Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 17: Wahrheit -------------------- Ja, Leute, glaubt es ruhig- ich lebe noch! ^.~ Nein, ernsthaft- es tut mir unendlich Leid, euch so lange ohne Kapitel gelassen zu haben, aber ich hatte irre viel am Hals in den letzten Wochen. Ich hoffe, ab jetzt wieder wöchentlich laden zu können, aber nagelt mich nicht fest- auf jeden Fall aber dürfte hiermit die lange Zeit der langen Pausen beendet sein. Entschuldigt nochmal, bitte; Schande über mein Haupt. Dafür geht es mit Riesenschritten in Richtung Boss- ein paar werden es nach diesem Kap wissen; andere sicher nach dem nächsten. Bitte tut mir nichts *lacht* Ich hab mir das gut überlegt und hoffe, der Schock hält euch nicht vom Weiterlesen ab! Liebe Grüße, eure Leira :) _______________________________________________________________________ Kapitel 17: Wahrheit Im Konferenzraum des Polizeidezernats Tokio saßen Kommissar Meguré und die Inspektoren Takagi und Sato zusammen mit jeder Menge Kaffee an einem Ende des runden Tisches und ordneten Informationen, hielten den Stand der Dinge fest. Auch sie waren bereits heute Morgen über die neuesten Entwicklungen informiert worden, und sie waren davon ähnlich begeistert wie alle anderen. „Es ist zum verrückt werden…“, jammerte der Inspektor, blickte auf seine Notizen. Takagi zerzauste sich das Haar mit beiden Händen, was ihm einen schrägen Blick seiner Angebeteten und einen Stoß ihres Ellenbogens in seine Seite einbrachte. „Nun lass dich mal nicht so hängen, Takagi!!!“ Meguré schaute von einem zum anderen, enthielt sich jedoch eines Kommentars, sondern ging nochmal die Fakten durch. Er kam nicht umhin, Takagi in gewisser Weise zuzustimmen. Shinichi Kudô hatte sich wirklich in unglaubliche Schwierigkeiten gebracht. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass heute etwas passieren würde. Etwas… das Bewegung in die Sache brachte. Er wusste nur nicht… ob es etwas Gutes oder Schlechtes war. Dann räusperte er sich vernehmlich, um die Aufmerksamkeit seiner Mitarbeiter auf sich zu ziehen. Die beiden Inspektoren hörten sofort auf, sich miteinander zu streiten, und blickten ihren Vorgesetzten diensteifrig an. „Ja, Chef?“, hakte Takagi nach ein paar Momenten des Schweigens schließlich nach. Der Kommissar seufzte, strich sich über seinen Bart. „Wir fahren heute da hin.“ Sato starrte ihn an. „Da hin?“ „Ja. Da hin.“, nickte Meguré. Takagi seinerseits verstand nur Bahnhof. „Wohin?“, wagte er leise zu fragen, fing sich einen leicht genervten Blick von Sato ein. Der Kommissar seinerseits seufzte leise. „Nach Shibuya, Takagi. Wir werden diesen Deal beaufsichtigen und gegebenenfalls einschreiten.“ „Aber…“, wandte der junge Inspektor unbehaglich ein, wurde allerdings sofort unterbrochen. „Kein aber. Wir müssen etwas tun, das ist unsere Pflicht. Wir sind doch nicht hier, um nur Däumchen zu drehen! Leute werden fast umgebracht, Kudô ist in den Händen dieser Verbrecher- verdammt, wir können doch nicht ständig untätig herumsitzen!! Für was sind wir Polizisten?!“ Er war laut geworden, lauter als er beabsichtigt hatte, aber es kümmerte ihn wenig. Schwungvoll knallte der Polizeischef seine Kaffeetasse auf den Tisch, so hart, dass der frisch gebrühte und daher kochend heiße Kaffee aus dem Becher schwappte und sich über seine Hand ergoss. Megure biss die Zähne aufeinander, fluchte leise und zog ein Taschentuch aus seinem Jackett. „Wir fahren da hin. Wenn etwas ist, dann greifen wir ein, ich lass nicht zu, dass sie das mit Kudô anstellen. Was für ein Kommissar wäre ich denn dann?! Ich denke, wenn das FBI jetzt nach Ran sieht, ist sie sicher genug und wir können uns das erlauben.“, brummte er unwirsch, trocknete seine Hand ab und wischte den Kaffee vom Tisch. Sato nickte ernst. Ihr war es ohnehin viel zu langsam gegangen. Takagi murmelte ebenfalls leise seine Zustimmung. Meguré seufzte, schaute von einem zum anderen. „Verdammt nochmal, ich kann doch Yusaku und Yukiko kaum noch in die Augen sehen…! Nicht so…! Nicht, wenn ich hier sitze, meine Hände im Schoß verschränke und nichts tu… nichts tu, für ihren Sohn… vielleicht ist das heute Nacht unsere letzte Chance, da einzugreifen…“ Takagi seufzte, räumte seine Notizen zusammen, während Sato ihren Vorgesetzten nur stumm anstarrte. Sie konnte nur ahnen, wie sehr ihn das mitnahm. Es dämmerte gerade, die Sonne versank dramatisch im Meer, zog wie fast jeden Abend zu dieser Jahreszeit auf Izu, eine pompöse Show ab. Shuichi Akai war gerade aus dem Flugzeug gestiegen und winkte nun nach einem Taxi, nannte dem Fahrer die Adresse des Hotels, in dem Ran und Sonoko wohnten, und stieg ein. Das Meer zog an seinem Fenster vorbei, aber er sah die Schönheit der prächtigen Farben und des glitzernden Wassers nicht. Sie interessierten ihn einfach nicht. Die Sonne würde auch morgen wieder untergehen, aufhalten konnte er das ohnehin nicht. Dementsprechend beeindruckte ihn dieses Naturschauspiel nicht im Geringsten. Seine Gedanken waren woanders… nicht auf Izu. Auch nicht in Tokio. Genau genommen war der Ort, an den seine Gedanken jetzt hinwanderten, nicht auf dieser Welt - sondern in seinem eigenen Kopf. Nur in seinem Kopf. Er dachte an Akemi. An ihr Lachen, an das Funkeln in ihren Augen. An ihre Lebendigkeit, ihre Fröhlichkeit, ihr Licht, das so viel heller gestrahlt hatte als die Sonne… so hell, dass es sogar sein Leben erhellt hatte. Und er dachte an diesen rabenschwarzen Tag, als man ihm gesagt hatte, dass sie ermordet worden war. Von Gin. Das war der Tag gewesen, an dem er seine Haare abgeschnitten hatte. Er zog eine Zigarette aus der Schachtel in