Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 25: Kapitel 7: Eltern und ihre Kinder I ----------------------------------------------- Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser! Mit diesem Kapitel folgt eine Szene in dieser Geschichte, auf die ihr wohl schon gewartet habt - und mit der ich lang gerungen habe. Im Prinzip seit letztem Jahr, als es mit der langen Pause der Geschichte anfing; glaubt also nicht, ich habe es mir leicht damit gemacht. Das Ding wurde geschrieben, umgeschrieben, teilweise gelöscht, umgeworfen, nochmal umgeschrieben, Teile verschoben, versetzt… es hat gegoren auf meiner Festplatte und ist gereift, und ich hoffe, es trifft den Kern der Sache jetzt… nämlich die Antwort auf die zentrale Frage, wie Shinichi und seine Eltern miteinander umgehen, wenn sie sich zum ersten Mal nach Shinichis Flucht wieder sehen. Wie reagiert er? Wie reagiert seine Mutter, und vor allem, wie reagiert sein Vater? Ich hab mir echt den Kopf schwer darüber zerbrochen, hab nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben und versucht, nicht OOC zu werden. Ich will mich nicht rechtfertigen, aber ihr sollt doch wissen, dass dieses Kap wohl mitunter einer der schwersten Brocken in dieser Geschichte ist. In diesem Sinne wünsche ich euch viel Vergnügen mit Shinichi und seinen Eltern. Nächste Woche folgt dann ein Kapitel mit Ran, soviel sei verraten. Ich wünsche euch schon einmal ein frohes Osterfest, viel Schokolade und bunt verzierte Eier, wunderbares Wetter und gutes Essen ^-^ Liebe Grüße, bis die Tage, Eure Leira ___________________________________________________________________ Kapitel 7: Eltern und Kinder I Eine Zeitlang passierte gar nichts; niemand sagte etwas, niemand bewegte sich, als Eltern und Sohn sich mit Blicken abtasteten, als sähen sie sich das erste Mal. Zumindest für einen in diesem Raum mochte das stimmen. Shinichi erkannte sie nicht. Soviel war offensichtlich. Offensichtlich war allerdings auch, was er durchgemacht hatte, was für Folgen diese Woche für ihn gehabt hatte. Die Spuren, die diese Tage hinterlassen hatten, sprachen eine deutliche Sprache - sie sahen die Kratzer in seinem Gesicht, wussten um die Schusswunde, die unter seinem Pyjama versteckt war, und obwohl sie nicht unvorbereitet gekommen waren, versetzte ihnen Shinichis Anblick doch einen Schock. Man sah es ihm einfach zu deutlich an, was er ertragen hatte; und am allerdeutlichsten war der Blick in seine Augen. Yusaku merkte, wie es ihm eisig den Rücken hinablief. Er konnte aus all diesen Zeichen auf seinem Körper die Geschichte rekonstruieren, die sie erzählten. Das war auch kein Kunststück; er war ja dabei gewesen. Er hatte diese Geschichte mitgeschrieben. Und der Protagonist dieses Romans saß vor ihm in seinem Bett, herausgefallen aus seiner Geschichte, hineingeworfen in ein neues Buch, in eine Storyline, mit der er nichts anfangen konnte. Sie war ihm fremd. Er war sich selbst fremd. Und sie alle waren Fremde für ihn. Niemandsland. Dann riss seine Stimme ihn aus seinen Gedanken. „Sie sind also meine Eltern, ja?“ Shinichi klang selbstbewusster, als er tatsächlich war, und das wussten sie alle drei, aber keiner ließ sich dieses Wissen anmerken. Noch dazu war es mehr als die Stimme, diese aufgesetzte Gelassenheit, die er verbreiten wollte, das den beiden Kudôs auffiel… es war die Anrede, die die ehemalige Schauspielerin und den Schriftsteller eiskalt erwischte, sich wie ein Schlag in die Magengrube anfühlte. Shinichi siezte sie; allerdings, so ehrlich war Yusaku sich einzugestehen, sollten sie sich nicht wundern. Etwas anderes war kaum zu erwarten gewesen. Er seufzte, trat vor, hob die Hände, wollte etwas sagen; zögerte, weil er nicht genau wusste, was er eigentlich sagen sollte, ließ seine Arme wieder sinken, verschränkte sie dann ungelenk vor der Brust, stierte zu Boden. „Ja, so sieht… es aus.“, murmelte er schließlich langsam, rieb sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger, verschob dafür seine Brille, als er mit seinen Fingern unter die Fassung langte. „Hm.“ Shinichi setzte sich etwas weiter auf, zog seine Decke etwas höher, ließ dabei die zwei nicht aus den Augen. „Ich will Ihnen jetzt keine Vorwürfe machen aber… Sie… haben sich Zeit gelassen.“ Er wandte den Blick langsam ab, starrte auf seine Füße, die sich als zwei hügelige Gebilde unter der Bettdecke abzeichneten, wandte sich ihnen nicht wieder zu, als er fortfuhr. „Aber reden wir nicht davon, Sie hatten sicher Ihre Gründe, und ich kanns ja verstehen… es muss verletzend sein, und ungewohnt, verwirrend… wenn einen der eigene Sohn nicht mehr erkennt. Das alte Professorchen war schon so… erschrocken, als er mich sah, und ich ihn nicht wieder erkannte. Wie muss das erst für Sie beide sein...“ Seine Stimme verlor sich. „Es muss ein Alptraum sein, und Sie fühlen sich sicher irgendwie… hilflos. Wahrscheinlich wissen Sie nicht, wie Sie damit umgehen sollen, aber…“ Ein sehr schiefes Grinsen huschte über seine Lippen, seine Blick verlor sich kurz auf der weiß getünchten Wand hinter ihnen, blieb an einem kleinen, schwarzen Strich hängen, den wohl ein Gummirad eines Krankenhausbettes knapp oberhalb des Bodens auf der Wand abgerieben hatte. „Ich kann Sie beruhigen, ich weiß es auch nicht. Ich kann das ja nachvollziehen… es ist wohl mindestens genauso erschreckend, keinen mehr zu kennen, nicht einmal mehr sich selbst, das… treibt einen in den Wahnsinn.