Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 11: Armagnacs erster Auftritt ------------------------------------- Hallöchen, meine lieben Leser und Leserinnen! Hiermit kann ich euch diese Woche wieder mit einem Kapitelchen bedienen- nächste Woche sieht wieder eher schlecht aus... ihr wisst ja, wie ich sagte... bei mir siehts zeitlich arg eng aus. Ich danke sehr herzlich für alle Kommentare zum letzten Kapitel und wünsche euch viel Spaß beim lesen! Liebe Grüße, danke für eure Geduld mit mir, Eure Leira _____________________________________________________________________________ Kapitel 11: Armagnacs erster Auftritt Ran starrte konsterniert auf ihr Handy und fragte sich, was eben mit ihr losgewesen war. Sonoko saß neben ihr, schaute sie an, und fragte sich offenbar dasselbe. Entnervt atmete sie aus. „Warum hast du dich abwimmeln lassen? Welche Ausrede gabs denn heute?“ Ran zuckte zusammen, biss sich auf die Lippen. „Kaputter Handyakku.“ Sie seufzte, strich sich eine Haare aus ihrem Gesicht, die ihr der Wind in die Augen blies, verfolgte das Spiel der Möwen mit ihren Augen, sah, wie sie durch die Luft schossen wie weiße Pfeile, einander jagten, voneinander abließen um ins Wasser zu tauchen, nur die Oberfläche ankratzten, manchmal, und sich mit kräftigen Flügelschlägen und einem Fisch im Schnabel wieder in die Höhe katapultierten. „Ich weiß auch nicht, was gerade los war mit mir. Ich wollte eigentlich nicht nachgeben diesmal, aber er hatte so schnell auf alles eine Antwort und ich mach mir solche Sorgen, ich hab… hab Angst, ich denke… das hat mich gerade etwas…“ „Das hat deine Courage und deine Eloquenz ein wenig beschränkt, meinst du.“ Sonoko zupfte einen ihrer Bikiniträger zu Recht. Ran blickte sie nachdenklich an, nickte beschämt. „Da kannst du Recht haben. Aber Sonoko… Warum lügen die mich alle an…? Nicht nur Shinichi… alle?“ Ran zog die Beine an, schlang ihre Arme um ihre Knie – dann entfuhr ihr ein hohles Lachen. „Klar, kaputter Handyakku! Das hat er sich doch selber nicht geglaubt, der liebe Professor!“ Wut kochte in ihr hoch, die abrupt in Bekümmertheit mündete. „Warum lügt mich der Professor jetzt auf einmal an… er hat doch nie…“, wisperte sie leise. Sonoko ließ sich nach hinten auf die Decke kippen, verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf. „Glaubst du das nach der ganzen Geschichte immer noch? Ich denke, der Prof weiß wesentlich mehr als du und das schon wesentlich länger. Er deckt ihn. Shinichi ist Holmes, er sein Watson, was denkst du- hätte Watson Holmes je verraten?“ Sie warf ihrer Freundin einen schrägen Blick zu. „Neeeiin.“, beantwortete sie sich ihre Frage dann selber, blickte mit angenervtem Gesichtsausdruck in die Ferne. „Hätte er nicht. Daraus folgt: sie lügen dich beide an. Jetzt zieh deine Schlüsse, Ran.“ Ran ließ sich ebenfalls nach hinten auf die Decke sinken, legte sich auf die Seite, stützte ihren Kopf mit einem Arm, schaute Sonokos Profil an. „Na gut. Aber was machen wir? Heimfahren?“ Sonoko schüttelte den Kopf. „Nein.“ Ran seufzte. „Denn genau das ist es, was sie nicht wollen, nicht wahr? Uns in ihrer Nähe haben.“ „Dich in der Nähe haben. Ich denke, meine Wenigkeit ist ihnen leidlich egal, Ran.“ „Also bleiben wir.“ Ein leises Stöhnen entfuhr ihr, sie schloss kurz die Augen. „Jap.“ „Damit sie machen können, was sie für nötig halten, ohne dass wir sie stören oder in Gefahr geraten können?“ „Exakt, Tochter eines Detektivs.