Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 21: Kapitel 3: Wissen ----------------------------- Hallo! Vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! *freu* Ehrlich, Dankeschön! Mit leichter Verspätung hier also der zweite Teil des Kapitels, das ihr letzte Woche gelesen habt- wie ihr nun wohl verstehen werdet, wäre das alles in einem Kapitel WIRKLICH zu viel geworden :D Ich wünsche viel Vergnügen beim Lesen, mfG, eure Leira :D _______________________________________________ Kapitel 3: Wissen Langsam wurde es ihr einfach zu viel. Diese Unwissenheit machte sie rasend, trieb sie an den Rand des Wahnsinns, und die Art, wie man mit ihr umging, regte sie mittlerweile wirklich auf. Sie war ruhig geblieben, als der Professor sie wieder und wieder angelogen hatte; sie hatte das Spiel brav mitgespielt, in den letzten Tagen, obwohl sie doch besser wusste, dass etwas nicht stimmte. Es machte sie wütend und auch traurig, dass man ihr so wenig anvertraute… ihr so wenig vertraute… und offenbar auch zutraute. Diesen Zustand würde sie nun nicht mehr länger dulden, sie hatte es jetzt satt. Shinichi lag angeschossen im Krankenhaus, zwar lebte er, aber schlimm genug, dass es so hatte enden müssen. Sie wollte nun wissen, was eigentlich passiert war. Sie wollte wissen, was sie offensichtlich nicht hatte wissen dürfen, so lange Zeit. Was man ihr bewusst vorenthalten hatte. Und deshalb stand sie nun in ihrem Hotelzimmer, mit entschlossen in die Hüfte gestemmten Händen und starrte diesen überaus schweigsamen FBI-Beamten an, der alle ihre Fragen bis jetzt erfolgreich ignoriert hatte. Seit ein paar Minuten hatte sie ihn mit Fragen gelöchert, zuerst ruhig, dann zusehends wütender – langsam war sie mit ihrem Latein am Ende, aber lange noch nicht bereit, aufzugeben. Sonoko stand hinter ihr, in gebührendem Abstand – sie hatte Ran selten so zornig gesehen. Die holte Luft, dann setzte sie erneut an. „Hören Sie… Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir hier noch fast einen Tag festsitzen!“ Akai nickte, schaute sie gelassen an. „Ja.“ „Und Sie wissen sehr viel mehr über diesen Fall, den Shinichi bearbeitet hat, als ich.“ „Ja.“ „Dann will ich, dass Sie mir jetzt endlich erzählen, was los ist! Ich halt das nicht mehr aus, bis morgen Nachmittag! Bis er es mir selber sagt, will ich nicht warten! Was spricht denn dagegen, dass Sie es mir jetzt schon erzählen, dann bin ich nicht ganz so unvorbereitet, dann… es ist doch egal, ob ich es jetzt schon weiß oder nicht, nein… es ist besser, sie sagen es mir jetzt, dann kann ich ihm die Geschichte vielleicht etwas leichter machen…“ Der schwarzhaarige Mann seufzte, zog an seiner Zigarette. „Es steht mir nicht zu, darüber zu reden, so einfach ist das. Das ist seine Sache.“ „Sagen Sie, haben Sie mir denn eigentlich zugehört? Ich muss es jetzt wissen, ich kann nicht mehr, ich… ich mach mir Sorgen, und er ist noch nicht ansprechbar und… morgen ist noch so weit weg…“ Ran fuhr sich mit ihren Händen müde über ihr Gesicht; Akai musste sich eingestehen, dass sie wirklich nicht nur mitgenommen aussah… sie war es auch. Die Sorge fraß sie auf, und das nicht erst seit gestern. „Wäre… ginge es um jemanden, der Ihnen viel bedeutet, würden Sie nicht auch sofort alles wissen wollen, was sie irgendwie in Erfahrung bringen können? Um die Unwissenheit zu beseitigen… und sich zu überlegen, wie Sie der Person helfen können? Ich bitte Sie… ich bitte Sie, sagen Sie mir doch… was… was ist mit Shinichi passiert…?“ Die Wut war etwas gewichen, aber ihre Stimme war immer noch drängend, ihre Entschlossenheit immer noch grenzenlos. Der Mann seufzte, schaute sie mitfühlend an, zumindest soweit es ihm möglich war. „Hör zu, Kleine, ich weiß…“ „Nennen Sie mich nicht Keine! Ich heiße Ran! Ran Môri!“ „Ich weiß.“ Akai schaute unbestimmt in ihr kreideweißes Gesicht – sah die Sorge in ihren Augen. Die Angst. Es kam ihm so bekannt vor… das Gesicht einer jungen Frau, die unendliche Angst hatte, um das Leben dessen, den sie liebte. Er stöhnte unwillig auf, ließ den Kopf nach hinten fallen. Warum ließ er sich von ihr so weichklopfen? War es wirklich… diese Ähnlichkeit zu Akemi? Oder etwas anderes? War er sentimental geworden in den letzten Jahren? Er wusste es nicht. Langsam, widerwillig, bewegte er seinen Kopf wieder nach vorne. „Na schön. Aber du erklärst ihm dann, warum ich ihm unbedingt zuvorkommen musste. Eigentlich wäre es seine Aufgabe… und sein Recht.“ Sie nickte, kniff die Lippen zusammen. Sonoko neben ihr tat es ihr gleich. „Das Risiko geh ich ein.“ „Ich werde dir aber nicht alles sagen… gewisse Details weiß ich selber nicht, da musst du jemand anderen nerven. Kudô selber, beispielsweise. Oder diesen alten Professor.“ Ran machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich will wissen, was letzte Woche los war und warum. Können Sie mir das sagen?“ „Ja.“ „Gut. Mehr will ich fürs erste auch gar nicht wissen.“ „Dann setzt euch.“ Er deutete auf das Bett. Ran und Sonoko ließen sich gehorsam nieder. Akai räusperte sich, zog eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus seiner Jackentasche, sah sie nicht an, als er zu reden begann. „Shinichi Kudô arbeitet nunmehr… seit fast drei Jahren an einem Fall, der auch das FBI und die CIA beschäftigt. Es geht hierbei um eine japanische Verbrecherorganisation, deren Kontakte und Geschäfte bis in die Vereinigten Staaten reichen.“ Akai räusperte sich kurz. Ran schluckte. „Nun kam es, dass er vor ziemlich genau einer Woche… durch Umstände, die dir wohl der Professor näher erklären sollte, oder noch besser, Kudô selber… in die Hände derer geriet, gegen die er ermittelte. Dem Syndikat war es gelungen, seine Tarnung endlich aufzudecken, wenn auch… zufällig; demzufolge war es hocherfreut, ihn nun endlich in seinen Fängen zu wissen. Man wollte ihn verhören, und dann töten, das war der Plan. Er sollte ihnen sagen, wie viel wir, also das FBI wissen; und wo eine Verräterin der Organisation sich versteckt, zu der er Kontakt hat. Wie du… dir wohl denkst, hat er auch… unter Folter nicht ein Wort gesagt.“ Akai schluckte, studierte Rans Gesichtsausdruck aufmerksam. „Folter…?“, flüsterte sie leise, merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Sonoko griff vorsichtig nach ihrer Hand. „Welche Art von… von Folter…?