“ Er lächelte bitter, warf ihnen einen kalkulierenden Blick zu. Fragte sich innerlich, woher er die Gleichgültigkeit nahm, denn eigentlich interessierte es ihn brennend, warum seine Eltern ihn so lang allein gelassen hatten, gerade jetzt… gerade jetzt, wo er sie wirklich brauchen konnte. Wo er jeden brauchen konnte, der ihn seinem alten Leben ein Stückchen näher bringen konnte. Eigentlich wollte er wirklich wissen, warum sie nicht sofort gekommen waren, als sie gehört hatten, wie es um ihn stand. Der Gedanke daran war seltsam, aber er fragte sich doch, was Eltern davon abhielt, ihren schwer verletzten Sohn zu besuchen. Ihren schwer verletzten, amnestischen Sohn. Aber er schwieg, hatte beschlossen zu warten, früher oder später würde er es herausfinden. Er konnte es ja nachvollziehen, schließlich war die Situation für ihn mindestens genauso schräg… was soweit ging, dass er nicht wusste, wie er sie anreden sollte, denn du und Papa, dazu konnte er sich nicht überwinden. Er kannte sie ja schließlich gar nicht. Bis er also wieder einigermaßen wusste, wer die beiden waren, und wer er eigentlich war, wollte er versuchen, seine Identität zu rekonstruieren, sein Leben nachzubauen, zu lernen über sich und alle anderen - und ein Streit und Anschuldigungen brachten ihn dabei kaum weiter. So ein gleichgültiges Verhalten, das er ihnen bis gerade eben noch unterstellt hatte, war angesichts der Tatsache, dass die beiden nun da standen wie das personifizierte schlechte Gewissen und die Sorge in ihren Gesichtern ihn fast ansprang, mehr als seltsam, und deshalb wohl der Grund dafür… kein einfach nachzuvollziehender. Sorgen gemacht hatten sie sich doch offensichtlich, er konnte es in ihren Augen lesen. Die letzte Woche war nicht nur für ihn die Hölle gewesen. Da steckte mehr dahinter, und bestimmt würde man ihm das heute nicht alles sagen, aus welchem Grund auch immer. Der naheliegendste war wohl, dass man ihn nicht überfordern wollte. Damit musste er sich abfinden, auch wenn es ihn nervte. Deshalb war er zu dem Schluss gekommen, dass es fürs erste wohl tatsächlich angebrachter wäre, die Lage zu sondieren, die Wogen zu glätten und irgendwie… irgendwie überhaupt mal auf die Beine zu kommen. Vielleicht sprach man dann mehr mit ihm, wenn man ihm glaubte, dass er die volle Wahrheit aushalten konnte. Er seufzte, versuchte dann, ein Lächeln auf seine Lippen zu zwingen. „Nun… das ist dann wohl der Status Quo. Ich schätze, wir fangen bei Null an und arbeiten uns hoch - wie oft hat man schon die Chance dazu, eine neue Seite anzufangen, unvorbelastet und neu.“ Yusaku schaute ihn ernst an, in seinen Ohren konnte er fast sein Blut rauschen hören, so schnell war sein Puls bei Shinichis letztem Satz in die Höhe geschossen. Er war beeindruckt von so viel Selbstbeherrschung, die sein Sohn an den Tag legte, und doch gleichzeitig stellte sich bei ihm das Schamgefühl wieder ein, das ihn schon befallen hatte, als er selbst an diese Option gedacht hatte. Einfach neu beginnen, eine neue Geschichte… ohne die Vergangenheit, ohne dieses Wissen, das klang verführerisch, so unglaublich verlockend… und es schien in diesem Moment so einfach, so nah, so greifbar. Es wäre so einfach… Aber auch wenn es jetzt noch so einladend klang, einfach von vorn zu beginnen - was sie nichtsdestotrotz wohl auch tun würden, für den Anfang zumindest, denn eine andere Wahl hatte er nicht, und damit keiner von ihnen; so blieb doch immer der Gedanke in seinem Hinterkopf, was passieren würde, wenn sich Shinichi eines Tages wieder an alles erinnerte. Und der Tag würde kommen. Musste kommen. Dieser Gedanke piekte wie ein Steinchen im Schuh, der bei jedem Schritt verrutschte, lange in einer Position steckte, wo man ihn nicht spürte… um einem schon beim nächsten Schritt seine spitze Kante in die Fußsohle zu bohren. Und damit war jeder Traum von einem Neuanfang von vorneherein zum Scheitern verurteilt, denn die Vergangenheit würde sie einholen, unvermeidlich, unerbittlich, und alles zunichtemachen, was je zwischen ihnen als Vater und Sohn gewesen war, und wieder sein würde, in den nächsten Tagen… vielleicht Wochen. Der Untergang war nicht aufzuhalten. Dann bemerkte Yusaku, wie sich seine Frau neben ihm bewegte, schaute sie fragend an. Ihr Blick war starr, all die Zeit, die sie jetzt hier waren, hatte sie sich nicht gerührt, fast hatte es den Anschein gehabt, als habe sie neben ihm das Atmen aufgehört, als sie ihren Sohn erblickt hatte. Nun kehrte das Leben zurück in sie, ihr Blick immer noch unverwandt auf Shinichi geheftet, aber nun lag in ihm etwas Drängendes. Der Schock war offensichtlich gewichen. Yukiko… „Shinichi…“ Leise kroch sein Name über Yukikos Lippen, als sie schließlich die Courage fand, zu sprechen. Shinichi wandte ihr seinen Kopf zu, er hörte ihre Stimme, eine Stimme, die ihm genauso unbekannt war wie ihr bildhübsches Gesicht, stutzte, als ihr Blick sich traf. Was genau sie tun sollte, wusste sie nicht; sie überlegte nicht mehr, sie handelte. Yukiko schaute ihn an, dann kam sie näher, nicht eilig, aber bestimmt, ließ sich auf die Bettkante sinken und nahm ihn in die Arme, atmete langsam aus, presste ihre Augen zusammen und versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken, als langsam die Angst von ihr abfiel. Ihr Sohn war hier, er lebte, er war wieder er selbst. Sie merkte, wie eine Welle ungeheurer Erleichterung über sie hinwegrollte, als sie seinen Pyama unter ihren Fingern spürte, drückte ihn an sich. Das Schlimmste war vorbei. Alles was jetzt noch nicht in Ordnung war, würde sich auch wieder einrenken, Hauptsache, er war wieder da… und lebte. Er erstarrte unwillkürlich, ein leichtes Gefühl von Unwohlsein keimte in ihm auf, gepaart mit etwas, das er nicht näher identifizieren konnte. Überraschung, Erschrecken machte sich auf seinem Gesicht breit. Er roch ihr Parfum, irgendetwas mit Sandelholz – warum wusste er, dass das Sandelholz war, verdammt? – spürte ihre Haare an seinem Gesicht, seinen Hals, sie kitzelten seine Haut. Yukiko fühlte seine Reaktion, ließ ihn aber nicht los, wartete ab, ruhig. Ließ vielleicht ein bisschen lockerer, atmete einmal tief durch, um wieder Herrin über ihre Gefühle zu werden, aber hielt ihn immer noch fest. Dann fang an, Shinichi… fangen wir an, uns kennen zu lernen. Ich bin deine Mum. Er wusste nicht, wie lang es dauerte, wusste nicht, wie lang sie so saßen, als er merkte, dass sich irgendetwas verschob, in ihm; ein kleines Stückchen des großen Trümmerhaufens in seinem Kopf langsam an seinen Platz zu gleiten schien, wenn auch widerstrebend; ein winzig kleines Teilchen fand zurück an seinen Ort in diesem Puzzle, in dem kein Teil mehr zum anderen zu passen schien. Es war zu früh, um zu sagen, dass er ihr vollends vertraute und glaubte, aber irgendetwas war nun anders. Ein Gefühl von Vertrautheit begann sich breitzumachen und er wusste nicht, woher es kam. Er kannte diese Frau nicht, es war ihm, als hätte er sie nie zuvor gesehen, aber die Art, wie sie seinen Namen ausgesprochen hatte, die ruhige Selbstverständlichkeit, die sie ausstrahlte, konnten nicht von ungefähr kommen. Die Art, wie sie mit ihm umging, als hätte sie ihr Leben lang nicht anders gehandelt, als würde sie ihn kennen. Das kann kein Zufall sein. Sie musste seine Mutter sein, anders konnte er sich dieses seltsame Gefühl von Verbundenheit nicht erklären. Auch wenn er sich an nichts erinnerte, auch wenn nichts wirklich greifbar war, er spürte doch langsam, dass es etwas gab, das sie verband. Er beruhigte sich langsam, entspannte sich ein wenig, atmete leise seufzend auf - dann schob er sie doch ein wenig weg von sich, wollte etwas sagen, aber sie schüttelte den Kopf. Ihm war etwas heiß geworden, Verwirrung machte sich in ihm breit. Yukiko lächelte ihn sanft an. „Ich weiß schon. Du konntest das nie leiden.