“ Sonoko nickte der Sonne zu, die über ihnen ihre Strahlen auf die Erde warf. „Das fühlt sich aber nicht gut an.“ Rans Wispern verlor sich fast im Seewind. „Anscheinend verlangt es aber ihr Plan, Ran. Willst du sein Leben noch mehr gefährden, als es offenbar schon ist- gut, dann buch ich uns den nächsten Flieger. Aber ich denke, es hat einen Grund, warum dich alle so sorgfältig anlügen.“ Die Schwerreichentochter wandte sich nun ihrer Freundin zu. „Ran, deine Zeit ihm zu helfen wird kommen. Wir… warten. Und wir terrorisieren sie mit Anrufen, vielleicht kriegen wir doch noch was Genaueres heraus aus unserem lieben, alten Kurzschlussmechaniker, dem guten Professorchen.“ Sie grinste frech, tippte Ran an die Schulter. Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Wir bleiben am Ball.“ „Und wie wir das werden!“ Sie hob ihre Hand, und Ran schlug ein. Zur gleichen Zeit, aber an einem ganz anderen Ort, saßen zwei Personen, ein Mann und eine Frau, sich gegenüber, an einem Tisch- aber es war kein romantisches Essen, keine Plauderei bei einer Tasse Kaffee oder gar ein Rendezvous, das sie zusammengeführt hatte. Nein. Ihr tête à tête war ganz anderer Natur. Sharon lachte hohl, lehnte sich zurück in dem weichen, ausladenden schwarzen Ledersessel, schlug ein Bein über das andere, verschränkte ihre Arme vor der Brust- das Musterbeispiel für die personifizierte Ablehnung. Ein Bild wie aus einem psychologischen Lehrbuch. „Ja klar. Sonst geht’s dir aber noch gut, ja?“ Der Mann ihr gegenüber warf ihr einen missvergnütgen Blick zu. „Das war nicht meine Idee, Vermouth. Das Triumvirat hat mich überstimmt, die sind sowieso momentan gegen alles, was ich sage, das macht so eine Kolaboration richtig schwer.“ „Ahhhhh…“, entfuhr es ihr, sie zog ein künstlich mitleidiges Gesicht. „Armer Boss. Nun, ich schätze, du bist selbst schuld. But I can tell you- I am not amused. Ich will diesen Deal nicht heute Nacht schon machen.” Cognac, der ihre Show ohne mit der Wimper zu zucken über sich ergehen hatte lassen, seufzte leise, zog sich die Brille von der Nase. „Und warum nicht, Madame? Ihr habt den Stoff, Gin weiß Bescheid, du musst es nur noch…“ „… ihm sagen, dass seine Verbrecherkarriere einen Tag früher beginnt… He’ll be delighted.“ Sharons Stimme troff vor Sarkasmus. „Absolutely delirious with joy. Thrilled. Just completely beside himself, I think…“ “Ich habs kapiert.” Langsam klappte er die Bügel der Brille zusammen, legte die Sehhilfe vor sich auf den Tisch, sehr kontrolliert, vorsichtig. Sie biss sich auf die Lippen. „Aber ich kann’s nicht ändern.“ „Yeah.“, murmelte sie leise. „Ich frag mich nur, was überhaupt noch in deiner Macht steht, hier… Cognac. King without kingdom, that’s what you’ve become.“ Damit stand sie auf, verließ das Zimmer. Nach ein paar Minuten ging er ebenfalls. „Nun erzähl‘n Se mal, Professor!“ Heiji saß mittlerweile bei Professor Agasa auf der großen, weißen Wohnzimmercouch, vor sich eine Tasse Kaffee, und schaute den alten Mann, der sich ihm gegenüber gesetzt hatte, ungeduldig an. Vor dem Fenster tauchte die untergehende Sonne gerade ganz Tokio in blutrotes Licht; nicht mehr lange, ein paar Minuten noch... dann würde die Nacht über die Stadt ihr schwarzes Tuch werfen, sie zudecken, einhüllen - bis morgen früh die Dämmerung sie wieder weckte. „Wie konnt’s kommen, dass diese Leute Shinichi entführen konnt’n?“ Er griff nach der Tasse, nahm einen Schluck. „Nun.