Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 26: Kapitel 8: Eltern und ihre Kinder II ------------------------------------------------ Mesdames, Messieurs, voilà! Das nächste Kapitel dieser immer länger werdenden Geschichte. An dieser Stelle möchte ich mich aber vor allem mal bei allen Lesern und vor allem den tapferen Kommentarschreibern bedanken- ehrlich, es ehrt und freut mich sehr, dass ihr mir über diesen langen Zeitraum treu geblieben seid, und ich hoffe, es lohnt sich auch weiterhin für euch! Ich wünsch euch viel Spaß beim Lesen und verbleibe mit dem Hinweis, dass es das nächste Kap wohl erst in zwei, zweieinhalb Wochen geben wird (ihr wisst ja, Prüfungen, ne?), eure Leira :) _____________________________________________________________________________ Kapitel 8: Eltern und ihre Kinder II Noch ein Vater musste sich an diesem Tag mit seinem Kind auf eher unangenehme Weise auseinandersetzen, wenn auch ungleich anders, als Yusaku Kudô – und zwar Kogorô Môri. Der schlafende Meisterdetektiv, ein Titel, der in seinen Ohren mittlerweile vor Ironie nur so troff, wartete schon seit ein paar Minuten wie auf glühenden Kohlen sitzend auf die Ankunft seiner Tochter Ran. Er hatte sich beeilt, um noch vor ihr hier zu sein, um den Schein zu wahren, dass nichts Schlimmes passiert war, dass sie im Krankenhaus nicht gebraucht wurde… und um ihr die denkbar unangenehmste Tatsache über ihren Freund darzulegen, nämlich die Sache mit seinem Alter Ego Conan - und das wollte was heißen, neben der Konkurrenz an schlechten Nachrichten und Wahrheiten über Shinichi Kudô in den letzten Tagen. Die große Lüge in diesem Gefüge an Lügen und Ausflüchten, das Fundament dieses Hauses, die Basis dieses Systems, ohne die alles zusammengebrochen wäre. Conan. Und dieser Punkt tat besonders weh. Nun war sie seit ein paar Minuten hier, seine Ran, sein Mausebein, und schaute ihn erwartungsvoll an, in ihrem jungen, sehr mädchenhaften Gesicht eine Mischung aus Sorge und Anspannung. Kaum verwunderlich. Kogorô sah die Zeichen in ihrem Gesicht, konnte sich einigermaßen lebhaft vorstellen, wie die letzten Tage, besonders die letzten Stunden, für sie gewesen sein mussten. Für seine Tochter, Ran, dieses zarte, mitfühlende Wesen… die für andere immer mindestens so litt, wie sie selber. Schon am Schicksal Fremder nahm sie oft mehr Anteil, als gut für sie war, und bei weitem mehr, als nötig; das, was sie in diesen Stunden aber für Shinichi empfand, die Art, das Ausmaß, in dem sie sein Leid teilte, schienen Kogorô schier ungeheuerlich. Jetzt saß er also in einem Sessel seiner Tochter gegenüber, die auf dem Sofa Platz genommen hatte - und das eigentlich so bequeme Polster des Möbels fühlte sich immer noch an wie ein rundes Duzend rotglühender Kohlen unter seinem Allerwertesten. Schweiß trat ihm langsam auf die Stirn, je länger er in Rans blasses Gesicht schaute, in ihre azurblauen Augen, die Eris auf so frappierende Weise ähnelten, und in ihnen die Frage las, die sie beschäftigte, seit er sie aufs Sofa komplimentiert hatte. Was geht hier vor? Langsam wischte sich der Detektiv eine Schweißperle von der Schläfe. Er kam nicht umhin, sich einzugestehen, dass er außerordentlich erleichtert gewesen war, als er die Tür aufgemacht hatte, und seine Tochter in seine Wohnung hatten ziehen können. Ihm fiel mehr als nur ein Stein vom Herzen - ein Fels, ein Steinschlag, eine Gerölllawine… Er war sich der Albernheit der Metaphern, die durch seinen Kopf geisterten, bewusst, aber es gab… es gab keinen Ausdruck, der das Ausmaß dieses Gefühls erfassen konnte, als er die Tür zugemacht hatte, die Außenwelt, die Gefahren ausgesperrt hatte und Ran in die Arme nahm, ihren schmalen Körper an sich drückte, und merkte, wie sehr Vater er doch war. Wie unglaublich er an seiner Tochter hing. Die Agents hatten sich schnell verabschiedet, er wusste, was ihre Aufgabe für den heutigen Abend war; aber er hatte sich gehütet, etwas zu sagen, das Ran hätte aufhorchen lassen können. Sie brauchte Ruhe. Eigentlich. Und sie sollte sich etwas erholen können, bevor sie die Wahrheit erfuhr, und bevor… sie ihm gegenübertrat. Ein Blick in ihr Gesicht hatte ihm gezeigt, wie sehr es sie mitnahm, und wie weit sie schon wieder in die Vergangenheit eingetaucht war, in die Zeit… als ihr Gedächtnis verloren war. Allerdings schien sie anderer Meinung zu sein, was die Sache mit dem sich Ausruhen und Erholen betraf, das hatte sie ihm recht deutlich gezeigt. Ja, Ran war wieder zuhause. Jemand anderes war das nicht… jemand, dessen Anwesenheit so selbstverständlich geworden war, dass selbst ihm das Haus ohne ihn leer vorkam; und das, obwohl er die Wahrheit kannte. Ran kannte sie nicht. Noch nicht. Und dementsprechend hektisch war sie, zehn Minuten nach ihrer Ankunft, von einem Zimmer ins nächste gelaufen, kaum dass sie ihren Koffer abgestellt hatte und in ihre flauschigen Hauspantoffeln geschlüpft war. „Wo ist Conan? Miss Starling…“, hatte sie begonnen, als Kogorô sie schließlich vor seinem Schlafzimmer abgefangen hatte, nachdem sie schon in der Küche und im Wohnzimmer nach ihrem Mitbewohner gesucht hatte. Ihre Blicke waren suchend an seiner Schulter vorbei in sein Zimmer gehuscht, bevor er die Tür zugemacht und langsam den Kopf geschüttelt hatte. Vorsichtig