Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 19: Teil Zwei: Amnesia - Kapitel 1: Gefunden ---------------------------------------------------- Hi folks! Mit etwas Verspätung diesmal das nächste Kapitel, tut mir Leid! Und: Natürlich hat man ihn gefunden! Das wusstet ihr doch schon seit dem Prolog :D Und nun darf ich verkünden, genau da geht es jetzt auch weiter... mit dem zweiten Teil von Amnesia, dem Teil, dem die Geschichte auch den Namen verdankt. Ich danke euch sehr für eure Kommentare zum letzten Kapitel und ich hoffe, ich kann euch Yusaku als Boss doch einigermaßen glaubhaft erklären. Es war, das versichere ich euch, beileibe keine Schnapsidee... In diesem Sinne, viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, eure Leira :) __________________________________ Teil Zwei: Amnesia Kapitel 1: Gefunden Agasa stand am Gang vor dem OP und wartete. Neben ihm wartete Ai. Ein paar Stunden war es nun her, seit sie ihn auf der Straße gefunden und ihn hierher, ins Haido-Zentral-Klinikum, gefahren hatten. Die Fahrt hatte kaum länger gedauert als eine halbe Stunde; in dieser halben Stunde hatte er vorn neben dem Professor auf dem Beifahrersitz gelegen, Jodie hatte neben ihr gesessen – und im Wagen war es totenstill gewesen, als der alte Mann durch Nacht und Regen seinen Käfer zu Höchstleistungen angespornt hatte. Sie hatte ihn noch gesehen, ganz kurz, bevor er in den Operationssaal gerollt wurde - aber allein dieser kurze Augenblick hatte ihr gereicht, um zu sehen, dass es ihm wirklich schlecht ging. Er war kreideweiß im Gesicht gewesen, hatte gezittert; Schüttelfrost, soviel war selbst für den Laien offensichtlich. Die Ursache dafür war genauso offensichtlich - am ganzen Körper war er tropfnass, seine Lippen bereits blau angelaufen. Unterkühlt. Und sie hatte das Blut gesehen. Blut an seinen Händen, an seiner Kleidung. Blut. Überall. Sein Blut. Ai schien wie versteinert, fühlte sich wie gefroren, starr und kalt, unfähig zu einer Bewegung. Sie hatte gewusst, dass er verletzt war, dass es ihm schlecht ging, als man ihn in den Wagen gehoben hatte… aber da war das Licht viel zu schwach gewesen, um Einzelheiten auszumachen. Jetzt im Schein der Neonröhren war jeder Kratzer sichtbar geworden. Überdeutlich. Und es waren nicht wenige gewesen… und bei weitem nicht nur Kratzer. Sie knetete ihre kleinen Hände, dann sah sie auf zum Professor, bemühte sich um eine ruhige Stimme. „Wo sind die… die anderen?“ Der alte Mann schaute zu ihr herab, versuchte, einen beruhigenden Tonfall in seine Stimme zu bringen, merkte er doch, wie es um seine kleine Mitbewohnerin stand, egal wie sehr sie sich um Fassung mühte. „Warten alle im Wartezimmer. Ich schätze… Mr Black wird wohl die Kleinen nun bald heimfahren. Eigentlich sollten sie ja schon zuhause sein.“ Seine Stimme klang monoton, er schien nicht wirklich bei der Sache zu sein. „Sie haben gesagt, sie bleiben bei Ihnen über Nacht.“ Jodie war hinter die beiden getreten, ihre Arme unsicher vor der Brust verschränkt, in ihren Augen echte Sorge. Hinter ihr stand Heiji, der merklich blasser geworden war. Einerseits war er zwar unsäglich erleichtert, seinen Freund nun endlich in Sicherheit zu wissen; andererseits konnte er nicht aufatmen, solange er nicht wusste, dass Shinichi auch wieder gesund wurde. Noch dazu stand ja eine Sache noch zwischen ihnen; etwas, dass er sich nicht verzeihen konnte, nämlich sein Verhalten als Freund, das er vor ein paar Tagen im Garten an den Tag gelegt hatte. Es nagte beständig an ihm, und so wenig für ihn tun zu können - im Moment, und auch bei seiner Rettung generell, trieb in fast in den Wahnsinn. Wozu war er denn sein Freund… wenn er ihm nicht helfen konnte, wenn er Hilfe brauchte? Er wollte endlich mit ihm reden. Er wollte sich aussprechen, sich… entschuldigen. Ihm von nun an zur Seite stehen. Als Freund. Der alte Mann seufzte, dann bemerkte er James Black langsam näher kommen. Jodie hatte ihren Vorgesetzten vom Krankenhaus aus angerufen, der zusammen mit Heiji und den Kindern nur kurz darauf eingetroffen war. „The kids are asleep in the waiting room. Any… news?“, bemerkte er leise. Agasa schüttelte den Kopf, seufzte erneut, vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen, sein Blick dunkel umwölkt vor Sorge. Sie hatten den Kindern immer noch nicht von seiner Doppelidentität erzählt. Die Kinder hatten in ihm nur Rans Freund gesehen. Sie hatten keinen blassen Schimmer. „War er eigentlich…“ Ai schluckte, bemerkte einigermaßen fassungslos, wie ihr die Stimme wegbrach. Sie griff sich an den Hals, räusperte sich - dann schaute sie nach oben, in die Gesichter ihrer Freunde, entgegen ihrer Angewohnheit, vor sich her zu reden und ihren Gesprächspartner nicht anzusehen. „Professor… war er eigentlich- ich meine hat er…?“ Sie atmete tief durch, versuchte, sich zu sortieren, konnte kaum glauben, dass sie nur noch stottern konnte, anscheinend; sie, die doch eigentlich immer die Nerven behielt. Sie räusperte, wandte den Blick ab, studierte die Musterung des Linoleumbodens, ehe sie erneut ansetzte. „Als sie ihn fanden, Professor, hat er da was gesagt? Er war ja kurz bei Bewusstsein, er stand ja, als wir ihn fanden…“ Na endlich ein vollständiger Satz. Gut gemacht. Agasa seufzte, ließ sich auf die Bank, die im Gang stand, nieder. Schwerfällig, ungelenkig, müde. Ai schaute ihn an, erschrak, ihre kindlichen Augen wurden groß, als ihr ein Gedanke, eine Erkenntnis in den Kopf schoss. Nie hatte sie ihm seine Sorgen so richtig angesehen, bis jetzt. Er sah alt aus, so niedergeschlagen und zerfressen vor Sorge, und erst jetzt wurde ihr wieder klar, und zwar so richtig klar, dass ihn und Shinichi eine sehr, sehr lange Freundschaft verband. Agasa kannte Shinichi schon als Baby - er war wohl für den Detektiv schon so eine Art Großvaterersatz gewesen. Die beiden standen sich wirklich nahe, und jetzt standen sie hier im Krankenhaus, hatten Shinichi gerade schwerverletzt in den OP rollen sehen. Ai schluckte, zuckte dann zusammen, als sie Agasas Stimme vernahm, der ihr leise antwortete. „Er war wach, kurz, ja. Gesagt hat er nichts. Aber der Blick in seinen Augen…“ Der alte Mann schauderte, als er sich daran erinnerte. Sah diese blauen Augen, das Gesicht seines jungen Freundes vor sich. Dieses ihm so bekannte Gesicht. Und er sah diese Fassungslosigkeit in seinen Augen. Dieses Entsetzen. Diesen Schmerz, diese Angst. Und… diese Verwirrung. Genau dieser Ausdruck in Shinichis Augen ließ ihn Böses ahnen. „Was, Professor?