“ Der alte Mann seufzte. „Dazu muss ich wohl ein wenig ausholen. Also… wir waren auf einem Campingausflug, ich, die Kinder… Ai und Shinichi.“ Heiji nickte, eine hektische Bewegung. Ai betrat das Zimmer, unbemerkt, wurde erst wahrgenommen, als sie sich in einen weißen Sessel fallen ließ. Der junge Detektiv warf ihr nur einen kurzen Blick zu. Sie sah immer noch genauso erschöpft und abgespannt aus, wie gerade im Auto. „Ran hat ihn gefragt, ob er sie liebt.“, murmelte sie leise. Der junge Mann zog irrtiert die Augenbrauen hoch. „Okay… der Sprung war mir jetzt zu groß…“ „Während dem Campingausflug. Sie rief ihn an, fragte ihn, was er empfindet, für sie. Er hat… hat sie wieder hingehalten, so wie immer. Dann aber hat sie ihm eine SMS geschrieben, in der sie ihm klar gemacht hat, was… wie… sie fühlt. Das hat ihn ein wenig aus der Bahn geworfen, fürchte ich…“ Heiji schluckte, verschlang seine Finger ineinander. „Was hat er…?“ „Nichts. Er wusste nicht… wusste nicht, was er tun soll. Und dann… dann rief sie noch einmal an.“ Eine kurze Pause entstand. „Um was gings… in dem Telefonat?“, wisperte der Detektiv schließlich fragend. „Sie hat ihm gesagt, dass sie ihn liebt.“ Agasa fuhr zusammen, starrte Ai an. „Was sehen Sie mich so überrascht an?“ Das Mädchen verzog ihre Augen zu Schlitzen. „Ich hab ihn gefragt, als er kam. Er sah ja mitgenommen genug aus, auch wenn ers gut überspielt hat. Sie hats ihm gesagt. Und er… er konnts ihr nicht sagen.“ Ihre Stimme verlor sich. „Er sagte, er hätte… er hätte diese Azusa nochmal getroffen, sie hätte auf einmal hinter ihm gestanden, müsste wohl etwas vom Telefonat mitgekriegt haben… und dass sie es war, die am nächsten Morgen neben ihm fehlte, beweist eigentlich schon ziemlich eindeutig, dass sie ihn am Abend enttarnt und am Morgen entführt hat. Ich meine, Heiji…“ Sie schaute ihn an, lächelte müde. „Du weißt doch, wie sich solche Teenageranrufe anhören. Man kann sich doch vorstellen, wie verzweifelt er gewesen sein muss, was er wohl gesagt hat, und noch dazu durch den Stimmenverzerrer. Das alles passt nicht zu einem kleinen Kind. Und wie wehrlos er ihr gegenüber gewesen sein muss, ohne Narkosechronometer und Powerkickboots, das können wir uns alle denken.“ Sie ließ ihre Füßchen baumeln. „Nun, der Stand, den wir jetzt wissen, ist folgender…“, wollte Professor Agasa ansetzen, als ihn das Klingeln des Telefons unterbrach. Agasa stand auf, ging nach draußen; Heiji und Ai hörten ihn abheben, hörten kurz seine Stimme, als er sich meldete, leise, und dann hörten sie lange Zeit nichts. Als er zurückkam, seufzte er. „Wir bekommen gleich Besuch. Anscheinend gibt es was Wichtiges, Jodie hatte es am Telefon sehr eilig, sie dürften bald da sein.“ Heiji runzelte die Stirn, Besorgnis breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Sagen Sie, was geht hier eigentlich noch so ab? Und was wurde eigentlich getan, um ihn da rauszuholen, ich meine, sonderlich angenehm kann das doch nicht sein…“ Ai hob den Kopf, lächelte ironisch. „Getan? Bis jetzt?“ Er nickte. „Nichts.