“, hakte Ran nach, wusste nicht, ob sie es eigentlich wirklich wissen wollte. Der FBI-Agent seufzte. „Diese Organisation verfügt über ein gewisses Gift. Ein Stoff, der… injiziert in die Blutbahn…“ Ran japste nach Luft. Er brach ab, schaute sie ernst an. „Hör zu, das ist nichts für dich, du erträgst es nicht. Lass gut sein, freu dich, wenn du ihn am Leben wiedersiehst und frag nicht mehr weiter…“ „Doch!“ Sie atmete schnell, schaute ihn stur an. „Doch! Ich muss das wissen! Wenn er es ertragen kann, dann kann ich doch wohl ertragen, davon zu hören. Reden Sie weiter.“ Der Mann zögerte, kniff die Augen zusammen. „Na los! Reden Sie!“ Ran starrte ihn an, ihre Augen glänzten fiebrig, aber nicht minder entschlossen. Akai schüttelte den Kopf. „Du bist ein dummes Mädchen.“ „Bin ich nicht.“ Der schwarzhaarige Mann seufzte, spielte mit seiner Zigarettenschachtel. Ihr fester Wille, ihre Stärke, imponierte ihm. „Nein, bist du nicht, da hast du wohl Recht.“ Er warf ihr einen kurzen Blick aus seinen hellen, grünen Augen zu. Ran erwiderte ihn, auf ihrem Gesicht ein bitterernster Ausdruck. „Erzählen Sie’s mir. Bitte.“ „Gut, wenn du es so haben willst...“ „Will ich.“ Ran nickte ruckartig. Ich will wissen, was du durchgemacht hast… Shinichi… Sie biss sich auf die Lippen. Akai räusperte sich kurz. „Dabei handelte es sich um ein… Gift, das schreckliche Schmerzen verursacht, sie nennen es ironischerweise Wahrheitsserum, weil normalerweise jeder, der einmal in den zweifelhaften Genuss kam, singt wie ein Vogel… redet wie ein Buch, und zwar die Wahrheit, alles, was man hören will, nur um der zweiten Injektion zu entgehen. Er nicht. Er hat nicht geredet. Demzufolge… als man merkte, dass man bei ihm nicht weiterkam… wollte man ihn töten. Allerdings… hielt der Boss der Organisation es für klüger, ihn am Leben zu lassen. Ihn… in die Organisation zu holen. Als Mitglied.“ Ran schluckte, nickte. Sie merkte, wie sie sich langsam wieder beruhigte, fasste, und war stolz auf sich. Gut so, Ran. Sonoko zog die Augenbrauen hoch. „Er kann doch nie im Leben ja gesagt haben?“ Akai starrte zu Boden, puhlte eine Kippe aus seiner Zigarettenpackung, steckte sie sich an und legte das Päckchen neben sich auf den Tisch. „Doch, genau das hat er. Er ist eingestiegen.“ Blauer Rauch begann, in Schwaden durch das Zimmer zu ziehen. „WAS?!“ Sonoko war aufgesprungen, starrte den Mann ungläubig an. In Rans Gesicht stand pures Entsetzen, Enttäuschung, Verwirrung und… Angst. „Hören Sie, das glaub ich nicht! So ein verdammter Moralapostel wie er ist, schließt er sich bestimmt nicht einer Mörderbande an! Sie kennen ihn vielleicht nicht, aber der Knabe hat so hohe Moralvorstellungen, dass er fast ein Heiliger ist! Shinichi Kudô…“ Sonoko redete sich in Rage. Ran saß neben ihr, stumm, starr, merkte, wie aus ihr alles Leben zu weichen drohte, als vor ihren Augen ihr Bild von einem Menschen zerbrach, den sie zu kennen geglaubt hatte. Den sie gerade wegen seiner Einstellung so sehr geschätzt hatte, ihm so sehr vertraut hatte. Dann rissen sie die nächsten Worte des Agenten aus ihrer Lethargie. „Ich kenne ihn besser, als du denkst, weil er mit uns zusammengearbeitet hat, Fräulein. Und er ist eingestiegen. Sie hatten ein ziemlich gutes Argument, um ihn zu überzeugen.“ Ran schaute müde auf, seufzte ihn an. „Welches?“ „Dein Leben.“ Sonoko fiel aufs Bett. Ihre Knie hatten einfach so nachgegeben. Akai nickte langsam, zog an seiner Zigarette; helloranges Glimmen ließ die Spitze kurz leuchten, ehe sich die Glut weiter in den Tabak verzog. „Sie wissen von dir. Sie wissen… was du für ihn bist, ich meine, das sollte dir klar sein… dass du ihm viel bedeutest. Er kennt keine Grenzen, bei dem, was er für dich zu tun und zu ertragen bereit ist und das hat man ausgenutzt, um ihn für ihre Sache zu verpflichten. Sie drohten ihm, dich zu töten, wenn er nicht einsähe, was er zu tun hätte. Sein Leben gegen deins; seinen Willen, seine Seele, seinen Verstand… ihn… gegen deine Freiheit, gegen deine Gesundheit… gegen dich. Das war der Deal. Er ist ihn eingegangen.“ Ran schlug sich die Hand vor den Mund, ihre Augen waren aufgerissen, langsam beugte sie sich nach vorn, keuchte, atmete schwer. „Deshalb haben wir dir auch nichts gesagt… damit du dich nicht einmischst… damit du in Sicherheit bist, einigermaßen, und ihm nicht unter Umständen noch mehr Ärger machst, als er schon hatte. Und deshalb bin ich hier… um dich vor ihnen zu beschützen.“ Sonoko strich ihr über den Rücken, seufzte leise. Sie hatten Recht gehabt, offensichtlich. Mit allem Recht gehabt. Shinichi steckte in gewaltigen Schwierigkeiten. „Was…?“ Langsam schaute das blonde Mädchen auf. „Was kam dann…?“ Akai schaute von der einen zur anderen, kniff die Lippen zusammen, nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. „Man hat ihn angelernt. Oder hat es zumindest versucht. Er sollte dabei sein, bei einem Drogendeal; der allerdings ist geplatzt. Shinichi bekam heraus, dass das Mitglied… Gin war sein Name, sie haben dort alle Alkoholika als Decknamen… nach dieser Verräterin her war… und er ist ihm nach, um sie zu retten. Etwas, das ihm auch gelungen ist, für das er allerdings am gleichen Abend noch bezahlen durfte. Gin nahm ihn mit zu einem der Klienten des Deals, auf Geheiß der Führungsebene der Organisation, und schoss dessen Tochter an, ließ ihm die Schuld in die Schuhe schieben. Man wollte seinen sozialen Tod, bevor man ihm sein Leben nahm.“ Ran schaute langsam auf. „Die Zeitung.“, wisperte sie. Akai nickte langsam. „Ja. Die Zeitung. Wäre alles nach Gins Plan gelaufen, wäre gestern in der Zeitung gestanden, dass Shinichi Kudô ein Mörder geworden ist. Nun war die junge Frau gottseidank nicht tödlich verletzt; und dem Boss lag nicht viel daran, einen berühmten Detektiv in seinen Reihen zu haben, der unter Mordverdacht steht oder auch nur wegen Körperverletzung gesucht wird, das war viel zu riskant für die Organisation. Also setzte er ein paar Hebel in Bewegung und stellte die Sache richtig. Warum der Aufwand, wissen wir nicht. Offensichtlich liegt dem Boss etwas an Kudô… offensichtlich kennt er ihn, denn er weiß Bescheid über ihn, gut sogar, und wohl auch über dich; anders können wir uns all diese Handlungen nicht erklären. Ihn zu töten wäre so viel einfacher gewesen.“ Ran nickte langsam. Jetzt machte das alles Sinn. „Und dann…?