“ Shinichi schaute auf, in sein Gesicht trat ein fragender Ausdruck. „Was?“ „Wenn ich dich in den Arm nehme, mein Lieber… du kannst das schon lang nicht mehr wirklich ausstehen, was verständlich ist - du bist ja schließlich schon erwachsen.“ Sie tippte ihm spielerisch auf die Nase, seufzte. „Da will man nicht mehr von seiner Mummy in den Arm genommen werden. Nicht, dass ich mich davon abhalten lasse, es trotzdem zu tun. Du bist… mein Sohn. Das wirst du immer bleiben.“ Ein schelmisches Lächeln umspielte ihre Lippen, das allerdings schnell leichtem Bedauern Platz machte. „Du wirst jedes Mal rot… schon seit du ein Teenager bist. Was eigentlich selbstverständlich ist, ganz normal.“ Sie berührte kurz seine Wange. Er schluckte. „In der Regel ärgere ich damit gern, weißt du, wenn auch diesmal… das nicht der Fall ist. Und du motzt mich dann jedes Mal an. Aber gerade in dieser Situation muss es dir fast noch peinlicher sein, als es das ohnehin immer ist. Es tut mir leid, ich hätte wohl... vielleicht ein wenig umsichtiger sein müssen, aber du musst verstehen, ich…“ Ein entschuldigender Ausdruck schlich auf ihre Züge. Shinichi schüttelte den Kopf. „Ist schon… ist schon gut. Wie soll ich mich denn an etwas erinnern, wenn Sie nicht die sind, die Sie immer waren? Lassen Sie sich… mal nicht von alten Gewohnheiten abhalten. Seien Sie… einfach ganz Sie selbst, das hilft mir am Meisten. Auch wenns peinlich werden sollte.“ Er schaffte es, tatsächlich zu grinsen. Yukiko erwiderte es, wobei ihr die Anrede ihres Sohns nicht entgangen war. Shinichi sprach sie immer noch mit „Sie“ an. Yusaku war diese Tatsache ebenfalls nicht entgangen. Er seufzte auf, ließ sich gegen die Tür sinken, spürte das kalte Plastik in seinem Rücken. „Bitte… lass das „Sie“ gut sein, Shinichi. Auch wenn wir in deinen Augen kaum mehr als Fremde sind… du solltest uns nicht siezen.“ Seine Stimme klang ruhiger, als er sich fühlte, und er war stolz auf sich; er hatte sich fabelhaft unter Kontrolle, wie es schien. Wenigstens sich hatte er noch unter Kontrolle, wenn ihm schon alles andere entglitt. Shinichi wandte den Kopf zur Tür, sein Blick traf den seines Vaters. „Ich weiß nicht, was seltsamer ist, euch zu siezen, oder zu duzen, aber gut, ich versuchs.“ Er schluckte, versuchte es zumindest, denn sein Hals schien auf einmal wie ausgedörrt, was an der Frage liegen konnte, die er nun zu stellen hatte, kroch ihm nur widerwillig über die Lippen, weil ihm bewusst war, wie verletzend sie war. „Aber wie soll ich dann zu euch sagen…? Ich meine, ich hoffe, ihr versteht das, ich will euch nicht beleidigen, aber… ich glaub euch ja, dass ihr seid, wer ihr behauptet zu sein, aber es ist einfach… seltsam. Ich kenne euch doch nicht.“ Auch wenn ich gern glauben möchte, dass ich es tue… Yukiko schluckte schwer, ihre Miene scheinbar unbewegt, obwohl es in ihr wühlte. Es war klar gewesen, dass er nicht gleich zu Mutter und Vater zurückkehren würde, und dennoch traf es sie hart. Mit ihm auch noch abzusprechen, wie er sie anreden konnte, war für sie nicht leicht zu ertragen. „Ich weiß nicht, Shinichi…“ Sie lächelte hilflos. „Vielleicht versuchen wir, die Namen mal außen vorzulassen und du duzt uns einfach…“ Yusaku und Shinichi schauten sie an. „Okay. Probieren wir das mal.“ Der junge Patient nickte gedankenverloren, seine Augen nicht von seinem Vater abwendend; merkte, wie Anspannung und Nervosität erneut in ihm aufkeimten, und mit ihnen ein weiteres Gefühl, das noch nicht richtig zu Tage treten wollte… es dümpelte unter der Oberfläche, gerade genug, um nicht greifbar zu sein, aber doch spürbar, sichtbar - und das machte ihn stutzig. Shinichi schluckte, schalt sich im nächsten Moment in Gedanken einen Dummkopf. Das hier waren seine Eltern. Wenn er ihnen nicht vertrauen konnte, wem, um alles in der Welt denn dann? Er atmete durch, versuchte, diese Gedanken über unidentifizierbare Gefühle zu verdrängen, sie abzuschütteln und schob es auf seine überreizten Nerven, dass ihm sein Gespür einen Streich spielte. Die Situation war schließlich auch angespannt genug, da konnte sowas schon passieren. Ich sollte mich wirklich beruhigen… „Na schön, also… wie ihr vielleicht… mittlerweile mitbekommen habt, kann ich mich leider nicht an euch erinnern. Wenn ihr mir also vielleicht etwas über…“ „Sicher. Frag nur.“ Yusaku war langsam näher getreten, hatte sich auf den Stuhl gesetzt, der neben seinem Bett stand. Shinichi starrte ihn an, perplex ob der Unterbrechung, rieb sich dann den Nacken, unwillkürlich, als er merkte, wie sich kurz seine Nackenhärchen aufgestellt hatten. Dann nickte er kurz, ehe er seinen Kopf zu seiner Mutter wandte. Yukiko versuchte ein aufmunterndes Lächeln, aber er sah, wie sehr sie sich zwang. Wie sehr sie wirklich litt, dass er sie nicht erkannte, wie bitter das wirklich für ihn war. „Also, wenn ihr vielleicht etwas über uns erzählen könntet, wäre mir wohl schon sehr geholfen…“ Yusaku zog sie die Brille von der Nase; fahrig wischte er sich übers Gesicht, durch die Haare, setzte sich dann die Brille wieder auf und schaute ihn weiterhin wortlos an. „Du erinnerst dich also wirklich an gar nichts mehr? Ich meine…“, murmelte Yukiko fragend. Shinichi schüttelte erneut den Kopf, stumm. Jodie saß im Auto und lenkte es durch den Verkehr. Neben ihr hatte Shuichi Akai Platz genommen, im Fond saß Ran, schaute aus ausdruckslosen Augen aus dem Fenster, ihren Kopf gegen die Scheibe gelehnt. An ihren Augen zog die Welt vorbei, in schnellen Schlieren aus Farben und Lichtern. Langsam schloss sie die Augen, atmete aus. Die Anspannung hatte sie umfangen wie enge Ketten, sie nicht mehr losgelassen, seit sie aus dem Flieger gestiegen waren. „You are… pretty early.“, murmelte Jodie schließlich, ohne die Augen vom Verkehr abzuwenden. „Wir rechneten erst in zwei, drei Stunden mit euch.