Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 30: Kapitel 12: Beweis ------------------------------ Hallihallo liebe Leserinnen und Leser! Es geht also munter weiter mit dieser Geschichte - ich muss gestehen, ich bin immens gespannt, was ihr zu den nächsten beiden Kapiteln sagt. An den beiden hing ich lange, und ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll; also richtet selbst. Ich wünsche viel Vergnügen beim Lesen, bis die Tage, eure Leira :) ________________________________________________________________ Kapitel Zwölf: Beweis Er stand mit dem Rücken zur Fensterwand, vor der die Nacht Tokio mit ihrer schwarzblauen Decke verhüllte. Die Lichter der Straßenlaternen leuchteten aus dieser Höhe fast so klein wie die Sterne des Firmaments auf den Straßen, kaum stecknadelkopfgroß - schienen fast deren Spiegelbild darzustellen, wären sie nicht deutlich geordneter auf dem dunklen Untergrund von Tokios Asphalt verstreut, aufgereiht wie die Perlen einer Kette. Reklametafeln erhellten die Nacht zusätzlich, hie und da - aber ihr buntes, grell leuchtendes Licht verging langsam, eins nach dem anderen erlosch. Es war nun doch spät geworden - und irgendwann ging auch Tokio zu Bett. Er hingegen war hellwach. Yusaku befand sich im Konferenzraum, vor ihm die drei Mitglieder des Triumvirats. Während die drei Männer ihn aus relativ leeren Gesichtern erstaunlich ausdruckslos ansahen, stand er selbst kurz vor der Explosion. Mittlerweile hatte man sie ins Bild gesetzt, er wusste, was passiert war, und wusste, wie es geendet hatte; und nun war er hier, um die Zügel endlich wieder in die Hand zu nehmen. Und es ist, verdammt nochmal, auch wirklich an der Zeit… Vor allem aber war er hier, weil er unglaublich wütend war. Auf sich. Auf die Organisation. Wütend, wie nie zuvor in seinem Leben. Allzu sehr anmerken durfte er sich das allerdings nicht lassen… wenn er nicht seinen Stand hier vollkommen verlieren wollte. Es war wichtig, dass man ihm den Boss abkaufte, den Mann, den nur die Organisation interessierte. Den Mann, der alles unter Kontrolle hatte, und bei dem alles nach Plan lief, immer. Damit so ein Alleingang nicht noch einmal passierte – wenn man hier anfing, ihn zu unterlaufen, dann dauerte es nicht lang und… Was dann passiert, will ich gar nicht wissen. Und so zog er nur seine Augenbraue nach oben, befingerte seinen Bart, strich ihn dann glatt und schob seine Hand in eine Hosentasche, eine scheinbar lässige Geste. Er wusste, er machte sich und ihnen etwas vor, aber er spielte seine Rolle dennoch – mit Präzision. „Cognac. Welch Ehre zu solch später Stunde.“, meinte Absinth schließlich mit sachlicher Stimme, durchbrach die eisige Stille zwischen ihnen. Yusaku lächelte verhalten. „Die Ehre ist ganz meinerseits, Absinth. Man möchte meinen, selbst so wichtige Männer wie Ihr es seid, machen abends doch einmal Feierabend.