“ Ai zog ihn am Ärmel. Heiji, Black und Jodie beugten sich vor. „Welcher Blick?“ Es war Heiji, der fragte, und er klang nervös, definitiv. „Er schien so… überrascht. So fassungslos. Verwirrt, ja. Total verwirrt. Als hätte er keine Ahnung, wie ihm das zugestoßen ist…“ Das rotblonde Mädchen ballte die Fäuste, biss sich die Lippen blutig, bemerkte aus dem Augenwinkel, wie der junge Mann aus Osaka es ihr gleichtat. „Sie glauben doch nicht…?“ „Er hatte eine schlimme Wunde am Kopf…“, murmelte Agasa. „Möglich ist alles.“ „Aber…!“ „Ich weiß.“ Der alte Mann seufzte. „Ich weiß, dass das so ziemlich das Letzte ist, was er brauchen kann.“ Er räusperte sich, streckte sich unbehaglich. „Ich muss seine Eltern anrufen. Und die Polizei. Bleibst du hier, Ai?“ Sie nickte. „Soll ich dir was zu trinken mitnehmen…? Oder Ihnen? Heiji?“ „Mir egal.“ Ihre Stimme war kaum hörbar. Heiji schüttelte ebenfalls den Kopf, rammte seine Hände in seine Hosentaschen und lehnte sich gegen die Wand, starrte stur geradeaus. Man konnte förmlich sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. James Black und Jodie schüttelten ebenfalls die Köpfe. „Wir informieren Akai… er sollte mit Ran wohl besser herkommen, es gibt keinen Grund mehr, sie auf Izu zu halten. Und wenn Sie wollen, Professor, dann informieren wir die Polizei.“ Ai interessierte das nicht, genauso wenig wie Heiji. Sie beide wandten sich um, stumm schauten wieder die Tür zu OP 4 an. Hinter dieser Tür lag er. „Shinichi…“ Sie wisperte den Namen nur. Heiji sah sie nicht an. Durchhalten, Kudô…! Hiroshi Agasa hatte in der Krankenhauslobby eine Telefonzelle gefunden, wählte die Nummer der Kudôs. Er zog es vor, hier drinnen zu telefonieren, hier, wo er alles und jeden sah, und nicht mit dem Handy rauszugehen, in die nächtliche Finsternis, wo er nicht wusste, ob nicht hinter einer Ecke bereits einer von ihnen wartete und sich nur zu sehr über Informationen über Shinichi Kudô freute. Er war nervös, ihm war ganz und gar nicht wohl bei der Sache, und das wunderte ihn, denn eigentlich überbrachte er doch… erfreuliche Nachrichten. In gewisser Weise. Allerdings hätten diese Nachrichten wohl noch erfreulicher sein können. Das Freizeichen ertönte, während er überlegte, welche Worte er wählen sollte. Was sollte er ihnen nun erzählen- oder besser, wie? Er wusste doch selber noch gar nicht, wie es um Shinichi stand. Wie schwer verletzt er wirklich war. Das Freizeichen ertönte ein weiteres Mal, und ein drittes Mal, und er wusste noch immer nicht, was er genau sagen sollte. Was sein seltsames Verhalten zu bedeuten hatte… Gerade, als er auflegen wollte, sich fragte, ob der deswegen erleichtert sein sollte, dass er noch eine Galgenfrist erhielt, oder nicht, hob doch noch jemand ab. „Yukiko Kudô am Apparat, wer ist dran, bitte?“ Agasa seufzte. Ihre Stimme klang besorgt, was ihr nicht zu verübeln war. Und was auch ganz und gar nicht verwunderlich war. Er hatte bis zuletzt nicht gewusst, wer ihm als Gesprächspartner lieber gewesen wäre - nun wusste er es. Yusaku wäre seine Wahl gewesen. Yusaku, der einen kühlen Kopf behielt, immer. Ein Mann, der wusste, wie man mit solchen Ereignissen umging. „Wer ist dran, bitte?“, ertönte die Frage wiederholt an sein Ohr, der Tonfall diesmal aber weitaus drängender. Der Professor kratzte seinen Mut zusammen, räusperte sich. „Ich bin’s, Yukiko. Hiroshi. Ich rufe an… es geht um…“ Er wusste nicht, wie er fortfahren sollte. Allerdings wurde ihm diese Entscheidung bald abgenommen- nämlich als ihn Yukiko Kudô unterbrach. „Shinichi? Habt ihr- wurde er gefunden? Wo ist er? Wie geht es ihm? Kann ich ihn sprechen? Professor, nun sagen Sie doch etwas…“ Sie war aufgeregt, die Besorgnis um ihren Sohn sprach deutlich aus ihr. Agasa seufzte, holte selber erst einmal tief Luft, ehe er erneut ansetzte. „Yukiko… beruhig dich, setz dich besser hin. Schalt das Telefon auf Lautsprecher und hol Yusaku, damit ich es nicht zweimal erzählen muss…“ „Professor-…“ Der alte Mann zog die Augenbrauen hoch, als er sich ihres unsicheren Tonfalls gewahr wurde. So hatte er sie noch nie gehört. „Yu… Yusaku ist nicht da… sie müssen es wohl zweimal erzählen.“ Sie schluckte. „Oder ich sags ihm… wenn er wiederkommt. Ich weiß allerdings nicht, wann das sein wird, er ist heute Abend einfach wieder weggefahren und ich…“ Angst. In seiner Stimme lag Angst. „… weiß nicht wohin...“ Sie seufzte, er spürte deutlich, wie sehr sie sich zusammenriss, am anderen Ende der Leitung. „Aber ich denke, er kommt… bald wieder. Ich versuchs später auf seinem Handy. Aber nun sagen Sie doch…“ Ihre Stimme wurde immer drängender. „Nun sagen Sie doch… was ist mit Shinichi? Er ist doch nicht- bitte sagen Sie…“ Yukiko brach ab, für einen Moment herrschte Stille in der Leitung, ehe ihre sachte zitternde Stimme erneut an sein Ohr drang. „Er ist nicht tot, Professor, oder? Bitte- sagen Sie,… sagen Sie, dass er nicht tot ist… Mein Gott, er darf nicht tot sein, bitte…“ Agasa seufzte, ein minimales Lächeln huschte über seine Lippen. Wenigstens diese Sorge konnte er ihr nehmen. Vorerst, zumindest. „Nein, ist er nicht. Noch nicht, heißt das.