“ „Wir konnten die Karten tauschen mit eine jungen Pärchen. Sie…“ Akai warf einen ernsten Blick über den Rückspiegel nach hinten zu Ran, die von ihrem Gespräch vorne nichts wahrzunehmen schien. „Hielt es fast nicht mehr aus… sie hatten Mitleid mit uns, als sie erfuhren… was los ist.“ Er seufzte, zog an seiner Zigarette, die er sich kurz nach dem Einsteigen angezündet hatte. „Und wie sieht’s aus?“ Jodie biss sich auf die Lippen. Sie musste ihm jetzt irgendwie erklären, ohne dass Ran es erfuhr, dass Shinichi gerade in Lebensgefahr schwebte, weil dieses ganze verdammte Klinikum schwarz war vor Mitgliedern der Organisation, dass das ganze Krankenhaus wohl von ihnen wimmelte, sie durch alle Gänge und Flure schlichen und darauf warteten, ihn zu töten… und sie ihn deswegen jetzt noch nicht sehen durfte. Nicht einmal in die Nähe des Krankenhauses gelangen sollte. „Unverändert.“ Sie hüstelte, griff sich an den Hals. „Ich fahr dich am besten erst mal nach Hause Ran, du wirst erschöpft sein von der Reise, von… den letzten Tagen überhaupt… I guess…“ Shuichi warf ihr einen überraschten, leicht fragenden Blick zu, was bei ihm einer einzelnen hochgezogenen Augenbraue bei ansonsten unbewegter Mimik entsprach; Jodie wandte ihm ihr Gesicht kurz zu, formte mit ihren Lippen einen lautlosen Satz. They’re back in the game. Shuichi nickte, er hatte sofort verstanden, was sie ihm sagen wollte… und damit auch, warum sie Ran zuhause abliefern wollte. Die entrüstete sich allerdings, durch diesen einen Satz scheinbar aus ihrer Trance schlagartig erweckt, bereits auf der Rückbank, machte ihrem Protest lautstark Luft. „Mir geht’s gut, ehrlich! Ich will zu ihm ins Krankenhaus! Sie sagten doch-“ „Oh, sure, of course. But I think, a few hour’s rest…” „Nein!” Ran lehnte sich nach vorn, umgriff Jodies Kopfstütze, in ihrem Gesicht stand Sorge, Ungeduld und ein wenig Wut. „Ich will ins Krankenhaus.“, flüsterte sie. Ihre Stimme klang scharf und entschlossen, und weder Jodie noch Shuichi zweifelten daran, dass sie genau das war. Entschlossen. „Jetzt.“, fügte Ran an. Jodie biss sich auf die Lippen. „I think, this is not a good idea. Du solltest dich wirklich zuerst etwas ausruhen. Das wird dir viel abverlangen, Ran, ich denke wirklich…“, versuchte sie zaghaft, wusste doch, dass es keinen Sinn machte, was sie sagte. Davon würde Ran sich nicht abhalten lassen, Shinichi zu sehen. Genauso wie er sich nie davon würde abhalten lassen, Ran bei was auch immer beizustehen. „Ich weiß selber, was gut für mich ist. Ich denke, es ist gut für mich, jetzt endlich zu ihm zu kommen, nachdem sie mich über eine Woche im Unklaren gelassen haben. Und ich denke, mir geht es noch lang nicht so schlecht wie Shinichi. Ich will ins Krankenhaus, das ist mein letztes Wort. Sie können mich nicht zwingen, etwas anderes zu tun. Und überhaupt…“, ihre Stimme wurde leise, „Sie haben es mir doch versprochen. Sie haben gesagt, dass jetzt alles gut wird, dass es vorbei ist.“ Ihr Blick traf den Akais, dann ließ sie sich zurück gegen die Sitzbank sinken. Akai zog an seiner Zigarette, stieß aufreizend langsam den Rauch aus, lächelte verhalten. Jodie warf ihm einen bösen Blick zu, rang weiter nach Worten. Dann kam ihr eine Idee… sie war gemein, das wusste sie, aber wohl die einzige Lösung. Das einzige Mittel, um Rans Aufmerksamkeit abzulenken, war er… war Conan. Ran wusste ja noch nichts… und es wurde Zeit, das zu ändern. Allerdings würde diese Aufgabe nicht ihr zuteilwerden, und einen letzten Dienst würde Conan ihr noch erweisen müssen, ehe er endgültig zu Shinichi werden durfte. „Darling, you should go home. Ich denke, Conan braucht deine Aufmerksamkeit genauso dringend.” Akai fing an zu husten, als er einen Zug Rauch verschluckte, warf ihr jedoch einen bewundernden Blick zu. Ran hob den Kopf, auf ihrem hübschen Gesicht ein fragender Ausdruck. „Conan? Was ist mit Conan? Geht es ihm nicht gut?!“ Verwirrung und Sorge schwangen in ihrer Stimme, sehr zur Beruhigung Jodies. Ihr Plan ging auf. „Ja, so könnte man es ausdrücken. Also was hältst du davon… ich fahr dich zu deinem Vater, du siehst nach Conan… und sagen wir, so gegen Abend hole ich dich dann ab und bring dich ins Krankenhaus…? Is that a deal?“ Ran drehte sich zu den beiden Agenten, sichtlich hin- und hergerissen zwischen der Entscheidung für Shinichi oder Conan. Sie biss sich auf die Lippen, in ihrem Kopf kreisten die Gedanken darüber, wem sie Priorität geben sollte. „Shinichi…“ „Geht es… gut soweit. As far as I know, the professor’s with him, and probably his parents. Er ist in besten Händen. Und er erwartet dich ohnehin erst später, ihr seid ja doch früher gekommen als erwartet.“ Jodie lächelte ermutigend, wusste, worauf Ran hinauswollte. Sie wollte eine Entscheidungshilfe, denn wenn eins klargeworden war, dann war es die Tatsache, dass sie ihr beide unglaublich wichtig waren, sowohl Shinichi, als auch Conan. Bald schon würde sie diesen Spagat nicht mehr machen müssen. Jodie unterdrückte ein bedrücktes Seufzen, meißelte stattdessen das Lächeln fester auf ihre Lippen. „Conan braucht dich dringender. Glaub mir… Shinichi wird das verstehen. He’s cared about.“ Drive to hell, Jodie. Betraying a loving girl like that is disgusting… but it is too dangerous for her, near him, just now... Ein wenig drehte sie ihren Kopf, erhaschte Shuichis Profil in ihren Augenwinkeln. Seine Augen waren halb geschlossen, er zog an seiner Zigarette – und nickte. Du tust das Richtige. Es ist viel zu gefährlich für sie da… wenn es stimmt, was du sagst, und sie wieder im Spiel sind. Ran hingegen schaute aus dem Fenster, ihre Stirn gegen das Glas gelehnt, in ihrem Kopf kreisten immer noch die Gedanken, fielen übereinander, überschlugen sich. Sie wünschte, sie könnte sich zweiteilen, und wusste doch, das konnte sie nicht. Ran wollte unbedingt zu Shinichi, jetzt gleich, aber wenn Conan sie auch brauchte? Um Shinichi kümmerte man sich… er war außer Lebensgefahr… Was mit Conan los war, wusste sie gar nicht… Sie seufzte, auf der Glasscheibe bildete sich ein weißer Fleck, als sie beschlug. Shinichi? Conan…? „Ich meine… ein… ein bisschen, wenigstens…“ Yukiko starrte ihn bittend an. Er merkte, dass langsam ihre Fassade zu bröckeln anfing, der Schein, für ihn stark zu sein, in dem Maße, wie ihre Stimme begann, brüchig zu werden. „Irgendetwas muss doch da sein…?