hatte er sie mit sich gezogen, zurück ins Wohnzimmer geführt, wo er sie auf das Sofa drückte, war nicht auf ihre Fragen eingegangen und auch nicht auf ihre verwirrten Blicke. Es war wohl tatsächlich nicht so weit her mit dem Ausruhen... mit seinen Plänen, sie sich zuerst etwas erholen zu lassen, bevor er ihr die zweite oder dritte Hiobsbotschaft innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden erzählen musste. Offenbar sollte es gleich geschehen. Ein Blick in Rans fragendes und zugleich Antwort forderndes Gesicht ließ keinen anderen Schluss zu. Kogorô hatte er geseufzt, war eine halbe Minute hinter dem Sofa auf- und abgetigert, auf der Suche nach Worten, um ihr den Sachverhalt zu erklären, hatte sich durch die Haare gefahren mit den Fingern, mehrmals, als könne er dadurch seine Denkprozesse ankurbeln, und sich über seinen Bart gestrichten, eine Geste der Hilflosigkeit, der Ratlosigkeit, die jeder zu deuten wusste, der den Detektiven besser kannte; so auch Ran. Und entsprechend war ihre Unruhe gewachsen. Dann hatte er sich ihr gegenüber in die Sofakissen sinken lassen, die sich immer noch anfühlten wie kleine, runde, harte, sehr heiße Kohlebriketts. Es wurde nicht besser, egal, wie viel Zeit verging. Was er ihr jetzt zu sagen hatte, würde kein Spaziergang werden, für sie nicht, und für ihn nicht. Langsam hob er den Kopf, schaute sie aus müden Augen an. Ran starrte ihn mit kaum verhohlener Ungeduld an, in ihren blauen Augen immer noch dieser Ausdruck von Sorge und auch Ungnädigkeit – denn nur wegen einem war sie hier, wegen Conan; hätte man ihr nicht gesagt, der Junge brauche sie, hätte man sie nicht so sehr beunruhigt, indem man ihr nur so vage Antworten gegeben hatte, wäre sie längst bei ihm. Bei Shinichi. Der Gedanke piekte Kogorô wie eine kleine Stecknadel an eine unangenehme Stelle, er merkte doch, wie sein Ego etwas litt, wie seine väterliche Seite nun doch wieder etwas Groll gegen diesen Kerl hegte, der in Rans Leben, egal was er verbockte, einsam und allein die erste Geige spielte. Es war klar, wer momentan bei Ran Priorität hatte, und irgendwie schmerzte das doch. Er war nicht mehr der einzige Mann im Leben seines kleinen Mädchens, und das war hart für ihn. Härter, als er gedacht hatte, wenn er ehrlich zu sich war. Er war auf die Ersatzbank gesetzt worden, wenn auch wohl nicht absehbar sein würde, ob Shinichi den Posten als number one noch bekleiden würde, nach der Geschichte, die er, Kogorô, seiner Tochter nun zu erzählen hatte. Er zog die Augenbrauen hoch, merkte, wie er ins Grübeln gekommen war, schreckte erst wieder auf, als Ran ihn mit leicht genervter Stimme in die Gegenwart zurückriss. „Paps, wo ist nun Conan?“ Sie hatte ihre Arme vor ihrer Brust verschränkt, saß angespannt auf der Kante des Sofas, versuchte souverän zu wirken, und wirkte doch einfach nur kribbelig und besorgt, egal, wie sehr sie sich zu beherrschen versuchte. Ihre Nervosität und auch ihr Unmut waren merklich gestiegen; zuerst hatte sie sich breitschlagen lassen, nicht zuerst zu Shinichi, sondern zu Conan zu fahren, und nun war Conan offensichtlich nicht hier? Was ist hier los? Hört denn dieses Spielchen mit mir nie auf… sagt mir doch einfach mal endlich mal die Wahrheit, bitte…! Kogorô Môri seufzte matt, seine Augen wichen ihrem Blick auf, stierten blicklos auf einen Quadratzentimeter grauen Teppichs, der den Boden bedeckte. Krümel des letzten Abendessens hatten sich unter dem Tisch in den langen Haaren verfangen; ein Zeichen der Abwesenheit Rans. Ein Zeichen des Chaos‘ der letzten Tage. „Conan…“, murmelte er dann langsam. „Weißt du, Conan ist nicht hier.“ „Paps?“, hörte er sie fragend murmeln. Ihre Unruhe wuchs noch mehr, soweit das noch möglich war, das spürte er. „Das kann doch jetzt nicht wahr sein, ich bin nur hier wegen ihm, sonst wäre ich doch… ich wollte doch ins Krankenhaus.“ Ihre Stimme klang nicht ganz so scharf, wie er erwartet hatte, viel eher verwirrt. „Ist etwa Conan auch im Krankenhaus, jetzt? Was ist denn nun mit ihm…?“ Kogorô blickte auf, sah die Erschöpfung in Rans Augen, die Sehnsucht danach, endlich zur Ruhe zu kommen, und gleichzeitig das Wissen, dass das sobald nicht der Fall sein würde; nicht, solange es ihm nicht besser ging. Nicht, so lange es Shinichi nicht gut ging. Er ahnte das, und deshalb konnte er nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Nein. Das konnte er nicht, das brachte er einfach nicht übers Herz. Conan Edogawa war Shinichi Kudô… Mausebein. Ihr das einfach so hinzuwerfen, das schaffte er nicht. Also versuchte er es anders. „Was… weißt du über Shinichi?“ Ran zuckte zusammen, merkte, wie ihr Schuldgefühle sie erneut zu überrennen drohten. „Dass er ein furchtbarer Dummkopf ist…“, wisperte sie leise, merkte, wie ihre Fingerspitzen kalt und taub wurden. Sie warf einen Blick darauf, unwillkürlich, bemerkte, dass sie unter ihren Fingernägeln blau angelaufen waren, fing an, ihre Finger zu kneten, gab es aber auf, als sie weitersprach, nach kurzem Zögern. „Und dass er wohl einiges ausgefressen haben muss, wovon er mir natürlich mal wieder nichts erzählt hat.“ Sie massierte sich die Schläfe, auf ihrem Gesicht spiegelte sich Unmut. „Aber es geht doch jetzt nicht um Shinichi, eigentlich. Conan…!