“ Er war wirklich nicht begeistert gewesen, aber er fügte sich, er wusste ja, was daran hing. Shinichi hatte sie nur angesehen, war aufgestanden, hatte seine Jacke genommen und war ihr gefolgt, wortlos. Ihre Miene war wie versteinert, das perfekte Pokerface, es verriet nichts, über das, was sie dachte, als sie eine weitere Tür öffnete und zügig ausschritt. Sie riskierte einen Blick zur Seite, sah, dass er es ihr gleichtat. Auch auf seinem Gesicht ein stoischer Ausdruck, der nichts darüber verriet, was er dachte. Damit eilte sie weiter, führte ihn durch Gänge und Treppenhäuser, nach unten. Immer weiter nach unten. Ihre Gedanken blieben jedoch bei ihm hängen. Sie wusste, was in ihm vorging, egal was er sagte oder nicht, oder ob man es ihm ansah, oder nicht. Eines strafte sein Gesicht, seine Wortkargheit Lügen. Es war die Art, wie er ging. Mit jedem Schritt, den er tat, schien der Widerstand, gegen den er lief, größer zu werden. Er wollte das nicht. Und dieser Unwille schien fast materiell zu sein. Die Angst, die Abscheu. Der Ekel und die Wut auf sich, auf den, der ihm das eingebrockt hatte, auf die Welt… die Kraft, die ihn trieb, war einzig und allein die Sorge um Ran. Nur deshalb ging er überhaupt. Nur deshalb war er nicht schon längst stehen geblieben… Für sie. Bevor sie die Tür zur Tiefgarage des Hauptquartiers der schwarzen Organisation öffnete, blieb sie stehen, wandte sich dann langsam ihm zu. Er war kreidebleich, aber sein Gesichtsausdruck war gefasst. Sie seufzte, räusperte sich. „Bist du bereit… Armagnac?“ Er hob den Blick, seine blauen Augen fesselten sie. Und das war der Moment, in dem ihr restlos klar wurde, was sie hier taten. Was sie mit ihm machten, indem sie ihn zwangen, ein Verbrecher zu werden. Sie raubten ihm das, was ihn ausmachte, und in dem sie das taten, wurde Shinichi Kudô Geschichte, nichts weiter mehr als ein Name… er verschwand, während Armagnac an seine Stelle trat. Man musste ihn nicht umbringen, um ihm das Leben zu nehmen. Es ging auch anders, und ihnen beiden war das klar, sie las es in seinen Augen. Er war bereit, sich aufzugeben. Und das war ein grausamer, schmerzhafter Prozess. Und sie fragte sich ernsthaft, ob der Boss das bedacht hatte, als er ihm so heroisch sein Leben hatte retten wollen. Egal wie und auf welche Weise… innerhalb der Organisation war Shinichi Kudô tot. Dann riss er sie aus ihren Gedanken. „Nein.“, wisperte er, schüttelte den Kopf. „Aber die Wahl hab ich nicht.“ Er blinzelte, schaute weg, brach den Bann, der sie gefesselt hielt. „Also bin ich wohl so bereit, wie man es sein kann, unter diesen Umständen.“ Sie nickte nur, drückte die Klinke der Tür hinunter, schwang sie langsam auf und ließ ihn hinaustreten in ein Leben, das nicht mehr seines war. Von dem er nie wollte, dass es seines würde. „Vorverlegt?“ Meguré horchte in das Telefon, hörte Blacks sachliche Stimme die neue Sachlage schildern. „Ja. Der Coup findet heute statt. Also… sie und ihre Beamten dürfen sich nicht einmischen, hören Sie? Wir treffen uns gleich alle bei Professor Agasa – not one word to anybody, please. Wir müssen besprechen, wie es weitergeht, das alles entwickelt sich viel zu schnell… Sharon ist dabei, sie wird aufpassen, und hinterher berichten, das sagt Kir zumindest; deshalb halte ich es für weiser, von uns keinen hinzuschicken. Also… holen Sie bitte Môri und kommen Sie dann nach.“ „Na… natürlich.“, murmelte Meguré leise. Dann hängte er auf. „Na los! “, fiel er dann in den gewohnten Kommandoton zurück, scheuchte die Inspektoren Takagi und Sato auf von ihren Schreibtischen auf. „Los, wir holen Mori ab und dann fahren wir zum Professor!