Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 27: Kapitel 9: Versammlung ---------------------------------- Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser, die die Geduld hatten, auf die Fortsetzung dieser Geschichte zu warten - oder die hier neu gelandet sind. Wie auch immer, ich freu mich, wenn das hier noch jemand liest... Es tut mir Leid, dass es so lange dauerte (fast ein Jahr seit dem letzten Kapitel, wie ich grad beschämt feststellen musste), und ich schätze, ich habe eure Geduld auf eine harte Probe gestellt; allerdings hat sich in meinem eigenen Leben in den letzten Jahren einfach viel verändert - und zum Fanfictionschreiben braucht man Zeit. *seufz* Wie dem auch sei, es geht jetzt ohne Unterbrechung zu Ende (es sei denn, meine Festplatte kracht zusammen - ich sollte wohl doch mal ne Sicherungskopie machen) Ich darf euch vorwarnen - es kommt noch einiges an Lesestoff auf euch zu. Die Prozentangabe stimmt. Viel Vergnügen beim Lesen, ich hoffe, ihr werdet vom Rest der Geschichte nicht enttäuscht sein. Beste Grüße, eure Leira _________________________________________________________________________________ Kapitel Neun: Versammlung Jûzô Meguré stand in einem Krankenzimmer, das sie als Einsatzzentrale umfunktioniert hatten, und seufzte schwer. Soweit, so gut. Sein Blick schweifte durch die Runde, die sich in diesem Raum versammelt hatte. Es war schlicht unmöglich gewesen, leidlich unbeobachtet hier rein zu kommen. Mit Sicherheit wussten die bereits, dass sie hier waren; es lag nun an ihnen, der Organisation nicht auch noch zu verraten, hinter welchen Gesichtern und Masken sie sich versteckten, wo überall sie positioniert waren. Er bezweifelte, dass ihnen das erstens: umfassend und zweitens: lange gelang; aber es war ihnen ohnehin allen klar, dass im Laufe des Abends eine Entscheidung irgendeiner Art fallen würde. Sie hatten sie gesehen, ein paar… Mitglieder dieser Organisation. Sie waren auf einem Haus gegenüber des Krankenhauses, im Klinikum selbst wohl auch, gemischt unter die Besucher. Noch war es allerdings ruhig - sie alle warteten wohl nur auf einen. Auf den, der es wohl zu Ende bringen durfte, der den Auftrag ausführen würde. Auf Gin. Kurz zog er seinen Hut vom Kopf, strich sich mit der anderen Hand über die Haare, setzte dann seine Kopfbedeckung wieder auf. Er erkannte fast keinen seiner Mitarbeiter wieder, er musste gestehen, sie hatten alle ihre Sache gut gemacht. Im Zimmer vor ihm stand eine Schar von Ärzten, Schwestern und Patienten, bereit für den Klinikalltag – und sie alle schauten ihn erwartungsvoll an. „Meine Herren!“, begann er dann. „Und Damen.“, grinste Sato, die auf eine Ärztinnenrolle gepocht hatte, im Gegensatz zu Takagis und Chibas Vorschlag, doch die Schwesterntracht anzuprobieren. „Und Damen, natürlich, Danke, Inspektor Sato.“ „Oberärtzin Sato.“ „Natürlich.“ Nun huschte auch über Megurés sorgenvolles Gesicht ein leichtes Lächeln, das allerdings sofort wieder seine Lippen verließ. „Wir sind hier, weil wir eine Aufgabe zu erfüllen haben. Es ist davon auszugehen, dass heute ein Anschlag auf Shinichi Kudô verübt wird - der Junge wird den meisten von euch ein Begriff sein. Deshalb haben wir uns hier versammelt; in dieser Sache arbeitet die Polizei eng mit dem FBI zusammen, für alle also, die ihn noch nicht kennen…“ Meguré wandte sich kurz um, blickte James Black in die Augen, der schräg hinter ihm stand. „Dies ist Agent James Black vom Federal Bureau of Investigation. Ihr nehmt von ihm bitte genauso gewissenhaft Befehle an, wie von mir. Die Agents Akai und Starling sind gerade noch unterwegs, um Ran Mori sicher zu ihrem Vater zu bringen, Kogorô Môri, ebenfalls den meisten von euch bekannt.“ Die Menge vor ihm nickte synchron. „Gut. Nun.“ Er räusperte sich aufgeräumt, drehte sich dann um und trat zur Seite, gab den Blick auf ein Flipchart frei. „Der heutige Abend läuft folgendermaßen ab…“ Shinichi wusste nicht, wie lange er die Tür angestarrt hatte, nachdem sie hinter seinen Eltern ins Schloss gefallen war. In ihm herrschte ein Chaos, das er fast nicht ertragen konnte. Der Besuch seiner Eltern hatte in ihm mehr aufgewühlt als beruhigt und es gelang ihm nicht, auch nur einen einzigen, klaren Gedanken zu fassen. Nicht einen, so sehr er sich auch bemühte. Unwillig schloss er die Augen, massierte sich die Schläfen, versuchte durch das Ausblenden jeglichen optischen Reizes seinem Kopf ein wenig Ruhe zu verschaffen, die Gedanken, die sich im Kreis drehten und dabei noch Salti schlugen, etwas zu bremsen und zu ordnen – und merkte doch, wie wenig es ihm gelang. Die Reaktion seiner Eltern gab ihm Rätsel auf, ihr spätes Kommen beschäftigte ihn immer noch, auch wenn er sie teilweise verstehen konnte. Es war wohl