“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Nein, wie ich sagte… es tut mir Leid, aber momentan ist da Nichts - oder zumindest nicht… viel.“ Die Röte war ihm wieder etwas ins Gesicht geschossen, als er an gerade eben dachte, an dieses seltsame Gefühl. Ein schüchternes Lächeln schlich sich auf seine Lippen, verschwand allerdings so schnell wieder, wie es gekommen war. Yukiko entging das nicht; sie merkte, wie sich ihre Mundwinkel langsam nach unten zogen, es war ihr, als könne sie seine Zerrissenheit fast am eigenen Leib fühlen. Sie ahnte, was in ihm vorging. Glaubte zu wissen, was er fühlte, wie dünn die Bindung war, die momentan zwischen ihnen bestand, so dünn, dass er noch nicht daran glauben mochte. Es würde dauern, bis es wieder so werden würde... wie es einmal gewesen war. Wenn es jemals wieder so weit kommen würde, hieß das. Wenn er sich wieder erinnerte. Dann riss seine Stimme sie aus ihren Gedanken. Sie beobachtete ihn, als er sprach, merkte, dass Yusaku es ihr gleichtat. Wie es ihm ging, konnte sie nur vermuten, aber sie schätzte, es ging ihm wohl ähnlich wie ihr. Ihr Sohn war wieder da, und gleichzeitig wohl weiter von ihnen entfernt, als er es jemals gewesen war. Die Distanz zwischen Amerika und Japan war angesichts dieser Situation nicht der Rede wert. Das hier überstieg alle diese räumlichen Dimensionen um ein Vielfaches. „Es ist zumindest noch nichts Greifbares. Eine… Ahnung, vielleicht, aber ihr wisst doch sicher, wie vage sich solche Ahnungen manchmal anfühlen können.“ Shinichi strich sich über die Augen, und zum ersten Mal sah man ihm nun seine Müdigkeit deutlich an. „Außerdem... ihr solltet euch das eigentlich nicht so zu Herzen nehmen, das ist sicher nichts Persönliches, ich kann mich ja nicht mal an mich erinnern, insofern…“ Er versuchte, locker zu klingen, sie zu beruhigen. Yukiko schluckte, biss sich auf die Lippen. „Sicher.“ Er nickte, warf ihr dann einen aufmunternden Blick zu; zumindest wollte er das. „Und wenn es dich… beruhigt, ich hab nicht vor, den Rest meines Lebens so zu verbringen.“ Gedankenverloren begann er sich die Schläfe zu massieren. Sie seufzte, drückte seine Finger, kurz. Er schaute auf, ihre Blicke trafen sich. „Was ist denn das Letzte, woran du dich erinnern kannst?“ Shinichi seufzte, fuhr sich durch die Haare. „Leider nicht sehr viel. Meine Erinnerung setzt erst ab dem Zeitpunkt ein, als mich dieser ältere Herr fand… der Professor. Ich weiß nicht, was davor war. Wie es dazu kam. Wer mir das angetan hat…“ Unwillkürlich presste er sich einen Handballen auf die Stirn. „Und das macht mich wahnsinnig! Ehrlich…“ Die Frustration in der Stimme seines Sohns löste bei Yusaku einen leichten Schauer aus, der ihm fast aufreizend langsam über den Rücken rann, dabei jedes Härchen, das ihm im Weg stand, aufstellte. Er war die ganze Zeit schon unter Strom, hatte keine ruhige Minute mehr, und nun, wo er sah, wie schlimm es wirklich stand, um Shinichi- Wie wehrlos, wie unsicher er war… Was er getan hatte… Die Szene im Büro stand ihm lebhaft vor Augen, als sie sich angeschrien hatte... und immer wieder sah er ihn durch das Haupttor in den Wald hetzen, wohl wissend, dass er um sein Leben lief. Überlebt hatte er, sein Leben hatte er mitnehmen können, aus dieser Hölle... etwas anderes hatte er scheinbar zurückgelassen. Seine Erinnerungen waren auf der Strecke geblieben, irgendwo auf seiner Flucht. Yusaku wusste nur zu gut, wie das alles hatte kommen können... der Schock, zu erfahren, dass sein eigener Vater der Boss einer Verbrecherorganisation war, die Angst um das eigene Leben, die Verletzungen, der Sturz, die Tage und Ereignisse, die in dieser Nacht gemündet hatten... Eigentlich war eine Amnesie nur die logische Konsequenz aus alledem. Die Gedanken daran ließen ihn fast den Verstand verlieren, aber er hielt sich zurück, riss sich zusammen. Er wollte ja sein Vertrauen zurückgewinnen, und das würde nicht einfach werden, und ein sichtbar angegriffenes Nervenkostüm, verbale Ausrutscher, eigene Unsicherheit würden dazu nicht eben beitragen. Er hatte ihn am Leben wieder; er musste ihn jetzt beschützen, und dafür war es wichtig, dass er ihm vertraute. Und dafür musste er stark sein, väterlich, vertrauenswürdig. „Das ist wirklich nicht sehr viel...“ „Nein, ist es nicht, ich weiß.“ Shinichi neigte seinen Kopf leicht schräg, schaute ihn lange an. „Deprimierend wenig, wenn wir ehrlich sind.“ Der Zynismus in seiner Stimme war unüberhörbar. Der Schriftsteller ballte seine Fäuste, entspannte sie wieder, ballte sie erneut. Shinichi entging diese Geste nicht. „Ich kann verstehen, wenn das hier unangenehm ist für… euch.“, meinte er langsam, seine Stimme klang fast entschuldigend. Yusaku strich sich über den Bart, schüttelte den Kopf, schob seine Hand, als er sie nicht weiter zu beschäftigen wusste, in seine Hosentasche. „Das ist es nicht. Es ist… seltsam. Ich kann nicht leugnen, dass es schwer zu ertragen ist, zu wissen zu wissen, was mit dir passiert ist, und das wir es zugelassen haben.“ Er lächelte humorlos, merkte, dass seine Hände eiskalt geworden waren. „Der Gedanke, dass wir praktisch Fremde für dich sind, dass du uns neu kennen lernen musst, dass du uns neu vertrauen musst… das ist…“ Der Schriftsteller brach ab. Yukiko beobachte ihn; ein Gefühl hatte sie beschlichen, das Gefühl, das das, worüber ihr Mann hier zwischen den Zeilen sprach, mit seinen Ausflüchten der letzten Tage zu tun hatte; aber noch konnte sie nicht herausfinden, worin die Verbindung lag. „Ich hab das Gefühl, ich hätte einen furchtbaren… Fehler gemacht und dich in letzter Zeit im Stich gelassen. Zu wissen, was dir alles zugestoßen ist, ist Folter. Und ich hab das Gefühl, es ist meine Schuld, dass es soweit überhaupt kommen konnte…“ Jedes einzelne Wort kam so unglaublich schwerfällig über seine Lippen, und er ahnte, dass er mehr sagte, als gut für ihn war. Das hinderte ihn allerdings offenbar nicht daran, es trotzdem zu sagen; das schlechte Gewissen, das Schuldgefühl waren einfach zu übermächtig. Ja… das ist es. Ich hab dich im Stich gelassen… Shinichi schaute ihn abwartend an, spürte, dass da mehr war, dass hinter diesen Worten mehr steckte, als nur die Entschuldigung oder die Sorge eines Vaters. Er studierte genau die Mimik seines Gegenübers, aber tat sich schwer, den Grund für dieses Geständnis zu finden. Sicher aber war… das Schuldgefühl, das er auch offen zugab, plagte ihn tatsächlich. Es war echt. „Warum?