“ Seine Miene verdüsterte sich kurz. „Was… was ist denn jetzt eigentlich passiert...Ha… haben sie ihn gefunden?“, fragte sie wispernd. Angst klang in ihrer Stimme, wahnsinnige Angst. Der alte Professor fuhr sich mit den Fingern durch seine weißen Locken, wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Nun… ganz genau weiß ich es auch nicht… ich kann dir nur sagen, was ich miterlebt habe. Aber gut - dann hör zu…“ Er holte tief Luft, sammelte sich. „Ich hab ihn gefunden, vor… jetzt ungefähr zweieinhalb Stunden. Auf einer Landstraße, er war bis auf die Haut durchnässt, hat geblutet - er hat eine Schussverletzung im Bauchbereich, die Kugel ging durch. Offensichtlich ist er geflohen. Er war nur kurz ansprechbar, dann ist er wieder zusammengebrochen, aber er schien… verwirrt.“ „Inwiefern verwirrt…?“, fragte Yukiko zögernd. Agasa rang mit sich. „Ich- ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, vielleicht irre ich mich auch, aber… als ich ihn mit seinem Namen angeredet hat, da sah er mich sehr seltsam an. Als wüsste er nicht…“ „Nein!“ Yukikos Stimme klang schrill. „Reden Sie bitte nicht weiter, Professor. Ganz bestimmt irren Sie sich. Er war bestimmt nur verwirrt - er war doch… er, ich meine, er war doch Shinichi- als sie ihn fanden, oder?“ „Ja. Ganz Recht.“ „Nun, vielleicht war er nur so perplex, weil Sie ihn mit seinem Namen angeredet haben. Er ist wohl vielleicht Conan zu sehr gewöhnt…?“ In ihrer Stimme schwang Hoffnung. „Aber ich nannte ihn doch immer Shinichi…“, murmelte Agasa etwas hilflos. „Es kann auch an der Situation gelegen haben. Er war verletzt, wer weiß, was er durchmachen musste. Er hat bestimmt nicht…“ Sie weinte fast, klammerte sich an diesen Strohhalm wie eine Ertrinkende. Und der alte Mann schaffte es nicht, ihr diese Hoffnung zu nehmen, sie wirklich in Tränen ausbrechen zu lassen. „Wahrscheinlich. Er war vielleicht unter Schock…“ „Ja!“ Yukiko räusperte sich, rang um ihre Fassung. „Das war es bestimmt. Der Schock, bestimmt…“ Leises Schluchzen, gemischt mit unverständlichem Gemurmel füllte die Leitung. „Wann kommt ihr ihn besuchen?“ Die Stimme des Professors riss sie wieder zurück. Yukiko sammelte sich, schluckte ihre Tränen runter, wischte sich die letzten Tropfen aus den Augenwinkeln. „Bald, hoffe ich. Ich… muss noch hierbleiben bis Yusaku da ist…“ „Sicher. Bis… bis dann. Ich informier dich, sobald ich was Neues weiß. Kopf hoch, Yukiko, er packt das schon… Shinichi steckt das weg. Der Junge ist stark.“ Der Professor rieb sich die Stirn, fragte sich, woher er die Kraft für solche Floskeln hatte. „Ja…“, murmelte sie leise. „Natürlich. Es wird… wieder gut jetzt. Es muss.“ „Du wirst sehen, das wird es.“, er versuchte, beruhigend zu wirken, hoffte, dass er sie nicht gerade anlog. Dann legte er auf, zögernd, schwer ruhte seine Hand auf dem Hörer. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Kehle, ein frustriertes Aufstöhnen- er bedeckte sein Gesicht mit einer Hand, dann wählte er die Nummer der Môris, hielt jedoch inne. „Ja, jetzt ist es wohl an der Zeit…“, murmelte er leise, als er sein Adressbüchlein aus seiner Tasche fischte und es auf der Suche nach ihrer Nummer durchblätterte. Sie musste es nun wissen. Ran. Er biss sich auf die Lippen, als er ihre Nummer eintippte, fragte sich in Gedanken, wie viel er ihr erzählen durfte. Nicht alles… so viel war klar. Ran merkte, wie ihr Handy in ihrer Tasche vibrierte, zog es heraus, stutzte, als sie sah, dass keine Nummer übermittelt wurde. Zögernd hob sie ab, hielt sich das Handy dicht ans Ohr. „Môri Ran, wer spricht, bitte?“ Sie presste ihre Augen zusammen, biss sich auf ihre Unterlippe, in ihrem Kopf kreiste nur ein Gedanke. Lass es Shinichi sein, bitte… Lass es Shinichi sein, lass es Shinichi sein! „Hallo Ran. I-ich bins. Professor Agasa…“ Ran atmete kaum hörbar aus, merkte, wie sich in ihr die Enttäuschung breit machte. Professor Agasa. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie auch der FBI Agent in seine Tasche griff. Offensichtlich war sie nicht die einzige, die angerufen wurde. Dann holte sie Luft. Immerhin rief man sie endlich mal an, und sie musste nicht immer nachbohren; das könnte bedeuten, dass man ihr endlich mal ein wenig mehr Information zukommen lassen wollte. Und so ergriff sie die Chance beim Schopf, ließ den alten Mann, der gerade zu einem Satz ansetzen wollte, keine Zeit zum Sprechen. „Professor? Haben Sie- haben Sie schon etwas von Shinichi gehört, er hat sich immer noch nicht gemeldet, geht immer noch nicht an sein Handy, ich mach mir langsam echte Sorgen…“ Es sprudelte geradezu aus ihr heraus, aber eine echte Antwort… erwartete sie mittlerweile eigentlich gar nicht mehr. Umso überraschter war sie, als sie die Stimme des Professors vernahm. „Ja…, Ran. Ich hab… etwas von Shinichi gehört.“ Schleppend ging ihm dieser eine Satz über die Lippen. „Huh?“ Sie runzelte verwirrt die Stirn. Die schwere Stimme des Professors machte sie nervös. „Hör zu- du wirst jetzt gleich furchtbar sauer auf mich sein.“ Ran schloss die Augen, atmete langsam aus. Also war doch der Tag der Wahrheit heute. Anscheinend wollte man sie jetzt endlich tatsächlich einweihen. Sonoko beobachtete sie aufmerksam, trat neben sie. „Sie haben mich angelogen, Professor.“, stellte sie mit ruhiger Stimme fest. Der alte Mann seufzte in den Hörer, was als lautes Rauschen an ihr Ohr drang. „Ja.“, gab er dann gequält zu. „Es ist nicht alles in Ordnung mit Shinichi, und das war es die ganze Zeit nicht, nicht wahr? Es hatte einen Grund, warum er nicht mehr angerufen hat, es war nicht, weil sein Akku kaputt war, er… er steckt in Schwierigkeiten, und Sie haben versucht, mir das auszureden, Sie haben mir nichts---!