“, begann sie erneut, wurde allerdings von ihrem Vater unterbrochen. „Sie haben dir erzählt, was letzte Woche los war, ja? Wie es ihm geht? Warum er im Krankenhaus ist?“ Kogorô schaute sie betrübt an. Es war ihr anzusehen, wie unerträglich der Gedanke für sie war, was er für sie getan hatte. Was er für sie aufgegeben hätte. Dein Leben, Shinichi. Für sie. Er starrte seine Tochter an, die ihm gegenübersaß… und lebte. Ganz und gar unversehrt war. Weil jemand gut auf sie aufgepasst hatte. Die Wut auf ihn, auf das ganze Schmierentheater, das er abgezogen hatte, zwickte zwar immer noch wie ein kleiner Stein im Schuh, verbreitete immer noch einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund… mal ganz davon abgesehen, dass es seinem Ego mächtig zu schaffen machte, nicht der Detektiv zu sein, für den ihn die Welt und er selbst sich gehalten hatten, aber… Tatsache war, niemand wusste, wie diese Geschichte ausgegangen wäre, hätte Shinichi von vorneherein anders gehandelt. Hätte er sich nicht so entschieden, wie er es getan hatte. Niemand wusste, ob diese Sache jemals anders handhabbar gewesen wäre, als er mit ihr umgegangen war und immer noch umging. Shinichi Kudô hatte ja Conan Edogawa nicht zum Spaß erschaffen, das war ihm klar geworden. Und so war er über seinen Schatten gesprungen, hatte gesehen, was hinter der ganzen Farce steckte… hatte seine eigene Wut über seine non-existente Karriere zuerst einmal zurückgestellt. Nicht vergessen, aber für den Moment hinter Wichtigeres zurückgestellt. Sie ist dir wirklich viel wert, nicht wahr? Ihm die Leviten lesen konnte er auch noch, wenn er soweit wieder fit war, um sich zu verteidigen; und das Donnerwetter würde noch kommen, das hatte sich Kogorô fest vorgenommen. Kogorô Môri wäre nicht Kogorô Môri, würde er diesen Westentaschendetektiven ungestraft davonkommen lassen. Abgesehen davon, dass er weit weg war von Westentaschenformat, gestand er sich leise seufzend ein. Shinichi Kudô war gut, in dem, was er tat, ein sehr überlegter Mensch, prinzipiell ein brillanter Denker, wenn er nicht einfach einmal in seinem Leben viel zu neugierig war, viel zu erpicht darauf, diese Welt ein bisschen gerechter zu machen, besser. Wenn nicht gerade die Pferde mit ihm durchgingen und er sich überschätzte. Aber das… das war die Jugend. Es gab Leute, die überschätzten ihre Fähigkeiten auch noch im Alter. Môri seufzte schuldbewusst, merkte, wie ihm etwas heiß wurde. So ein Fehler würde Shinichi nicht noch einmal passieren… denn Shinichi Kudô war nicht mehr der Teenager, als der er sie verlassen hatte - Conan hatte ihn erwachsen gemacht. Shinichi war heute weit davon entfernt, impulsiv zu handeln, soviel war klargeworden; alle Reaktionen innerhalb der letzten Woche, alle Entscheidungen, waren die Folge eines Ziels, das stets vor seinen Augen geschwebt hatte: die zu schützen, die er liebte. Um jeden Preis. Keinen Fehler mehr zu machen, kein weiteres Risiko einzugehen. Und dementsprechend hatte er entschieden, wenn eine Entscheidung, eine Wahl gefordert wurde. Der schlafende Meisterdetektiv hegte keinen Zweifel, dass man Ran getötet hätte, hätte er nicht eingelenkt. Wahrscheinlich würde sie nicht einmal mehr hier sitzen, hätte er vor einer Woche schlicht und ergreifend „Nein“ gesagt, und sich danach erschießen lassen. Ein Schicksal, das wohl weitaus gnädiger gewesen wäre, als das, was auf sein „Ja“ gefolgt war. Sie bedeutet dir tatsächlich so viel wie mir… Und du willst ihr nicht wehtun. Das will ich auch nicht… Und dennoch… du hast es schon getan, und du wirst es wieder tun, jetzt, auch wenn du es nicht weißt. Auch wenn du es nicht persönlich machst… Sondern ich einmal mehr als dein Werkzeug funktionieren muss. Als dein Sprachrohr. Ein bitteres Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Ja, in der Tat, Conan hatte sie immer noch fest in seiner kleinen Kinderhand. Schließlich räusperte er sich, strich sich noch einmal kurz über seinen Bart, ehe er seiner Tochter in die Augen sah, neu ansetzte. „Hör zu, Ran, das… ist jetzt ein wenig kompliziert. Das… das was mit Shinichi passiert ist, hat nämlich… auch mit Conan zu tun. Also… behalt das im Hinterkopf, ja, wenn ich dir erzähle, was mit Conan passiert ist.“ Er versuchte, ihr einen ermutigenden Blick zuzuwerfen. „Denk dran… was er getan hat, für dich, bevor du ihn verurteilst.“ Ran starrte ihn nun bass erstaunt an. „Pa-paps?“ In Gedanken fragte sich, warum er das tat, und er konnte ihr Erstaunen nur zu gut nachvollziehen. Glasklar, dass sie das verwirren musste, dass er sie um Nachsicht hinsichtlich der Verfehlungen ihres Freundes bat. Es musste sie wundern, wie es auch ihn wunderte, dass er ihn jetzt auch noch in Schutz nahm, wo er ihm vor ein paar Tagen noch reichlich egal gewesen war, ihn eher noch lieber durch die Mangel gedreht hätte, und zwar schön langsam. Klar, er wollte nicht, dass der Junge starb, aber gut, er wollte generell nicht, dass Leute starben. Er war ein guter Mensch. Ja, das war Kogorô Môri wirklich. Er verzieh. Aber als er gehört hatte, was sich dieser Kerl auf seine Kosten geleistet hatte, und in welche Gefahr er sie alle gebracht hatte durch seine verdammte Neugier, da war ihm aufgegangen, dass auch er nicht alles verzeihen wollte. Ihn konnte auch keiner dazu zwingen. Gut, es