“ Das Wort kam schneller über seine Lippen, als er gedacht hatte. Yusaku schaute ihn überrascht an, und fand ihn. Den Ausdruck in Shinichis Augen, wenn er etwas auf der Spur war. Oder jemandem. "Warum denkst du das?" Aber so leicht wird das diesmal nicht werden, mein lieber Sohn. Sag mir, was soll ich dir sagen… Verdammt, soll ich dir sagen, dass ich tatsächlich schuld bin, dass du nun… nicht mehr weißt, was passiert ist? Dass du nichts mehr über dein Leben weißt, über dich? Soll ich dir sagen, dass du wegen mir vorgestern Nacht fast gestorben wärst… dass du wegen mir letzte Woche durch die Hölle gegangen bist…? Dass ich dir das eingebrockt habe? Willst du das…? Hilft es dir? Langsam seufzte er, schaute ihn an. Nein, das nicht. Nicht vor Yukiko, zumindest… Allerdings wusste er nicht, wie lange er Shinichi die Geschichte verschweigen können würde… wenn er nicht bald von selbst sein Gedächtnis wieder fand. Irgendwie musste er dafür sorgen, dass Shinichi seine Erinnerungen wiederbekam. Und zwar schleunigst. Das hier war kein Zustand, in dem er sein sollte, das hatte er endgültig begriffen. Shinichi entging das kurze Aufflackern von Schrecken und Unsicherheit auf dem Gesicht seines Vaters nicht. Verwirrung machte sich kurz in ihm breit, als er sich fragte, wie er das nun zu deuten hatte. Klar, er war selbst auch ein Stück weit betroffen, über das, was sein Sohn erlebt hatte. Der Gedanke war naheliegend, schließlich war er ja sein Vater. Aber reichte das aus, um sich derart Vorwürfe zu machen? Oder wegen einer so simplen Frage zu erschrecken? Er unterdrückte ein Aufseufzen, blickte seinem Vater stattdessen forschend ins Gesicht. Irgendwie hatte er nicht das Gefühl, dass ihm diese Frage heute beantwortet werden würde. Was es auch war, er würde sich gedulden müssen, um den Grund zu erfahren, warum sein Vater sich so schuldig fühlte. Shinichi hatte keine Ahnung, wie sehr er wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Stattdessen zog er nur die Augenbrauen hoch, als er sprach, klang seine Stimme zwar etwas unwirsch, aber er versuchte, nicht unfreundlich zu klingen. „Ich hab mittlerweile einiges gehört und hab trotzdem noch leidlich alle Tassen im Schrank, ich ertrage es, wenn man mir unangenehme Wahrheiten erzählt. Aber wenn ihr wollt, beschränken wir uns gern auf den Teil… den… privaten Familienteil… oder so. Aber bitte redet doch jetzt endlich mal mit mir, wenn ihr mir helfen wollt…! Und entschuldigt euch nicht ständig... das hilft mir leider nicht viel weiter.“ Er kratzte sich am Hinterkopf. „Ich meine, darüber weiß ich wohl noch weniger als über die Geschehnisse der letzten Woche, und darüber wird mir auch keiner so gut berichten können wie ihr, also… reden wir vielleicht einfach über… uns?“ Yukiko lächelte tapfer. „Natürlich.“ Yusaku nickte langsam, holte tief Luft, atmete durch, straffte die Schultern. „Nun, die Eckdaten wirst du ja kennen, mittlerweile, von Hiroshi… ich bin Schriftsteller, deine Mutter war Schauspielerin. Wir haben zusammen bis zu deinem dreizehnten Lebensjahr in unseren Haus in Beika gewohnt… dann wollten wir beide, Yukiko und ich unbedingt in die Staaten. Du hast dich geweigert, und wir… verstanden, dass du hier besser aufgehoben bist, wir wollten dich nicht zu etwas zwingen, das du nicht wolltest. Du wolltest bei deinen Freunden bleiben, die Schule hier machen, wir dachten… du packst das, du warst schon immer so selbstständig, du brauchtest keine Hilfe. Und außerdem war Hiroshi ja da…“ Yusaku schluckte, warf seiner Frau einen kurzen Blick zu. „Kurz gefasst, wir haben dich allein gelassen. So gesehen… waren wir wohl nicht die mustergültigsten Eltern. Du warst einfach unglaublich selbstständig, du passtest auf dich auf, du brauchtest uns nicht, und wir… wir ergriffen die Chance. Wir waren beide noch so jung, als du auf die Welt kamst, ich schätze, ich wollte die Welt sehen, meine Chancen im Ausland ergreifen. Wir waren schon immer reiselustig, eigentlich... dachten wir auch, du kämst mit. Aber du wolltest nicht. Deine Argumentation war sicher schlüssig, du wolltest die Schule nicht wechseln, du hattest Freunde hier, das war dein Zuhause.“ Er seufzte, strich sich über die Stirn, die er in tiefe Falten gelegt hatte. „Ich kann mir heute nicht erklären, warum mir das so wichtig war, die Reise in die Staaten, das Leben in Los Angeles. Wichtiger als du.“ Shinichi sagte nichts, schaute ihm abwartend ins Gesicht, kam aber nicht umhin, Erstaunen darüber zu empfinden, was für eine Antwort eine in seinen Ohren harmlose Bitte zu Tage brachte. Er hatte nur um Information gebeten, und nun standen hier vor ihm zwei praktisch Fremde und leisteten Abbitte. Andererseits hätte er es mittlerweile wohl vorhersehen können. „Natürlich haben wir uns ab und an blicken lassen bei dir, und wir pflegen auch ein gutes Verhältnis, denke ich. Keine großen Dramen, keine nennenswerten Streitereien. Und eigentlich solltest du auch wissen, dass du mit jedem Mist, den du baust, zu uns kommen kannst. Aber…“ Das Gespräch bewegte sich rasant in eine andere Richtung als geplant. Yusaku geriet ins Schwitzen, bei dem Gedanken, in welches Fährwasser sie gleich kommen würden; welche Schlüsse würde sein amnestischer Sohn daraus ziehen, dass sie ihn allein gelassen hatten? Nach den letzten Tagen…? Yukiko bewegte sich ein wenig, strich sich eine Locke hinter ihr Ohr. „... das hast du nicht. Du kamst nicht zu uns." Sie schluckte schwer. "Wir erfuhren über alles, was du aushecktest, in jede Schwierigkeit, in die du während der letzten Jahre gerietest, als letzte, oft, als die Gefahr schon vorbei war. Du hast es uns nicht gesagt. Das… das sagt eigentlich alles, nicht? Ich dachte, wir wären Eltern, die sich kümmern. Ich dachte, du würdest zu uns kommen, wenn du Schwierigkeiten hättest… aber genau das… genau das hast du nicht getan. Wir… wissen nicht warum. Eigentlich... muss ich gestehen, seit den letzten Ereignissen stelle ich mir diese Frage immer wieder, aber ich finde die Antwort darauf nicht.“ Ihre Unterlippe bebte, aber sie riss sich zusammen. Shinichi merkte, wie sich in seinem Nacken die Haare aufstellten. „Nun, ich momentan auch nicht… leider.