“ Sie merkte, wie sie sich langsam hochschaukelte, wie sie immer wütender wurde, jetzt, da die Wahrheit endlich auf den Tisch kam – die schreckliche Wahrheit, gespickt mit jeder Menge schlechten Nachrichten. Frustriert atmete sie aus, wollte mit ihrer Tirade fortsetzen, als sie den Professor am anderen Ende der Leitung seufzen hörte. „Ja.“ Agasas Stimme klang unendlich müde. Ran ließ sich aufs Bett sinken. Ihre Beine hatten einfach so nachgegeben. „Warum sagen Sie mir das jetzt? Ich meine… erst jetzt?! Warum…? Ich meine- warum sagt er mir das nicht selber, warum haben Sie mich angelogen, wollte er, dass…“ Ihre Stimme klang brüchig, aber sie riss sich noch zusammen. „Wo ist er jetzt?! Wann kann ich ihn denn jetzt endlich sprechen? Verdammt, ich mach mir Sorgen, ich… ich merk das doch… ich… ich…“ „Ran-…“ „Ja…“ Sie schluckte schwer. „Er konnte wirklich nicht mit dir sprechen. Und jetzt… kann er das auch nicht. Er war nicht der, der beschlossen hat, dich rauszuhalten, obwohl er es wohl durchaus unterstützt hätte, hätte er in der Sache mitreden können. Wir hielten es alle für das Beste. Also… ich. Dein Vater, das FBI, die Polizei… alle… eigentlich. Ich meine… hast du dich nicht gefragt… er ist doch bei euch, jetzt, oder? Akai?“ Ran nickte, merkte dann, dass er wohl ihr Nicken kaum sehen würde und seufzte leise. „Ja. Er ist hier. Und ich kann mir schon denken, dass er auf uns aufpassen soll, weil Shinichi was ausgefressen hat. Was mich interessieren würde ist, warum sollte jemand mir oder Sonoko was antun wollen, nur weil Shinichi…“ Sie brach ab. Sonoko starrte sie mit offenem Mund an. „Wurde er erpresst? Professor, wo ist er jetzt? Jetzt sagen Sie mir doch endlich, was mit ihm los ist!!“ Rans Stimme überschlug sich. Akai warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Ran…“, murmelte Agasa erschöpft. „Ich kann dir das nicht alles am Telefon erzählen. Ich habe gehört, man wird euch jetzt bald herbringen, ich erzähl dir, was vorgefallen ist, wenn du hier bist…“ „Professor…“ Mit Mühe hielt sie sich zurück, versuchte nicht zu schreien, wo sie doch hörte, wie mitgenommen der alte Mann selbst war. Aber sie würde den Teufel tun und hier noch einen Tag oder länger unwissend und von Sorge zerfressen warten und Däumchen drehen. „Was ist mit ihm…?“ Tränen begannen, über ihre Wangen zu laufen, aber sie bekam das gar nicht wirklich mit. Hiroshi Agasa seufzte in den Hörer, ließ sich gegen die Rückwand der Kabine sinken, in der er stand, fühlte sich seltsam hilflos, als er sie weinen hörte. Er kannte Ran. Er wusste, wie sehr sie ihn liebte, Shinichi, und er ahnte, wie sehr sie gerade litt, da sie nicht wusste, wie es ihm ging. „Ihm sind… schlimme Dinge passiert, in der letzten Woche, weißt du. Er… ist jetzt im Krankenhaus, von da aus ruf ich dich auch an. Alles… alles weitere… wenn du da bist. Okay?“ Ran fuhr hoch. „Was?! Wie geht es ihm? Wie-…“ Panik schwang in ihrer Stimme. „Ran…“ Agasa versuchte so verständnisvoll, so ruhig wie möglich zu sprechen. „Du weißt… Shinichi hat nun schon… ziemlich lang einen Fall bearbeitet, eine… ziemlich große Sache. Das alles… ist eine sehr lange Geschichte. Ich kann sie dir wirklich nicht am Telefon erzählen…“ „Aber wir kriegen den Flieger frühestens übermorgen mittag!“ Rans Stimme war laut geworden. „So sagen Sie mir doch…“ „Man operiert ihn gerade. Er wurde angeschossen.“ Am anderen Ende der Leitung war es schlagartig totenstill. „Wie schlimm…“ Ihre Stimme war kaum lauter als ein Hauch, ihre gewisperten Worte gingen in der Geräuschkulisse der Krankenhauslobby fast unter. Agasa seufzte, fuhr sich mit seinen Fingern durch seinen Schnauzer, fühlte sich elend. „Ich kann dir nicht mehr sagen, ich weiß selber nicht mehr. Ich informiere dich über seinen Zustand, wenn ich was Neues weiß.“ Ran krallte ihre Hand in die Bettdecke, schluchzte. „Wie schlimm…?“, wiederholte sie tonlos. In ihren Worten waren die Tränen deutlich zu hören, jetzt. „Ich weiß es wirklich nicht…“ Agasa seufzte, strich sich über sein altes, faltengezeichnetes Gesicht und kam sich in diesem Moment älter vor als je zuvor. Sie liebte ihn. Und es musste gerade die Hölle für sie sein. „Hör zu Ran. Beruhig dich. Trink eine Tasse Tee… oder irgendwas in der Art. Du kannst jetzt nichts weiter tun; und ich werde hier bleiben und nach ihm sehen, sobald ich kann, und melde mich bei dir, wenn ich etwas neues weiß. Ist das in Ordnung?“ Ran schniefte, merkte, wie sie zu zittern anfing. „J…ja.“ „Gut.“ Der Professor seufzte leise. „Sei tapfer.“, murmelte er. Dann legte er auf, blieb minutenlang stehen, wo er war, die Augen halb geschlossen, merkte, wie seine Beine zitterten. Shinichi, was machst du bloß… Ran hielt ihr Handy in der Hand, sah es stumm an. Sie wandte sich zu Sonoko, schluckte. Ihre Lippen bebten, sie konnte kaum sprechen. „Er liegt im Krankenhaus, Sonoko. A…“ Sie holte Luft, schaute an die Decke, als immer mehr Tränen ihren Weg über ihre Wangen suchten, „…angeschossen. Angeschossen, verdammt nochmal, was hat er… was hat er sich nur wieder… wieder eingebrockt, dieser…“ Sie begann zu schluchzen, presste ihre Augen zusammen, hasste sich dafür, dass sie sich nicht beherrschen konnte, gerade, wo er… es wieder sehen konnte. Akai. „Schhht…“, wisperte Sonoko leise. Wortlos nahm sie ihre weinende Freundin in die Arme, streichelte ihr über den Rücken. In der anderen Ecke des Zimmers stand Shuichi Akai und telefonierte mit Jodie. Er war mittlerweile auf dem gleichen Stand wie Ran; mit dem Unterschied, dass er noch ein paar Detailinformationen bekam, die ihr vorenthalten worden waren. „Kir. Yes. Sie hat uns angerufen