“, fragte sie langsam. „Dann… folgte gestern der zweite Coup…“ Ran schluckte. Das Zögern des Agenten machte ihr Angst. „Er hätte jemanden töten sollen und hat sich geweigert, warum, wissen wir nicht. Es ist etwas seltsam, bedenkt man, dass er damit dein Leben riskiert hat; aber anscheinend hatte er auf einmal Grund zur Annahme, du wärst sicher, was du ja warst... ich denke, wäre er sich dessen nicht bewusst gewesen hätte er das nicht getan, er hätte… dein Leben nicht riskiert. Er hätte wohl versucht, es irgendwie anders zu lösen… denn ein Mörder… ist er eigentlich auch nicht.“ Ran schaute ihn an, wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Das wurde ihr auch abgenommen, als Akai weitersprach. „Gestern hätte man ihn eigentlich töten müssen, er hatte ja eklatant gegen einen Befehl verstoßen, aber ihm gelang die Flucht, wir wissen immer noch nicht, wie genau. Man fand ihn, wie du weißt, angeschossen auf einer Landstraße in Tottori. Er wurde operiert, ist stabil, aber ob er schon geredet hat, weiß ich nicht. Mehr kann ich dir jetzt auch beim besten Willen nicht sagen… die ganze Geschichte, und glaub mir, es fehlt noch so einiges… musst du dir von ihm erzählen lassen. Von ihm selber.“ Die Oberschülerin schaute ihn lange an. Ihre Lippen waren fast blutleer, ihre Hände zitterten, ihr Atem ging flach. Erste Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen, ihrem Kopf schwirrte es, tausend Fragen tauchten auf und verschwanden wieder. Sie verstand nicht, konnte kaum glauben, was Shinichi für sie getan hatte. Sie wollte es auch nicht glauben, irgendwie… sie wollte nicht wahrhaben, dass er sich so aufopferte für sie, sie wollte einfach nicht… dass er sich so etwas antat. Wegen ihr. Das war nicht richtig, in ihren Augen. Er hat das für mich getan… nur für mich… warum… warum? Ihr wurde fast schlecht, Schuldgefühle breiteten sich in ihr aus, stechend, bohrend - immer mehr Tränen folgten den ersten, sie schluchzte auf, gequält. Shinichi, warum lässt du zu, dass man das mit dir macht?! Wegen mir? Ich… „Hör zu…“ Akai beugte sich langsam vor. Ran schaute ihn an, merkte, dass sich seine Lippen bewegten, aber nahm seine Worte kaum wahr. … will das nicht. Ich will das nicht! „Du kannst dich beruhigen. Er ist jetzt in Sicherheit. Und wenn er schon wach ist, dann weiß er jetzt, dass du es auch bist. Es wird alles wieder… in Ordnung.“ Sonoko schaute sie besorgt an. „Ran, hast du gehört? Es wird alles wieder gut?“ Ran nickte abwesend. Akai blickte ihr forschend ins Gesicht, zog an seiner Zigarette, stieß dann den Rauch rücksichtsvoll zur Seite aus, seufzte. „Du solltest versuchen, ein wenig zu schlafen.“ Das blonde Mädchen streichelte ihr über ihr Haar, versuchte, sie etwas zu beruhigen. „Er hat Recht. Du siehst… grauenhaft aus. Schlaf ein wenig…“ Mit sanfter Gewalt drückte sie sie aufs Bett, zog ihr ihre Schuhe aus. „Aber…“, murmelte Ran kraftlos. „Kein Aber.“ Die blonde Oberschülerin schüttelte den Kopf. „Du hast Schlaf bitter nötig. Und außerdem vergeht die Zeit dann schneller.“ Sie lächelte ihr zu, strich ihr über die Stirn. „Wenn jemand anruft, weck ich dich.“ Ran seufzte, nickte dann langsam… machte die Augen zu und merkte, wie ihre Glieder auf einmal bleischwer wurden. Ein paar Sekunden später schlief sie tief und fest, auf ihren Wangen immer noch nasse Spuren. Akai und Sonoko schauten sich nur wortlos an. Agasa trat auf den Gang, ging Heiji, den Kindern und Jodie entgegen. Sie schauten ihn an, und allein sein Blick schien nichts Gutes zu verheißen. „Er leidet unter retrograder Amnesie. Definitiv.“ Agasa hatte die Lippen geöffnet, aber es war Ais sachliche Stimme, die von unten herauftönte. Der alte Professor hatte keinen Ton hervorgebracht, räusperte sich betroffen, nickte nur. Heijis Kinnlade klappte nach unten, ein leises Ächzen verließ seine Lippen. „Amne… Amne… Amne…“, fing er an zu stottern. „Amnesie. Das ist der medizinische Fachbegriff für Gedächtnisverlust.“, klärte Ai ihn mit trockener Stimme auf. „Ich weiß, was das is!“, herrschte Heiji sie an, schluckte dann, schaute sie entschuldigend an. „Aber verdammt… das kann er doch jetz‘ gar nich‘ brauchen… das muss ihn fertig mach’n, nich‘ mehr zu wissn…“ Er war bleich geworden. „Was.. was weiß er denn nicht mehr? Und wieso? Because of the concussion?“, hakte Jodie ein. „Alles.“ Agasas Stimme klang rau. „Er hat keine Ahnung, wer er ist. Wo er ist. Was passiert ist. Wer wir sind. Wer…“, seine Stimme wurde leise, „… Conan ist. Seine Vergangenheit, seine Gegenwart… sein ganzes Leben… alles weg. Und ja. Ich denke, ein wesentlicher Grund wird die schwere Gehirnerschütterung sein.“ Heiji stöhnte auf, strich sich die Haare aus der Stirn, wandte sich ab. Die Kinder schauten Agasa verstört an. „Und jetzt?“ „Jetzt muss er erst einmal hierbleiben. Und ich würde sagen… wir lassen ihn für heute in Ruhe. Ai und ich… haben… haben…“ „Wir haben ihn für heute schon genug gestresst.“, vollendete das kleine Mädchen den Satz des Professors. Jodie schien sich mit dem Gedanken nicht besonders anfreunden zu können, nickte dann aber widerwillig. „Schön. Dann gehen Mr Osaka und ich zu den Môris und zur Polizei und setzen die davon in Kenntnis, dass unser wichtigster Zeuge keine Aussage machen kann. Und James… und Shuichi müssen es auch wissen. Er ist mehr in Gefahr denn je, wenn er nicht weiß, vor wem er sich in Acht nehmen muss. Wir müssen die Bewachung wohl verdoppeln. Und… es wird wohl Zeit, dass sie kommt.“ „Ran…?“ Heiji schluckte, schaute Jodie an. „Ja, Shuichi wollte ohnehin mit ihr herkommen, aber es ahnte wohl keiner, dass… nun, vielleicht kann sie ihm helfen. Sie kennt ihn… schließlich schon lange. She knows him best. And they are lovers, after all. Love’s… such a strong emotion…“ Agasa nickte langsam. „Ja. Das ist… eine gute Idee. Ich werde seine Eltern informieren…“ „Und wir werden Conan suchen!“ Agasa und Ai schauten sich an; dann tauschten sie einen kurzen Blick mit Heiji und der FBI-Agentin. „Ja… wir… werden dann noch Conan suchen.“ Unendlich schwer gingen Agasa die Worte über die Lippen. Heute… heute würden sie es ihnen sagen. Es hatte keinen Zweck mehr, sie nun noch länger anzulügen. „Aber zuerst musst ich noch seine Eltern anrufen.“ Die Kinder nickten widerwillig, setzten sich auf die Bank. Heiji und Jodie warfen ihm einen mitfühlenden Blick zu; dann verabschiedeten sie sich und machten sich auf ihren Weg. Shuichi Akai fuhr hoch, als sein Handy klingelte. Unwirsch grummelnd kramte er in seiner Jackentasche danach, ließ dabei Ran nicht aus den Augen, die immer noch schlief, aber durch das penetrante Trillern des Telefons unruhig wurde, sich ein wenig bewegte. Ein leises Murmeln verließ ihre Lippen. Endlich fand er es hob unter Sonokos wachsamen Blick ab. „Was gibt’s?