“ Noch ihm Gehen wählte der Kommissar die Nummer seines ehemaligen Kollegen, setzte ihn kurz ins Bild. Die Fahrt im schwarzen Porsche war extrem schweigsam verlaufen. Shinichi hatte zusammen mit Sharon auf der Rückbank gesessen und sich die Zeit damit vertrieben, aus dem Fenster zu schauen. Er wusste, dass Gin ihn beobachtete, hin und wieder einen Blick in den Rückspiegel warf, aber er versuchte, es zu ignorieren. Seine Gedanken kreisten um Ran, und um die Frage, was ihn heute Abend erwartete. Mittlerweile war es dunkel geworden; zumindest so dunkel, wie es in Tokio werden konnte. Sie waren im Vergnügungsviertel Shibuya ausgestiegen, in einer Seitenstraße. Sharon hatte hier wohl ihre Wohnung, wie er beiläufig erfuhr, interessieren tat ihn das eigentlich nicht; er lief einfach mit, stellte keine Fragen, schwieg und befolgte Anweisungen. Sie waren in einer der zahllosen Gassen verschwunden, ein wenig ab vom Rummel in den großen Straßen, wo die Tokioter Jugend ihre Genusssucht auslebte, auf der Suche nach Spaß, Alkohol, lauter Musik und… anderen Dingen. Er hielt das Päckchen mit den Drogen, kam sich furchtbar vor und versuchte doch, diesen Gedanken nicht zuzulassen. Shinichi durfte sich nicht furchtbar fühlen. Genaugenaugenommen durfte er gar nicht fühlen… Denn Shinichi existierte nicht mehr. Nicht heute Nacht, nicht hier, an diesem Ort. Hier stand Armagnac, und ihm machte es verdammt noch mal nichts aus, den Drogenkurier zu mimen. Shinichi verzog das Gesicht, wandte sich ab, damit keiner es sah. Er hasste… hasste Armagnac. Und er wusste, sein Gewissen würde über ihn noch herfallen. Gin lehnte an seinem heißgeliebten Porsche, zog an einer Zigarette, die so gut wie nie seinen Mundwinkel zu verlassen schien, und hatte die Hände vor der Brust verschränkt. Er sagte nichts, einzig und allein das orangerote Glühen seines Glimmstängels, dass in regelmäßigen Abständen heller und wieder dunkler wurde, tauchte seine Züge in gespenstisches Licht. Shinichi wusste, auch ohne dass er seine Augen sehen musste, dass er seinen Blick nicht von ihm ließ. Eine falsche Bewegung, ein falscher Laut, und er wusste, es wäre vorbei. Gin würde nicht einen Fehler verzeihen, und es würde ihm auch keiner entgehen. Er wartete nur darauf, ihn dran zu kriegen. Sharon hatte sich neben ihn gestellt, lehnte an der Mauer, ihr Kinn war auf ihre Brust gesunken und sie schien tief in Gedanken. Nach einer halben Ewigkeit schließlich, die allerdings wohl kaum länger als fünfzehn Minuten gedauert haben konnte, kam Bewegung in die schlanke Figur neben ihm. Shinichi blickte auf. „He’s late.“ Sharon schaute zu Gin, der langsam seine Zigarette aus dem Mundwinkel zog, sie zu Boden warf und gründlichst austrat, ehe er die letzte Rauchwolke in den Nachthimmel blies. „In der Tat.“ Er stieß sich von seinem Wagen ab. „Ich nehme an, der Boss hat Anweisung gegeben, was im Falle eines Nichtauftauchens der Kunden zu tun ist?“ „Schema F, wie immer. Taktischer Rückzug, Kontaktaufnahme mit den Klienten, Befragung, und je nachdem wie das Ergebnis ausfällt, neuer Termin oder…“ Shinichi wandte den Kopf ab, blickte die Gasse entlang, zog sich seine Kappe tiefer in die Stirn. Er konnte sich denken, was oder bedeutete. Er hörte Gins heiseres Gelächter. „Aber vielleicht sollten wir einfach mal die Gasse rauf und runter gehen - vielleicht verstecken sie sich ja irgendwo.“ Vermouth warf ihm einen kalkulierenden Blick zu. „Hm.“ „Ich schlage vor, da ihr beide euch so blendend zu verstehen scheint, geht ihr mal die Gasse entlang rauf; und ich schau da unten mal nach.“ Er nickte in die andere Richtung, puhlte dabei mit spitzen Fingern eine neue Zigarette aus seiner Schachtel. „Well.