und uns mitgeteilt, dass er es verbockt habe, dass er sich wohl geweigert haben muss, jemanden zu erschießen, und deshalb haben sie ihn dem Boss vorgeführt. Die Version in der Organisation ist die, dass Kudô mit Vermouth und dem Boss allein im Zimmer war, sie beide überwältigt habe und dann geflohen ist. Der Boss muss es wohl aber dann noch geschafft haben, den Alarmknopf zu drücken, weshalb eine Hetzjagd auf ihn veranstaltet wurde… a real manhunt… He was shot… we suppose, it has been Gin who hit him, but we can’t be sure… on the other hand, you know Gin…“ Sie holte Luft, ein bitteres Lächeln war auf ihren Lippen erschienen. … that bloody bastard. Akai schaute blicklos auf den Boden, hielt still. Er hatte Jodie noch nie so ausdauernd reden gehört, und sie klang aufgebracht… das alles hatte sie wohl sehr mitgenommen, deshalb ließ er sie erzählen und stellte keine Fragen. Er hörte sie seufzen, dann vernahm er ihre Stimme an seinem Ohr. „You’re still there?“ „Sicher.“ „Well then. It was… dark, and it rained, hell, it rained cats and dogs…! They lost him. Man hat man ihn aus den Augen verloren; Gin und die anderen sind ohne ihn zurückgekehrt… was klar ist, denn der Professor, ich und Ai haben ihn ja gefunden, auf der Straße. Er muss sich versteckt gehalten haben, bis sie von ihm abgelassen hatten, und ist dann zur Straße… damit er gefunden wird. Denn allein… allein hätte er es in seinem Zustand nirgendwo mehr hin geschafft. He looks dreadful, Shu. The bullet went through his stomach… and he got himself a cold. Seine Lippen waren ganz blau… ich hab sowas noch nie gesehen, never…“ Sie seufzte. „Oh, the professor looks bad as well…“, bemerkte sie, als der alte Mann schleppenden Schrittes an ihr vorbeiging. „Ja, der hat gerade mit ihr telefoniert.“, bemerkte Akai leise. Jodie machte große Augen. „Oh. With Ran? How much did he tell her?“ „Nur, dass er verletzt ist, soweit ich das mitbekommen habe. Sehr weise von ihm. So wie’s aussieht, kommen wir mit dem Flieger übermorgen mittag zurück; wir sehen uns dann.“ Er seufzte. „Ich muss euch wohl nicht sagen, dass ihr gut auf ihn aufpassen müsst… und auf sie.“ „Ai?“ „Ja. Ihr seid der Organisation immer noch verdammt nah… und sie werden euch schneller gefunden haben, als euch lieb sein kann.“ „James hat schon Vorkehrungen getroffen. Offiziell liegt Shinichi Kudô nicht in diesem Krankenhaus.“ „Wohl auch besser so.“ Ein humorloses Lächeln huschte über seine Lippen. „Passt auf euch auf, Jodie.“, bemerkte er dann noch trocken, dann legte er auf, wortlos, ließ sich auf einen Stuhl sinken und betrachtete die beiden Mädchen auf dem Bett. Und wieder weinst du… dabei kannst du ihm mit deinen Tränen nicht das Geringste helfen. Du hilfst ihm nie… nie, wenn du weinst… Damit schadest du ihm nur. Leise seufzte er, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute aus dem Fenster. Yusaku Kudô lief Kreise in seinem Büro, hatte keine ruhige Minute mehr. Sharon war nach ihrem ganz persönlichen narkoleptischen Anfall losgelaufen, um Informationen über Shinichis, beziehungsweise Armagnacs, Verbleib zu bekommen - und kurz nachdem sie verschwunden war, war Absinth auf der Bildfläche erschienen. „Verdammt, Cognac, wo ist er?!“ Yusaku hatte sich betont gelassen das Blut von der Schläfe gewischt, versucht, sich seinen inneren Aufruhr nicht anmerken zu lassen. „Geflohen.“ „Das weiß ich auch, verdammt! Deshalb ist die halbe Organisation da draußen im Wald! Sie haben ihn fliehen lassen! Glauben Sie mir, Cognac, das werden Sie bereuen, das…“ „Ist nicht meine Schuld.“ Yusaku war aufgestanden, um den Tisch herumgegangen und hatte sich vor dem Triumviratsmitglied aufgebaut. „Ich hab den Alarm ausgelöst, sobald ich wieder bei mir war. Ich sah ihn gerade durchs Haupttor laufen, oder denken Sie, man wäre ihm sonst so dicht auf den Fersen? Ich hab die Meute persönlich auf meinen eigenen Sohn gehetzt! Verdammt, warum sollte ich ihm die Flucht ermöglichen, wenn ich ihn ohnehin ans Messer liefere?!“ ‚Und verdammt, Kudô… genau das hast du getan. Du hast ihn ans Messer geliefert… Wenn er diese Nacht nicht überlebt, weißt du, wer sein Mörder ist.‘ Dann hatte er langsam die Hände vor der Brust verschränkt, eine Geste, die, wie er wusste, immer Eindruck schindete. „Ich denke, es dürfte klar sein, dass ihr ihn finden müsst, um jeden Preis. Er weiß zu viel. Er muss in jedem Fall wieder hierher.“ Absinth hatte ihn skeptisch angeschaut. „Sie wissen, Cognac…“ „Dass Sie mir nicht trauen, weil er mein Sohn ist, ich weiß. Aber Sie vergessen, wer auf dem Spiel steht. Meine Frau.“ Er hatte sich bedeutungsvoll geräuspert. „Glauben Sie etwa, sie ist mir weniger wert?!“ Seine Stimme war laut und entschlossen gewesen, und das hatte Wirkung gezeigt. Absinth hatte ihn starr angesehene, sekundenlang, dabei ausgesehen, als würde er seine Zunge zerkauen und war dann wortlos aus dem Zimmer gestürmt. Und er hatte sich gehasst, und hasste sich… …jetzt noch. Absinth hatte sich augenscheinlich von derart schlagenden Argumenten fürs erste überzeugen lassen, wenn auch widerwillig, aber er war abgedampft, um Instruktionen zu erteilen. Seitdem saß er nun hier in seinem Büro, oder stand am Fenster, oder lief Kreise… Auf dem Tisch stand ein halbleeres Glas Cognac, daneben eine volle Glaskaraffe. Im überquellenden Aschenbecher qualmte eine angerauchte Zigarette vor sich hin, aber ihn interessierte das nicht. Es war nun drei Stunden her. Drei Stunden. Und keine Nachricht, von niemandem. Noch war keiner von der Suche zurückgekehrt, wie es schien. Dann ging die Tür auf, und Sharon stöckelte herein. Sie wischte sich müde über die Augen, ließ sich in den Sessel sinken, griff sich das Cognacglas und leerte es auf einen Zug. „Wo ist er?