“ „Er war wach.“ Es war James; und er klang etwas verstört, soweit Shuichi es heraushören konnte. Seine Stimme klang besorgt. Akai runzelte die Stirn. „Nun. Das sind doch gute Nachrichten- oder nicht?“ Ein lautes Seufzen rauschte an seinem Ohr. „In diesem Fall nicht. Jodie war im Krankenhaus, hat ihn nicht gesprochen, der Professor war bei ihm, hat sich als sein Großvater ausgegeben… er hat es als erster erfahren und die Ärzte haben es uns mittlerweile auch bestätigt-…“ „Was denn?“ Langsam wurde Akai ungeduldig. Er war es nicht gewohnt, dass James Black so um den heißen Brei herumredete. „Ist er nach dem Aufwachen ins Koma gefallen oder was?“ Sonoko fuhr auf. „Nein. Er ist stabil.“ James Black schluckte. „His disease is of other nature. Mr Holmes has lost his memory.“ Akai blinzelte. Dann hob er langsam die Hand, griff sich an die Stirn. „Retrograde Amnesie?“ Sonoko blinzelte, schaute ihn an. Ihre Blicke trafen sich. „Ja. Shinichi Kudô weiß nicht einmal mehr, wer er ist, wie er heißt. Wie alt er ist. Wer wir sind, geschweige denn, was überhaupt passiert ist. Da muss etwas… vorgefallen… sein…“ „Dass ihn so sehr aus der Bahn geworfen hat, dass sein Verstand sich weigert, sich daran zu erinnern…?“ „Yes. He has lost a pretty amount of blood and suffers from a concussion, and… das kann unter Umständen der Grund für eine Amnesie sein. Auch. Alles andere ist Spekulation… Das sagen die Ärzte zumindest. Wann kommt ihr nach Tokio?” Shuichi trat an den Tisch, kramte die Flugtickets aus einem Stapel Papiere. „Morgen Nachmittag.“ „Well. Then, we’ll fetch you. Ruf an, wenn ihr angekommen seid.“ „Sicher.“ Akai seufzte, legte auf, schaute das blonde Mädchen an, das vor ihn getreten war. Sie war kreideweiß im Gesicht, ihre Augen warten angstvoll geweitet. „Körperlich ist er stabil soweit. Er war auch… wach. Aber er hat…“ „Sein Gedächtnis verloren.“ Sonoko hauchte die Worte nur, drehte sich um, schaute zu Ran, bemerkte Akais Nicken aus den Augenwinkeln. „Mein Gott… ausgerechnet das… Das… das wird hart für sie…“ Wenn der, den du liebst, sich nicht an dich erinnert… Der, der dich doch liebt, nicht mehr weiß, wer du bist… Und du dir wohl die Schuld dafür geben wirst, dass er jetzt… durchmacht, was auch du schon erlebt hast… Ran schlummerte immer noch, hatte nichts mitbekommen. „Sollen wir sie wecken… es ihr gleich sagen?“ Sonokos Stimme zitterte. „Nein.“ Akai bezog wieder Stellung auf seinem Stuhl, steckte sich eine Zigarette an. „Nein…“ Er nahm einen tiefen Zug, stieß den Qualm langsam aus. „Lass sie schlafen. Sie wird jedes Quäntchen Kraft, dass sie hat, nötig haben, wenn sie bei ihm ist. Die nächsten Tage werden nicht einfach werden… da kann sie jede ruhige Minute, die sie jetzt noch in Unwissenheit verbringen kann, gut gebrauchen.“ Er seufzte, zog ein weiteres Mal an seiner Zigarette. „Die Schlacht ist noch lange nicht vorbei. Es fängt gerade erst an… und wir haben denkbar schlechte Karten in diesem Spiel.“ Die blonde Oberschülerin nickte, strich sich fahrig über ihre Haare, setzte sich dann wieder neben ihre Freundin aufs Bett, griff nach Rans Hand. Akai schaute an die Decke, beobachtete die Formen, die der Rauch bildete, ohne sie wirklich zu beachten. Seine Gedanken waren woanders. Dir bleibt auch nichts erspart, was… Kudô? „Kudô?“ Yusakus Stimme schallte ihm aus dem Hörer entgegen. Agasa schluckte, biss sich auf die Lippen. Er hatte sich keine Sätze zu Recht gelegt. Er wusste nicht, was er sagen sollte. „Hallo?“ Wie sollte er seinen Eltern beibringen, dass ihr Sohn sich nicht an sie erinnerte…? „Wer ist da? Ich lege gleich wieder auf-…“ Erst jetzt reagierte Agasa. „Yusaku!“ Erschrocken klammerte er sich an den Hörer. „Hiroshi?“ Yusaku Kudô merkte, wie seine Knie weich wurden. Er schaute um sich; keine Yukiko in Sicht. Langsam ging er mit dem Telefon in die Küche, ließ sich auf einen Stuhl nieder. „Hiroshi, rufst du an wegen… wegen…“ Er merkte, wie Nervosität in ihm hochkroch. Ja, er wusste, dass er lebte. Aber er hatte keine Ahnung, wie es ihm ging. Wie es Shinichi ging, nach diesem katastrophalen Tag gestern… „Ja. Ich ruf an wegen Shinichi. Ich war heut im Krankenhaus.“ Er klang auf einmal völlig gefasst. „Sagt mal, warum seid ihr noch nicht hier?“ „Wie geht es ihm?“ „Yusaku…!“ „Hiroshi, wie geht es ihm!?!“ Yusaku schrie ins Telefon. Seine Nerven lagen blank und er konnte jetzt gerade wirklich keine Diskussion gebrauchen… er hatte heute Morgen schon mit Yukiko darüber geredet, dass er nicht ins Krankenhaus wollte. Klarerweise hatte sie ihn nicht verstehen können. Er strich sich die Haare aus der Stirn. Es gab zwei Gründe, warum er nicht wollte… konnte… Grund eins war: Yusaku Kudô hatte Angst. Ja… Angst. Angst vor der Reaktion seines Sohns, wenn er seinem Vater gegenüber trat… nach diesem verheerenden Gespräch, nach diesem schrecklichen Abend. Er hatte Angst, dass er sich schon in den nächsten fünf Minuten bei Meguré im Wagen finden würde – auf dem Rücksitz. Hatte Angst vor der Enttäuschung, dem verletzten Ausdruck in Yukikos Augen, die er in ihnen würde lesen können, sobald sie erfuhr, was er ihr all die Jahre vorgemacht hatte… sobald sie erkannte, dass er der Schauspieler war, nicht sie… Er schluckte schwer. Ihm war erst heute aufgegangen, was für ein erbärmlicher Feigling er war. Er hatte Angst… Er fürchtete sich vor den Reaktionen seiner Familie, seiner Freunde. Er hatte all die Jahre so sorgsam sein Geheimnis gehütet… er wollte nicht, dass es sein Leben zerstörte. Nun stand alles kurz vor dem Abgrund, und das machte in gereizt. Und deshalb… so sehr er sich auch um Shinichi sorgte, unter die Augen treten konnte er ihm nicht. Der zweite Grund war… dass er Angst hatte, sie direkt zu ihm zu führen. Er holte Luft. Aber Professor schien zumindest noch nichts zu wissen… also hatte ihn Shinichi noch nicht verraten…? Er beruhigte sich etwas. „Hiroshi, wie geht es ihm denn nun? Hast du mit ihm gesprochen?“ „Ja. Er war wach. Ich hab… mit ihm gesprochen.“ Erneut trat Schweigen an. Yusaku schloss die Augen, atmete tief durch. „Und… wie geht es ihm? Was sagt er?“ „Er sagt nicht viel.“ Hiroshi Agasa räusperte sich. „Um genau zu sein… gibt es wohl auch nicht viel, über das er reden könnte.“ Der Autor öffnete die Augen. Er wandte sich um, sah Yukiko auf sich zukommen, schluckte, winkte sie dann näher. „Wie meinen Sie das, Professor?“ Yusaku hörte den alten Mann am anderen Ende der Leitung schlucken. „Professor?!