“ Das war allerdings seltsam, da stimmte er mit ihr überein. Was für eine Beziehung verband sie drei, wenn sie ihn einfach zurückließen, und er ihnen so wichtige Sachen offenbar nicht sagte? Es hatte den Anschein, als hätte er schon öfter mit gefährlichen Situationen zu kämpfen gehabt, warum... hatte er das seinen Eltern nicht gesagt? Egal ob nun Conan existierte, oder nicht. Die Organisation war real, soviel stand fest, und offensichtlich hatte er seinen Eltern alles darüber verschwiegen, bis es nicht mehr ging. Warum? „Ich denke, wir waren keine große Hilfe als Eltern. Denn auch diesmal… erfuhren wir wieder als letzte, was eigentlich passiert war. Dass du weg warst… dass man dich entführt hatte. Die Sache mit… Armagnac.“ Ihre Stimme klang nüchtern. Sie drehte den Kopf, schaute ihn entschuldigend an, in ihren Augen lag leises Flehen. „Ich… Shinichi, ich… es…“ Shinichi schüttelte den Kopf, stumm, und seine Mutter brach ab. „Was geschah dann?“, fragte er nur kurz, mit leiser Stimme, kam nicht umhin, sich immer mehr zu wundern, was er für ein schräges Verhältnis zu seinen Eltern gehabt haben musste. Das leise Räuspern seines Vaters brachte ihn zurück in die Gegenwart, riss ihn aus seinen Gedanken. „Du warst in Gefangenschaft, das hat man dir vielleicht gesagt. Wir saßen zu Hause und haben… gehofft, dass man dich findet, mehr konnten wir nicht tun, und selbst das… Shinichi… versuch, dich doch mal zu erinnern… was ist passiert, letzte Woche? Was ist auf der Flucht…“ Er wusste, er wagte sich weit vor. Er wusste, er konnte sein Leben ruinieren, jetzt gleich, vor Yukiko und in diesem Zimmer, wenn Shinichi sich erinnerte… und zu reden anfing. Aber alles war besser als das. Alles war besser als einen Sohn zu haben, der nichts mehr über sich wusste. Der für sich selbst nicht existierte. Dessen Leben verschwunden war und ihn allein zurückgelassen hatte. Shinichi zog die Augenbrauen etwas zusammen. „Was meinen Sie eigentlich, was ich die ganze Zeit tue…? Ich denke an nichts anderes mehr…“ Yusaku schaute ihn an, erkannte die Erschöpfung, die wachsendende Frustration in seinen Augen. Langsam schüttelte er den Kopf. „Ich weiß doch.“, er seufzte. „Und bitte...“, fügte er an, „Sag nicht Sie zu mir.“ Shinichi presste die Lippen aufeinander, schaute seinem Vater ins Gesicht. „Ich versuch es, seit ich weiß, was los war, mehr denn je, aber - ich kann mich an nichts erinnern… zumindest jetzt nicht.“ „Du musst verstehen, ich halte es einfach für enorm wichtig, dass du dich schnell erinnerst… weißt du?“ Der Schriftsteller schluckte, strich sich über die Stirn. „Weiß ich doch auch… diese Ai war ziemlich deutlich, als sie die Organisation beschrieben hat. Und der Professor hat seinen Bericht über diese Woche auch nicht wirklich geschönt.“ „Dann weißt du, dass es wichtig ist.“ Der junge Detektiv nickte langsam. „Sicher. Aber ich kann nicht, jetzt. Ich würde doch auch gern wissen, was war -… Ich habs versucht, ich meine, ich stelle Fragen, ich versuche, zu rekonstruieren was gewesen ist, so ist es ja nicht… Ich liege stundenlang wach und denke nach, aber da ist nichts- es ist… einfach nichts mehr da. Ich weiß doch, dass ich ein Leben hatte, ich kann doch sehen, was passiert ist, aber ich kann mich einfach nicht daran erinnern…“ Shinichi hielt inne, wandte den Blick ruckartig ab, biss sich auf die Lippen. Er versuchte sich also zu sammeln, holte erst einmal Luft, atmete tief durch, bevor er fortfuhr. „Ich kann es nicht verstehen, ich weiß doch, dass ich einen Namen, eine Identität hatte, ich weiß doch, dass ich wer gewesen bin… aber in meinem Kopf ist nichts! Nicht ein Bild, nicht ein Wort, nicht ein… Gefühl. Da ist… nichts. Ich komm nicht ran.“ Immer mehr Verzweiflung stieg in ihm hoch, man sah es ihm an. Er seufzte, massierte sich die Schläfen, als ein leichtes Pochen in seinem Kopf eingesetzt hatte. „Oder will ich mich nicht erinnern? Vielleicht will ich auch gar nicht, vielleicht hält mich mein Unterbewusstsein davon ab, sabotiert mich, ich weiß es nicht … Vielleicht wars einfach zu viel, diesmal, ich meine, wenn ich mir mich so ansehe, wenn ich so darüber nachdenke, was man mir gesagt hat, über meinen Aufenthalt in dieser Organisation, und mein Leben davor, als… als…“ Er stöhnte auf, hielt sich den Kopf, presste seine Handballen gegen seine Schläfen, kniff die Augen zu. „Sehr erinnernswert scheint mir das nicht, ich, meine…“ Ein bitteres Lächeln hatte auf seinen Lippen Platz genommen, als er seinen Blick auf seine Hände heftete, die auf seiner Bettdecke lagen. „Natürlich weiß ich, dass das keine Lösung ist, es wär eher unglaublich dumm. Ich kann ja nicht weglaufen, ich sollte mich wirklich erinnern, bevor meine Erinnerungen mich einholen, und vollenden, was sie beim ersten, zweiten oder dritten Mal nicht geschafft haben.“ Seine Stimme troff vor Zynismus, und fasst schaffte er es, seine Frustration und seine Angst vor dem wenn nicht zu überdecken damit. Yukiko hob die Hand, drückte Shinichis Schulter, biss sich auf die Lippen. Ihre Blicke schweiften unbeständig zwischen Vater und Sohn hin und her. Yusaku starrte ihn nur an, sein Gesicht zu einer Maske erstarrt. Er sah immer noch so schrecklich schuldig aus. Ja… er sah schuldig aus. Yukiko wusste, dass er sich seit Tagen vorwarf, dass er besser aufpassen hätte müssen, aber er… hatte doch nichts tun können! Hätte doch auch nichts tun können… Das dachte sie zumindest. „Yusaku?“, murmelte sie dann leise. Das Verhalten ihres Mannes gab ihr Rätsel auf. Er spürte diese Ohnmacht in sich, ein selten gekanntes Gefühl für jemanden, dessen Leben eigentlich immer nach Plan lief, und das er jede Sekunde bisher perfekt unter Kontrolle gehabt hatte; und doch merkte er gerade jetzt, dass in seinem Leben eigentlich schon lang nicht mehr er selbst alles unter Kontrolle gehabt hatte. Aber das Leben seines Sohns hatte in seinen Händen gelegen, und er konnte nicht behaupten, es gut verwaltet zu haben. Er hatte in den letzten Tagen Shinichis Leben so gründlich ruiniert, wie es wohl kein anderer je gekonnt hätte, nicht einmal er selber. Er hatte versucht, ihn zu jemandem zu machen, der er nie war, und auch nie hätte sein können, und das nur, weil er ihm helfen hatte wollen. Er hatte falsch geholfen. Anstatt, dass er sich selber gegen die Organisation gestellt hätte… versucht hätte, reinen Tisch zu machen mit Yukiko… und dann zur Polizei, zum FBI zu gehen, und endlich diesen Kasten in die Luft gejagt hätte, der ihm sein Leben