“ Yusaku trat vor sie, unterbrach sie unwirsch. „Ist schon jemand zurück? Wo ist er?!“ Sharon lächelte bitter. „Ich hab eine gute, und eine schlechte Nachricht. Welche willst du zuerst hören, Boss?“ Er überging den zynischen Ton in ihrer Stimme, fuhr sich über den Bart. „Die Gute.“ „He has not been found yet.“ Yusaku schloss die Augen, atmete auf. „Die Schlechte?“ „Es regnet in Strömen, es ist eiskalt, und Gin rühmt sich, ihn angeschossen zu haben. Und laut der Menge Blut, die er verloren hat, als er sich durch die Büsche schlug, muss er ihn gut getroffen haben. Er sagt zumindest,… that everything was dripping wet with blood… als sie doch endlich mit Taschenlampen losgezogen sind, haben sie es gesehen.“ Sie starrte in das leere Cognacglas, griff dann nach der Karaffe und machte es voll. Der Schriftsteller zog die Augenbrauen hoch, sagte nichts. Er war nach dieser Nachricht kreidebleich geworden, merkte, wie seine Finger kalt und klamm wurden und sich sein Magen ekelhaft zusammenzog, bis er einen kleinen, harten Ball im Bauch zu haben schien. Er griff sich die Karaffe und nahm einen Schluck daraus, allerdings machte das auch nichts besser. Sharon nippte ebenfalls an ihrem Cognac. „Das heißt, er wird die Nacht nicht überleben…?“, murmelte er zögernd. Er war sich nicht sicher, ob er die Antwort hören wollte. „Wenn ihn keiner findet, ist er bis zum Morgengrauen tot.“ Ihre Stimme klang seltsam fremd in seinen Ohren. „Nein…“ Er wisperte das Wörtchen nur, aber in seiner Stimme lang namenloses Entsetzen. Yusaku schloss die Augenbrauen, atmete tief ein. „Ich muss ihn suchen!“ Er wollte zur Tür, aber sie hielt ihn zurück. „You cannot. You know that… Yusaku. Das weißt du. Du bringst ihn um damit, und Yukiko auch und dich. Du musst bleiben und aushalten, was du angerichtet hast.“ Er drehte sich um, starrte sie an. Nie hatte sie ihn so… verlassen gesehen. So… verzweifelt. Verletzt. So voller Angst. „Aber…“ Sie hob den Blick, ihre eisblauen Augen voll Trauer. „Ich weiß.“ Sie schluckte. „I know… you must trust him… Vertrau darauf, dass er es schafft, mehr kannst du nicht tun. All you can do is wait… and try to protect him, once you’ve got him back. If you get him back, that is.“ Yusaku schluckte, fühlte sich, als würde alles Leben aus ihm weichen, griff sich an die Stirn. Er war machtlos, sie hatte Recht. Langsam ging er zurück zu seinem Schreibtisch, hielt sich an der Tischkante fest. Er konnte nichts tun, nichts… Nichts… Kraftlos sank er in den Stuhl. Shinichi starb und er musste zusehen… Sein Sohn… Er holte Luft, starrte an die Decke, versuchte, nicht durchzudrehen, und merkte doch, wie er den Kampf langsam verlor. Den Verstand… langsam verlor. Er schrie auf, dann fuhr er aus seinem Stuhl, holte aus, räumte mit einer ausholdenden Bewegung beider Arme den Mahagonischreibtisch ab; die Karaffe flog zu Boden, wo sie auf den marmornen Fliesen zerbarst, tausende Splitter flogen durch die Luft, die goldene Flüssigkeit bildete eine große Pfütze, weichte Akten, Zigaretten und was sonst noch so alles vom Schreibtisch gefegt worden war, ein. Yusaku schien das nicht zu kümmern. Er hieb mit beiden Fäusten auf den nunmehr leeren Tisch, einmal nur. Dann sank seine Stirn auf die Holzplatte langsam, und er konnte nicht verhindern, wie seine Schultern zu zucken begannen, als die Erkenntnis und die damit verbundenen Schuldgefühle und seelischen Schmerzen ihn einfach überrannten. Sharon hatte währenddessen nicht einmal mit der Wimper gezuckt, saß wie versteinert in ihrem Sessel, den Cognacschwenker mit beiden Händen umklammert und schaute ihn nur an. „Yusaku… what the hell did you do there…? Was wolltest du heute Abend dort? Warum bist du uns gefolgt?“ Yusaku ließ sich in seinen Sessel sinken, hielt sich den Kopf, schwieg lange, ehe er leise antwortete. „Ich war dabei, als er auf die Welt kam.“, murmelte er heiser, presste dann die Lippen zusammen. Sie schaute ihn stirnrunzelnd an, wartete, dass er fortfuhr. „Und ich wollte… verdammt, ich wollte… dabei sein… wenn er… wenn er… stirbt…“ Er sah kurz auf, in seinen Zügen stand unbeschreibliche Qual. Sharon zuckte zusammen, als sie ihn so sah, konnte nur erahnen, wie es in ihm aussah. Dann drang seine brüchige Stimme wieder an ihre Ohren. „Ich hatte eine Ahnung, was heute passiert, was sie ihm antun wollten… Deshalb kam ich. Weil ich dachte… ich hab nichts anderes verdient, als zuzusehen, wie ich meinen eigenen Sohn umbringe, ihn zu Grunde richte… auch wenn es nur der Tod seiner Seele ist…“ Er schluckte hart, lächelte sie dann bitter an. „Ich hab ihm das eingebrockt, ich sah’s als meine Bestrafung an…“ Sharon nahm einen großen Schluck Cognac, schauderte kaum merklich. Es war nicht gut, wenn man versuchte, das Zeug wie Wasser zu trinken, stellte sie fest. Ihr Hals brannte. „Du hast ihn erlöst. Als er dich gesehen hat…“ „Ich…“ „You were his rescue. He’ll hate you for the rest of his life, if there’s a rest, that is… aber du hast ihn gerettet, indem du da warst… den einen Teil zumindest. Was sein Leben betrifft, nun… das hast du ihm vielleicht genommen. Du konntest ihn immer nur teilweise retten, Yusaku… Körper oder Seele.“ Er schaute sie aus müden Augen an, nickte betroffen. „Ich hoffe, diesmal… beim dritten Anlauf…“ Er lächelte matt. „Ich hoffe, diesmal hab ich ihm wirklich geholfen… ich will… verdammt, ich will, dass er lebt… dass Shinichi Kudô lebt, mein Sohn lebt… das Leben, das er leben will…“ Yusakus Blick verlor sich auf der Tischplatte. „Ich will, dass er lebt… er soll leben… leben…“ Sharon schluckte, biss sich auf die Lippen, beobachtete mit starrem Blick einen verzweifelten Vater. Survive, silver bullet… You must… survive. Währenddessen war ein hochgewachsener, schlanker Japaner außer sich, lief in seinem weitläufigen Büro Kreise wie ein Tiger in ihrem zu kleinen Käfig, bereit zum Sprung, bereit, sich auf jeden zu stürzen, der sich in seine Nähe wagte, und seinem Leben ein jähes Ende zu bereiten. Absinth war in Rage. Rum und Cachaça wohl auch, aber sie zeigten es nicht ganz so deutlich. „Wo bleibt er?!?