“ Die drei Männer zauberten ein sorgsam einstudiertes Lächeln auf die Lippen; drei Fratzen, die nur allzu deutlich machten, wie künstlich und gekünstelt diese Konversation vonstattenging. „Es ist viel zu tun, das keinen Aufschub duldet - da machen auch wir einmal Überstunden. Wir lassen Sie uns aber fürstlich entlohnen, wie Sie wohl wissen, Cognac…“, bemerkte Absinth spöttelnd, in seinen Augen ein gefährliches Funkeln. Rum lachte donnernd, räusperte sich dann, während Cachaça Yusaku voll mildem Interesse musterte. „Ich nehme an, Ihr seid etwas verstimmt, mon ami. Ich denke, es ist nicht sehr angenehm, wenn man als Letzter…“ „…erfährt, dass eine Treibjagd im Gange ist?! Ein Krieg geführt wird, an einem öffentlichen Ort, einem Krankenhaus, gegen die Polizei Tokios und das FBI? In der Tat…“ Nun wurde Yusaku doch ein wenig lauter, allerdings gewollt und wohldosiert. „… ich bin etwas, nun, ja, nennen wir es ruhig verstimmt, ich gestehe. Ich dachte, aus irgendeinem Grund, ich leite diesen Verein hier. Und als ein solcher Leiter…“, er unterbrach sich, legte eine wohlgesetzte Kunstpause ein, „ordnet man solche Unternehmen eigentlich an. Man erfährt nicht als Letzter von ihrem Scheitern. Er betonte das letzte Wort genussvoll, war dennoch gegen Ende seiner Einleitung gefährlich leise geworden, seine Stimme hatte sich gewandelt zu einem unbestimmten Knurren, scharf, bissig. Der Ton verfehlte seine Wirkung nicht. Er trat einen energischen Schritt vor, stützte sich auf der Tischkante auf und fixierte die drei Männer abwechselnd, genoss sichtlich die Souveränität, die er endlich wieder spürte, nach Tagen des Wankens und Haderns – und zögerte nicht, sie auch zu zeigen. Er hatte sich wieder im Griff, und es war auch an der Zeit. Er richtete er sich wieder auf, langsam. Ließ die Geste wirken, verschränkte seine Arme aufgeräumt vor der Brust uns sah die drei gelassen an, von oben herab. „Ich denke, ich muss hier mal wieder etwas klarstellen.“ Langsam drehte er sich um ging zum Fenster, blickte hinaus in die Nacht. „Ich bin der Boss der Schwarzen Organisation.“ Stille erfüllte den Raum, als er seine Worte einwirken ließ, einsinken in den Moment. „Ich. Nicht ihr. Ihr habt lediglich ein Vetorecht, ihr gebt keine Order, keine Befehle, ihr ordnet nichts an, ihr überwacht nur. Ihr seid das Triumvirat – ihr beaufsichtigt. Die Exekutive, meine werten Herren…“ Er holte tief Luft, wandte sich immer noch nicht um. „…bin ich.“ Die Worte hingen im Raum wie ein Damoklesschwert, schwer, schneidend und bedeutsam. Yusaku zückte eine Zigarette, steckte sie an, zog einmal tief daran und blies den Rauch gegen die Scheibe, sah den graublauen Wirbeln und Schleiern zu, wie sie sich wanden, blähten und vergingen. „Ich will so eine Aktion wie die heutige nie wieder erleben müssen.“ Aus seiner Stimme sprach Bestimmtheit. Es war offensichtlich, dass er einen Widerspruch nicht dulden würde. „Aber-…“, begann Absinth, klang einigermaßen aufgebracht und verstimmt. Der Schriftsteller drehte sich um, fixierte den Mann mit starrem Blick. Absinth hielt inne, unwillkürlich. Yusaku lächelte in sich hinein. „Denkt ihr, ich weiß nicht, was ihr denkt?“ Yusaku lachte leise, zog an seiner Zigarette, pustete den Rauch mit in den Nacken gelegtem Kopf an die Decke, grinste verhalten. „Denkt ihr, ich weiß nicht, dass ihr glaubt, ich würde ihn schützen? Vielleicht tue ich das. Vielleicht hab ich das versucht, ja. Es ist sinnlos es abzustreiten, er ist mein Sohn.“ Er hielt inne. Niemand sprach, kein Geräusch war zu hören. Die Stille war absolut. „Aber wenn er auspackt, bin ich tot, und Ihr seid es auch, und wohl auch meine Frau, wenn Ihr eure Drohung wahrmacht. Ganz davon abgesehen, dass, wenn er auspackt, Yukiko weiß, wen sie wirklich geheiratet hat, und ich weiß nicht, was schlimmer wäre - ihr Tod oder ihre Enttäuschung, ihre Verachtung. Denkt Ihr, das ist mein Ziel? Sehe ich so aus, als würde ich sterben wollen, oder mein Leben ruinieren? Ich bin nicht wie mein Sohn.