der Tasche seiner Lederjacke, ignorierte den leisen Protest des Taxifahrers, zündete sie an, zog ruhig an ihr. Akemi war durch Gins Hand ermordet worden. Und im Beisein von Shinichi Kudô war sie gestorben. Es war an der Zeit, dass sie sich alle wieder trafen, am Besten sie alle drei; es wurde Zeit, dass Gin dafür bezahlte, was er getan hatte. Ein Leben für das andere. Aber zuerst… zuerst musste er Ran beschützen. Ran Môri, die seiner Akemi so erstaunlich ähnlich war. Das Mädchen, für das Shinichi Kudô sterben würde. Soweit sollte das nicht kommen… man sollte das nicht testen müssen. Gedankenverloren zog er an seiner Zigarette. Dieses Paar sollte erleben, was ihm und Akemi nicht vergönnt gewesen war, und er würde dafür Sorge tragen, würde alles tun, was in seiner Macht stand, dessen war er fest entschlossen. Er wusste, dass auch Akemi das so gewollt hätte. Als der Taxifahrer nach circa einer halben Stunde leise schimpfend über ignorante Raucher und Fahrgäste vor dem Hotel hielt, bezahlte er ihm den Betrag, den er ihn nannte und stieg wortlos aus. Mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen schritt er den Weg entlang zum Eingangstor des Hotels, ohne sich groß um seine Umgebung zu kümmern, und doch behielt er alles im Auge. Er würde aufpassen, dass ihr nichts passierte. Verlass dich drauf, Kudô. Er wusste, Shinichi hatte es versucht, bei Akemi… dass er es nicht geschafft hatte, war nicht seine Schuld. Er hatte diesmal die bessere Ausgangssituation, und er würde Ran beschützen. Ein bitteres Lächeln glitt über seine Lippen, als er durch das Tor schritt. Koste es, was es wolle. Müde stapften die drei Kinder hinter James und Heiji her. Die beiden älteren drehten sich um, warteten, bis sie aufgeholt hatten, warfen sich besorgte Blicke zu. Die Kinder wussten es immer noch nicht… wussten immer noch nicht, nach wem sie eigentlich suchten. Nicht nach Conan. Sondern… nach Shinichi Kudô. Heiji seufzte leise, stemmte die Hände erschöpft in die Hüften, ließ seinen Kopf in den Nacken fallen und beobachtete den Stand der Sonne. „‘s wird bald anfangen zu dämmern.“, bemerkte er dann leise. Neben ihm raschelten verrottende Blätter auf dem Boden, als die Grundschüler sich um ihn scharten. „Wir sollten wohl langsam zum Auto gehen…“, meinte der FBI-Agent und sah in die müden, aber nichtsdestoweniger entschlossenen Gesichter ihrer jungen Mitstreiter. „Aber…!“, begann Mitsuhiko. „Sollten wir die Sonne nicht noch ausnutzen?“ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Es ist bestimmt noch ungefähr eine Stunde hell!“ Heiji seufzte leise. Er musste gestehen, irgendwie wollte er auch noch nicht aufgeben; irgendwie hatte er das Gefühl, dass heute noch etwas passierte, und sie in der Nähe sein sollten, wenn es geschah. Langsam hob er die Hand, zog sich seine Kappe tiefer ins Gesicht. „Schön. Bis Sonnenuntergang. Aber dann is Schluss. Ende Gelände, Freunde.“ Die Kinder nickten, wenn auch widerstrebend. Er wandte sich zu James um. „Ich hoffe, das is‘ Ihnen Recht…? Aber ich kann einfach auch noch nich‘ gehen… und außerdem glaub ich, dass auch der Professor und Jodie noch bis zum letzten Sonnenstrahl suchen werden…“ Der alternde FBI-Agent schaute ihm mitfühlend ins Gesicht. „Ihr seid wirklich gute Freunde, was…?“ Heiji nickte zögernd, schaute dann entschlossen auf. „Ja. Aber sagen Sie mir, was für ein Freund, egal ob wirklich gut oder nich‘, wäre ich, ihm da nicht helfen zu wollen? Ich bin bereit, jeden verdammten Stein und jedes noch so kleine Blatt in diesem verdammten Wald umzudreh’n, um Sh… schnell…“, er stotterte kurz, warf einen unsicheren, nervösen Blick auf die Kinder, „um so schnell wie möglich unseren kleinen Freund zu finden.“ Er wandte sich ab, atmete aus. Das war knapp, Hattori. James warf ihm einen mitfühlenden Blick zu, legte ihm verständnisvoll die Hand auf die Schulter. „Well, then… suchen wir weiter.“, stimmte er zu und setzte sich wieder in Bewegung, wachsam wie ein Luchs; sie suchten schließlich nicht nur nach Shinichi Kudô… sie durften auch nicht vergessen, dass sie ihm Hoheitsgebiet des Feindes waren - und der Feind war mächtig. Auf der der Straße näheren Seite des Waldes erging es Jodie, Agasa und Ai nicht unähnlich. Jodie lehnte an einem Baum, nahm einen Schluck aus ihrer Trinkflasche, während sich der Professor kurz auf einem Felsen ausruhte. Einzig und allein Ai hielt ihre Augen offen, gönnte sich keine Ruhe, ging immer wieder zu einer Stelle, untersuchte sie und wandte sich enttäuscht ab, wenn es sich doch um eine Täuschung handelte. Auch sie hatten gerade beschlossen, die Suche noch bis zum Einbruch der Dunkelheit fortzusetzen; danach wollten sie mit dem Auto noch die angrenzenden Straßen absuchen. Falls Shinichi die Flucht gelänge, so hofften sie, würde er die Straße suchen, um sich an ihr zu orientieren. In der Dunkelheit durch den Wald zu irren wäre schließlich dumm… und dumm war er nicht. Alles, nur das nicht. Der Professor seufzte, wischte sich mit einem Taschentuch die Schweißtropfen von der Stirn, beobachtete Ai, die ihre innere Unruhe umtrieb. Wie es aussah, waren sie wohl nahe dran… am Sitz des Feindes. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Kehle, bekümmert starrte er auf den Boden. Er hätte besser auf ihn aufpassen müssen. Wie hatte man ihn so einfach entführen können…? Der alte Mann schloss die Augen, schluckte schwer, als er an jenen Abend dachte. Als er ihn gesehen hatte, in schwarz… Dieses Unbehagen in seinen Augen. Er hatte das nicht gewollt, jeder hatte es sehen können. So hatte er nicht enden wollen. Und er hatte nie gewollt, dass ihn jemand jemals so erblicken musste. Er hatte ihnen diesen Anblick nicht antun wollen, denn er wusste, was sie alle denken mussten… dass er nun ihr Feind war. Ein Feind, dem man misstraute, vor dem man sich fürchtete. Und doch hatte er sich nicht fürchten können… das einzige Gefühl, das Agasa in diesem Moment empfunden hatte, war grenzenloses Mitleid. Am liebsten hätte er ihn in sein Haus gezerrt und ihn nicht zurück gehen lassen. Ja… er litt mit ihm, der wie ein Enkel für ihn war, seit Geburt an. Agasa schluckte, schüttelte den Kopf. Es war nicht nur Unbehagen gewesen, was in seinem Augen zu lesen gewesen war. Sondern auch Schmerz. Angst… vor der Zukunft. Und dieser Ausdruck von Schuldigkeit, obwohl er doch noch nichts getan hatte… er hatte nichts getan, und fühlte sich schon schuldig… Und er war verzweifelt. Shinichi war all das geworden, was er nie hatte sein wollen. Er war nicht mehr Herr über sich selbst. Er war nicht mehr Conan, aber Shinichi war er auch noch nicht… nicht mehr… nicht wieder? Agasa konnte es nicht sagen. Fakt war… seine Farbe war nun Schwarz. Schwarz… die Farbe der Finsternis. Und so sah seine Welt wohl gerade aus… schwarz, finster, bar jedes noch so schwachen Hoffnungsschimmers. Das war nicht richtig. In Agasas Augen trat ein entschlossener Ausdruck. Jodie, die gerade ihren Blick auf ihn gerichtet hatte, bemerkte ihn, nickte ihm in stummer Zustimmung zu. Sie würden ihn finden. Ihn retten. So wie er es für jeden von ihnen tun würde. Nicht eher würden sie ruhen. Mittlerweile war es dunkel geworden, die Sonne versank gerade hinter den Wolkenkratzern - sie fuhren bereits im dichten Verkehr Tokios, waren fast an ihrem Bestimmungsort angekommen. Shinichi saß wieder hinten, im Fond. Er war angespannt, nervös, aber nicht nur das; er konnte es sich nicht erklären, konnte sich nicht dagegen wehren, als in ihm ein dumpfes Gefühl aufkeimte… dass diese Nacht etwas Entscheidendes mit sich bringen würde. Egal was es war; nach dem heutigen Abend würde seine Welt eine andere sein. Neben ihm saß Vermouth, zog sich in aller Ruhe die Lippen nach, mit blutrotem Lippenstift, und war dabei außerordentlich gründlich. Shinichi verdrehte die Augen, blickte durch das Fenster nach draußen. Die Lichter der Straßenlaternen huschten an ihm vorbei, die Schweinwerfer der anderen Autos, die Leuchtreklamen… sie waren kaum mehr als bunte Schweife, wie Sternschnuppen. Verwischt, vergangen… verloren. Shinichi schloss kurz die Augen, atmete aus, gezwungen, kontrolliert. Sharon neben ihm warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu. Vorn neben Gin räusperte sich Wodka, aber sagte nichts, als sein Vorgesetzter ihm einen warnenden Blick zuwarf. Und dann setzte der Regen ein. Immer heftiger schlug er auf die Windschutzscheibe, perlte an ihr ab, wurde von den Scheibenwischern weggeschleudert. Shinichi seufzte leise, hörte es zart klicken, als Vermouth ihren Lipstick verschloss und in die Tasche ihrer eng anliegenden Jacke gleiten ließ. Dann streckte sie fordernd die Hand nach vorn. „Was willst du?“, fragte Gin schleppend. „Eine Zigarette, dear.“ Sie setzte ein verführerisches Lächeln auf, ließ alle ihre makellosen, weißen Zähne kurz aufblitzen. Shinichi beobachtete sie aus dem Augenwinkel, ohne den Kopf zu drehen. Gin brummte mürrisch, zog aber eine Zigarette aus seiner Manteltasche, reichte sie ihr. „Fire, if you don’t mind.“ Sie lächelte erneut, ließ sich von Wodka, der dienstfertig wie immer, natürlich ein Feuerzeug dabei hatte, den Glimmstängel entzünden. Langsam, genüsslich zog sie daran, ließ sich in die Polster sinken. „That’s fine.“ Ein leiser Seufzer entfloh ihrer Kehle. Ja, sie spielte ihre Rolle gut. Shinichi wandte sich wieder ab, sah nach draußen. Es war klar, dass sie hier eigentlich das Sagen hatte, dass sie Gin irgendwie um den Finger wickelte, erst Recht, nach dem Zwischenfall von gestern Nacht. Allerdings war er sich nicht sicher, ob sie den Ernstfall verhindern konnte. Er schluckte. Gin war immer noch der, der für diesen Deal zuständig war. Er hatte zwar eine Rüge bekommen vom Boss; aber ihn hatte das Triumvirat geschickt, und als Vertreter des Triumvirats war er immer noch gleichgestellt mit Vermouth bei diesem Auftrag. Im Übrigen würde wohl das Triumvirat, dessen war Shinichi sich ziemlich sicher, nicht so viel dagegen einzuwenden haben, wenn Shinichi Kudô als Schwerverbrecher im Todestrakt des Tokioter Staatsgefängnisses einsaß. Dann merkte er, wie Gin den Wagen bremste. Offenbar waren sie angekommen. Shinichi schaute aus dem Fenster, glaubte die Gasse wieder zu erkennen, in die sie fuhren. Gin parkte seinen Wagen, brachte ihn zum stehen, stellte den Motor ab. Gelassen, geschäftsmäßig stiegen sie aus, alle, bis auf ihn selber, dessen Hände eiskalt und klamm waren; seine Bewegungen schienen irgendwie hölzern. Aber er riss sich zusammen. Er wusste ja, warum er das tat. Für wen. Was ihn erwartete, ahnte er, als er sich umsah. Es wirklich der gleiche Ort wie gestern. Dieselbe Zeit wie gestern. Aber diesmal… diesmal wurden sie erwartet. Die beiden Männer waren bereits da. Wodka stieß ihn in die Seite, streckte fordernd die Hand aus; Shinichi griff in seinen Mantel, zog das Päckchen mit der Gute-Laune-Designerdroge heraus und händigte es ihm wortlos aus, als sie sich den beiden Männern näherten. Sie blieben nicht unbeobachtet. Die drei Polizisten hatten sich in einem zivilen Auto verschanzt, hatten kein Licht und keine Zigarette an und verhielten sich vorbildlich still. Sie warteten schon seit fast zwei Stunden, befürchteten bereits, doch an der falschen Stelle zu sein, als sie sie sahen. Zwei Männer, die aus einer Gasse traten. Und zwei Männer, eine Frau und ein junger Mann, die ihnen entgegen schritten. Meguré hielt den Atem an, bemerkte nicht, wie Sato neben ihm sich verkrampfte und Takagi hinter ihm mit einem zischenden Geräusch scharf die Luft einsog. Kudô. Shinichi, oder, da er jetzt wohl im Dienst war, Armagnac, ging hinter ihnen her, auf die zwei Männer zu. Einer war der, den er gestern mit Gin besuchen gewesen war… der andere war ihm unbekannt. Gin zog seine Waffe, dann winkte er Wodka heran. „Mach das Paket auf.