“, meinte Sharon dann, nickte knapp. „Better do that than nothing.“ Sie nickte Shinichi zu, der ihr, nach einem kurzen Blick auf Gin, folgte. Er schaute stur auf den Boden, bis sie außer Hörweite gegangen waren. „Erleichtert?“, fragte sie ihn schließlich, schaute ihn ernst an. Shinichi hob den Kopf, schaute sie ernst an. „Nicht wirklich. Es… ist doch ohnehin nur ein Aufschub. Und ich bin kein Fan von Aufschüben.“ Shinichi seufzte. „Außerdem werde ich das Gefühl nicht los, dass er etwas vorhat. Dass er etwas plant. Irgendwie denke ich, er wusste, dass heute keiner auftaucht. Und dass er uns eigentlich nur loswerden will.“ Er blieb stehen. „Könnte das denn sein, Sharon? Könnte er vorab mit den Klienten ohne dem Wissen des Bosses Kontakt aufgenommen haben?“ Sharon hielt ebenfalls inne. „Es sähe ihm nicht ähnlich, aber auszuschließen ist wohl nichts.“ Sie schluckte, schaute dann die Gasse entlang nach unten, versuchte, in der Dunkelheit das schwarze Auto auszumachen. „I think, we’ll better have a look…“ Sie drehten auf dem Absatz herum und eilten die Straße entlang nach unten, stellten fest, dass sie in der kurzen Zeit schon erstaunlich weit gelaufen waren. Dann waren sie an der Kreuzung, an der sie gewartet hatten, angekommen. Kein Gin weit und breit… und auch der Porsche war weg. Shinichi wurde heiß und kalt zugleich. „You were right, Mr Holmes…“ Sharons Worte waren kaum lauter als ein Flüstern, als sie sich ein letztes Mal um die eigene Achse drehte. „Er hat uns sitzen gelassen. Ich fass es nicht… und wir kriegen ihn dafür nicht mal dran, denn es steht ihm zu, zu gehen, wenn der Klient nicht kommt. Ich bin mir sicher, deine Theorie stimmt… aber nachweisen können wir ihm das nicht.“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Das ist doch unwichtig… viel wichtiger ist doch das Warum! Warum wollte er uns loswerden…“ Er legte seine Stirn in Falten, griff sich ans Kinn. „Es muss dafür einen Grund geben, wenn er es so umständlich einfädelt… ich nehme nicht an, dass er einfach in die Heia wollte…“ Der zynische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. Sharon nickte nur, legte einen Zeigefinger an ihren Wangenknochen. „Sharon… sag, wo könnte Gin hingefahren sein… wobei würden wir ihn stören…?“ „Ich weiß nicht… cool guy, I don’t know…“ Sie seufzte, legte den Kopf in den Nacken. „Aber du musst doch eine Ahnung haben. Du arbeitest seit Jahren…“ „Yeah, I know, you really don’t have to remind me…“ Dann wurde sie bleich. „Oh, shit.“ Er starrte sie an. Er wusste nicht warum, aber er hatte sofort eine Ahnung, woran sie dachte. „Bitte sag nicht…“ „Doch.“ Sharon nickte schwer. „Nur das kann der Grund sein. Nur das. Er will seine Rechnung begleichen. Er will Sherry… ich denke, herauszufinden, wer sie ist, nachdem er dich kennt, ist ihm nicht schwergefallen... er wird die Schule gefunden haben, die ihr Besucht, und mit ein wenig Phantasie und...", sie lächelte bitter, "Charme und ein bisschen schauspielerischem Talent, wird er schon irgendeine Sekretärin dazu gebracht haben, ihm zu sagen, wo Ai Haibara wohnt...“ Shinichi drehte sich um, begann zu rennen. „Was hast du vor?“ „Sie warnen, was sonst? Kommst du jetzt oder muss ich selber fahren? Du sagtest doch, deine Wohnung wäre in der Nähe, also hoffe ich, du hast auch ein Auto!?