ließ ihn nicht kalt, als man ihm erzählte, dass der Junge in dieser Organisation eingestiegen war, um Rans Leben zu schützen. Das war aber auch das Mindeste, was er tun konnte, in seinen Augen. Es wäre ja noch schöner, dass Ran für seine Dummheiten zu bezahlen hatte. Und dann hatte er ihn gesehen. Im Garten seiner Eltern, in seinem Zuhause, wissend, dass er hier nicht mehr hergehörte. Er hatte gesehen, was Shinichi wurde, was er aufgab, nur um seine Tochter in Sicherheit zu wissen, denn, soviel hatte er aus seinen Augen lesen können, er ekelte sich. Shinichi hatte sich vor sich selbst geekelt, verachtet, was er war; vor Armagnac. Für das, was man aus ihm machte. Er wäre lieber gestorben, als dieses Leben zu leben, diese Dinge zu tun, aber er ertrug es, für Ran. Ein Blick in diese Augen hatte genügt. Und jetzt saß Kogorô hier, und wusste, Shinichi hatte es verdient, dass Ran ihm verzieh. Dass sie ihm eine Chance gab, so er denn sein Gedächtnis eines Tages wiederfand. Weil sie nie wieder jemanden finden würde, der sie so unbedingt liebte wie dieser Kerl. Und weil er sie brauchte. Diese Taten hatten eigentlich alle nur eins bewiesen… dass er das tat. Er brauchte sie. Man schützte nur das so unbedingt, was man selbst am meisten brauchte. Er brauchte Ran, ob es ihm klar war oder nicht, ob er wollte, oder nicht. Deshalb war ihm ihr Leben so wichtig. Kogorô räusperte sich, widerstand dem Drang, sich eine Zigarette anzuzünden, um sich zu beruhigen. „Also… zurück zu… Conan. Ich hab es auch erst vor Kurzem erfahren und es wird… ein Schlag ins Gesicht sein für dich, so wie es auch einer für mich war… ich meine, ich weiß, wie sehr du den Knirps in dein Herz geschlossen hast… und ich gebe ja zu, ich mochte ihn auch…“ Ran wurde bleich, ihre Lippen begannen zu zittern. Der Detektiv starrte sie an, merkte, dass er die falsche Richtung eingeschlagen hatte. Offenbar glaubte sie nun etwas ganz anderes. „Ähhähäää… nein, nicht doch, so hab ich das nicht gemeint!“, versuchte er unbeholfen zurückzurudern, lachte humorlos. „Er ist nicht tot oder so, Mausebein…“ Das Mädchen schluckte, atmete langsam aus, merkte doch, wie Erleichterung über sie hinwegschwappte wie eine warme Welle; die Unruhe aber blieb. Kurz herrschte völlige Stille im kleinen Wohnzimmer der Môris; allein die Wanduhr tickte leise, aber beständig vor sich hin, zählte gewissenhaft die Sekunden. „Wo ist er dann aber?“, fragte sie leise. „Wo ist er, Paps? Ist er krank? Ist er in deinem Zimmer, dann lass mich doch zu ihm und mich um ihn kümmern …“ „Nein.“ Môri unterbrach sie. „Nein, in meinem Zimmer… ist er nicht. Und er ist auch nicht krank. Das heißt… indirekt schon.“ Er geriet ins Stottern. „Aber was…“, begann Ran, wurde aber ein weiteres Mal von ihrem Vater unterbrochen, der nun zunehmend ins Schwitzen geriet. „Er ist… er… wurde… entführt.“ Sein Puls begann zu rasen. Gut, dann würde er jetzt eben die Geschichte von vorne erzählen, so wie er sie auch erlebt hatte. „Entführt?!“ Ran wurde noch bleicher, als sie es ohnehin schon war. „Wann? Weiß die Polizei schon Bescheid? Und was hat das FBI damit zu tun und…“ „Mausebein, lass… lass mich ausreden und… unterbrich mich jetzt nicht, bitte.“ Der Detektiv schluckte, fuhr sich über die Augen. Er würde ihr das Herz brechen, gleich. Nun gut, genau genommen brach ihr jemand anderes das Herz. Viel besser machte das die Sache aber auch nicht. „Hör zu. Ja, die Polizei ist dran an der Sache. Es… verhält sich so… vor über einer Woche wurde… wurde Conan bei dem Campingausflug mit Professor Agasa entführt, von einer… Verbrecherorganisation…“ Ja, Môri, es geht doch. Immer weiter so, Kogorô, alter Knabe. Allerdings machte Ran ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie war aufgesprungen, starrte ihren Vater wütend an. Sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt, unwillkürlich. „VOR ÜBER EINER WOCHE?!?!“ Ihre Brust hob und senkte sich heftig, Zorn funkelte in ihren Augen. „Wann wolltet ihr mir denn Bescheid sagen!? Wieso habt ihr mich nicht informiert, ich wäre doch unverzüglich heimgekommen, ich…“ „Genau deswegen.“, murmelte der Detektiv niedergeschlagen. „Weil du unverzüglich heimgekommen wärst, und genau das wollten wir nicht. Wir wollten, dass du auf Izu bleibst. Weil du hier für dich und für ihn nur eine Gefahr gewesen wärst. Und jetzt setz dich bitte wieder, Ran…“ Kogorô war ebenfalls aufgestanden, schaute seine Tochter ernst an. „Das wichtigste kommt erst noch. Nämlich wo Conan jetzt ist, und wie man ihn gefunden hat.“ Ran schaute ihn verwirrt an, ließ sich aber wieder auf das Sofa sinken, gehorsam. Kogorô, der bis jetzt ihr gegenüber gesessen hatte, nahm nun neben seiner Tochter Platz. Unbeholfen nahm er ihre Hand in seine, realisierte, dass sie stutzte. Nur zu verständlich, schließlich… hatten sie so ein Gespräch noch nie geführt. Hatte er noch nie in dieser Weise ihre Hand gehalten. „Mausebein… es hat sich herausgestellt, dass… Conan mit dieser Organisation… schon länger zu tun hatte, weißt du. Seit… ein paar Jahren. Seit… seit Januar 1994, um genau zu sein.