“, schrie er. „Wo bleibt ER?!“ Abrupt wandte er sich um, betrachtete Chianti, Korn und Wodka, die erfolglos von ihrer Suche zurückgekehrt waren. „Und was soll das heißen, ihr habt ihn noch nicht gefunden? Verdammt, er ist verletzt- habt ihr in den Krankenhäusern schon nachgesehen…? Bin ich denn hier von lauter Idioten umgeben?!“ Wodka, Korn und Chianti schüttelten den Kopf. Dann ging die Tür auf, und Gin trat ein. „Ah.“ Absinth blieb stehen. „Da bist du ja. Gibt es Neuigkeiten?“ „Ist und bleibt verschwunden.“, knurrte der Blonde tonlos. In ihm loderte eine Wut, die der Absinths in nichts nachstand, und das wussten sie beide. „Man könnte meinen, er wäre tot- er hat viel Blut verloren, wenn das alles ihm gehört, was wir im Wald gesehen haben. Aber dann… hätten wir ihn schon finden müssen. Eine Leiche bewegt sich bekanntermaßen nicht mehr von selbst vom Fleck.“ Kir war zu der Gruppe getreten, schaute aufmerksam von einem zum anderen, fühlte sich nervös und angespannt und hoffte, man sah ihr das nicht an. „Wir werden natürlich sofort anfangen, die Krankenhäuser der Umgebung durchzugehen. Wenn er in einem ist, werden wir ihn bald gefunden haben.“ „Dann beeilt euch, verdammt noch mal! Wisst ihr, was seine Flucht heißt - was glaubt ihr, was er alles weiß?! Wenn er der Polizei und dem FBI erzählt, was er hier mitbekommen und herausgefunden hat… er weiß, wo unser Hauptquartier ist! Kennt den Boss!“ Absinth atmete heftig. „Es dürfte auf der Hand liegen, dass Kudô zu neutralisieren höchste Priorität hat, alles andere wurde, solange dieses Problem nicht gelöst ist, heruntergestuft. Dieser Befehl kommt von ganz oben. Er muss gefunden werden, es muss in Erfahrung gebracht werden, wem er etwas erzählt hat - diese Personen sind ebenfalls umgehend zu eliminieren. Ihn selber- Kudô selber soll hierher gebracht werden, lebend, der Rat selbst will sich die Ehre geben. Habt ihr den Befehl verstanden?“ Allgemeines Nicken war die Antwort. Absinth nickte sich selber stumm zu, griff sich mit einer Hand ans Kinn, drehte sich gedankenverloren um, eher er sich noch einmal ruckartig umwandte. „Und was zur Hölle macht ihr dann noch hier?!“ Er herrschte sie an, sah, wie sie parierten, sich beeilten, den Raum zu verlassen… nicht ohne eine Spur Genugtuung. Mach dir keine falschen Illusionen, Kudô. Du… kannst uns nicht entkommen. Ein unheilverkündendes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Auf keinen Fall. Langsam richtete er sich auf, wischte sich müde über sein Gesicht. Wie viel Zeit vergangen war, wusste er nicht- er ahnte nur, dass für ihn langsam der Zeitpunkt gekommen war, wo er seine Rolle wieder tauschen musste. Er sollte wieder Yusaku Kudô sein… er sollte in sein Leben zurück. Denn dort… ging es mindestens genauso hoch her wie hier. Und nirgends durfte er auch nur einen Aspekt aus den Augen verlieren. Schwerfällig stemmte er sich hoch, unter seinen Augen der Ansatz dunkler Ringe, sein Gesicht gezeichnet von Sorge und Angst, genauso wie seine Stimme, als er endlich sprach. „Ich muss nach Hause, Sharon… zu Yukiko. Ich denke, Kir hat das FBI schon informiert… damit weiß wohl auch der Rest bereits, was vorgefallen ist.“ Sie nickte nur, stand auf, wesentlich eleganter als er, doch auch in ihrem Gesicht waren die Spuren dieser Ereignisse nur zu deutlich zu sehen. „Go home. Ich mach hier Ordnung, bevor noch jemand falsche Schlüsse zieht.“ Er nickte ihr dankbar zu, verschwand dann in einem Geheimgang in der Wand, der zu seiner Garage führte. Im Krankenhaus ging das Licht über der OP-Tür aus. Ai und Agasa schauten synchron auf, als sich eilige Schritte näherten – dann ging die Tür auf. Heiji und die beiden Agenten vom FBI waren bereits gegangen; Heiji hatte, wenn auch höchst widerwillig, die Aufgabe übernommen, zu Môri zu gehen, beziehungsweise sich zu Môri chauffieren zu lassen, und ihm den Stand der Dinge zu schildern; Agasa hätte es nach den zwei Telefonaten nicht geschafft, die Geschichte noch einmal zu erzählen und Heiji sah ein, dass man ihm das auch nicht noch ein drittes Mal zumuten durfte. Die Polizei war von Jodie wie versprochen informiert worden, und die Wachpolizisten waren ebenfalls schon im Krankenhaus angekommen. Laut dem FBI waren Meguré und die anderen, wie zu erwarten, unglaublich erleichtert gewesen, zu hören, dass man ihn nun gefunden hatte – und er am Leben war, wenn auch keiner sagen konnte, wie lange dieser Zustand andauern würde. Der Kommissar wollte sich auch gleich noch um den Zeitungsartikel kümmern, damit Shinichis Ruf nicht noch mehr litt als nötig, und morgen dann selber vorbeikommen. Außerdem hatten sich James und Jodie bereiterklärt, die Kinder endlich nach Hause zu fahren; es war klar, dass die Kleinen nach diesem Abend unmöglich beim Professor übernachten konnten. Der alte Mann war mit sich selbst beschäftigt… seine Sorgen und Ängste zehrten an seiner Substanz, er brauchte Ruhe, wenigstens Nachts – unbedingt. Umso erleichterter war der Professor demnach auch, als man ein Krankenhausbett herausrollte. Agasa eilte näher, stolperte fast, als ihm seine Beine den Dienst zu versagen drohten, als er sah, dass er ihm Bett lag und atmete – atmete! Shinichi lebte… und schlief. Ein Arzt mittleren Alters, immer noch in OP-Montur, schaute ihn skeptisch an. „Sind Sie ein Verwandter?“, fragte er dann kurz angebunden. Agasa schaute kurz in Shinichis bleiches Gesicht, schluckte. „Sein Großvater. Mütterlicherseits.