“ Sie nickte nur, hastete dann neben ihm durch die Nacht, hörte neben sich seinen pfeifenden Atem, hörte das Klackern ihrer Pumps durch die Straßen hallen und verfluchte die Welt. Es gab keinen Gott. Shinichi neben ihr keuchte, hatte nur noch für einen Gedanken in seinem Kopf Platz. Verdammt… Bitte, lass uns nicht zu spät sein… Bitte, bitte… Bitte, bitte, bitte… Wenige Minuten später hatten sich Jodie, James und Shuichi als auch die drei Polizisten des Tokioter Kriminaldezernats Meguré, Takagi, Sato und Kogorô Mori hatten wieder beim Professor eingefunden, um den Stand der Dinge zu erörtern. Sie waren gerade alle eingetroffen, dementsprechend überschlug sich das Gespräch. Heiji stand in ihrer Mitte, versuchte zusammenzusetzen, um was es ging, denn offensichtlich war hier keiner in der Lage, ihn vernünftig ins Bild zu setzen. Er merkte, wie langsam eine Vene in seiner Schläfe zu pochen begann. Offensichtlich ging es um Shinichi und die Organisation. Aber ganz klar durchschaute er das noch nicht. Alle, bis auf Ai, die in ihrem Labor im Keller saß und sich ihr Hirn über ihre Formeln zermarterte. Sie hatte das Gefühl, die Gesellschaft der anderen nicht ertragen zu können, und so beschäftigte sie sich mit Dingen, die sie erklären konnte. Rein rationellen Dingen. Auch wenn Shinichi wieder er selbst war... niemand garantierte, dass das so blieb. Und so nahm sie dankbar jede Ausrede an, um sich diesem Chaos zu entziehen. „Vorverlegt?!“ Kogorô ächzte. „Das sagt Kir, ja.“ Jodie nickte langsam. „Wir müssen uns überlegen, was wir hier machen… die Situation spitzt sich zu, wir müssen eventuell überlegen, ob wir Sie nicht…“ Sie warf Agasa einen bedeutungsvollen Blick zu. „Ai und ich bleiben, wo wir sind.“, murmelte der Professor leise. „Wollen Sie, dass man ihn mit Ihnen auch noch erpresst?“ Shuichi zog die Augenbrauen hoch, warf ihm einen ernsten Blick zu. „Was is jetzt mit Kudô, verdammt?!“ Heijis Schrei übertönte das Stimmengewirr. Akai seufzte leise. „Er verübt wohl gerade das erste Verbrechen seines Lebens als Mitglied der schwarzen Organisation.“ Heiji starrte ihn an, fühlte sich wie vom Bus überrollt. „Sie mach’n Scherze…“ Sharon und Shinichi rannten, was das Zeug hielt. Sie hatten Sharons Wagen, einen schwarzen BMW Z5, einige Straßen weiter geparkt, damit Gin ihn nicht gleich fand, und waren gerade dabei, über den Zaun zu steigen, um Agasas Haus vorsichtshalber über den Hintereingang zu betreten, als sie es hörten. Das Quietschen von Gins Reifen. Wie sie es geschafft hatten, gerade noch reichtzeitig gekommen zu sein, war ihnen beiden schleierhaft; vielleicht hatte Gin den Weg länger suchen müssen als sie, das war wohl ihr Glück. Immerhin kannte Shinichi sich in seinem Viertel aus, und Sharon... Sharon fuhr, das hatte er festgestellt, einen genauso kamikazehaften Stil wie seine Mutter. Ein bitteres Lächeln huschte über seine Lippen, als er daran dachte. Gins Wagen war sicher auch schnell, aber er kam wohl eher selten in dieser Gegend vorbei. Wenigstens etwas, das heute ihnen in die Karten spielte. Sharon starrte ihn an; sie war bereits über den Zaun gestiegen, während er noch halb oben hing. „Wo sagtest du, ist der Schlüssel?“ „Unter dem Stein neben der Tür.