berechtigt, dieses mulmige Gefühl bei dem Gedanken, einen Sohn zu treffen, der einen nicht mehr kannte… Es war wohl vergleichbar mit seiner Situation, Eltern zu treffen, die er nicht mehr kannte. Dennoch gab es doch auch Leute, die damit anders umgingen. Die versuchten, eine echte Hilfe zu sein. Wie der Professor. Ai. Die Kinder. Konnte es da denn sein, dass seine Eltern so viel weniger mit der Situation zu Recht kamen? Noch dazu, wo er sie doch in den vergangenen Jahren wohl hauptsächlich zu den großen Feiertagen gesehen hatte. Ein zynisches Lächeln huschte auf seine Lippen, blieb haften, selbst als er die Augen wieder öffnete, sich umwandte. Er sah sein Spiegelbild ihn aus der Fensterscheibe anstarren, und bemerkte bei der Gelegenheit erst, wie dunkel es doch schon geworden war. Die Nacht war in sein Zimmer geschlichen, unbemerkt, hüllte alles ein in ihr zwielichtiges Grau, das immer schwärzer wurde - eine Farbe, die ihm nicht unbedingt bei seinen Entscheidungen half. Es schien alles so wirr. So trüb. Das Lächeln erlosch, als ihm gewahr wurde, wie sehr er zu dem geworden war, das ihm die Glasscheibe zeigte- ein dunkler Schemen, ein transparenter Hauch von Nichts. Mühsam schlug er seine Bettdecke zurück und glitt aus dem Bett, tappte langsam zum Fenster, starrte durch seine Reflexion hinaus in die Nacht. Sie war bunt, stellte er fest, nicht so dunkel, wie er erwartet hätte; allerdings befanden sie sich in Tokio, und Tokio schlief wie die meisten Großstädte nie. Überall blinkte und blitzte es, Leuchtreklame, Fenster von Wohngebäuden, Autoscheinwerfer und Ampelanlagen erhellten die Nacht, so hell, dass kein einziger Stern zu sehen war, die wohl zusätzlich der Smog der Großstadt verhüllte. Langsam ließ er seinen Blick nach unten gleiten, auf die Welt direkt zu seinen Füßen. Es war erstaunlich viel Verkehr auf dem Krankenhausparkplatz, stellte er fest; allerdings hatte er keine rechte Ahnung, wie viel da normalerweise los war. Er seufzte sein Spiegelbild an, zuckte mit den Achseln und ließ die Rollläden herunter, öffnete einen Fensterflügel für etwas frische Luft. Kurz blieb er stehen, genoss den kühlen Windhauch, dann drehte er sich um, wanderte bedächtig zurück zu seinem Bett, ließ sich in die Kissen sinken. Frische Luft war bestimmt nichts Schlechtes, vielleicht half sie ihm beim Einschlafen. Vielleicht brachte sie eine Lösung, wie er mit seinen Eltern umgehen konnte, wie er seine Probleme lösen sollte. Shinichi seufzte, wälzte sich von einer Seite auf die andere, wartete, dass der Schlaf ihn übermannte, aber Hypnos wollte sich seiner nicht erbarmen. Er merkte, wie sich langsam seine Augen an die Dunkelheit im Zimmer gewöhnten, er die Einrichtung als bläuliche Silhouetten erkennen konnte, starrte an die Decke und fragte sich, wohin das alles führen würde. Er hörte nichts, außer sein eigenes, langsames Atmen und das gelegentliche Knistern des Stoffs, sowie ein paar hastige Schritte, wenn jemand draußen an seinem Zimmer vorbei ging- und hie und da eine aufgeregte Stimme, einen kurzen Ruf. Und seine Gedanken schwammen in seinem Kopf immer noch wie in einer dicken Suppe, langsam doch träger werdend, aber immer noch undefinierbar und kaum zu fassen. Er konnte nichts ausmachen, das aus der Masse stach, vielleicht abgesehen vom Professor und seinem Anhang, diesen Kindern, und dieser… Ai. Bald würde wohl auch mal die Polizei aufkreuzen, schließlich war er Opfer eines Mordversuchs und wohl Zeuge… eines… mehrerer?... Verbrechen gewesen. Ein bitteres Lächeln schlich über seine Lippen. Einen unnützeren Zeugen hatte es wohl kaum je gegeben. Müde strich er sich über die Augen, er merkte, wie alles an ihm nach Ruhe und tiefer Erholung schrie, aber schlafen konnte er nicht; dafür arbeitete es in seinem Kopf zu sehr. Was zynisch war, war doch nicht mehr viel in seinem Kopf, mit dem man überhaupt arbeiten konnte. Nichtsdestotrotz lag er da, wach, starrte an die graue Decke in seinem grauen Zimmer, merkte, wie der Wind immer mehr herbstliche Kälte mit ins Zimmer brachte und brütete über seinen Gedanken, die genauso grau und finster waren wie alles um ihn herum. Auch in ein anderes Zimmer war mittlerweile die blaue Stunde angebrochen- im wahrsten Sinne des Wortes. Die Dämmerung hatte sich in Rans Zimmer breit gemacht, tauchte alles in ein eintöniges Graublau, passend zu der Stimmung des Mädchens, das diesem Raum sonst so viel Leben und Farbe einhauchte. Kogorô seufzte, betrachtete Eri, die bei ihrer Tochter auf dem Bett lag und sie im Arm hielt. Unheimlich. Ja, das war der passende Begriff dafür, wie die Situation, wie seine Tochter gewirkt hatten, nachdem er diesen Satz geäußert hatte. Diesen einen, verdammten Satz. „Ein Mitglied der Organisation hat euer letztes Telefonat mitgehört.