zerstörte, langsam, aber beständig, seit er zwanzig war… hatte er den Schwanz eingekniffen, war feige gewesen und hatte versucht, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen, um seinem Sohn das Leben zu retten… und damit seinen Sohn gegen den größtmöglichen Widerstand ankämpfen lassen, den es für ihn gab - gegen sich selbst. Er hatte den Kampf nicht kämpfen wollen. Shinichi hatte nie jemand anders sein wollen als er selbst, und er zahlte jetzt den Preis dafür… er hatte sich selbst verloren. Es wurde Zeit, dass er endlich was richtig machte. Er musste Shinichi in Sicherheit bringen. Man wusste bestimmt schon, dass er noch am Leben war, und man würde alles dran setzen, um das zu ändern. Wenn sie nicht schon unterwegs waren. Er ahnte nicht, wie Recht er hatte. Yusaku schluckte hart, fuhr sich dann langsam mit den Fingern durch die Haare. Dann atmete er tief durch, schaute Shinichi ernst an. Als er sprach, war seine Stimme gesetzt und leise. „Entschuldige.“ Er hatte seinen Sohn betrogen und verraten, und in diesem Moment tat er es wieder, und er betrog und belog zudem Yukiko- er selber hatte einen Fehler gemacht und er hörte nicht auf damit, Fehler zu machen. Aber das zuzugeben…? Er konnte es nicht. Nicht jetzt. Yukiko alles beichten, Shinichi erzählen, was vorgefallen war, was ihm passiert war, wieso und wer daran schuldig war? Nicht jetzt. Nicht, wo er in so einem Zustand steckte, nicht mehr wusste, wer er war und was Sache war, nicht, wo die Lage so brandgefährlich war. Nicht, bevor er nicht wieder die Kontrolle hatte, über diese Organisation, die er seit Jahren führte. Vorher war es zu gefährlich. Er musste sie einschätzen können, und genau das konnte er momentan nicht. Überhaupt hatte er das Gefühl… dass es zu einer Umkehr längst zu spät war. Er hätte beichten sollen, als er noch kein Blut an den Händen hatte. Als er noch nicht versucht hatte, aus seinem Sohn einen Mörder zu machen. Hier war jetzt nichts mehr auszurichten, er musste überlegen, wie er weiter vorgehen konnte. Seine Aufgabe war, sich darüber Gedanken zu machen, wie er in der Organisation weiter vorgehen konnte, wie er seinen Sohn schützen konnte... möglicherweise doch endlich das Ende dieses Syndikats einleiten konnte. Er hatte den Karren an die Wand gefahren, eigentlich gab es nur eine logische Konsequenz. Deshalb gab es für ihn hier eigentlich nur eine Wahl an diesem Punkt. Er räusperte sich, strich sich über seinen Bart. „Wir gehen jetzt besser wieder, du scheinst ja doch recht erschöpft zu sein, und das Treffen mit uns war sicher anstrengend. Morgen früh sind wir wieder hier, versprochen. Wir nehmen dir was mit aus deinem Zimmer, vielleicht hilft dir das… versuch dich auszuruhen. Schlaf gut.“ Diesmal stutzten Yukiko wie Shinichi gleichermaßen. Resignation war aus Yusakus Stimme zu hören gewesen; und resigniert sah er auch aus. Und das war es auch, was er fühlte. Resignation. Er hätte nicht ihn die Entscheidung treffen lassen dürfen, damals, als sie von Conan erfahren hatten... Shinichi hatte die richtige Entscheidung doch nicht treffen können, nicht in dem Alter, nicht mit dieser maßlosen Überzeugung von sich selbst, diesem Vertrauen in sich und seinen Fähigkeiten. Er hätte entscheiden müssen. Ja, er hatte damals zu leicht aufgegeben. Er hätte dem Ganzen einen Riegel vorschieben müssen, als noch alles kaum angefangen hatte… aber er hatte sich breitschlagen lassen… Stolz auf seinen brillanten, begabten Sohn und der eigene Hochmut, dieses grenzenlose Selbstvertrauen, das ihm weisgemacht hatte, er hätte das alles im Griff- seinen Sohn im Griff… hatten ihn die Dinge nicht klar sehen lassen. Es hatte immer funktioniert, an einen Fehler im System, an eine Ausnahme, an einen Zwischenfall… hatte er nie gedacht. Die Erkenntnis, was hier lief, und wie gefährlich das war, war ihm nach und nach gekommen, doch solange Shinichi lebte, offenbar klarkam und neben ein paar bitteren Augenblicken und miesen Tagen auch zumindest ein paar glückliche Momente hatte, hatte Yusaku geschwiegen, und ihn machen lassen. Nun erkannte er, dass das ein Fehler gewesen war; sein Fehler als Vater. Er hatte ein Spiel gespielt, dessen Risiken und Regeln er nicht genau kannte, dessen Mitspieler unberechenbar waren. Shinichi schluckte, riss ihn mit seinen nächsten Worten aus seinen Gedanken. „Da hast du wohl Recht.“ Er hatte seinen Vater während alldem beobachtet, und war zu dem Schluss gekommen, dass er wohl heute keine Antwort mehr auf seine Fragen erwarten durfte. Dann konnte er sich genauso gut selbst mit seinen Fragen auseinandersetzen. „Ich seh euch dann morgen. Ich verlass mich drauf, dass ihr auch kommt.“ Shinichi versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen, in seinen Augen ein analysierender Blick. „Gut.“ Yusaku nickte ihm kurz zu, streckte dann die Hand nach seiner Frau aus, die immer noch wie versteinert auf der Kante seines Bettes saß. „Yukiko, kommst du?“ Yukikos Unmut war ihr ins Gesicht geschrieben; sie wollte nicht schon wieder gehen, das war offensichtlich. Sie machte keine Anstalten, seiner Bitte Folge zu leisten; eher noch schien sie sich wirklich zu fragen, was hier gerade vor sich ging, ließ sich dann aber wortlos von ihrem Mann nach draußen ziehen, wo sie kurz vor der Explosion stand. „Yusaku, was sollte das?! Warum sind wir gegangen? Wir hätten bleiben sollen…“ Sie war fassungslos, entsetzt- er hörte es an ihrer Stimme, sah es ihr an. Er blieb stehen, atmete schwer, starrte blicklos auf den Boden vor seinen Füßen. „Er wollte es doch…“ „Aber erst, nachdem du es vorgeschlagen hattest! Wir hätten bleiben sollen, wir hätten…“ „Sei still, ich bitte dich!“ Yukiko stutzte, starrte ihn ungläubig an, holte dann tief Luft. „Sag mal, wie redest du mit mir? Was ist überhaupt in dich gefahren, was…“ Er starrte an die Wand neben der Tür, schüttelte den Kopf. „Hör bitte auf, jetzt. Wir wären heute ohnehin… nicht mehr weitergekommen.“ Sie starrte ihn an. „Du bist wütend, weil du zusehen musst, wie er leidet… weil du nicht helfen kannst, nicht weißt, was du tun sollst.“ „Ja.“ Auch. Mehr sagte er nicht. „Aber Yusaku… du bist sein Vater. Wenn ihm einer helfen kann, dann doch du; oder wir... Yusaku…“ Er warf ihr einen langen Blick zu, seufzte schwer; dann drehte er sich um und ging. Sie folgte ihm, schweigend. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)