“ Seine Stimme wurde drängend, ohne dass er es eigentlich beabsichtigte. Agasa holte tief Luft. „Er leidet unter retrograder Amnesie.“ Yusaku verstand im ersten Moment gar nicht, was er hörte. Erst nach und nach begriff er, schaute in Yukikos fragende Augen, griff zögernd nach ihrer Hand. „In… inwiefern? Hat er nur… die letzte Woche…?“ Lange war es still in der Leitung, ehe Agasa wieder etwas sagte. Diese Verzweiflung, diese flehende Hoffnung in Yusakus Stimme hatte er noch nie gehört. Die Stimme des alten Mannes krächzte. Er hustete, dann setzte er neu an. „Nein, Yusaku, nicht nur letzte Woche. Er hat alles vergessen. Er weiß nicht mal mehr seinen eigenen Namen. Er hat mich und Ai nicht erkannt. Er hat einfach… einfach alles vergessen, was es zu vergessen gibt, für ihn. Euch auch.“ Langsam dämmerte Yusaku, was das alles bedeutete. Seine Hände wurden kalt, tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Wortlos drückte er das Telefon, aus dessen Hörer leise die Stimme des Professors („Hallo? Yusaku? Bist du noch dran…???“) drang, Yukiko in die Hand, die sich meldete, und die dann ebenfalls erbleichte. Es dauerte nicht lang, bis ihr die ersten Tränen aus den Augenwinkeln perlten, ihre Lippen zu zittern begannen. Er wandte sich ab. Shinichi wusste nichts mehr. Er konnte ihn nicht verraten. Irgendwie konnte ihn das nicht erleichtern. Was… was soll ich jetzt machen? Sie werden dich suchen, sobald sie erfahren, dass du noch lebst… Und ich bin der Erste, den sie verdächtigen werden… ich weiß nicht, ob ich euch dann schützen kann… Er warf seiner Frau einen kurzen Blick zu. Obwohl… so ohne Gedächtnis war Shinichi keine Gefahr für die Organisation… zumindest nicht momentan. Allerdings bezweifelte er, ihn schützen zu können, allein deswegen… unter Umständen würde Shinichi sich schneller erinnern, als ihnen lieb sein konnte. Aber… Er würde es… auf sich zukommen lassen müssen… Er war immer noch der Boss. Immerhin. Was das wert war, würde sich noch herausstellen. Und nicht zu vergessen… die Tatsache, dass Shinichi nicht mehr wusste, wer er war… würde zumindest den Umgang mit ihm erleichtern, ehe er eine Lösung gefunden hatte. Er hatte keine Ahnung, ob diese Amnesie auf Dauer war… er befürchtete, dass dem wohl nicht so war und schalt sich im gleichen Atemzug einen schlechten Vater… wer war er, dass er seinem Sohn ein Leben ohne Identität wünschte! Verdammt. Aber… fürs erste… erinnerte sich Shinichi an nichts… und das war vielleicht gar nicht mal so schlecht. Er war wirklich ein miserabler Vater, dass er darin Vorteile sehen konnte… Unwillig verzog er die Lippen, fuhr dann erschrocken herum, als sie ihn ansprach. „Wann fahren wir ihn besuchen, Yusaku?“ Der Autor schluckte. Die Frage überforderte ihn. Yukiko schaute ihn verwirrt an. „Ich… ah…“ „Der Professor meint, dass er wohl seine Ruhe braucht, aber dass es vielleicht doch nicht schlecht wäre, wenn wir kämen…“ Ihre Stimme schwankte. Sie umklammerte mit beiden Händen das Telefon. Er sah ihr an, dass sie lieber jetzt als gleich bei ihrem Sohn wäre. „Ich denke, wir sollten ihn sich ausruhen lassen, heute.“, presste er dann hervor. Es brach ihm das Herz, als er sah, wie sich in ihrem Gesicht Enttäuschung und Verwirrung ausbreiteten. Fakt war, er wusste nicht, was er hätte tun sollen, im Krankenhaus. Was er ihm hätte sagen sollen. Wie er sich hätte verhalten sollen. Fakt war, er fürchtete den Anblick, weil er wusste, wer Schuld an Shinichis Zustand war. Er selber nämlich. Und außerdem… gab es einen Ort, an den er jetzt erst einmal dringender hinmusste. „Aber… Yusaku…?“ „Sag ihm, er kann ihm ausrichten, wir kommen bald.“ „Yusaku…?!“ Sie starrte ihn an, eine Mischung aus Vorwurf und Bitte lag in ihren Zügen. Er schüttelte den Kopf. „Ich kann ihn heute nicht besuchen.“ „Aber…?“ Unglauben lag in ihren Zügen. „Herrgott, ich bin schuld, dass es so weit gekommen ist! Ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen… ihn nicht so allein lassen sollen mit all dem Zeug… dem Fall… Conan…“ Er starrte zu Boden, schaute dann wieder auf. „Ich kann ihm so nicht unter die Augen treten. Versteh das bitte.“ Damit drehte er sich um, griff sich seine Jacke und verließ fast fluchtartig das Haus. Es stimmte… neben der ganzen anderen Problematik machte ihm das noch besonders zu schaffen… er schrieb es seinem Versagen zu, dass es soweit überhaupt gekommen war. Dass Shinichi überhaupt gefasst worden war. Dass er diese Woche hatte erleben müssen… Hinter ihm fiel die Tür zu. Yukiko blieb stehen, wie vom Donner gerührt, hob langsam das Telefon wieder an ihr Gesicht. In Kogorô Môris Wohnung hatte in der Zwischenzeit die Neuigkeit die Runde gemacht; Heiji hatte sie ohne Umschweife ins Bild gesetzt. Vor ein paar Sekunden hatte er seinen Bericht beendet und nun herrschte Stille in der kleinen Küche, man konnte fast sehen, wie die Anwesenden die Nachricht verarbeiteten, die Zahnräder in den Köpfen fast rattern hören, bis- „Er hat… was…?!“ Kogorô und Meguré, der, wie sich herausgestellt hatte, gerade mit Môri über die neuesten Entwicklungen in ihrem Fall geredet hatte, schauten Heiji ungläubig an, der gerade vom Professor abgesetzt worden war. „Ja. Sein Gedächtnis verloren. Amnesie nennt man das. Retrograde Amnesie, um genau zu sein.“ „Ich weiß, was das ist!“, brummten die beiden Männer synchron, schauten sich dann etwas verwirrt an. „Und er hat wirklich alles vergessen…?“, fragte Eri in die nun eintretende Stille hinein. Sie befand sich ebenfalls in der Wohnung ihres Mannes, schließlich… ging das Schicksal von Shinichi und damit auch das ihrer Tochter nicht an ihr vorbei. Sie hatte sich Sorgen gemacht, und das wohl zu Recht. Heiji nickte langsam, schaute Rans Mutter, die er heute zum ersten Mal kennengelernt hatte, unbehaglich an. Eri Kisaki war eine toughe Frau, der man nichts vormachen konnte, das war ihm schon bei der Begrüßung klar geworden. „Ja. Das sagt zumindest der Professor. Der hat mit ihm heut schon geredet. Muss… muss furchtbar gewesn sein…“ „Das ist in der Tat ungünstig…“ Die Rechtsanwältin setzte sich auf einen Stuhl, schlug ihre Beine übereinander, seufzte und massierte ihre Schläfe. „Die arme Yukiko. Das muss schrecklich für sie sein. Was muss er sich auch… immer in solche Schwierigkeiten bringen…“ Ein bitteres Lächeln huschte ihr über die Lippen, dann sah sie auf, seufzte. „Nun gut, wenigstens lebt er noch.