“ Er flüsterte die Worte fast, wartete ab. Wie er erwartet hatte, brachte das Datum in ihr eine Glocke zum Klingeln. „Da… haben wir ihn kennen gelernt. Und… Shinichi verschwand um die Zeit. Sein großer Fall, der begann da wohl so um den Dreh…“ Sie starrte nachdenklich in die Luft vor sich, biss sich geistesabwesend auf die Unterlippe. Er ahnte, dass es nicht mehr viel brauchte, bis sie eins und eins würde zusammenzählen können. Und er sollte Recht behalten. „Nun ist es so… diese Organisation mit der sich Conan angelegt hat, ist auch die gleiche, die Shinichi zu seinem… Zustand… verholfen hat.“ Er schluckte. Ran verkrampfte sich unwillkürlich, ihre Augen schienen unruhig hin und her zu huschen, fixierten keinen Punkt für lange Zeit, auf der Suche nach der Antwort, nach der Wahrheit… sie war ihr so nah. Sie konnte sie fast sehen. Sie wusste es, sie war keinen Fingerbreit mehr entfernt davon, und sie ahnte, dass sie sie tief in ihr drin schon lange gewusst hatte. Die Wahrheit… „Sie hatten beide Probleme mit der gleichen Organisation.“ Sie murmelte diese Feststellung, ihr Blick wieder ruhig, wandte sich ihrem Vater zu, um ihm eine Frage zu stellen, aber verstummte, als sie den bedrückten Gesichtsausdruck auf seinen Zügen bemerkte. „Ran, Conan… verschwand in dem Wald, in dem man Shinichi vor ein paar Tagen fand…“ Mehr sagte er nicht. Mehr war wohl auch nicht mehr nötig. Er sah das Zittern, das durch ihren Körper lief, spürte, wie sich ihre schlanken Finger um seine Hand krampften, als die Erkenntnis sie traf. Insgeheim fragte er sich, wie oft ihre Gedanken diesen Weg wohl schon gegangen waren, dass sie den Weg nun fast von allein fanden. Bis heute hatte jedes Mal jemand sie umgeleitet, von diesem Weg abgebracht oder zur Umkehr gezwungen… Diesmal fanden sie ins Ziel. Er wusste, wie niederschmetternd das war für sie… zu erfahren, dass die beiden Menschen, denen sie, neben ihm selber, wohl am meisten vertraut hatte, sie so hintergangen hatten. Shinichi Kudô und Conan Edogawa. Endlich ergab das alles einen Sinn. Endlich stimmte alles, sortierte sich von alleine ein. Ihr Blick wurde plötzlich seltsam starr, fixierte einen Punkt auf der gegenüberliegenden Wand, als vor ihrem inneren Auge eine wahre Flut an Bildern auf sie zu rollte, sich in ihrem Kopf ein Film abzuspielen begann, als endlich alle Szenen in die richtige Reihung fielen. Der Film über die Geschichte von Conan Edogawa… dargestellt von Shinichi Kudô. Conans Existenz war eine glatte Lüge gewesen, und der Mensch, der diese Lüge kreiert und verbreitet hatte, war niemand geringerer gewesen, als ihre heimliche Liebe, der Junge, den sie so anhimmelte, der ihr so viel bedeutete, an den sie glaubte. Egal welche Gründe er gehabt hatte, und egal, wie viel sie davon schon wusste, das jetzt zu erfahren, musste sie niederschmettern. Die Tatsache allein, dass er in der Lage war, sie so anzulügen, reichte völlig. Ran kniff die Augen zusammen, als sie merkte, wie sich in ihnen die Tränen sammelten, sie zu brennen anfingen. Gedanken schossen ihr durch den Kopf, Bilder, von Conan und Shinichi. Erinnerungsfetzen an all die Momente, wo sie so nah dran gewesen war… an denen sie ihm unterstellt hatte, Conan und Shinichi seien ein und dieselbe Person. All die Lügen, die er ihr immer aufgetischt hatte, um seine wahre Identität zu verheimlichen, die sie dazu gebracht hatten, an sich selbst zu zweifeln, nie jedoch an ihm. An einem von ihnen beiden. Es war ihr fast, als könne sie sie noch einmal hören, all die Dinge, die sie ihm anvertraut hatte, im festen Glauben, er wäre jemand anderes. In ihren Gedanken kreiste nur noch ein Satz, und sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Conan ist Shinichi. Sie hob die Hand presste sie auf ihre Lippen, wie als ob sie mit Gewalt ihr Aufschluchzen unterdrücken wollte, einsperren, irgendwie. Es gelang ihr nicht. Ihr ganzer Körper fing wieder an zu zittern, als es aus ihr herausbrach; die Wut, die Enttäuschung… und diese unbändige Angst. Sie war wütend auf ihn, wegen seiner Lügen, wegen seiner Täuschungen, und wütend, weil er sie so auflaufen hatte lassen, er hatte sie stets erzählen lassen… Dinge, die wie er gewusst hatte, eigentlich nicht für seine Ohren bestimmt gewesen waren. Und sie war enttäuscht, dass ausgerechnet er, für dessen Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit sie jede Lanze gebrochen hätte, es fertig gebracht hatte, sie so zu hintergehen. Ja… sie war maßlos enttäuscht. Aber am meisten hatte sie Angst, immer noch, weil ihr jetzt erst klar wurde, welche Ausmaße dieser Fall gehabt hatte. Was er für ein Leben geführt hatte; stets auf der Suche nach neuen Hinweisen von ihnen, um sein altes Ich wieder zu bekommen, um ihnen zuvor zu kommen, wenn sie etwas planten, um sie zu schützen, um aufzupassen, dass sie in Sicherheit waren. Er hatte wahrlich viel zu tun gehabt, die Verantwortung nicht nur für sein Leben getragen - sondern für alle, die in seiner Nähe waren. Sie wusste, was er durchgemacht hatte in der letzten Woche, als sich alles so zugespitzt hatte, wusste, sie waren immer noch her, hinter ihm. Aber das Allerbeängstigendste war – er wusste es nicht mehr. Er wusste weder wer er war, noch wer sie war, noch wofür er all das getan hatte. Wusste ja nicht einmal, was er getan hatte. Wer hinter ihm her war. Er war hilfloser, als Conan es je gewesen war, das war ihr klar. All diese Gefühle suchten ein Ventil, und die Anspannung der letzten Tage