“ Der untersetzte Mann wickelte das Packpapier auf, brachte zwei Beutel gefüllt mit kleinen, bunten Pillen zu Tage, reichte sie seinem Vorgesetzten, zog dann ebenfalls seine Waffe. Gin hielt die beiden durchsichtigen Päckchen in die Luft. „Habt ihr das Geld?“ Der alte Mann, den Shinichi vom Vortag kannte, nickte eifrig, eilte nervös näher, in seinen Händen hielt er ein mit Packpapier umwickeltes Bündel. Er schwitzte heftig, und er roch immer noch ungewaschen, nach Fett und kaltem Rauch. Shinichi schluckte, fragte sich, wie es seiner Tochter ging. Immerhin hatte Gins Schuss sie gestern wohl nicht getötet, eine Tatsache, die ihn doch erleichterte. Er fing den Blick des Alten auf, bemerkte das Erstaunen in seinen Augen, das ihm auch gestern schon entgegen geblickt hatte, gepaart mit etwas Mitleid. Heute mehr als gestern noch - offensichtlich ging es ihr gut, wenn er sogar etwas Mitleid für Shinichi erübrigen konnte. Wäre sie tot, wäre dem sicher nicht so. Shinichi seufzte lautlos, bewegte sich unruhig. Er verhielt sich unauffällig, wünschte sich eins zu werden mit der Nacht, der Dunkelheit, damit er einfach verschwinden konnte, wusste doch, dass das nicht ging und harrte aus. Hoffte, dass man ihm keine Beachtung schenkte. Der Mann trat immer näher, und mit jedem Schritt roch man ihn stärker. Unsicher schaute er von ihm zu Gin. Der Blonde erwiderte seinen Blick kalt. „Gib es ihr. Vermouth wird nachsehen, ob es vollständig ist. Dann bekommst du die Ware, Sohei.“ Der Alte biss sich auf die Lippen, händigte sein Bündel aus. Sharon nahm es auf Gins Nicken hin in Empfang, öffnete es. Es war gefüllt mit gebündelten Notenscheinen. Sie zählte kurz lautlos durch, dann nickte sie. „Scheint vollständig zu sein.“ Gin winkte Wodka mit seiner Waffe zu; der trat daraufhin näher, warf dem Mann einen der Beutel entgegen. „Und nun mach, dass du abhaust.“, blaffte er den Mann an, der in den letzten Minuten fast geschrumpft zu sein schien vor Angst und Anspannung. „Schon weg…“, erwiderte er mit zitternder Stimme, und rannte, nach einem letzten Blick zu Shinichi weg, zurück in die Gasse, die zu einer belebten Partymeile führte, weg, weg von diesen schauderhaften Gestalten… wahrscheinlich geradewegs hin zum nächsten Kunden, dem er in Pillen gepresste Glückseligkeit verkaufen konnte. Shinichi schluckte, bewegte sich leicht, der Mantel schien ihn fast zu Boden zu ziehen. Er ließ seine Hände in seine Taschen gleiten, atmete tief ein und aus. Langsam ebbte seine Nervosität ein wenig ab. Ein Klient war nun weg. Der zweite würde bestimmt auch nicht lange dauern. Er ließ seinen Blick ein wenig schweifen, während Gin und Sharon auf Wodka warteten, der das erste Geldpaket im Wagen verstaute. Dann stutzte er. Er wusste nicht, warum sein Blick wie magisch von einem dunkelgrünen Toyota angezogen worden war, aber er kam nicht mehr los davon. Ließ seine Augen über die Karosserie schweifen… schaute zu den Fenstern. Ungläubig riss er die Augen auf, merkte, wie sein Herz zu rasen begann. In dem Auto saß jemand! Gerade fragte er sich, ob es nun als Armagnac seine Pflicht war, jemanden darauf aufmerksam zu machen, beziehungsweise, ob man ihm einen Strick daraus drehen konnte, wenn er es nicht tat, als er erkannte, wer im Wagen saß. Diese Hutkrempe hätte er unter Tausenden wiedererkannt. So unauffällig wie möglich wandte er den Blick ab, schaute zu Boden, schluckte, merkte, wie sein Herz zu rasen begann. Sie hätten nicht kommen sollen, Kommissar. Sonoko starrte den hochgewachsenen Mann an, der gerade zielstrebig auf Ran zuschritt. Sie standen gerade am Abendessensbuffet, stellten sich ihr Menü zusammen, als der Fremde den Raum betreten hatte und unbeirrt auf sie zusteuerte. Ran tat sich gerade gebratene Nudeln auf, als sie diesen Blick im Nacken spürte. Sie wandte sich um, blickte geradewegs in die grünen Augen des Mannes, den sie in ihrem Leben ganze zwei Mal getroffen hatte. Sonoko neben ihr schaute abwechselnd von Ran zu Shuichi Akai, schien sichtlich verwirrt. „Du musst mitkommen.“ Mehr sagte er nicht, und Ran hatte Mühe, ihn zu verstehen, weil er so leise sprach. „Wir essen gerade.“, meinte sie unbehaglich, warf einen Blick zu Sonoko, die dichter an sie rückte. „Und wer sind Sie eigentlich?“ „Das weißt du doch.“ Er blickte scheinbar gelassen um sich. Ran seufzte, schaute auf ihren Teller. Wirklich Hunger hatte sie ja nicht… und sie hatte eine Ahnung weswegen der Mann hier war. Das FBI… hier war. Sie seufzte leise, reichte dann mit einem entschuldigenden Lächeln ihren Teller der Bedienung hinter der Theke. Sonoko schaute unsicher von Ran zu dem Mann, gab ihren Teller ebenfalls zurück. „Ich komm auch mit! Denken Sie nicht, ich lass Sie mit Ran allein…“ Was er dachte, sollte sie nie erfahren, denn er drehte sich einfach um, verließ sich offensichtlich darauf, dass die beiden ihm folgten. „Unhöflicher Kerl.“, murrte Sonoko. „Wer ist das eigentlich?“ „FBI.