“ Immer wieder hallten seine Worte in seinem Kopf wieder, und er wusste, sie taten es auch in ihrem. Und dafür verachtete er sich, er hätte sie beschützen müssen, davor. Vor diesem unglaublichen Gefühl der Schuld, dass sie nun niederpresste und ihr fast die Luft zum Atmen raubte. Er hatte doch gewusst, wie sie reagieren würde. Er war doch ihr Vater, er kannte seine Tochter in- und auswendig; keiner kannte sie besser als er, mit vielleicht… einer Ausnahme. Ich hätte lügen müssen. Es wäre meine Pflicht als Vater gewesen, sie anzulügen, verdammt…! Ich hätte lügen müssen, wie du es getan hast. Als er ihr mitgeteilt hatte, dass ihr Telefonat Schuld war an seiner Misere, war sie auf einmal so still geworden. So unglaublich, unheimlich still. Und so blass. Kurz dachte er, ihm gegenüber säße ein Geist, nicht seine Tochter. Dann war sie aufgestanden, langsam, und in ihr Zimmer gegangen, fast schlafwandlerisch, ihre Füße schienen den Boden kaum zu berühren; sie hatte die Tür leise geöffnet und genauso leise geschlossen. Und war zusammengebrochen. Er hatte ihr knappe zwei Stunden gegeben, um sich zu beruhigen, hatte immer wieder vor ihrer Tür gestanden und gelauscht, immer wieder versucht, ihr gut zuzureden und hatte sich doch nicht getraut, in ihr Zimmer zu gehen. Die Tür war zu, und das hieß bei Ran ganz eindeutig nur eines: sie wollte allein sein. Immer, wenn gerade alles ruhig schien, hörte er sie wieder anfangen zu weinen. Ein Auf und Ab, ein dynamischer, sich ständig wiederholender Prozess, der ihm das Herz brach. Und Shinichi, das ahnte er, wenn er es wüsste, auch. Tatsache, der Junge wusste das nicht- er wusste ja momentan gar nichts mehr. Als es dann nach gut zweieinhalb Stunden immer noch nicht besser geworden war, hatte er Eri verständigt, weil er sich nicht mehr zu helfen wusste. Es gab einfach Situationen, da brauchte ein Mädchen seine Mutter. Dies war eine solche Situation. Eri war sofort gekommen, und seit einer Viertelstunde nun lag sie neben ihrer Tochter auf deren Bett und strich ihr durch die Haare, schweigend. Sie hatte nichts gesagt, als sie das Zimmer betreten hatte, und blieb auch weiterhin stumm. Sie wartete, bis Ran zu reden anfing, von selber. Sie war hier in keinem Gerichtssaal, es ging hier nicht darum, Fragen zu stellen und Antworten zu kriegen. Sie bedachte ihre Tochter mit einem langen Blick, konnte sich nur vorstellen, was in ihrem Kopf vorging. Was sie dachte, wie sie mit sich kämpfte, was sie durchmachte. Sie hatte Shinichi noch nicht gesehen, aber sie wusste, wie eine Amnesie aussah. Schaudernd dachte sie an die Zeit zurück, als ihre eigene Tochter sie nicht mehr erkannt hatte. Dass es nun Shinichi ähnlich ging, addiert zu all dem anderen, das ihm widerfahren war, musste Ran mitnehmen. Das… war wohl nur natürlich. Ran lag da, war langsam stiller geworden, schwieg ebenfalls, knetete nur das Kopfkissen mit verkrampften Fingern, hin und wieder geschüttelt durch ein heiseres, trockenes Schluchzen. In ihrem Kopf drehten sich immer wieder die gleichen Gedanken, immer und immer wieder tauchten die gleichen Worte auf, hallten in ihrem Schädel wieder wie Echos in einer Bergschlucht, nur, dass sie nicht verklingen wollten. Sie kehrten immer wieder. Es war ihre Schuld, dass er überhaupt in diese Situation gekommen war. Sie wollte mit ihm in diesen Park. Und ihr Telefonat war es gewesen, das ihn entlarvt hatte. „Ein Mitglied der Organisation hat euer letztes Telefonat mitgehört.“ Immer wieder klang dieser eine Satz in ihren Ohren. „Das ist alles meine Schuld.“, wisperte sie schließlich. Kogorô fuhr auf, horchte angespannt. „Ran…“ Eri schluckte, streichelte ihr sanft mit dem Daumen über die Schläfe. „Ran, nicht doch… du konntest es nicht wissen, du ahntest doch nichts, und ich bin mir sicher, er macht dir da keinen Vorwurf. Er hatte wahrscheinlich auch keine Ahnung, dass jemand euch belauscht, er hätte sonst nie so mit dir telefoniert, da bin ich mir sicher… ich meine, so wie er all die Jahre aufgepasst haben muss…“ Ran schloss kurz die Augen, dachte über die Argumente ihrer Mutter nach - dann schüttelte sie dennoch unwirsch den Kopf. „Das tut nichts zur Sache. Es… es ist meine Schuld, und er sollte mir Vorwürfe machen. Ich meine, ich konnte ja nicht aufhören, ich musste ja weiterbohren, er wollte dieses Gespräch doch gar nicht führen, er wollte nicht weiter drüber reden, er hat immer wieder versucht, vom Thema weg zu kommen, hat gesagt, er redet mit mir ein andermal- warum hab ich nicht auf ihn gehört, und gewartet und…“ Eine Träne perlte aus ihrem Augenwinkel, sie drehte sich auf den Rücken, entzog sich ihrer Mutter. Eri schaute sie stumm an, setzte sich auf, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können, kniff dann die Lippen zusammen. Sie kannte den Blick in den Augen ihrer Tochter nur zu gut. So sah Ran aus, wenn sie einen Entschluss fasste. „Ich werde ihn nicht besuchen.