“ Kogorô und Meguré nickten zustimmend. Rans Vater stand von seinem Stuhl auf, auf dem er bis jetzt gesessen hatte, ging mit auf dem Rücken verschränkten Armen im Zimmer auf und ab, dachte offensichtlich nach. Abrupt blieb er stehen, warf Heiji einen fragenden Blick zu. „Weiß Ran…?“ „Ich glaub, noch nich‘. Der Prof wollt sie aber noch anrufen.“ Heiji ließ sich langsam auf einen Stuhl sinken. Dann fuhr er wieder hoch. „Verdammt! VERDAMMT! Warum auch… wenn wir ihn früher gefundn hättn… wir hätten ihn vorgestern nicht mehr zu diesen Verbrechern fahren lassen dürfen! Ich…“ Kogorô trat auf ihn zu, packte ihn an der Schulter, drückte ihn hart auf die Sitzfläche des Stuhls und holte ihm ein Becherchen Sake. „Beruhig dich und überleg lieber, wie du ihm jetzt helfen kannst.“, brummte der Detektiv unwirsch. „In die Vergangenheit zu denken bringt nichts.“ Heiji starrte in das kleine Gefäß, sah den Mann an, nickte langsam; dann stürzte er den Alkohol hinunter. Verdammt, Kudô… Meguré stand nun auch auf, tippte sich an seinen Hut. „Ich… werde dann wohl auch gehen. Auch wenn er sich nicht erinnert… ich fürchte, um eine Befragung wird er nicht umhin kommen, und wir müssen eine Untersuchung einleiten…“ Er seufzte schwer. „Das muss alles in die Wege geleitet werden… mit dem FBI muss ich wohl auch noch telefonieren… die wollten sich ohnehin melden, sagst du?“ Meguré warf Heiji einen fragenden Blick zu. Der Oberschüler nickte, ohne ihn anzusehen. „Gut.“ Der Kommissar knetete unbehaglich seine Hände. „Nun… dann… wir sehen uns. Môri.“ Er nickte seinem ehemaligen Kollegen zu. „Eri, war schön, dich mal wieder zusehen.“ Meguré warf der Rechtsanwältin ein kleines Lächeln zu. „Danke, für mich ebenfalls, Herr Kommissar.“ Sie lächelte zurück, aber die Sorge in ihren Augen blieb. „Nun, ich denke, sie werden ihre Tochter bald wohlbehalten wiederbekommen. Es gibt ja jetzt keinen Grund mehr, sie noch auf Izu zu halten…“ Das Ehepaar stimmte durch ein kaum merkbares Kopfnicken zu. „Heiji. Bis dann.“ Der Osakaer hob flüchtig die Hand, starrte immer noch auf den Boden, seine Miene wie versteinert. Es war für alle ersichtlich, dass in ihm die Schuldgefühle nagten. Meguré seufzte, dann drehte er sich um, verließ die Wohnung. Agasa hängte das Telefon ein, Verstörtheit war in seinen Zügen zu lesen. Er hatte Yukiko noch beruhigen wollen, die ihm unter Tränen erklärt hatte, warum sie heute nicht mehr kommen würden und warf einen Blick auf das kleine Mädchen neben ihm. „Was glaubst, du… wer…?“ Ai wandte ihren Kopf, starrte aus dem Fenster. Der Himmel zog sich zu. Heute Nacht würde es wohl regnen. „Ich meine… wer… ist er? Der Boss…? Denn nur… an seinem Handeln liegt es, dass es so weit gekommen ist.“ Ai wurde bleich. „Ich weiß es nicht. Wirklich… nicht…“ Agasa schaute sie durchdringend an, dann kniff er die Lippen kurz zusammen. „Es muss jemand sein, der ihn kennt. Er hat ihn immer wieder gerettet… nur weil er noch am Leben ist, konnte er sein Gedächtnis verlieren. Und ich denke… wir werden… den Boss da finden…“ „Wo ihm sein Gedächtnis verloren gegangen ist?“ Ihre Stimme klang leise. Das kleine Mädchen seufzte schwer, biss sich auf die Lippen. Dann schoss ihr eine andere Frage durch den Kopf. „Was sagen eigentlich die Kudôs? Wann kommen sie ihn besuchen?“ Agasa seufzte betrübt. „Morgen. Sie- sie sind ein wenig besorgt. Nun, eigentlich sind sie sehr besorgt, und sie haben wohl auch Angst, wohl vor allem Yusaku, wie er auf sie reagieren wird, wo er sie nun doch… nicht mehr kennt. Ich wollte es ja selber kaum glauben. Außerdem haben sie ein schlechtes Gewissen. Sie denken, sie haben als Eltern versagt, ihn im Stich gelassen. Besonders Yusaku macht sich Vorwürfe, weil er ihn nicht rechtzeitig gefunden hat. Weil all das passieren musste…“ Ai öffnete die Beifahrertür des Käfers, in dem die Kinder sie bereits erwarteten. Das rotblonde Mädchen warf ihnen einen ernsten Blick zu; dann wandte sie sich wieder an den Professor. „Ihr Sohn ist ihnen so unähnlich.“ Agasa stieg ein, wartete, bis sie neben ihm Platz genommen hatte, schaute sie ernst, vielleicht ein wenig verärgert an. „Warum sagst du so etwas? Du kennst sie doch kaum, du hast kein Recht-…“ Ai schaute ihn aus ihren blaugrünen Augen wütend an. „Sie sagten, sie würden sich Vorwürfe machen, weil sie denken, ihn im Stich gelassen zu haben?“ Agasa nickte fest. Das war die Tatsache- Yukiko hatte am Telefon wie am Boden zerstört geklungen. „Ja.“ „Und was, Professor, tun sie dann jetzt, bitte? Sagen Sie mir, was machen sie anderes, als ihn allein zu lassen, jetzt, wo er sie braucht, wie nie zuvor? Wo sind sie jetzt?! Sie sollten hier sein! Sie sollten schon seit gestern hier sein! Vorwürfe machen können sie sich später auch noch!“ Sie atmete schwer, hatte sich in Rage geredet. „Er ist nicht so ein Feigling. Er würde nicht kneifen. Er hat noch nie gekniffen. Die letzte Woche hat das noch mehr gezeigt, als wir es ohnehin schon wussten.“ Der alte Mann blinzelte, ließ den Motor an. Ai drehte den Kopf, starrte stur aus dem Fenster, die Krankenhausfassade hoch, suchte das Zimmer, in dem er nun bleiben musste. Agasa kam nicht umhin, ihr Recht zu geben. Obwohl der Shinichis Eltern verstand, musste er sich eingestehen, dass Ais Argumente nicht von der Hand zu weisen waren. Es stimmte. Nach einer halben Stunde Fahrt hielten sie neben ihrem Zeltplatz an. Er war mit den Kindern, er wusste nicht warum, hierher gefahren, um es ihnen zu sagen. Nun standen sie alle um den alten Mann geschart und schauten ihn abwartend an. „Wollen wir dann los…?“ Ayumi war ungeduldig. Genta und Mitsuhiko nickten zustimmend. Agasa schüttelte den Kopf. Das rotblonde Mädchen schaute den alten Mann fragend an. Der Professor schluckte hart, dann räusperte er sich. „Setzt euch.“ Die drei Kleinen schauten ihn fragend an, taten aber wie geheißen. „Hat man Conan etwa gefunden?“ Ai drehte sich um, schaute in die Richtung, aus der das Rauschen des Meers an ihre Ohren drang. Laut und grollend hörte es sich an, wütend, ja... Kurz zögerte sie noch… dann ging sie. Sie konnte hier nicht bleiben, konnte nicht sehen, wie heute noch eine Welt in Trümmer fiel, wo sie heute doch schon den Scherbenhaufen einer Existenz gesehen hatte. Der Professor schaute ihr nach, ließ sie aber wortlos ziehen. „Ai, wo gehst du hin?“ Ayumis Stimmchen schallte ihr hinterher- doch Ai ging einfach weiter, drehte sich nicht um. Das brünette Mädchen schaute zu ihm auf, ihre Augen dunkel vor Sorge und Verwirrung. „Was ist mit Ai? Wo geht sie hin? Und was ist nun mit Conan?