“, wisperte Ran, sah sie dabei nicht an. Sonokos Kinnlade klappte nach unten. Shinichi versuchte krampfhaft, nicht mehr in die Richtung des grünen Toyotas zu schauen, musterte stattdessen den anderen Klienten. Der Mann schien etwas gepflegter als der andere Mann, immerhin. Er betrachtete ihn von oben bis unten, vom Scheitel bis zur Sohle, prägte sich alles genauestens ein, nur um nicht in Versuchung zu kommen, nochmal zum Wagen zu sehen. Er hoffte inständig, Meguré war schlau genug, niemanden auf sich aufmerksam zu machen und sie einfach ihr Ding hier durchziehen zu lassen. Gin beobachtete Shinichi seit einer geraumen Weile; ihm war seine innere Unruhe nicht entgangen, und so analysierte auch er seine Umgebung; und fand, wie Shinichi auch, den Wagen mit den Polizisten. Ein gemeines Lächeln schlich sich auf seine Lippen, in seinen Augen lag kalter Glanz. Ah… du hast Publikum, Kudô. Nun, sie sollen ihre Vorstellung bekommen, nicht wahr? Damit sie nicht umsonst angereist sind und sich nun mit den billigen Plätzen zufrieden geben müssen… Sie sollen morgen schön berichten, über deinen Auftritt heute Abend… Shinichi neigte den Kopf, als er Gins Blick auf sich ruhen spürte, sah in dessen berechnende Augen, beobachtete ihn, wie er sich voller Gelassenheit eine Zigarette ansteckte und wusste, was Sache war. Gin wusste Bescheid. Und damit, das war Shinichi klar, hatte für ihn heute, hier und jetzt die Stunde geschlagen. In seinen Magen schien ein Kilo Eiswürfel zu rutschen, er wandte den Blick wieder ab, betrachtete wieder ihren zweiten Kunden… versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und konnte doch nicht verbergen, dass in ihm alles rebellierte. Am liebsten wäre er auf und davon gelaufen. Er wusste, das konnte er nicht. Takagi erbleichte langsam. „Die haben uns gesehen.“, flüsterte er in die Dunkelheit, wandte seinen Blick nicht von der kleinen Gruppe ein paar Meter entfernt. Meguré nickte ernst. „Ja.“ „Und was jetzt?“ „Wir bleiben und hoffen das Beste. Was auch immer, wir dürfen uns, fürchte ich, nicht einmischen. Das Überraschungsmoment ist dahin. Und ich kann euer Leben da nicht riskieren, die sind in der Überzahl…“ „Aber Kudô…“, warf Sato ein, wandte sich zu ihrem Boss. „… ist nicht zu trauen, momentan, auch wenn sich in mir alles sträubt, das so zu sagen. Ich weiß nicht, wie weit er für Ran gehen würde. Wir sollten nichts provozieren, um sein Unglück nicht noch größer zu machen, verstehen Sie, Sato? Ich trau ihm keinen Mord zu… aber eben wenn er uns nichts tut, im Fall der Fälle, weiß er, er bringt Ran damit um. Auch wenn das FBI auf dem Weg zu ihr ist… er weiß das nicht. Lassen wir ihn in Ruhe, solange es geht, und beschränken wir uns aufs Beobachten… auch wenn ich mir den Abend, verdammt nochmal, anders vorgestellt hatte.“ Der Unmut in seiner Stimme war deutlich zu hören; allerdings schwang in seinem Ton auch noch etwas anderes mit. Angst. Sato schaute ihn lange an, nickte dann ernst, drehte sich wieder zur Scheibe. Takagi hinter ihr seufzte kaum vernehmlich, schien nicht einmal zu blinzeln, als er die Szene beobachtete. Endlich trat Wodka wieder neben sie. Shinichi schluckte. Er hatte bemerkt, dass der Klient ausgesprochen nervös war, sich wie irre an ein Bündel klammerte, in dem er, wie er vermutete, das Geld aufbewahrte, ähnlich wie der andere Kunde. Ihm wurde immer unwohler. „Das Geld?“, fragte Gin geschäftsmäßig, in seiner Stimme schwang deutlich die Drohung. Der Mann, im gut sitzenden Nadelstreifenanzug schlich näher, händigte Sharon, wie auch sein Vorgänger, das Paket aus. Sie öffnete es, zählte die Bündel und stockte unwillkürlich. Sie waren gut gemacht und sauber unter echtes Geld gemischt, aber das Papier fühlte sich einfach anders an… Blüten...! Sie zählte hastig weiter, hoffte, dass weder Gin noch Wodka ihr Zögern bemerkt hatten; sie hatte eine Ahnung, was passieren würde, käme heraus, dass ein Teil der Scheine Falschgeld war. Sie warf Shinichi einen unbehaglichen Blick; er schien ihn zu verstehen, denn er wandte den Kopf ab, biss sich auf die Lippen, während er seine Fäuste in seiner Jacke ballte, seine Haltung angespannter wurde. Nun hatten sie auch noch einen echten Grund, ihren Mann hier umzubringen. Hätte Gin noch irgendwie Zweifel gehegt, so wären sie spätestens jetzt wie weggeblasen, wenn der Kunde sie betrog... „Vermouth?“ Shinichi blickte irritiert auf. Es war Wodka, der gesprochen hatte, was einem Naturphänomen gleichkam. „Stimmt etwas nicht?“, drehte sich nun auch Gin um. Shinichi konnte das Zittern des Mannes förmlich spüren. Er wusste, seine Stunde hatte nun geschlagen. Und Shinichi wusste das auch. Ohne auf ihre Antwort zu warten, trat er zu ihr, griff in das Paket, zog einen Bündel Scheine heraus und griff prompt nach den Blüten. Der Oberschüler verengte die Augen, wandte den Kopf ab. Das Glück ist mir heut aber auch gar nicht hold. Gin hielt sie gegen das Licht einer Straßenlaterne, zog einen Schein heraus, rieb mit dem Finger über das Papier, roch daran, riss ihn sogar ein. Dann schleuderte er das Bündel Noten dem Mann ins Gesicht, trat näher, hob ihn scheinbar mühelos hoch, presste ihn an die Hausmauer. „Falschgeld servierst du uns?“, knurrte er leise. „Dachtest du, wir fallen darauf herein?“ Das war der Moment, als eine weitere Gestalt, unbemerkt von allen anderen Anwesenden, die Gasse betrat und dem Schauspiel beiwohnte. Gin ließ den Mann los, der zu wimmern begonnen hatte wie ein getretener Hund, winkte Wodka herbei. Der untersetzte Mann krempelte sich die Ärmel hoch. Shinichi legte den Kopf in den Nacken, hörte nur den Schrei. Als er wieder hinsah, sah er, wie dem Mann das Blut aus der Nase lief. In ihm rebellierte alles; er wollte helfen, wollte nicht so tatenlos rumstehen, aber er riss sich zusammen. Für Ran. Für… sich. Er hoffte immer noch, einigermaßen unbehelligt aus der Affäre zu kommen, obgleich er wusste, dass seine Hoffnung umsonst war. „Glaubtest du, du könntest uns täuschen?!