“ Der Arzt nickte zufrieden, seufzte dann. „Sah schlimm aus. Wohl auch ein bisschen schlimmer, als es war, aber nichtsdestotrotz hätte er die Nacht allein da draußen nicht überlebt. Er wäre wohl verblutet. Soweit… scheint alles in Ordnung zu sein, mal abgesehen davon…“, er grinste, dachte wohl, er wäre komisch, „von dem Loch im Bauch und der nicht zu verachtenden Gehirnerschütterung. Was die für Folgen hat, wissen wir noch nicht. Sie sagten bei der Einweisung, er wäre Ihnen seltsam vorgekommen…?“ Der Halbgott in Hellgrün hatte kurz auf sein Krankenblatt geschielt. Agasa nickte zögernd. „Es kann allerdings sein… das… vielleicht… vielleicht war‘s der Schock…?“ „Möglich. Wir werden sehen, wenn er aufwacht, ob er bleibende oder temporäre Schaden davongetragen hat.“ Er sprach diese Vermutung in so gelassenem Tonfall, dass es Agasa schaudern machte. Er sah, wie der Arzt mehr sich selbst als Agasa zunickte, klemmte dann das Krankenblatt ans Bett. „Nun, wie Sie sehen, er lebt und es geht im leidlich gut. Morgen können Sie ihn besuchen, und nachschauen, wie er sich erholt. Für den Abend muss ich Sie bitten, Ihren Enkel in Ruhe zu lassen, er braucht seinen Schlaf. Eine geruhsame Nacht wünsche ich.“ Damit drehte er sich um, schritt mit flatterndem Kittel von dannen. Agasa seufzte laut, sah den Assistenzärzten nach, die Shinichi durch die Gänge rollten, nach ein paar Metern gefolgt von Polizisten, die vor einer halben Stunde geschickt worden waren, um das Zimmer zu bewachen. Dann schaute er zu dem kleinen Mädchen, das unbemerkt seine Hand ergriffen hatte. „Gehen wir nach Hause, Ai… wir haben… eine entsetzliche Nacht hinter uns. Wir brauchen wohl alle… etwas Schlaf.“ Ai nickte stumm, konnte die Augen nicht von dem Bett lassen, bis es aus ihrer Sichtweite verschwunden war – dann ließ sie sich vom Professor aus dem Krankenhaus führen, merkte noch im Auto, wie die Müdigkeit sie übermannte. Als er das Gartentor öffnete, rannte sie ihm schon entgegen, fiel in seine Arme, konnte sich minutenlang nicht soweit fassen, einen zusammenhängenden Satz zu äußern, sondern schluchzte hemmungslos. Ihm wurde langsam flau. Er wusste nicht, warum sie so aufgebracht, so aufgewühlt war, aber er befürchtete das Schlimmste. Langsam schob er sie ein wenig weg von sich, strich ihr über die Wangen, immer wieder. „Yukiko…“, flüsterte er leise. „Yukiko, so beruhig dich…“ Haltlos liefen ihr die Tränen über die Wangen. Er wurde unruhig, verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, merkte, wie er sich immer unwohler zu fühlen begann. „Yukiko, was ist passiert…? Weiß man… weiß man etwas Neues von…“ Sie nickte, räusperte sich, schluckte ein paar Mal schwer. „Ja.“, brachte sie schließlich hervor, ihre Stimme war leise und krächzend. „Ja…?“, wiederholte er langsam, zog die Augenbrauen hoch. „Yukiko…?“ Sie fing wieder an zu schniefen, strich sich nun selber immer wieder über die Augen, hielt sich mit der anderen Hand an der Schulter ihres Mannes fest. „Man hat ihn gefunden…“, sagte sie langsam, unterbrochen von einsetzendem Schluckauf. Yusaku erstarrte auf der Stelle, schluckte, schob seine Frau dann vorsichtig von sich weg, schaute sie bang an. Er traute sich fast nicht, die Frage zu stellen. „Wie… wie… wie geht… es ihm…?“ „Er liegt im Krankenhaus…“ Sie strich sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Langsam schienen sie doch zu versiegen, als sich ein winziges, erleichtertes Lächeln auf ihre Lippen schlich. „Aber soweit… hat er wohl noch mal Glück im Unglück gehabt. Hiroshi hat ihn aufgegabelt, er hat gerade nochmal angerufen, morgen kann er besucht werden, er ist stabil… zwar verletzt, man hat ihn angeschossen, aber… Mein Gott, er lebt, er ist endlich draußen… jetzt wird endlich wieder alles gut…“ Langsam ließ sie sich wieder gegen ihn sinken, schlang ihre Arme um ihn, vergrub ihre Nase an seinem Hals. „Endlich, endlich…“ Er seufzte langsam, atmete aus, schloss die Augen, zog sie dann an sich, lehnte seine Stirn an ihre Schulter. Schuldgefühle wühlten immer noch in ihm, aber auch er konnte nicht leugnen, dass er unglaublich erleichtert war. Er hatte ihm das eingebrockt, er war schuld, und dafür würde er durch die Hölle gehen… aber erst morgen. Es würde hart werden, und er wusste nicht, was die Zukunft ihm brachte, nun, da sein Sohn auf freiem Fuß war, mit diesem Wissen… er wusste nicht, wie er ihm gegenübertreten sollte… ihm, oder irgendjemand anderem. Unter Umständen… wenn Shinichi… sich dazu entschloss, zu reden… könnte er morgen schon verhaftet werden. Auffliegen. Morgen schon könnte er vielleicht in die blauen Augen seiner Frau blicken… und in ihnen nicht mehr Liebe, sondern Abscheu, Ekel, Enttäuschung und Angst lesen, Schmerz… Aber noch nicht heute. Heute spürte er, wie sie sich an ihn schmiegte, ihre Hände in seinen Rücken krallte und Halt suchte… ihm bedingungslos vertraute und ihn liebte. Heute war er einfach nur unsagbar froh… dass Shinichi überlebt hatte. Dass er nicht gestorben war, wegen ihm. Er lebte. Danke. Sie war die letzte, die von der freudigen Nachricht erfuhr. Es war kurz vor Mitternacht, als eine email auf ihrem Handy ankam. Sharon, die auf ihrem Sofa in ihrer Wohnung vor sich hindämmerte und dabei eine Flasche Rotwein leerte, seufzte, griff sich ihr Mobiltelefon, las die Nachricht. Ein heiseres Stöhnen entwich ihren Lippen, gefolgt von einem tiefen Seufzen, als sich unendliche Erleichterung in ihr breitmachte. From: Boss Message: Found and alive. Langsam stellte sie das Glas Rotwein, das sie in ihrer Hand hielt, ab, atmete aus… ließ den Kopf in den Nacken sinken und starrte an die Decke. Thankyou, god. Thankyou… all angels above… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)