“, murmelte Rann dann leise, und man merkte, wie unendlich schwer ihr diese Worte fielen, wie es sie innerlich zerriss bei dem Gedanken an Shinichi. Eine Gänsehaut lief ihr über den ganzen Körper, stockend atmete sie aus. Tatsache war, nirgends würde sie gerade eben lieber sein, als bei ihm – endlich bei ihm. Wie viel sie noch vor ein paar Stunden dafür gegeben hätte, endlich zu Shinichi zu können, sich endlich ein Bild davon machen zu können, wie es ihm ging, sich um ihn zu kümmern, mit ihm zu reden, ihm Mut zu machen, sie wusste doch… wusste doch, wie es war, wenn man nichts mehr wusste. Wenn man nicht mal mehr sich selbst erkannte. Sie hatte versuchen wollen, wieder gut zu machen, was er für sie ertragen hatte, sie hatte… sie hatte einfach für ihn da sein wollen. Und nun bohrte da in ihr dieses Schuldgefühl, das zwar vorher auch schon da gewesen war, aber nicht in der Intensität. Jetzt, da sie wusste, wer er gewesen war, und dass er wegen ihr aufgeflogen war, wegen ihr erst überhaupt das alles ertragen hatte müssen- nicht nur für sie, weil er sie so sehr liebte, weil er sie in Sicherheit wissen wollte… sondern auch noch wegen ihr. Fest kniff sie die Augen zusammen, als sie merkte, wie sich neue Tränen in ihnen sammelten. Dann hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die sie ansprach, schaute sie aber nicht an. „Das musst du auch heute gar nicht… ruh dich ruhig aus, man kümmert sich um ihn… und morgen…“ Eri griff nach ihren Fingern, drückte sie. „Heute kannst du erst einmal ein wenig Ruhe finden, und dann…“ „Nein.“ Ran presste ihre Kiefer zusammen, schüttelte den Kopf. „Nein, das meinte ich nicht.“ Sie lächelte niedergeschlagen, traurig, setzte sich kurz auf, schaute ihrer Mutter ins Gesicht. Ihr Teint war kalkweiß, ihre Augen rotgerändert und feucht glänzend, ihre Haare standen wirr ab. Kogorô erschrak, und auch Eri ließ der Anblick nicht kalt; keiner von ihnen hatte ihre Tochter je so gesehen. Sie sah so zerbrechlich aus, und wirkte doch gleichzeitig, als wäre sie schon zerbrochen. Ran schluckte, kaute kurz auf ihrer Unterlippe, als sie mit bebenden Lippen zu sprechen begann. „Das war… nicht die feine englische Art von ihm, das weiß ich. Und ich könnte ihm dafür den Hals umdrehen, ich hab… ich hab ihm vertraut, verdammt! Und er hat das ausgenutzt, egal ob er wollte oder nicht, er hat… er hat dieses Vertrauen ausgenutzt. Aber er… er hat mich mit seinen Lügen wenigstens beschützt. Er hat mit unlauteren Mitteln ein hehres Ziel verfolgt. Immerhin.“ Sie schluckte, ihr Blick verlor sich. Langsam hob sie eine Hand, bemerkte, dass sie leicht zitterte, strich sich aber dennoch eine Strähne, die ihr in die Augen hing, hinters Ohr, vergrub dann ihre Finger wieder in ihrer Bettdecke. „Er wollte mir nicht wehtun, das weiß ich, ich habs… gemerkt, bei diesem dummen Telefonat. Er wollte alles, alles – nur mir wehtun, das wollte er nie.“ Kurz warf sie ihrem Vater einen Blick zu, dann stierte sie auf ihre geblümte Bettdecke, verkrampfte sich, fröstelte, schlang ihre Arme um ihren Körper und merkte doch, dass es nichts half. Die Kälte, die sie spürte, kam von Innen, aus ihr heraus. „Ich will ihn nicht mehr sehen, weil es nicht sein darf, dass er für mich so viel macht, so viel aufgibt, so viel riskiert und das trotz der Tatsache, dass ich ihn da überhaupt erst reingeritten hab. Er erträgt… so wahnsinnig viel für… mich. Das will ich nicht.“ Tränen strömten ihr über die Wangen. „Verdammt, das will ich nicht!“ Sie schluchzte, fühlte, wie es warm über ihre Wange lief. Eri schaute sie bestürzt an. „Ich hab lang im Flugzeug schon überlegt, wie ich ihm begegnen soll, wie ich ihm das erklären soll, oder ob ich ihn nicht einfach in Ruhe lassen sollte. Aber ich dachte, ich müsste ihm helfen, ich bin doch… seine Freundin, und er hat das für mich getan. Und ich… ich… er… er bedeutet mir so viel.“ Sie merkte, wie ihr heiß wurde, als sie ihren Eltern ihre Gefühle für ihren Sandkastenfreund gestand. Etwas unangenehm war ihr das, aber sie ahnte, dass es ohnehin schon jeder wusste. Ran schluckte, krallte ihre Finger in ihren Pullover. „Ich liebe ihn. Wirklich, das ist… keine Schwärmerei, das dachte ich lange. Aber das ist es nicht… und eben weil er mir so wichtig ist, wollte ich für ihn da sein. Wenn er mich braucht, wollte ich da sein für ihn.“ Ihre Stimme sank zu einem Flüstern. „Aber sagt mir… wie kann ich ihm jetzt noch unter die Augen treten, wenn ich weiß, ich bin schuld, und das auch noch doppelt? Ich hätte es beide Male verhindern können! Ich hätte ihn zurückhalten müssen im Tropical Land, ich hatte da schon so ein dummes Gefühl, und ich hätte aufhören müssen zu bohren, als wir telefoniert haben. Aber nein… ich hab beide Male das Falsche getan.