“, drang Gins erboste Stimme an sein Ohr. Der Hühne hatte sich vor dem Mann aufgebaut, das spärliche Licht der Laterne ließ seine Haare fast silbern glänzen, der Wind, der durch die Gasse fegte, fing sich in ihnen und in seinem Umhang. Ja… Gin war jemand, vor dem man sich fürchtete. „Ich… ich… ich hab einfach nicht…“, fing der Mann zu stottern an, knetete seine Hände. „Was hast du nicht…?“ „Nicht genug…“ Der Klient brach ab, zuckte unter Gins vernichtendem Blick zusammen. „Nicht genug was? Geld? Dann, mein Verehrtester, darfst du aber auch nicht Geschäfte mit uns machen wollen.“ Gins Stimme klang kalt. Vermouth kniff ihre Lippen zusammen, verschränkte ihre Arme vor der Brust, während Wodka eifrig nickte. „Du weißt, wie du jetzt dafür bezahlst, nicht wahr…?“ Er trat einen Schritt näher. Der Mann stolperte mehrere Schritte zurück, taumelte gegen die Wand, rutschte nach unten, hob schützend die Hände über den Kopf. „Ich krieg das Geld noch! Morgen! Bitte!“ Gin zog an seiner Zigarette, warf sie dann zu Boden, trat sie fast brutal aus, stieß den Rauch langsam aus. Er schien keine Eile zu haben. „Nein.“ Eisig hallte seine Stimme in der Gasse wieder. Völlige Stille herrschte. „Nein…“, wiederholte Gin gelassen. „Ein Morgen gibt es nicht.“ Er zog seine Waffe aus seinem Mantel, unter den Augen ihres Klienten, der bei dem Anblick schier den Verstand zu verlieren schien. „Nein!“ Der Mann schrie jaulend auf, fing an zu weinen. Shinichi starrte ihn an, unfähig, sich zu bewegen. Dann drang ein Satz an sein Ohr, der ihm durch Mark und Bein ging. Und in diesem Moment wünschte er sich, tot zu sein. „Ich denke, das ist ein guter Zeitpunkt, um dich deiner Feuerprobe zu unterziehen... die Ehre gebührt dir, Armagnac. Erschieß ihn.“ Gin stand vor ihm, schaute ihn kühl an, hielt ihm den Revolver hin. Shinichi blickte dem Mann starr ins Gesicht, der mit gebrochener Nase und um Atem ringend vor ihm auf dem Boden kniete und schluchzte wie ein kleines Kind. Seine Wangen waren binnen Sekunden glänzend nass geworden. Shinichi kniff seine Lippen zusammen, merkte, wie ihm der kalte Schweiß aus allen Poren brach. „Nein.“, murmelte er, bevor er auch nur darüber nachdenken konnte, was er da sagte. Er schüttelte den Kopf, trat weg von ihm, schluckte schwer. „Nein.“ Seine Augen waren weit aufgerissen. „Du weißt, was auf dem Spiel steht.“ Auf Gins Lippen schlich sich ein maliziöses Lächeln, in seinen Augen funkelte Genugtuung. Er hatte sich lange genug angesehen, wie Kudô sich Zeit erschwindelte, es war nun genug. Es war an der Zeit, dass er starb. „Du weißt, wessen Leben du in der Hand hast.“ Er lachte leise, schob sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie sich gelassen an. Inhalierte tief und stieß den Rauch aus, beobachtete genau den jungen Mann vor sich. Man sah ihm an, wie er mit sich kämpfte, wie er mit sich rang und sich quälte und es war wunderbar. Die Polizisten im Auto hielten den Atem an. Sie alle wussten, was jetzt vor sich ging, trauten sich fast nicht, hinzusehen. Gin genoss es. Er liebte es, seine Beute noch ein wenig zappeln zu sehen. Er wusste, Kudôs Leben würde heute Abend sein Ende finden, heute… und durch seine Hand. Wenn er diesen Auftrag nicht ausführte, den Befehl verweigerte, war es vorbei mit ihm. Er würde derjenige sein, der ihm sein jämmerliches Leben aus der Brust würde reißen dürfen, das wusste er. Und er konnte es kaum erwarten. „Na? Was ist nun…?“ Er beugte sich näher. „Gestern hattest du Glück, aber heute… heute kann und wird dir keiner helfen, Armagnac…“ Ein boshaftes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Und willst du nicht auch unserem Publikum eine Show bieten, die es nie vergessen wird…?“ Shinichi stöhnte auf, griff sich an den Kopf, kniff die Augen zusammen. Sharon warf ihm einen Blick zu, konnte nachvollziehen, was in ihm vorging. „Weißt du… ich dachte ja nicht im Traum daran, dass alles so perfekt laufen würde…“, begann Gin von neuem, übertönte das Schluchzen des Mannes auf den Boden, griff Shinichi am Hinterkopf in die Haare, zog seinen Kopf zurück, so fest, dass er leise aufschrie, zwang ihn, in die Knie zu gehen. Seine Lippen waren leicht offen, sein Blick ging geradewegs in den Himmel… in unendliche Leere. „Der Klient bringt Falschgeld, ein Grund, zu drastischen Maßnahmen… und die Polizei sieht zu, wie du zum Mörder wirst, so oder so…“ Gins heißer Atem strich an seinem Hals entlang; dann ließ er ihn wieder los, und Shinichi taumelte ein paar Schritte nach vorn, keuchte. „Nun, nimm die Waffe und tu, was man dir sagt. Ansonsten könntest du mich jetzt auch gleich fragen, ob du euer Grab noch ausheben darfst, bevor ich dich in die ewigen Jagdgründe schicke, und sie dir hinterher.“ Shinichi biss sich auf die Lippen, konnte kaum mehr klar denken, war fast nicht mehr in der Lage, das Zittern, das ihn zu schütteln begann, unter Kontrolle zu halten. Ran. Sein Leben war ihm einigermaßen egal, aber Ran… Ran! Man würde Ran töten… Er hatte doch versprochen, nicht zuzulassen, dass ihr etwas geschah, und nun war er drauf und dran, ihr Henker zu werden… Ihr Leben stand auf dem Spiel. Wenn er verweigerte, diesen Mann zu erschießen, würde man sie umbringen. Aber er konnte doch nicht… er konnte doch nicht einen Menschen töten. Er war doch kein Mörder! Selbst wenn er wollte… er brachte es nicht über sich. Er schaffte es nicht. Er wollte es gar nicht schaffen. Aber er musste… er musste doch! Musste doch… Musste doch… „Los!