich mal zuerst noch… Yusaku und Yukiko…“ Er schluckte. Dann zückte er sein eigenes Mobiltelefon und wählte eine Nummer in den Vereinigten Staaten. Es hob keiner ab. Auch nachdem er drei Minuten gewartet hatte, hatte niemand seinen Ruf erhört. Agasa zog verwirrt eine Augenbraue nach oben. „Nanu? Sind sie vielleicht verreist? Davon hat Shinichi ja gar nichts erzählt…“ Er legte auf, wählte dann eine Handynummer an. Hier dauerte es wiederum nicht lange, bis jemand das Gespräch annahm; eine nur allzu bekannte Frauenstimme meldete sich. „Yukiko Kudô?“ „Hallo Yukiko.“ Agasas Stimme krächzte, und er räusperte sich vernehmlich, um seine Stimme wieder zu klären. „Hallo Yukiko.“, begann er erneut. „Ich bins, Hiroshi. Ist… ist Yusaku zufällig in der Nähe? Und wo seid ihr eigentlich gerade?“ „Hallo Hiroshi!“ Die Stimme der ehemaligen Schauspielerin klang freudig erregt. „Schön, von dir zu hören! Nein, Yusaku ist grad nicht hier, er meinte, er müsste kurz etwas erledigen und käme dann wieder, es würde nicht lang dauern. Verlagskram… wir sind ja wegen der Promotour unterwegs, er trifft sich mit einem Promoter. Ist es wichtig? Brauchst du ihn sofort?“ „Äh…“, fing Agasa an, wurde allerdings sofort wieder unterbrochen. „Ach ja, wir sind in Japan. Um deine Frage von gerade eben noch zu beantworten.“ Sie lachte vergnügt. „Wir wollten unseren Sohnemann mal wieder überraschen, sehen, was er so macht… wir sind gerade, das heißt, vor zwei Stunden aus dem Flugzeug in Tokio gestiegen, um ehrlich zu sein räum ich hier gerade auf, während mein lausiger Ehemann mit einem Taxi abgedampft ist. Wo seid ihr denn? Und warum rufst du eigentlich an, nicht dass ich mich nicht über deinen Anruf freuen würde, aber…“ „Shinichi wurde entführt.“ Er hatte es sehr leise gesagt, damit die Kinder den richtigen Namen ihres Freundes nicht mithörten; allerdings war seine Stimme immer noch laut genug gewesen, um der Frau am anderen Ende der Leitung buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Mit zitternden Knien ließ sie sich auf ihrem Koffer nieder, konnte nicht fassen, was sie gerade gehört hatte. Saß da, in ihrem Schlafzimmer und das einzige Geräusch, das sie wahrnahm, war ihr eigener Atem, und das Rauschen des Bluts in ihren Ohren. Sie kniff die Augen zusammen, schüttelte dann langsam den Kopf. Shinichi ist nicht… „Was hast du gesagt, Hiroshi?“, fragte sie mit bebender Stimme. Das ist nicht wahr… „Ich glaube, ich habe dich gerade falsch verstanden… du hast gesagt, Shinichi wäre… wäre entführt worden…“ Ihre Fingerspitzen waren eiskalt geworden. Der Professor schluckte. Er hatte geahnt, dass sie so reagieren würde, aber er hatte sich dazu entschlossen, ihr ohne viel um den heißen Brei herumzureden zu sagen, was Sache war. Dass sich ihr Sohn in akuter Lebensgefahr befand. „Du hast dich nicht verhört.“ Er schluckte. „Yukiko, du musst jetzt… du musst dich zusammennehmen, hörst du? Ruf Yusaku an, er soll kommen, seine Bücher verkaufen sich doch auch ohne Promotion. Dann erzähle ich euch beiden, was passiert ist, auch wenn es nicht viel zu sagen gibt… soweit wir jetzt wissen, wurde Shinichi heute Morgen von einem Mitglied der Schwarzen Organisation entführt.“ „Aber… aber… Hiroshi!“ Sie klang aufgewühlt und den Tränen nahe. „Ruf Yusaku an. Egal was er zu tun hat, nichts kann wichtiger sein als euer Sohn.“ Der alte Mann schluckte. „Geht das?“ Yukiko biss sich auf die Lippen, nickte tapfer. „Es muss wohl.“, murmelte sie, wischte sich entschieden über die Augen. „Habt ihr… die Polizei…?“ „Aber sicher. Und das FBI auch. Du brauchst dir jetzt keine Gedanken zu machen. Wir tun hier alles Mögliche, damit ihr ihn bald wieder habt, damit ihm nichts passiert… Bis dann.“ Er schluckte, dann legte er auf. Und wählte schließlich noch eine letzte Nummer. Die der Detektei Mori. Sein Telefon läutete, als er gerade das Gebäude verließ, in dem er seine Besprechung gehabt hatte; er schaute aufs Display, erkannte die Nummer seines Festnetzanschlusses und wusste sofort, dass sie es war. Seufzend hob er ab. „Yukiko, Schatz. Was gibt’s?