tat ein Übriges. Kogorô schaute sie traurig an, als er sah, wie seine sonst so starke Tochter den Kampf um ihre Selbstbeherrschung verlor, ihren Gefühlen nicht mehr standhielt und in Tränen ausbrach, haltlos zusammensackte. Er fing sie auf, zog sie an sich, streichelte ihr über den Rücken - und schwieg. Er wusste nicht, wie lange er sie im Arm gehalten hatte, bis sie sich einigermaßen wieder gefasst hatte. Er wusste auch nicht, was nun in ihr überwog, als sie aufstand, und sich unwillig die Tränen aus den Augenwinkeln wischte, sich ein Glas Wasser holte - ihre Wut, ihre Enttäuschung oder ihre Angst, ihre Sorge. Als sie wieder kam, schien sie etwas gefasster, hielt aber ihr Glas mit beiden Händen, als müsse sie sich daran festhalten, um nicht umzufallen. Ein absurder Gedanke, eigentlich, aber er schien so seltsam wahr. „Also… ist Conan nach seinem Aufenthalt in dieser… Organisation nun für immer fort und Shinichi liegt im Krankenhaus, seh ich das richtig?“, versuchte sie, zusammenzufassen, und dabei ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen. Kogorô nickte. „Ja. Mit einer Amnesie, wie du ja schon weißt.“ Sie schluckte hart, nippte an ihrem Glas. „Es war also diese Organisation, die ihn geschrumpft hat… und wieder hat wachsen lassen? Und… gefoltert und dazu gezwungen, bei ihnen… einzusteigen?“, fragte sie leise, weil sie merkte, dass ihre Stimme langsam brach; und sprach sie leise, hörte man das nicht so sehr heraus, und sie wollte jetzt nicht schon wieder schwach erscheinen. „Wie kommt das überhaupt, ich meine, welchen Sinn hat das, einen Menschen zu verjüngen und dann laufen zu lassen…?“ Kogorô seufzte. Zu früh gefreut. Der unangenehme Teil des Abends kam anscheinend doch erst noch. „Eigentlich sollte er dir das erklären. Aber da… wohl nicht absehbar ist, wann er dazu wieder in der Lage ist…“ Er massierte sich die Schläfen. Was ihm dieser Bastard heute mal wieder einbrockte… Ein unwilliges Knurren verließ seine Lippen, dann zündete er sich mit kalten Fingern eine Zigarette an. Ja, einer dieser Sargnägel war jetzt genau das richtige. „Setz dich mal wieder lieber hin, Mausebein.“, bemerkte er dann, wartete, bis Ran ihm gegenüber im Sessel versunken war und das Glas auf den Tisch gestellt hatte. Er nahm einen vorsichtigen ersten Zug, sehr darauf bedacht, dass der Rauch nicht in ihre Richtung zog. „Also, soweit ich das weiß, fing es an, als ihr zusammen auf dem… Jahrmarkt wart, diesem Vergnügungspark, wie hieß er doch gleich…“ „Tropical Land.“, murmelte Ran. „Ich wollte dahin. Unbedingt.” „Genau. Dort… wurde ja ein Verbrechen verübt, das er aufgeklärt hat… nicht wahr?“ Ran nickte bedächtig. „Genau. Der Fall mit der Perlenkette und der Klaviersaite.“ Sie schauderte kurz, konnte sich noch genau an den Abend im Park erinnern. An das Blut, an die Tränen, an diesen schaurigen Anblick… und an ihn, der auf so selbstverständliche Weise Herr der Lage gewesen war. Sie erinnerte sich an jedes Wort, das zwischen ihnen beiden gefallen war… und daran, welches Gefühl sie beschlichen hatte, als er sich von ihr verabschiedet hatte. Dann tauchte sie wieder auf, aus ihrer Gedankenwelt, als sie ihren Vater sich kurz räuspern hörte. Môri sammelte sich. „Genau. Und dann… dann… ist er wohl… sind dir zwei zwielichtige Gestalten aufgefallen…?“ Ran seufzte niedergeschlagen, ahnte, was jetzt kommen würde. „Ja. Ein großer blonder, und ein kleinerer, untersetzter Mann. Beide schwarz gekleidet, mit Hüten und Sonnenbrillen, eine sonderbare Aufmachung für einen Vergnügungspark, deshalb fielen sie mir auf. Ich denke, ihm waren sie auch nicht geheuer…“ Haben Sie ihm das angetan, waren das die Leute, die… „Was ihn nicht davon abgehalten hat, ihnen nachzulaufen.“ Er seufzte, versuchte, alles, was dieses kleine Mädchen ihm am Telefon erklärt hatte, Ai, die ihn noch schnell angerufen hatte, als sie erfahren hatte, dass er Ran aufklären musste, zu rekapitulieren. Ran starrte ihn an. „Er ist weggelaufen, ja… und das… war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hab… bis auf die paar Mal… aber wie ging denn das dann? Wenn er doch Conan war, wie konnte er dann…?“ Ran zog die Augenbrauen fragend hoch. Kogorô rieb sich die Stirn, merkte, wie die Spitze seiner Zigarette zu lang wurde und aschte sie hastig ab, ehe sie einen Brandfleck auf dem Teppich verursachenkonnte. „Eins nach dem anderen. Also, er ist diesen Leuten nach. Und wurde erwischt, von dem einen, als er dem anderen bei einem zwielichtigen Geschäft zusah. Er… sie haben ihn wohl niedergeschlagen, damit er nicht davonlaufen kann.“ Er merkte, wie es ihn schmerzte, als er seine Tochter zusammenzucken sah. Du liebst ihn wohl wirklich, Ran… trotz allem, was er dir angetan hat… „Sie… konnten ihn natürlich nicht laufen lassen. Erschießen konnten sie ihn aber auch nicht, weil ja noch zu viele Polizisten herumliefen, vom vorangegangenen Fall, Ran. Deshalb… haben sie an ihm ein… neuartiges Gift ausprobiert, die Ursache, warum er… schrumpfte. Und bevor du mich fragst, was das für ein Gift ist und woher ich das alles weiß, fragst du dieses kleine Mädchen, das beim Professor wohnt.“ „Ai?“, murmelte Ran fragend. „Ja, genau. Sie… ist nämlich wie er. Eine Geschrumpfte. Und von ihr weiß ich das alles. Sie… ist ein ehemaliges Mitglied der Organisation, sie hat das Gift entscheidend entwickelt, kennt sich damit aus... und kam daher rasch hinter sein Geheimnis.