“ Gin hielt ihm die Waffe unverwandt vor die Nase. Der Mann vor ihm auf dem Boden wand sich, winselte leise. „Bitte… bi…biitteeeee!“ Shinichi starrte ihn an, sein Gesicht verzog sich vor innerer Zerrissenheit. Der Klient vor ihm sah ihm das an, witterte seine Chance, begann noch mehr zu jammern, zu betteln, immer mehr Tränen flossen ihm über die Wangen, er schniefte geräuschvoll, immer lauter wurde sein Flehen. „Nicht… bitte… nicht…!“ Er wand sich zu seinen Füßen, krallte seine Hände in den Asphalt, griff dann nach Shinichis Hosenbein. Dem Oberschüler drehte sich fast der Magen um. „Du bist doch nicht so wie sie, das seh ich doch… bitte… bitte…“ Shinichi biss sich auf die Lippen, schmeckte noch mehr Blut, trat dann zurück, damit der Mann sein Bein wieder los ließ. „Sie haben meine Freundin.“, wisperte er, wie als Entschuldigung, und wusste doch, dass es keine war. „Sie haben meine Freundin… egal was ich mache, ich werde immer ein Mörder sein… entweder Ihrer, oder der meiner… meiner Freundin… Außerdem sollten Sie sich nicht zu sicher sein… dass Sie nicht trotzdem sterben werden, wenn ich Sie nicht umbringe.“ Er schluckte hart, wunderte sich, warum er noch so sachlich reden konnte. Die Situation war aussichtslos, aber er konnte sich noch perfekt artikulieren. Gin grinste auf einmal, trat zu ihrem Opfer, schlug ihm gönnerhaft auf die Schulter. „Na, das ist ein interessanter Aspekt. Ich würde sagen, das machen wir doch… entweder sein Leben, oder das deiner Freundin. Du darfst es aussuchen, wer leben darf. Wir werden ihm nichts tun, nicht wahr, Vermouth?“ Sie schaute ihn kalt an, kniff nur die Lippen zusammen, bis von ihnen nicht mehr zu sehen war als ein feiner Strich. Gin räusperte sich, trat wieder hinter Shinichi, der kurz die Augen schloss; ein Ausdruck von Qual huschte kurz über sein Gesicht. „Aber lass dir ja nicht einfallen, dass du dich der Entscheidungsgewalt entziehst. In dem Fall, dass dir mit der Knarre ein Unfall passiert, stirbt sie auch.“ Seine Stimme klang eiskalt. Shinichi schluckte, konnte kaum mehr stehen. Alles in ihm drehte langsam durch. Der Gestank des Zigarettenqualms, in den Gin ihn hüllte, brannte in seiner Nase, seiner Lunge. Die blonde Frau starrte ihn an, wandte dann den Blick wieder ab. Damit, das wusste sie, brachten sie Shinichi endgültig an die Grenze dessen, was er ertragen konnte. Schicksal, Gott zu spielen… zu entscheiden, wer lebte und wer starb… diese Entscheidung konnte er nicht treffen. Der Mann starrte ihn bettelnd an. „Du hörst ihn… bitte, verschone mich… ich hab Frau und Kinder…“, er hustete. Shinichi schaute zu Boden, konnte ihm nicht ins Gesicht blicken, als er redete. „Sie ist erst neunzehn… ich liebe sie… ich kann sie doch nicht…“ Seine Stimme brach. Er war kurz davor, den Verstand zu verlieren, das wurde ihm langsam klar. Ausdruckslos starrte er auf den Boden vor seinen Füßen. „Also ist dir ihr Leben wichtiger als meins… bin ich weniger wert…?“ Shinichi sah zur Seite, wischte sich fahrig übers Gesicht, unfähig, etwas darauf zu sagen. In ihm tobte ein Kampf; denn ja, genau diese Frage beschäftigte ihn ja auch. Durfte er Rans Leben über das dieses Mannes stellen? Durfte er das Leben dieses Mannes über Ran stellen, die doch völlig unschuldig war? Er war immerhin ein Krimineller. Er war Waffenschmuggler und Dealer. Er ruinierte das Leben anderer Leute. „Ich weiß nicht…“ Seine Stimme klang monoton. In ihm rebellierte alles, äußerlich war er kaum mehr fähig zu einer Reaktion. Er war wie gelähmt. „ERSCHIEß IHN ENDLICH!“, bellte Gin, wohl wissend, Shinichi damit noch mehr unter Druck zu setzen, drückte ihm die Waffe in die Hand. „Nein…“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Nein, nein, nein…“ Verzweiflung kroch in ihm hoch. „Dann weißt du, was passiert.“ Gin zog an seiner Zigarette, atmete den Rauch langsam durch die Nase aus. Das hier lief wirklich genau nach Plan. Shinichi schluckte, merkte, dass sein Hals wie ausgedörrt schien, drehte sich um, sah in Sharons Gesicht, das voller Mitleid war, sah in Wodkas Gesicht, voller Häme… Er wollte fast gehen, weg hier, weg… vielleicht, wenn er einfach ging… …konnte er sich dem entziehen, was hier auf ihn wartete… Er atmete aus, stöhnte leise. Kaum, Kudô. Weglaufen war keine Option. Er schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, kniff die Augen erneut zusammen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte keinen umbringen, das war klar. Auch keinen Verbrecher. Allerdings… war für Shinichi noch sehr viel klarer… dass er Ran schützen wollte. Gerade wollte er sich umdrehen, vielleicht doch noch versuchen, sich irgendwie rauszureden… was hoffnungslos sein würde, das wusste er… als er im Augenwinkel eine Bewegung erhaschte. Kaum mehr als ein Schatten in der Dunkelheit, Schwarz auf Schwarz, kaum wahrzunehmen… und doch sah er sie. Die Silhouette. Die Silhouette eines Mannes, der ihm nur allzu bekannt war. Shinichi keuchte, alles in ihm verkrampfte sich, und doch konnte er seine Augen nicht abwenden, wusste doch, wer es war. Er. Ihm blieb fast das Herz stehen. Was sich dann abspielte, passierte binnen weniger Sekunden. Shinichi stand da, wie zur Salzsäule erstarrt, wollte so sehr glauben, er täusche sich. Wollte seinen Augen nicht trauen. Es war kaum mehr als ein Schatten, ein Schemen am anderen Ende dieser vermaledeiten Gasse, in der er zum Mörder werden sollte, aber er erkannte ihn. Er hätte diese Gestalt unter Tausenden… unter Millionen wiedererkannt. Er wusste um die Identität des Menschen, der dort stand. Ohne jeden Zweifel. Und er wusste auch, wer er war – als was er zu dieser Stunde, in diesem Moment, in dieser Gasse stand. Dort… stand der Boss der Schwarzen Organisation. Und sah ihm zu. Beobachtete jede seiner Bewegungen. Shinichi schluckte hart, der Revolver wog schwer in seiner Hand, zog ihn fast zu Boden, wie es schien. Also… bist du es doch… Du… du… Mit einem Mal schien seine Welt Kopf zu stehen. Alles machte auf einmal Sinn… aber alles schien gleichzeitig so falsch… So falsch… So entsetzlich verkehrt. Er griff sich an die Stirn, blinzelte, schaute nochmal hin. Es hatte sich nichts verändert. Dort stand er immer noch. Immer noch. Er atmete heftig, versuchte, nicht durchzudrehen. Er musste sich zusammenreißen, jetzt. Es ging immer noch um Rans Leben. Immer noch um Ran! Da durfte er… so schwer es ihm auch fiel… nicht den Verstand verlieren. Beruhige dich. Nur keinen Fehler machen, jetzt… Denn wenn auch noch die Gestalt in der Gasse die gleiche war, nach diesem kurzen Augenblick, den so ein Blinzeln brauchte - etwas anderes hatte sich definitiv verändert. Seine Situation nämlich; denn die hatte sich um 180 Grad gedreht. Sein Weltbild war zusammengebrochen, das innerste nach außen gekehrt worden, wo oben war, war nun unten… sehr weit unten… aber wenigstens ein Gutes hatte es. Er wusste nun, was er zu tun hatte, mit dieser Waffe in seiner Hand. Langsam schien die Welt wieder klarer zu werden. Der Nebel über seinen Gedanken lichtete sich, Erleichterung machte sich in ihm breit. Ein Ausweg zeichnete sich ab. Ran war sicher. Ran war sicher… Ein leiser Seufzer entfloh seinen Lippen. Egal was für ihn die Identität dieses Menschen dort am Ende der Gasse bedeutete… für Ran war es die Rettung, dessen war er sich gewiss. Und für ihn… damit zumindest in gewissem Sinne auch. Denn er… er würde ihr nichts antun. Egal was er selber hier machte, sie war in Sicherheit… er würde nicht zulassen, dass man ihr etwas antat. Und deshalb war es auf einmal egal, was er hier veranstaltete. Ihm wurde fast leicht ums Herz, so absurd es auch schien. Er musste nicht morden… nicht, um sie zu schützen. Shinichi wusste, er unterzeichnete sein eigenes Todesurteil mit dem, was er zu tun gedachte, aber das war ihm egal. Damit konnte er leben, oder sterben, wie man’s nahm. Lieber gab er sein Leben, als dass er das eines anderen dafür nahm. Als er wieder näher trat, lächelte er fast. Bitter zwar, nur ein winziges Bisschen angeheitert über die erstaunten Mienen von Gin, Wodka und auch Vermouth. Er wagte sich nicht auszudenken was Meguré im Wagen jetzt von ihm dachte. „Schön, bringen wir’s hinter uns.“ Unter den ungläubigen Blicken von Vermouth, Gin und Wodka entsicherte er den Revolver, ging zum nächsten Kanaldeckel; schraubte den Schalldämpfer ab, langsam, mit ruhigen Händen. Shinichi schaute sie an, lächelte nun doch ein wenig triumphierend, atmete durch, dann zielte er in die Luft, drückte ab, ehe ihn jemand daran hindern konnte; und ließ die Waffe dann durch das Gitter fallen, wo sie klappernd in tintiger Schwärze verschwand. Der Krach in der Gasse war ohrenbetäubend. Das Echo des Schusses brach sich vielfältig an den eng stehenden Hausmauern. Sofort wurden Stimmen laut, die ersten Menschen strömten von der anderen Seite der Gasse herein, Tumult brach los. Er merkte nur noch, wie ihn jemand grob am Arm packte, fing den dankbaren Blick des Mannes auf dem Boden auf; dann wurde er in den Porsche gestoßen, und unter lautem Reifenquietschen brausten sie davon. „Du weißt schon, was du jetzt getan hast…?“ Gins Stimme klang eisig, und doch bebte sie vor Vorfreude. Shinichi erwiderte nichts. Ja, er wusste, was er getan hatte. Das einzig Richtige. Das Richtige. Langsam hob der Kopf, schaute aus dem Fenster, sah sein bleiches Gesicht als Reflexion in der Scheibe. Dachte an sie. Leb wohl… Ran. Neben ihm saß Sharon, blickte ihn an, ihr Blick unergründlich. Kurz sah er zu ihr, und da… wusste sie es. Sah es in seinen Augen. So you know it now. In einem grünen Toyota schauten sich drei Polizeibeamte betroffen an. „Hat er’s gewusst… dass Ran wohl in Sicherheit ist…? Oder konnte er es einfach nicht…?“, wisperte Takagi schließlich in die Dunkelheit. Meguré erwiderte nichts. Er startete nur den Motor, fuhr aus der Gasse, zurück zum Revier. Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sie alle wussten, was nun passierte. Jetzt würde man ihn töten. Sie würden ihn lebend nie wieder sehen. Und in ihren Gedanken stellten sie sich immer wieder die gleiche Frage. Waren wir Schuld? Im Hotel auf Izu starrten zwei junge Frauen den schwarzhaarigen Mann an, der auf einem Stuhl in ihrem Zimmer saß. Er hatte geschwiegen, seit sie hier angekommen waren. Ran hatte ihn gelöchert, gefragt, angebettelt… aber er war eisern geblieben und hatte geschwiegen. Nur gesagt… dass er auf sie aufpassen würde. Ran warf ihm einen ärgerlichen Blick zu; dann ging sie nach draußen, auf den Balkon, starrte in die Nacht, hinauf in die Sterne. Shinichi. Sie biss sich auf die Lippen, presste eine Hand gegen ihre Brust, spürte, wie ihr Herz schlug, flatterte wie ein kleiner Vogel in einem zu kleinen Käfig. Irgendetwas war los… und es machte sie schier verrückt, nicht zu wissen, was. Und sie musste an sich halten, um diesem Akai, so hieß der Mann in ihrem Zimmer, und das war auch die einzige Info, die sie neben seiner gezückten FBI-Marke über ihn erhalten hatte, nicht eins überzubraten, um ihn zum Reden zu bringen. Leider befürchtete sie ja, er wäre ihr gewachsen, kampftechnisch. Also blieb ihr nichts, außer zu warten… voller Anspannung und Angst… Was der neue Morgen bringen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)