“ „Du musst sofort nach Hause kommen!“ Er konnte die Tränen, die in ihrer Stimme deutlich herauszuhören waren, vor seinem inneren Auge über ihre Wangen rollen sehen. Yukiko Kudô lief im Kreis, presste das schnurlose Telefon mit beiden Händen an ihr Ohr. Sie zitterte, ihre Finger klammerten sich um den Hörer, so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. „Sofort!“ Er schluckte, starrte blicklos auf die Straße. Vor ihm raste der Verkehr Tokios vorbei, laut, lärmend, aber er hörte ihn nicht. „Yukiko… Was ist passiert…?“ Er fragte sie behutsam, obwohl die Antwort eigentlich klar war. Es gab nicht viel, was seine Frau so aufregen konnte. Ihre Stimme hatte genau den gleichen Tonfall, zitterte genauso stark wie damals, als sie ihn über Shinichis ‚Unfall‘ unterrichtete. Er war damals nicht zuhause gewesen, als sie von Hiroshi von Conan erfahren hatte, und hatte das bereut, sehr bereut… diese Nachricht hatte ihre Welt ziemlich erschüttert, an jenem Tag. Auch wenn sie sich langsam abgefunden hatte und manchmal sogar vergnüglich fand, an dem Abend war für sie diese Sache schlicht unerträglich gewesen. Ihr Sohn, der jetzt… Er schluckte, dachte den Gedanken nicht weiter, in düsterer Vorahnung dessen, was gleich passieren würde. „Sie…“ „Sie…?“, wiederholte er geduldig, bewegte sich nicht von der Stelle. „Sie…“ Ihre Stimme zitterte. Mittlerweile war sie stehen geblieben. Die Tränen waren versiegt, in ihren Augen spiegelte sich namenloses Entsetzen, als sie sich ausmalte, vor Augen führte, was man in diesen Momenten womöglich gerade mit ihrem Sohn anstellte. „Sie haben ihn, Yusaku.“, wisperte sie leise. So leise, dass er sie eigentlich nicht verstand. Er wusste dennoch, was sie gesagt hatte. „Sie haben ihn, hörst du!“, wiederholte sie, diesmal deutlich hörbar. Sie war außer sich. Ihre Stimme wurde lauter, Verzweiflung mischte sich in ihren erregten Tonfall. „Shinichi wurde entführt! Entführt! Von diesen Kerlen, von… von der Schwarzen Organisation!“ Ihre Stimme klang schrill. Dann fasste sie sich wieder, er hörte, wie sie sich räusperte, wie sie schluckte, versuchte, sich zu fassen. Genauso wie damals. „Geschrumpft, Yusaku! Er könnte tot sein, das Gift hätte ihn töten können! Hätte ihn töten sollen! Er wäre jetzt tot… Mein Gott… Shinichi…“ Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Hiroshi hat gerade angerufen. Man muss wohl… irgendwie herausgefunden haben, dass er… dass Conan Shinichi ist, und dann haben sie ihn geschnappt und weggebracht. Sie können… können der Frau wohl nichts nachweisen, von der sie stark vermuten, dass sie es war, deswegen kann die Polizei da nichts tun. Aber sie haben das FBI schon informiert.“ Yusaku zog die Augenbrauen hoch. Das FBI? „Kommst du…?“ Weinerlich drang ihre Stimme an sein Ohr. „Kommst du nach Hause…? Bitte…?“ „Ich bin schon unterwegs, Yukiko. Ich bin… ich bin schon unterwegs. Beruhig dich. Das wird schon wieder. Er wird das schon… er wird das schon schaffen. Du kennst ihn doch…“ Er schluckte. „Er lässt sich nicht unterkriegen.“ Ihm war sehr wohl bewusst, dass auch die Fähigkeiten und Möglichkeiten seines Sohns begrenzt waren… aber zuerst galt es, Yukiko wieder Mut einzuflößen. „Ist… gut…“ Sie nahm sich zusammen, er konnte es hören. Sie versuchte, tapfer zu sein. „Ich bin gleich da, ja? In einer halben Stunde bin ich daheim.“ „Gut…“ Ihre Stimme war kaum mehr lauter als ein Wispern. Er wusste, wenn er aufgelegt hatte, würde sie wieder in Tränen ausbrechen. Sie liebte ihn. Liebte ihren Sohn mehr als alles andere, mehr als ihr eigenes Leben. Sie würde für Shinichi alles tun. Er war ihr Kind; ihr einziges. Und er wusste, die Sorge, die Angst um sein Leben würden sie ab jetzt nicht mehr loslassen, sie quälen, Tag und Nacht foltern. Und sollte… sollte Shinichi tatsächlich sterben, wusste er nicht, was aus Yukiko werden würde. Er war ratlos. Zum ersten Mal in seinem Leben wirklich ratlos. Er legte auf. Dann hob er die Hand, winkte ein Taxi aus dem Verkehr, stieg ein und ließ sich nach Hause fahren. „Was ist mit dem Nervenzwerg?