“ Sie lächelte bitter. „Beide Male falsch entschieden. Und er hat meine Fehlentscheidung ausbaden müssen.“ Kogorô starrte sie an, trat näher. Auf seinem Gesicht lag ein finsterer, betrübter Ausdruck, ein ungewohntes Bild. „Aber Ran, das konntest du nicht wissen! Wie hättest du etwas verhindern können, verdammt, das musst du doch einsehen, dich trifft da keine Schuld! Er hat auch selbst entschieden, du…“ Ran schüttelte den Kopf, langsam. „Möglich, dass es vielleicht nicht allein meine Schuld ist. Aber ich hätte anders entscheiden können, weißt du. Ich hätte ihn an der Jacke fest halten können, ihn bitten, mich heimzubringen, so, wie ich es wollte. Ich wollte nicht, dass er geht. Ich wollte, dass er mich heimbringt.“ Sie schluckte. „Aber ich hab es nicht gesagt. Und ich hätte ihm zustimmen können, ein andermal über diese Sache zwischen uns zu reden, aber das hab ich nicht. Ich wollte es unbedingt gleich wissen, am Telefon. Dabei… redet man über solche Dinge doch eigentlich nicht am Telefon, und eigentlich… wollte ich so auch nie über meine Gefühle für ihn reden. Oder ihn dazu bringen, über seine zu reden. Aber das hab ich nicht, ich wollte Tacheles reden, gleich. Verstehst du?“ Sie zögerte kurz, wischte sich langsam die Tränen aus den Augen. „Ich… werde ihn nicht besuchen. Und ich will… nicht mehr seine Freundin sein, wenn ich ihn dazu bringe, dass er zulässt, dass man das mit ihm macht. Ich tu ihm nicht gut. Vielleicht bring ich ihm sogar Unglück.“ Ein Ausdruck von Kapitulation trat auf ihr Gesicht. Eri lächelte traurig, stand auf. „Das ist nicht allein deine Entscheidung, Ran. Und du weißt das auch. Wie du weißt, hat er einen Sturschädel, der deinem gewachsen ist. Außerdem…“ „Das ist mir egal.“ Ran unterbrach sie, biss sich dann auf die Lippen, drehte sich um, starrte die Wand an und schwieg. „… vielleicht schaut morgen die Welt schon anders aus.“, vollendete Eri stoisch ihren Satz, stand dann auf, zog Ran die Decke über die Schulter und küsste sie auf die Schläfe. „Verfahr dich nicht, Ran. Du könntest mehr verlieren, als dir lieb sein kann, wenn du noch einen Fehler machst, wie du es nennst. Du weißt, welchen ich meine.“ Damit ging Eri zur Tür, zog ihren Mann mit sich und schloss die Tür. Kogorô starrte sie gleichermaßen beunruhigt wie verwirrt an. „Denkst du das ist ihr Ernst?“ „Im Moment ist es das sicher.“, murmelte die Anwältin leise, ließ ihre Augen den Flur entlang wandern, blieb an einem paar kleiner Turnschuhe hängen, seufzte tief. Dann drehte sie ihren Kopf, schaute ihren Mann ernst an. „Im Moment überwiegt ihr Schuldgefühl sogar den Zorn, den sie hat, wegen seiner ganzen Lügerei. Tatsache ist, er hat es wirklich nicht aus böser Absicht getan, das ist ihr klar. Nur aber… sieht sie nicht, dass Shinichi selbst entschieden hat, was den Rest betraf. Wahrscheinlich rechnete er ja damit, dass sie ihn eines Tages finden, ich denke nicht, er gibt ihr die Schuld dafür… und er… hat ja selbst entschieden, trotz allem. Aber sie spricht ihm wohl gerade ab, selbst denken zu können.“ Ein sanftes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Ausgerechnet ihm. Ist das nicht Ironie?“ Er ließ sich gegen die Wand sinken, verschränkte seine Arme vor seiner Brust, erwiderte ihr Lächeln. „Schon paradox, ja.“, murmelte er. „Das Traurige ist, Kogorô… wäre diese Situation umgekehrt, dürftest du darauf wetten, dass Ran genau das Gleiche wie er tun würde… und er wohl genauso wenig einverstanden damit wäre, und ich muss gestehen, das macht mir Angst. Was diese beiden verbindet ist ungeheuerlich… groß. Und ich frage mich, wie wir das so lange nicht bemerken konnten.“ Kogorô seufzte, schaute auf den Boden. „Wir sind Eltern, Eri. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder erwachsen werden… Wir wollen es einfach nicht wahrhaben. Ich frage mich, ob Yukiko und Yusaku sich je Gedanken darüber gemacht haben, ob ihnen das aufgefallen ist. Und was mich betrifft…“ Ein schuldbewusster Ausdruck glitt über sein Gesicht. „Du weißt, was ich von ihm hielt. Das hat mich… furchtbar kurzsichtig gemacht, ich sah nicht… dass sie ihn liebt, also… dass es mehr war als bloße Schwärmerei, ich sah das lang nicht. Und ich sah in ihm nur einen dieser Jungen, der sich an meine Tochter ranmachen wollte.“ Er lächelte entschuldigend. „Wäre ja nicht so, als gäbs von der Sorte nicht genügend, das musst du zugeben. Ich hab mir nie die Mühe gemacht, ihre Beziehung mal zu überdenken, zu beobachten. Und das, obwohl sie sich doch schon von klein auf kennen.“ Langsam vergrub er seine Hände in seinen Hosentaschen. „Kaffee, Eri?