“ Agasa seufzte, kratzte sich am Hinterkopf. „Sie muss ein wenig ihre Ruhe haben. Also- Conan…“ Er stockte. Die kleinen Gesichter schauten ihn mit einer Mischung aus Erwartung und Sorge an, ihre großen Augen unverwandt auf das faltige, betrübt aussehende Gesicht ihres Wahlgroßvaters gerichtet. „Was ist mit Conan?“, fragte Mitsuhiko langsam. „Er wurde doch entführt? Hat man ihn gefunden? Was machen wir dann noch hier…?“ Agasa starrte sie an, schien seine Worte gar nicht zu hören. Langsam hob er den Kopf, schaute in die Richtung, in die Ai… Shiho… verschwunden war, wusste, woran sie dachte, was sie so besorgte und mitnahm. Das Rauschen des Meeres drang aus der Ferne an seine Ohren, der Wind fing sich in seinen Haaren. Dann blickte er wieder auf die Kinder, sah Ayumi zu, wie sie sich eine Haarsträhne, die ihr eine Bö ins Gesicht geblasen hatte, aus dem Mundwinkel zog. Sie war noch so jung. Sie waren alle noch jung. Sie waren Kinder. Auch Shiho und Shinichi waren noch so jung… auch mit neunzehn sollte man nicht das erleben, was sie durchmachten, erst recht nicht durch eine solche Hölle gehen müssen, wie Shinichi es derzeit auferlegt war. Seine Mundwinkel verzogen sich, und er merkte, wie ihn die Sorge, das Mitgefühl überrannten. Die ganze Zeit, all die Tage war er zu angespannt gewesen, um sich einmal zu sammeln, einmal durchzuatmen; zu groß die Angst, dass man Ai auch noch schnappte, oder dass Shinichi tot war… es war alles so viel gewesen, die Last so erdrückend, die Sorge so schwer, die Angst so unglaublich allgegenwärtig… Was hatte Shinichi durchgemacht, der diese Gefühle Tag für Tag hatte empfinden müssen… jeden Tag genauso rastlos, weil ihn die Sorge umtrieb, die Furcht um alle, die er liebte nicht schlafen ließ, manchmal ziellos, weil nichts vorwärtsging… hoffnungslos, weil einfach nichts zu funktionieren schien… kein Weg in Aussicht, kein Lichtschimmer am Horizont… Agasa hatte es erfahren, in den letzten sieben Tagen. Shinichi hatte es vergessen. Und nun saß er hier, und sollte diesen Kindern sagen, dass ihr Freund eigentlich kein Grundschüler mehr war, dass er sie angelogen hatte, betrogen hatte, er, Conan - den sie so angebetet hatten, auf den sie so große Stücke hielten, dem sie so loyal waren… Conan. Conan, an den Ayumi ihr kleines Herzchen gehängt hatte, ihre erste Liebe verschenkt an ein Trugbild… Shinichi konnte man nicht verantwortlich machen dafür, er hatte selber gelitten, sich selber gehasst, aber das würde das, was auf dieses Gespräch folgen würde, nicht besser machen. „Professor?“ Gentas dunkle Stimme klang an sein Ohr. Dann spürte er Ayumis kleine Hände auf seinem Knie. „Professor… weinen… weinen Sie…?“ Ihre Stimme zitterte. Agasa fuhr hoch, seine Augen waren tatsächlich glasig, und er merkte erst jetzt, dass ihm tatsächlich eine Träne über die Wange lief. „Ist was mit Conan, Professor? Ist er… ist er…“ Ihre Lippe begann zu zittern, und sie stand selber gefährlich nahe davor, in Tränen auszubrechen. Er lächelte, wischte den Tropfen weg, tätschelte dem kleinen Mädchen den Kopf, das ihn sorgenvoll anschaute. „Nein, es ist schon… schon gut, Ayumi.“ Er seufzte tief. „Das, was ich euch jetzt sagen werde, tut mir im Namen aller… Betroffenen sehr leid. Wir… werden Conan nicht mehr finden…“ Seine Stimme verlor sich. Die Kinder sahen ihn schockiert an, das war zu erwarten gewesen. „Bevor ihr etwas Falsches denkt, Kinder… Conan ist nicht tot. Wenngleich… er fast gestorben wäre. Conan… hat nie existiert, wie auch Ai… nicht wirklich existiert.“ „Aber…! Ai ist doch…!“, wollte Mitsuhiko einwerfen, doch Agasa schnitt ihm mit einem schweren Kopfschütteln das Wort ab. „Conan Edogawa wie auch Ai Haibara sind Decknamen. Ais echter Name lautet Shiho Miyano… und Conan… Conan…“ Er schluckte. „Conan wurde gestern Abend im Regen auf der Landstraße gefunden, mit einer Schussverletzung, angeknacksten Rippen, Bronchitis und einer Gehirnerschütterung… und liegt jetzt mit retrograder Amnesie im…“ Seine Stimme verlor sich. Mitsuhiko sprang auf. Er hatte im Gegensatz zu Ayumi und Genta sofort verstanden, wen der Professor meinte. „Nein.“ Immer wieder schüttelte er den Kopf. „Nein!“ Er schrie ihn an, Wut flackerte in seiner Stimme auf. „Mitsuhiko.“ Agasa wollte ihn an der Hand nehmen. „Nein! Das geht nicht! Er ist neunzehn! Er ist…“ „Shinichi Kudô, genau.“ Ayumis Kopf fuhr hoch, Genta verschluckte sich an einem Bonbon, das er sich gerade in den Mund gesteckt hatte. „Was?“ Ayumi schaute den Professor verschreckt an, zu geschockt, um in Tränen auszubrechen, während Mitsuhiko Genta auf den Rücken hämmerte, bis der das Bonbon wieder ausgespuckt hatte. Hechelnd lag der dickere Junge auf dem Boden, während Mitsuhiko schwer atmend den Professor anstarrte. „Aber das ist nicht möglich.“ Agasa schaute ihn betrübt an. „Ja, das sagt er selber heute auch. Eigentlich ist es auch unmöglich… ich wollts an dem Tag, als er als Grundschüler… zum zweiten Mal als Grundschüler vor mir stand, auch nicht glauben… aber ihr könnt Ai fragen, es stimmt. Wie das vonstattenging will ich euch erzählen, aber ihr solltet euch dazu wirklich setzen.“ Mitsuhiko setzte sich neben Genta, der sich langsam wieder aufsetzte und ein neues Bonbon aus seiner Tasche fischte. Ayumi, die auch auf ihren Füßen stand, schwankte, starrte den Professor an. „Aber…!“ Es klang fast wie ein Wimmern, und es brach ihm das Herz. „Ich weiß.“ Der alte Mann konnte ihr Herz fast brechen hören, als er sie an sich zog, und sie kurz in seinen Armen wiegte. Genta und Mitsuhiko starrten ihn an; vor allem in Mitsuhiko kochte langsam wirklich der Zorn hoch. „Sagen Sie, Professor, was haben Sie drei sich eigentlich gedacht? Uns so anzulügen! Das tut man doch nicht! Freunde lügt man doch nicht an! Vor allem… was hat er sich dabei gedacht?!“ „Wir… er und Ai und ich… haben es getan, um euch zu schützen. Ihr habt gesehen, was sie mit ihm angerichtet haben. Ich kann euch nur sagen, dass das, was ihr gesehen habt, als wir ihn ins Krankenhaus gebracht haben, gerade mal die Oberfläche der Verletzungen, körperlich wie geistig, ist, die er in den letzten drei Jahren, vor allem aber in der letzten Woche ertragen hat, um euch… uns alle… in Sicherheit zu wissen. Das ist nie aus böser Absicht geschehen, das… müsst ihr einfach glauben.