“ „A… aber…!“, begann Ran, wurde aber von ihrem Vater abgewürgt. „Nein, Ran, wir reden jetzt über Shinichi. Ai fragst du mal selber.“, er seufzte erschöpft, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, merkte, wie seine Zigarettenspitze schon wieder gefährlich lang geworden war und klopfte sie erneut in den Aschenbecher, ehe er den Glimmstängel einfach so wieder ausmachte. Ein gutes Mittel gegen Nervosität war das Ding heute auch nicht wirklich. „Nun. Also. Deine Frage, warum ein Gift, das Leute schrumpft? Ganz… ganz einfach.“ Er unterbrach sich. „Es sollte ihn nicht schrumpfen, Ran. Es war nicht dazu gedacht.“ Ein Blick in das Gesicht seiner Tochter trieb ihm das letzte bisschen Farbe aus dem Gesicht. Sie war bleich wie die Wand, und überdeutlich sah er in ihren Augen das Entsetzen, als sie sich vorstellte, was gewesen wäre… wenn. „Genau…“, sagte er leise, bestätigte ihre Ahnung, wagte fast nicht, sie anzusehen. „Es sollte ihn nie schrumpfen. Es sollte ihn umbringen. Leise, geräuschlos, sauber. Man hätte ihn erst am nächsten Morgen gefunden, und keiner hätte je herausgefunden, woran er starb, denn das Gift hätte sich sofort zersetzt. Es ist nicht nachweisbar.“ Ran, die während der Geschichte angespannt nach vorn gebeugt den Worten ihres Vaters gelauscht hatte, war nun kraftlos zurück gesunken. Ihr war kalt geworden, als ihr die Tragweite dieser Worte bewusst geworden waren. Unwillkürlich schlang sie ihre Arme um ihren Oberkörper. „Er… lebt nur noch, weil das Gift… nicht richtig gewirkt hat.“ Das war keine Frage sondern eine Feststellung. Kogorô beantwortete sie trotzdem. „Ja. Sie wussten nicht, dass er es überlebt hat, sie ließen ihn zurück, als sie es ihm verabreicht hatten, aus Angst vor der Polizei, wohl. Er… wurde Conan. Ihm… war klar, dass er einen Weg finden musste, wieder er selbst zu werden, deshalb… deshalb hatten er und der Professor die Idee, ihn hier unterzubringen. Damit er an Fälle… kommt. Sie haben uns deshalb nichts gesagt, damit wir nicht in Gefahr sind. Denn… schließlich dachte diese Organisation ja, er wäre tot. Hätte sie herausgefunden, dass er es nicht ist, hätte sie wohl jeden umgebracht, der mit ihm in Verbindung stand, und potentiell von ihr wusste. Diese… Organisation ist unheimlich groß, Ran. Je weniger Leute von ihm wussten, desto geringer war die Gefahr, dass sein Geheimnis an die Öffentlichkeit gerät und damit alle in den Fokus dieser Verbrecher bringt. Es… war ein guter Plan, bis… vor einer Woche eben… alles aufgeflogen ist. Sie haben seine Tarnung entdeckt, ihn entführt. Man hat ihm das Gegengift verbreicht, verhört und wollte ihn dann umbringen, nachdem seine…“, er lächelte bitter, „Umerziehung gescheitert ist. Ich denke… soweit bist du dann informiert.“ Kogorôs Atem hatte sich beschleunigt, in den letzten Minuten. Ran starrte ihn an, eine Träne rollte ihr über die Wange. Er wollte sie wegwischen, unterließ es aber. „Was ist mit… dem Giftmord, der Fall, als wir Heiji kennen lernten? Dem… Schulfest und… dem Fall mit dem Waldmenschen?“ „Ein temporäres Gegengift. Von Ai.“ Ran nickte gedankenverloren. Dann fuhr ihr Kopf hoch, verständnislos schaute sie ihren Vater an, der sich gerade wieder ein wenig beruhigte. Sie hatte es besser aufgenommen, als er erwartet hatte. Als sie redete, umspielte ein trauriges Lächeln ihre Lippen. „Aber eines verstehe ich noch nicht… wie konnte seine Tarnung denn auffliegen? Die war doch perfekt, eigentlich, wie du sagst… und er… verstand sich ja wirklich gut darauf, die Leute zu täuschen. Er hat doch mehr von seiner Mutter, als er zugeben würde…“ Sie versuchte sachlich, sogar etwas witzig zu klingen, und konnte doch den bitteren Unterton in ihrer Stimme nicht vertreiben. Als sie in das entsetzte Gesicht ihres Vaters blickte, stutzte sie jedoch. Ja, er sah wirklich entsetzt aus; und genau das war er auch. Warum stellte sie ihm genau diese Frage? Sie waren sich doch alle einig gewesen, Ran nie die Umstände für seine Enttarnung zu verraten. Nie. Auf keinen Fall. Und nun saß sie vor ihm, keine Stunde lang zuhause, und fragte ihn genau danach. Nein! „Mausebein, das… das ist nicht wichtig… es ist einfach passiert… ich meine… so genau weiß das wohl keiner…“ Er lachte hohl, nervös, so wie er es immer tat, wenn er verlegen war, ratlos, und das Thema wechseln wollte. Ran kannte dieses Lachen, und es bewirkte bei ihr genau das Gegenteil. Sie war alarmiert. Dass es nicht wichtig war, konnte er ihr nicht vormachen. „Paps, wie konnte seine Tarnung auffliegen?“ Sie schluckte, schaute ihren Vater starr an. Ihre Stimme hatte erstaunlich scharf geklungen, allerdings war von dieser Bestimmtheit in ihrem nächsten Satz nicht mehr das Geringste zu hören. „Jemand hat ihn verraten, nicht wahr?“, wisperte sie, merkte, wie ihre Stimme zu bröckeln anfing, räusperte sich. Ihre Hände krallten sich in den Stoff ihres Rocks, der Stoff, zum Zerreißen gespannt, knirschte leise. Ran blickte starr auf das Glas Wasser, das sie vor sich auf dem Tisch abgestellt hatte, ihre Gedanken rasten in ihrem Kopf, als sie ihre Schlussfolgerungen zog, „Anders kann es doch nicht gelaufen sein, er wird sich nicht selbst gestellt haben, damit hätte er doch nicht nur sich selbst gefährdet und welchen Nutzen hätte er davon gehabt? Er… er wurde verraten, nicht wahr?