“ „Sehr gern.“ Eri nickte langsam, folgte dann ihrem Mann in die Küche. Ein paar Straßen weiter, im Hause des Professors, war alles hell erleuchtet; es herrschte Aufregung, und die meiste Unruhe brachte wohl der Professor selber ins Geschehen, der seit Minuten nun gegen die Tür von Ais Labor trommelte. Hinter ihm standen Genta, Mitsuhiko und Ayumi, und schrien sich heiser. Der Professor hatte Ai verboten, es zu tun; das Gegengift zu nehmen. Sie hatte so getan, nach stundenlanger Diskussion, als hätte sie eingelenkt, allerdings nur, offensichtlich, um nach einer Entschuldigung auf die Toilette in ihrem Labor zu verschwinden und das Zeug doch zu schlucken. „Ai, verdammt, mach die Tür auf!“ Mitsuhiko atmete schwer; Genta neben ihm bekam kaum noch Luft. Sie hatten alle diesen Schrei gehört… nur diesen einen Schrei, und es war ihnen ein eiskalter Schauer über den Rücken geronnen. Sie alle hatten sofort gewusst, was passiert war, was sie… getan hatte. Und so standen sie nun seit geschlagenen fünf Minuten vor diesem Labor. „Ai, ich trete die Tür ein, ich meine das ernst!“ Agasa polterte mit beiden Fäusten gegen die Tür. Mein Gott, lass sie nicht tot sein, bitte, bitte, lass sie nicht tot sein, bitte… „Ai?“ Ayumis piepsiges Stimmchen übertönte die lauten Rufe der anderen kaum. „Ai!“ Tränen spiegelten sich bereits in ihren Augen, warteten darauf, über ihre Wangen zu rollen. Ayumi hatte Angst, soviel war klar. Agasa ließ die Arme sinken, warf ihr einen kurzen Blick zu, schaute dann wieder auf, starrte an die weiße Tür, als wolle er sie mit seinen Blicken durchbohren. „Shiho, du törichtes Mädchen… das wird er mir nie verzeihen, sollte er sich je erinnern...“, flüsterte er heiser, ungehört von allen anderen, ballte verzweifelt die Fäuste, wusste weder ein noch aus. Dann ging die Tür auf. „Was macht ihr für nen Krach? Gerade Sie, Herr Professor, sollten doch wissen, wie das abläuft…“ Genervt schaute sie ihn aus halbgeöffneten Augen an, gähnte, benahm sich betont gelassen. Ein Blick in Ayumis blasses Gesichtchen hatte ihr gezeigt, was hier draußen losgewesen war, während sie sich noch unter Qualen gekrümmt hatte; anschließend hatte sie sich wirklich beeilt, sich etwas frisch zu machen und sich etwas Passendes anzuziehen, aber sie war offenbar immer noch nicht schnell genug gewesen. Sie streichelte dem kleinen Mädchen übers Haar, dann ging sie an ihnen vorbei, die Treppe halb hoch, schloss den letzten Knopf ihrer Bluse, als sie merkte, dass ihr keiner folgte. Langsam drehte sie sich um, blickte in vier fassungslose Gesichter; ihnen allen stand der Mund offen, namenloses Erstaunen lag in ihren Blicken. Sie seufzte, verdrehte die Augen gen Himmel. „Kriegt euch wieder ein. Ich hab nur eine winzige Menge aus einer Kapsel genommen, die Wirkung hält also nicht so lang wie üblich. Wir haben wirklich keine Zeit zu verschenken, also was ist?!“ Damit stieg sie die Treppe empor, merkte, wie ihr nun auch endlich jemand folgte; Ayumi hatte schnell aufgeholt, schob ihre kleine Hand in ihre. Shiho schluckte, schaute auf das kleine Mädchen herab, das starr auf den Boden blickte, aber ihre Finger fest umklammert hielt. Ayumi. Die Fahrt ins Klinikum verlief schweigend, auch wenn Shiho dem Professor ansehen konnte, wie er auf seiner Zunge kaute. Er war ziemlich außer sich, das wusste sie; alles, was ihn davon abhielt, ihr tatsächlich seine Meinung zu geigen, war die Tatsache, dass die Kinder noch hier waren. Vor den Kindern riss er sich zusammen. Grundsätzlich war er ja ohnehin kein Mann des Streits, er war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen, er… war eigentlich stets die Ruhe selbst. Aber das hier ging selbst ihm zu weit, weil er, und das wusste sie, sich unheimliche Sorgen um sie machte. Allein, was mit Shinichi passiert war, reichte ihm eigentlich vollkommen… die Angst um sie, die Furcht davor, dass sie das Gegengift umbringen könnte oder einer von ihnen ihr etwas antat, jetzt, da sie so leicht zu erkennen war… Ihm war das gar nicht Recht, was sie da veranstaltete; daraus machte er keinen Hehl. Die drei Detective Boys waren wohl immer noch viel zu erschlagen von der Wahrheit; sie hatten zwar geglaubt, was der Professor ihnen über Shinichi erzählt hatte, aber das alles in echt und fast hautnah zu erleben war noch einmal etwas anderes. Mit Shiho… wurde auch Shinichi noch um ein ganzes Stück realer. Bei Shinichi und Conan war die Verwandlung nicht so unmittelbar geschehen… bei Shiho… beziehungsweise Ai, schon. Shiho wusste nicht, woran es lag, dass sie zunehmend unruhiger wurde; sie ahnte den Grund allerdings, als sie versuchten, auf den Krankenhausparkplatz zu fahren. Ein Polizist hielt den gelben Käfer des Professors auf. Shiho schluckte, versuchte, außer