“ Môri war außer sich. Agasa hielt das Telefon kurz auf Armlänge weg. „Er wurde entführt.“ Er hatte sich entschlossen, Môri noch nicht die ganze Geschichte zu erzählen. Noch nicht. „Warum sollte jemand Conan entführen?“ Kogorô Môri setzte sich in dem Bürostuhl auf, in dem er, wie er es so gerne tat, den Nachmittag verpennt hatte. „Haben Sie Ran schon informiert? Sie wird es wissen wollen. Und weiß die Polizei schon Bescheid? Und sind Sie sich sicher, dass er nicht einfach irgendwelche Entdeckungstouren macht? Sie kennen den Knirps doch. Er erforscht alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Wäre nicht das erste Mal, dass er dabei verschütt geht.“ Er lachte hohl. Seltsamerweise glaubte er selbst nicht an seine Worte. Irgendwie überraschte es ihn auch gar nicht, dass Conan entführt worden war. Irgendetwas war mit diesem Jungen… es war, als hätte er, seit er zum ersten Mal bei ihm aufgetaucht war, eine tickende Zeitbombe mit sich herumgetragen. Offenbar war die nun hochgegangen. „Wir sind uns sicher, dass er entführt wurde. Wir haben auch eine Ahnung, wer es war, aber wir können leider nichts beweisen. Und nein, Ran haben wir noch nicht informiert…“ Er schaute zu Ai, die heftig den Kopf schüttelte und mit ihren Lippen ein lautloses "Nein!" formte. „Wir… hielten es für besser ihr nichts zu sagen, sie auf Izu nicht zu stören, bevor wir nichts Genaues wissen…“ Agasa ließ seine kleine Mitbewohnerin nicht aus den Augen, die ihm zunickte und sich dann abwandte. Kogorô am anderen Ende der Leitung schwieg, dachte wohl nach; dann räusperte sich, ehe er sprach. „Nun gut… vielleicht finden wir ihn ja heute noch, dann brauchen wir sie wohl wirklich nicht zu beunruhigen…“ Er seufzte leise. „Ich mach mich auf den Weg zu Ihnen. Vielleicht kann ich ja… irgendwie bei der Suche helfen.“ "Das wäre sehr nett von Ihnen. Bis... später dann." Der Professor verabschiedete sich und legte auf. Dann drehte er sich um, schaute Ai an, die mit bekümmertem Gesicht in Richtung Meer starrte. „Warum sollen wir es Ran verheimlichen, Ai?“ „Damit sie bleibt, wo sie ist.“ Das kleine Mädchen schaute zu der rothaarigen Frau hinüber. „Solange wir nicht wissen, wo Shinichi ist, und was sie mit ihm vorhaben, sollte sie bleiben, wo sie ist. Dort ist sie sicher.“ Sie schluckte, dann schaute sie auf. „Hören Sie, Professor. Sie wussten, was Shinichi bedrückte. Sie wissen, dass sie seine Achillesverse ist. Und es besteht Grund zu der Annahme, dass diese Frau herausgefunden hat, wer er ist, weil sie ein Telefonat der beiden belauscht hat… und damit also auch weiß, dass es ein Mädchen gibt in seinem Leben, für das er so gut wie alles tun würde. Er ist erpressbar durch sie. Damit also Ran nicht in Gefahr gerät, weil sie sie benutzen wollen, um ihn zu erpressen… sollte sie bleiben, wo sie ist.“ Agasa seufzte, schaute sie an. „Aber wenn…“ „Wenn wir ihn wiederhaben, holen wir sie auch. Aber momentan ist sie dort am sichersten, wo sie weit weg ist von dieser Frau. Ich meine, allein die Tatsache, dass sie jetzt schon wieder hier ist, zeigt, dass das Hauptquartier nicht weit ist…“ Gedankenverloren schaute sie in den Wald. Agasa schluckte, seufzte laut. „Ich hoffe, das FBI ist bald hier.“ Ai nickte. „Ja, das hoffe ich auch. Sie können bestimmt was tun.“ Dann drehte sie den Kopf. „Wer kommt eigentlich, außer Jodie?“ Agasa stutzte. „James Black, den kennst du; und Shuichi Akai, soweit ich Jodie Recht verstanden hab.“ „Akai?“, murmelte Ai leise. „Ja. Shinichi kennt ihn schon ein wenig besser, die beiden haben schon zusammengearbeitet. Muss wohl ein fähiger Agent sein.“ Das rotblonde Mädchen nickte. „Je mehr, desto besser.“ „Ganz Recht.“ „Und was machen wir mit den Kindern?“ Langsam ließ Ai sich zu Boden sinken. „Ich weiß nicht… wir werden sie hier nicht wegkriegen. Und um ehrlich zu sein… wenn er noch in der Nähe ist, will ich auch ungern jetzt nach Tokio zurück.“ Der alte Mann zwirbelte seinen Schnauzbart nervös. „Geht mir ähnlich.“ Sie seufzte, schluckte. „Ich will auch nicht weg. Nicht…“ … bevor wir ihn wiederhaben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)