“ Sie lief los, während er sich so lautlos wie möglich nach unten gleiten ließ. Als er ankam, hatte sie die Tür schon geöffnet und war bereits auf den Weg ins Wohnzimmer aus dem das Licht schimmerte. Er seufzte, drehte um und lief in die Küche, durchsuchte alle angrenzenden Zimmer, damit sie hier keinen vergaßen. Sharon blickte sich nur kurz um, kniff die Lippen zusammen. Sie konnte sich vorstellen, warum er nicht nachkam. Er wollte nicht gesehen werden, von ihnen, nicht, wenn es nicht nötig war. Er wollte ihnen den Anblick von Armagnac ersparen… und er wollte verhindern, dass er selbst noch den Verstand verlor. Er war kurz davor, das wusste sie. Allein die Tatsache, dass sie sie retten mussten, ließ ihn funktionieren. Und so stand sie da, mitten im Wohnzimmer, blickte geradewegs in Gesichter voll Schrecken und Erstaunen; der junge Detektiv aus Osaka und Shuichi Akai standen in der Mitte des Raumes, waren offenbar gerade am diskutieren gewesen, als sie die traute Runde gestört hatte. Es war klar, was gerade durch ihre Köpfe schoss, man konnte es lesen, in ihren Augen. Angst. Panik. Unsicherheit. Verzweiflung, ja, ein bisschen auch davon. Aber auch Neugier. Hoffnung, erstaunlich viel davon. Und viele, viele unausgesprochene Fragen. Sie schüttelte den Kopf, erstickte jeden Versuch, eine dieser Fragen zu stellen, damit im Keim. Für Fragen war jetzt keine Zeit. „Ihr müsst hier weg. Gin ist gleich da, er parkt gerade sein Auto.“ Diese zwei Sätze schlugen ein wie eine Bombe. „Aber wir dachten, ihr hättet heute einen Deal in Shibuya?“, fragte Akai ruhig, der wie immer Herr über sich war. „Den hatten wir auch. Aber die Klienten kamen nicht, und ehe wir uns versahen, war Gin weg… we didn’t have to guess long, where he’d been gone to…“ Die Gesellschaft erhob sich fast synchron. Der Ernst der Lage war allen sofort klar. „Wohin…?“, murmelte Agasa leise fragend. „Durch die Hintertür. Am besten fürs erste in den Nachbargarten und von dort aus dann weg. Und Licht aus.“ Sie schlug mit der flachen Hand auf den Schalter, eilte der Gruppe hinterher, die flott das Wohnzimmer verließ. Draußen auf dem Gang traf sie auf ihn. Er presste sich gegen die Wand, um nicht gesehen zu werden, warf ihr einen nervösen Blick zu. „Ist hier noch wer?“, fragte sie ihn leise. „Nicht im Erdgeschoss.“, flüsterte er, schüttelte den Kopf. Er blickte hektisch um sich, war erleichtert, als er merkte, dass alle anderen schon außer Hör- und Sichtweite waren. Dann erstarrten sie beide, als sie es kratzen hörten. Shinichi warf einen kurzen Blick an ihr vorbei, hinaus, auf die dunklen Schemen, die Silhouetten seiner Freunde, die bereits im Garten standen, als ihm eines auffiel. Ihre kleine Gestalt fehlte. Sie war nicht da. Er schluckte, wandte seinen Kopf langsam zu Sharon. Selbst in der Dunkelheit konnte sie ihn erbleichen sehen. „Wo ist Ai?“ Mehr frage er nicht. Sie schüttelte hilflos den Kopf. „I don’t…“ Erneutes Schaben war zu hören. Shinichi wandte sich um, sah vom Keller herauf sanftes Licht strahlen. Er drehte sich wieder um, starrte sie gehetzt an. „Bring die anderen in Sicherheit!“ Damit wetzte er los, lief so leise wie möglich den Gang entlang und den Keller nach unten, während Sharon nach draußen eilte, die Tür verschloss und einen aufgebrachten Agasa, der jetzt auch bemerkt hatte, wer ihm fehlte, daran hinderte, zurückzulaufen, wobei ihr zu ihrem Glück die Polizisten und das FBI behilflich waren. Sie schob sie alle durch die kleine Gartentür auf das Grundstück der Kudôs, blieb mit angehaltenem Atem stehen und blickte zu Agasas Haus. Die anderen taten es ihr gleich. Shuichi trat lautlos neben sie. „Ist er da drin?“, fragte er, ohne sie anzusehen. „Wer sonst…“, raunte sie leise. „Who else, if not him…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)