Sicht zu bleiben, während der Professor das Fenster herunterkurbelte. Sie hörte zwar jedes Wort mit, das gewechselt wurde, aber ihr war mittlerweile der Grund für ihre Nervosität sehr klar geworden. Sie waren hier. Sie schluckte, krallte ihre Finger in ihren Rock, schauderte. Verdammt…! Und so, wie ihr ein Schauer nach dem anderen über den Rücken lief, musste es geradezu wimmeln von ihnen. Unsicher blickte sie aus dem Fenster, biss sich auf die Lippen. Sie wusste, wo sie suchen musste, und sie wurde fündig. Auf dem Dach gegenüber; am Haupteingang. Und das war sicher nur ein Bruchteil derer, die hier waren. Unwillkürlich zuckte sie zurück, fuhr zusammen, presste sich gegen ihren Sitz, als wolle sie in den Polstern versinken, fing an zu zittern, konnte nicht verhindern, dass ihr Atem immer schneller wurde. Agasa bemerkte sie aus dem Augenwinkel. Shiho schüttelte langsam den Kopf. „Sparen Sie sich den Atem. Ja, sie hatten Recht, es ist gefährlich. Und nein, ich mache keinen Rückzieher. Jetzt sind wir hier, und jetzt zieh ich das auch durch. Gerade die Tatsache, dass sie hier sind, ihn… gefunden haben, beweist die Tatsache, dass er unbedingt schnellstmöglich sein Gedächtnis wiederhaben muss. Außerdem…“, sie biss sich auf die Lippen, fuhr dann leise wispernd fort, „bin ich lieber hier, als Däumchen drehend daheim, wenn ich weiß, er ist in Gefahr. Hier kann ich ihm vielleicht helfen... daheim nicht. Aber mit den Kindern sollten sie nicht da reinfahren. Ich steige hier aus.“ Sie setzte sich eine Sonnenbrille auf, setzte sich eine Mütze auf und zog sie tief ins Gesicht, schlug den Kragen ihres Mantels hoch. „Aber… willst du dir das nicht noch einmal überlegen? Du kannst das Gift ja noch einmal nehmen, später, und die Polizei hat hier doch alles im Griff…“, er nickte in Richtung Klinikeingang, wo Chiba, verkleidet als Arzt, eine Zigarette rauchte. Shiho lachte bitter. „Kommen Sie, Professor, Sie kennen die doch. Sie sitzen auf den Häusern gegenüber, sind unter den Ärzten, Schwestern und Patienten. Auch wenn die Polizei in einem Großaufgebot hier ist; das Klinikum befindet sich im Belagerungszustand, und das wird es bleiben, bis sie haben, was sie wollen. Wen sie wollen. Shinichi.“ Sie stopfte sich unwirsch ihre blonden Locken unter die Haube und schnappte sich die Tasche mit Ais Klamotten. „Rechnen sie in circa zwei Stunden mit mir.“ Dann stieg sie aus, schlug die Tür zu, ohne Agasa, der gerade zu einer Antwort ansetzen hatte wollen, zu Wort kommen zu lassen, und winkte den Kindern kurz zu. Dann lief sie los, geduckt im Schatten der Gebäude und parkenden Autos, hinein ins Krankenhaus. Sato stand an der Informationszentrale im zweiten Stock, schaute auf ihr Klemmbrett, auf dem keineswegs Informationen über ihren nächsten Patienten zu lesen waren; viel eher waren darauf Informationen zu lesen, die sich mit einer ganz anderen Art Patient befassten. In den letzten Minuten hatte sie höchst angespannt und aufmerksam jeden beobachtet, der an ihr vorbeigegangen war, und sich Notizen gemacht. Sie wusste, Yumi, die sich für diesen Einsatz freiwillig gemeldet hatte, da sie schon seit einiger Zeit versuchte, in die Mordkommission aufgenommen zu werden, die in ihrer Schwesterntracht in der Teeküche stand, tat das gleiche; noch dazu konnte sie gut die Gespräche des Pflegepersonals aufschnappen. Ab und an steckte sie kurz seinen Kopf aus der Tür, damit sie sehen konnten, dass bei jeweils anderen noch alles in Ordnung war. Gerade eben hatte ihr Yumi wieder zugezwinkert und den Daumen hoch gehalten – für sie war das hier alles ziemlich aufregend. Sato hoffte nur, dass das hier heute auch das Aufregendste war, das ihnen passierte. Sie seufzte, massierte sich die Schläfe, spähte dann den Gang entlang zu seiner Tür. Um nicht allzu offenkundig zu zeigen, in welchem Zimmer er lag, standen unmittelbar vor der Tür keine Wachen; mit etwas Glück wussten die Männer in Schwarz seine Zimmernummer noch nicht. Sollten sie kommen, würden sie und Yumi aber auch so gleich zur Stelle sein, sowie die dann schnellstens herbeigerufene Verstärkung. Unwillkürlich tastete sie ihren weißen Kittel ab. Gut versteckt und flach anliegend steckte eine Pistole im Bund ihres Rockes, ihr Pieper steckte in ihrer Kitteltasche.. Für den Fall der Fälle. Sie seufzte, strich sich eine Strähne hinters Ohr folgte der blonden Schwester, die gerade in ihren Birkenstockschuhen an ihr vorbeieilte mit ihren Augen, machte Notizen. Dann bemerkte sie Yumis Kopf erneut im Türrahmen, winkte ihm kurz zu. Soweit, so gut. Hinter ihr auf dem ansonsten nun menschenleeren Gang erschien eine hochgewachsene, schlanke Frau mit großer Sonnenbrille und kinnlangen, blonden Haaren. In ihrer Hand trug sie einen Korb, hob