“ Kogorô starrte sie an, merkte, wie sein Puls nach oben raste. Als er nun sprach, war er nicht mehr Herr über sich. „Mausebein…“ Seine Stimme klang jämmerlich, es war unüberhörbar, wie gern er dieses Gespräch jetzt abgebrochen hätte. Ran hingegen wandte den Kopf, ihre blauen Augen suchten seinen Blick. „Er wurde verraten, nicht wahr?“, wiederholte sie leise. Ihre Stimme vibrierte, aber sie nahm es hin, sie wusste, es war nicht zu ändern, jetzt. Ihre Nerven lagen blank, die Angst, der Schock hatten sie fast überwältigt. Aber sie wollte die Wahrheit jetzt hören, endlich, die ganze Wahrheit. „Ja.“, murmelte er langsam, unfähig, etwas anderes zu sagen oder zu schweigen. „Jemand hat ihn tatsächlich verraten.“ Er schluckte, wischte sich mit seiner Hand über die Stirn, dann über die Augen, ehe er sie kraftlos in seinen Schoß sinken ließ, wandte dann mit Mühe doch den Blick ab und starrte an die gegenüberliegende Wand, wo das Regal mit seiner Yoko-Okino-Sammlung stand. Und damit lass es gut sein, Mausebein. Bitte. „Wer? Jemand, der sein Geheimnis kannte?“ Sie schluckte, schüttelte verwirrt, unwillig den Kopf, als ihr etwas anderes aufging. „Ich meine, das sind… seine Eltern, der Professor, diese Ai… so seltsam wie Heiji sich oft benommen hat, wusste er es sicher auch… aber ich kann nicht glauben, dass einer von ihnen Shinichi hinhängen würde…“ Der Detektiv schaute seine Tochter immer noch nicht an, als er sprach. „Ja, Heiji wusste es auch. Aber von ihnen war es keiner. Es war… eher… ein Unfall. Die betreffende Person wusste nicht, was sie machte, als sie es tat.“ Er wusste, er hätte sich etwas einfallen lassen müssen. Eine Ausrede. Eine Lüge. So wie Shinichi es getan hatte, die letzten Jahre, um Ran zu schützen. Er hatte gelogen, um sie zu schützen. Diese Lügen waren nicht gemacht gewesen, um jemanden zu verletzen… sondern um zu beschützen, um Leid fernzuhalten, Leid und Schmerz jeglicher Art. „Wie kann man das nicht wissen…? Ich meine… wie ist das zu verstehen?“ Sie wurde noch blasser, sofern das ging, ihre Lippen leicht violett, was ihrem Gesicht einen porzellanpuppenhaften, geisterhaften Touch verlieh und schaute leicht verständnislos ihren Vater an, der nun endlich den Kopf hob und sie anblickte. Kogorôs Gaumen war wie ausgedörrt, er schluckte, aber es gelang ihm kaum. Nun wusste er, erfuhr am eigenen Leib, wie viel Shinichi das wohl abverlangt hatte, diese Lügen, während der ganzen Zeit. Erst jetzt verstand er wirklich, was der Junge eigentlich getan hatte, als er ohne mit der Wimper zu zucken, in Perfektion und voll Überzeugungskraft dieses Theater für sie abgezogen hatte. Und er wusste, er hätte das Gleiche tun müssen, in diesem Augenblick. Er hätte lügen müssen. Wie er, für ihn. Für sie. Aber er konnte es nicht. Er sagte gar nichts, und sagte damit doch alles. „Ich…“ Das Wort hing im Raum, zitternd, verging nur langsam. „Ich wars…?“ Kogorô sah ihr Gesicht noch Stunden später deutlich vor sich, als sie verstand. Es hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt, unwiderruflich. „Mausebein…“, versuchte er hilflos, brach dann ab. Er hatte Angst, sie würde jeden Moment in Ohnmacht fallen oder in Tränen ausbrechen, eines von beiden, sah, wie ihre Lippen lautlos seinen Namen formten. Shinichi… Er konnte fast hören, wie sich ihr Puls beschleunigte, als ihr die grausame Wahrheit ins Gesicht lachte, ihr klar wurde, wer ihn verraten hatte. Dass sie es nicht besser gewusst hatte, es keine Absicht gewesen war, machte es nicht einfacher, das sah man ihr an. Ihre blauen Augen wurden groß, in ihnen ein Ausdruck, den er nie in der Intensität gesehen hatte in ihnen… und den er da auch nie hatte finden wollen. Schmerz. Schuld. Eine Mischung von beidem, und das wusste er, die sie um den Verstand bringen würde. Es war vorbei. Sie würde sich das nie vergeben. Shinichi, den sie so sehr liebte, lag im Krankenhaus, hatte die Hölle auf Erden hinter sich, und das, weil er sie liebte. Nun zu wissen, dass er im Grunde genommen für einen Fehler büßte, den sie begangen hatte, das war zu viel für sie. Auch wenn sie alle wussten, dass er sich den Ärger mit der Organisation erst eingebrockt hatte, Ran interessierte das momentan nicht. Sie dachte daran nicht. Und deshalb tat, als sie nun sprach, jedes leise Wort aus ihrem Mund in seinen Ohren unerträglich weh. Ihre Stimme zitterte, in ihr waren ihre Tränen schon zu hören. „Ich hab… ich hab ihn verraten…“ Es brach ihm das Herz, sie so zu erleben. Sie saß auf dem Sofa, ein Schatten ihrer selbst, sah ihn an mit einer Mischung aus Selbstvorwurf und Frage. Es war klar, dass sie nur noch eines wissen wollte – nämlich, wann sie den Fehler gemacht hatte, auch wenn sie es wohl schon ahnte. Er hatte Angst, sie zu zerbrechen mit jedem weiteren Wort und wusste doch, es war eigentlich zu spät, um noch irgendetwas zu ändern. Kogorô hörte sich sprechen, wie als ob ein Fremder spräche, fühlte sich wie ein stummer Beobachter der Szene, gelähmt, unfähig zu einer Reaktion. „Ein Mitglied der Organisation hat euer letztes Telefonat mitgehört.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)