“ Seine Stimme klang schwer, sein Gesicht war gezeichnet von Gram und Erschöpfung. Sie starrten ihn nur an, sprachlos. Ayumi ließ sich langsam in seinen Schoß sinken, schniefte leise; und dann begann der Professor zu erzählen. Redete, leise und ruhig und wurde nicht unterbrochen, bis die drei Kinder die erschütternde Geschichte kannten… die ganze Geschichte kannten… von dem Patienten in Zimmer 365, der nicht mehr wusste, wer er war - die Geschichte von Shinichi Kudô alias Conan Edogawa. Ai stand am Strand, wo vor einer Woche noch er gestanden hatte, schaute aufs Meer. Doch diesmal schien es nicht friedlich, geheimnisvoll - es schien wie ein wütendes Monster, wie ein Ungeheuer, bereit, sie alle zu verschlingen. Sie zu vernichten. Wellen türmten sich auf, leuchteten wie Feuer im Glanz der Sonne, die das erste Opfer der alles verschlingenden Bestie zu werden schien. Sie fröstelte. Keine leichte Brise, sondern ein aufziehender Sturmwind zerrte an ihr, riss an ihren Haaren, ihrer Kleidung, wollte sie umdrücken, sie sich Untertan machen. Und sie stand da, schloss die Augen, und wünschte, es gelänge ihm. Sie war gefasst geblieben, den ganzen Tag. Bei Verstand geblieben. Hatte versucht zu helfen, wo es ging. Nun ging es aber nicht mehr weiter. Schuldgefühle machten sich in ihr breit, mehr denn je. Sie fragte sich, warum es ihn getroffen hatte. Warum nicht sie? Sie hatte auch diese Reisegruppe getroffen, sie hatte auch diesen Ausflug mitgemacht. Was hatte ihn verraten? War es wirklich nur dieses Telefongespräch gewesen? Warum war sie nicht auch gefangen genommen worden, warum… warum er? Und warum hatte er sie nur gerettet… vielleicht wär es nie soweit gekommen… wenn er… Brav gewesen wäre… Sie wussten mittlerweile, was er getan hatte… beziehungsweise, was nicht. Sie wussten, dass man ihn zum Boss gebracht hatte, und dass er dann geflohen war. Aber was sie nicht wussten, war, was beim Boss passiert war. Was auf der Flucht passiert war. Was ihn so zerstört hatte, dass er sich daran nicht mehr erinnern wollte. Sie mochte kaum glauben, dass eine simple Gehirnerschütterung allein Schuld daran war. Sein Anblick ging ihr nicht aus dem Kopf. Wie er da gelegen hatte, im Krankenbett, als sie gegangen waren. Immer wieder sah sie sie, die Leere in seinen Augen - Augen, die die Leere in seinem Inneren widerspiegelten, Augen, die Panik und Verzweiflung und Schrecken verrieten - und Furcht. Furcht, vor seinem eigenen Unwissen - Furcht vor denen, die ihm das angetan hatten. Furcht vor jedem, der seinen Weg kreuzte, denn sie alle könnten ihm das angetan haben, nach seiner Sicht der Dinge. Er konnte so gut wie keinem trauen. Sie war auch nicht unbedingt vertrauenserweckend gewesen, als sie ihn zur Äußerung seiner Beobachtung gezwungen hatte. Aber sie mussten ihn überzeugen, dass es stimmte. Dass er Conan gewesen war. Dass es Leute gab, die ihn als solchen kannten - dass es Leute gab, die ihn töten wollten, weil er existiert hatte. Dass er in Gefahr war. In großer Gefahr. Mit dieser Erzählung hatten sie wohl das zarte Band des Vertrauens, das er knüpfen hatte wollen, ziemlich strapaziert. Denn er wollte vertrauen. Er wollte wirklich. Sie hatte es ihm angesehen - er wollte wirklich. Er suchte verzweifelt nach jemanden, dem er trauen konnte - nach einem Fixpunkt, einem festen Parameter, anhand dessen er ausmachen konnte, wer sein Freund und wer sein Feind war. Suchte nach Informationen. Er suchte nach seinem Leben. Und er hatte Angst. Angst vor der Einsamkeit. Angst vor der Leere in seinem Kopf, das war das letzte Bild gewesen, das sie von ihm gesehen hatte; so tapfer und gelassen er sich auch gegeben hatte, er war immer noch ein guter Schauspieler, aber wie immer… hatten seine Augen nicht mitgespielt. Er hatte niemanden mehr. Nicht einmal sich selbst. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie er jetzt wohl im Bett lag und an die weiße Wand starrte, ein perfektes Ebenbild seines Gedächtnisses - ein paar Kratzer, Flecken hier und da, aber ansonsten blank. Eine Sturmbö griff nach ihr, drückte mit kalten Händen gegen sie. Sie ließ sich in den Sand sinken, starrte mit blicklosen Augen in die Ferne. Sie sprach nicht, als sie mit Agasa und den Kindern nach Hause fuhr. Genta, Ayumi und Mitsuhiko waren sehr, sehr still geworden. Immer wieder warfen sie Ai, die vorne neben dem Professor saß, besorgte wie ängstliche Blicke zu. Auch Ai war kein kleines Mädchen mehr, das wussten sie nun. Wie sie zu einem kleinen Mädchen geworden war, wussten sie jetzt auch. Ayumi schaute aus dem Fenster. Sie dachte an Conan - und fing nun ebenfalls wieder zu weinen an. Sie dachte an den Streit, von vor gut einer Woche. Dachte an seine Worte. „Ran ist eine erwachsene Frau, ich bin ein kleiner Junge! Ich kann sie gar nicht lieben, Ayumi, selbst wenn ich es wollte! Also lass mich in Frieden, meine Gefühle gehen dich nichts an.“ Er war Shinichi gewesen. Und er liebte Ran. So sehr. So sehr, dass er sein Leben für sie aufgegeben hatte. Nur für Ran, sein ganzes Leben, mit allem, was dazugehörte. Er hatte sie geliebt… schon immer. Und Conan - als Conan war ihm das nicht mehr möglich gewesen. Er durfte nicht mehr. Und darunter hatte er gelitten - unter diesem Umstand und der Tatsache, dass Ran ihren Shinichi vermisste - und er doch nicht kommen konnte. Nicht bei ihr sein konnte. Und dann kam auch noch sie und machte ihm das Leben schwer. Ihre erste große Liebe war nichts weiter als eine Illusion gewesen, eine Täuschung - und langsam keimte in ihr die Erkenntnis, dass das Leben manchmal schrecklich ungerecht war. Und sie war wütend. Wütend auf Conan und auch auf Ai, die sie so lange im Ungewissen gelassen hatten, auch wenn es zu ihrem Schutz gewesen war. Er hätte es viel einfacher haben können, hätte er ihr von Anfang an gesagt, dass er zu alt für sie war. Stattdessen hatte er es soweit kommen lassen. Und Ai - Ai hatte zugesehen, wie sie sich blamiert hatte. Nicht nur, dass ihre Liebe nie erwidert werden würde - noch dazu hatte sie sich vor allen lächerlich gemacht. Verzweiflung stieg in ihr hoch. Sie schämte sich. Sie war ihm zu nahe getreten, viel zu nahe. Sie hatte ihn sicher genervt. Sie war für ihn bestimmt nur ein dummes, kleines Kind gewesen. Und doch tat er ihr Leid. Denn er - er befand sich irgendwie in der gleichen Situation wie sie. Auch er hatte jemanden geliebt, der für ihn unerreichbar war. Und nun wusste er nicht einmal das mehr. Er hatte alles vergessen… alles wofür er gekämpft hatte… hatte er verloren. Er hatte Ran verloren, denn sie war… für ihn jetzt genauso fern wie als Conan… Weil Shinichi weg war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)