grüßend die Hand. Als Sato sich umwandte um zu sehen, wen sie grüßte, bemerkte sie einen hageren Mann mittleren Alters, der ihr zuwinkend gerade in die Teeküche ging, wohl um die Schwester um eine Kanne Tee für seinen kranken Angehörigen zu bitten. Dem war Yumi sicher gewachsen. Ein Lächeln huschte ihr über die Lippen. Und selbst wenn diese beiden irgendwer anders sein sollten als die, für die sie sich ausgaben… sie waren ja ausgebildete Polizisten. Unsicher schob sie ihre Hand unter ihren Kittel, umfasste ihre Pistole, drehte sich um, als sie einen Luftzug in ihrem Nacken spürte. Inspektor Chiba seinerseits stand als rauchender Assistenzarzt vor dem Eingang des Hospitals und gab somit ein glänzendes Beispiel für eine gesunde Lebendweise. Ein ironisches Grinsen flog über seine Lippen, als er kurz an sich hinabsah. Er musste zugeben, dem weißen Kittel und dem Stethoskop um den Hals konnte er durchaus etwas abgewinnen; vielleicht hätte er mal doch lieber das Medizinstudium ergreifen sollen, anstatt die Polizeiakademie zu wählen? Grübelnd fuhr er sich über seinen Bauch, was ihn zu der Frage führte, wann dieser Tag wohl endlich vorbei sein würde und er zu seinem wohlverdienten Abendessen kam. Aber so, wie es aussah, würden sie hier wohl noch länger brauchen… noch war kein Anzeichen für eine Aktion der Organisation in Sicht- und damit auch das Ende dieses Tages noch in weiter Ferne. Er seufzte, zog an der Zigarette, warf sie dann in den Aschenbecher, stieß die Rauchwolke aus. Eigentlich rauchte er ja nicht, aber er brauchte einen Vorwand, um hier heraus zu können, und den Parkplatz scannen zu können. Würde er die ganze Zeit hier stehen, wäre das wohl zu auffällig. Kurz ließ er seine Augen noch einmal über die Autos schweifen, drehte, als er nichts Verdächtiges erkennen konnte, um und ging ins Krankenhausfoyer. Suchend blickte er um sich, aber sah ihn nicht. Er wartete auf Takagi, der ihm bis gerade eben Gesellschaft geleistet hatte, und den besorgten Angehörigen mimte, um ihn für andere, echte Patienten unansprechbar zu machen. Der Gute war kurz für kleine Jungs verschwunden, und so lange war Chiba alleine. Ein entnervtes Seufzen entwich seiner Kehle. Eigentlich war er nicht gern so alleine. Die Glastüren waren gerade lautlos hinter ihm zu geglitten, als er die Schreie vernahm. „Doktor!“ Eine junge Frau rannte ihm entgegen. Ihre roten Haare flatterten hinter ihr her wie eine Fahne, in ihrem Gesicht standen Angst und Entsetzen. „Doktor, Sie müssen mir helfen, schnell! Mein Freund! Da, im Gang!“ Chiba starrte sie fassungslos an. Damit hatte er nicht gerechnet. Unschlüssig wandte er sich um, fand zu seinem Unglück keinen Arzt, der ihn hätte begleiten können und auch Takagi ließ sich nicht blicken. Unsicher wandte er sich der Frau zu, die nun vor ihm stand, mit dem Atem rang und zu weinen anfing. „Bitte, so helfen Sie mir doch! Er ist zusammengebrochen… bitte! Sie sind doch Arzt!“ Sie griff nach seiner Hand, zog hilfesuchend an ihr. Der junge Inspektor öffnete und schloss seinen Mund wieder, stöhnte innerlich auf. Sah in ihre flehenden Augen, groß vor Angst glasig glänzend von ihren Tränen, bemerkte ihren blassen Teint, ihre bebenden Lippen. Und brachte es nicht übers Herz, sie einfach stehen zu lassen. Nun gut, zumindest erste Hilfe kann ich leisten- mit etwas Glück kommt bald ein richtiger Arzt… Langsam nickte er, ließ sich von der Rothaarigen mit sich ziehen. Das zufriedene Lächeln auf ihren Lippen sah er nicht. Der Weg ist frei. Die Sonne war untergegangen, der Mond erhob sich langsam über dem Horizont, als der Startschuss endlich fiel. Gin lächelte, als er sein Handy wegsteckte, warf Wodka ein aufforderndes Nicken zu. „Mach dich fertig. Es geht los.“ Er öffnete die Tür seines Porsches, stieg gemächlich aus, warf seine Zigarette, die er sich eigentlich gerade erst angesteckt hatte, achtlos weg. Wodka trat neben ihn, wartete, bis Gin das Auto abgesperrt hatte, und folgte ihm dann ins Krankenhaus. Sie wussten, keiner würde sie aufhalten; ihre Leute waren gründlich, und der Plan perfekt. Wie man es auch drehte und wendete, diese Klinik würde Kudô nicht lebend verlassen. Und so fanden sie auch den Eingang zur Klinik verwaist vor, betraten sie, ohne Aufsehen zu erregen… ihre Leute hatten gute Arbeit geleistet und ihm den Weg frei gemacht. Er lächelte dünn, kam nicht umhin, sich zu freuen. Ja… er freute sich darauf, diesem Schnüffler endlich sein Leben zu nehmen. Ein Leben, das schon seit Jahren ihm gehörte. Langsam, aber mit ausgreifenden Schritten ging er den Gang entlang, hörte den Klang seiner Stiefel auf dem Boden von den Wänden wiederhallen. Ja… heute würde der Jäger nicht ohne Beute nach Hause gehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)