“ Er zog ein weiteres Mal tief an seiner Zigarette; die Glut fraß sich hell orange glimmend weit in den Tabak hinein, ehe er absetzte und den blauen Rauch langsam aus seinem Mund entweichen ließ. Er sah der Wolke zu, wie sie an die Decke stieg und sich verflüchtigte, ehe er fortfuhr. „Fakt ist, momentan weiß er nichts. Er hat sein Gedächtnis verloren. Falls ihr das noch nicht wissen solltet.“ Er genoss den überraschten Ausdruck in den Gesichtern des Triumvirats. „Sieh an, ich hatte Recht; ihr wusstet es nicht. Ich muss euch, hoffentlich, nicht darauf hinweisen, wie töricht es ist, einen Gegner anzugreifen, ohne sich vorher über seinen Zustand erkundigt zu haben.“ Ein kühles Lächeln war erneut auf seinen Lippen erschienen. „Meine Herren, er weiß nicht mal seinen Namen. Momentan ist er keine Gefahr, hilfloser, als er es je in seinem Leben war – ich wage zu behaupten, sogar als Conan war er gefährlicher als jetzt. Aber wenn ihn jetzt jemand aus dem Weg räumt, wenn ich das jetzt tun würde – wüsste jeder, wer es war. Sie ahnen bereits, dass der Boss hier jemand ist, der Shinichi kennt. Den Shinichi kennt - sehr gut kennt. Ich bin definitiv im Kreis der Verdächtigen.“ „Dann-…“, begann Absinth. „… sollten wir dafür sorgen, dass er nie wieder eine Gefahr wird? Sicher. Aber wie stellt ihr euch das vor?“ Er grinste überlegen, lehnte sich gegen die Glasscheibe, genoss das prickelnde Gefühl der Macht. In diesem Moment war er der, der das Sagen hatte, und die drei Männer, die ihm seit Jahren das Leben etwas mehr zur Hölle machten, als es das ohnehin schon war, saßen vor ihm wie Schuljungs. Das galt es, auszunutzen. Sie waren heute gescheitert, das war die Chance für ihn. „Meine lieben Freunde, Ihr wart selten dämlich.“ Absinth verzog sein Gesicht zu einer säuerlichen Fratze. Rum lehnte sich neben ihm zurück, sein Gesicht ein Pokerface wie eh und je, scheinbar unbewegt und ungerührt; Cachaça hingegen saß vornüber gebeugt mit den Ellenbogen auf dem Tisch gestützt, umklammerte sein Glas mit beiden Händen. „Ihr dachtet, meine väterlichen Gefühle würden meinen Verstand trüben. Ihr dachtet, ihr müsstet mich hintergehen, meinen Sohn aus dem Weg räumen, damit hier wieder alles in geordneten Bahnen läuft. Mein Gott, man sieht, wie sehr ihr euch bemüht habt. Und man sieht, wie sehr ihr den Karren gegen die Wand gefahren habt, weil ihr euch an Dingen versucht habt, die NICHT EUER METIER sind.“ Er warf die Zigarette zu Boden, trat sie aus, auf seinem Gesicht spiegelte sich nun Wut. „Ihr habt nicht nachgedacht, Ihr habt keine Ahnung von Strategie, ihr kennt nicht unseren Feind!“ Er trat näher, seine Stimme nun merklich lauter. „Heute sind zwei unserer fähigsten Mitarbeiter hingemeuchelt worden. Korn und Chianti.“ Yusaku kniff die Augen zusammen, fixierte die drei Männer ohne zu blinzeln, einen wohl bemessenen Augenblick lang; dann drehte er sich um, schaute hinaus, beobachtete dabei aber genauestens die Reaktionen der drei Männer in der Scheibe. „Ist es das, was ihr wolltet? Dann macht ruhig so weiter. Shinichi ist entkommen, übrigens. Weil er nicht dumm ist, und die, die auf ihn aufpassen auch nicht. Er ist unter den Augen von Beaujolais aus dem Krankenhaus gefahren worden, wie Sherry auch, im Übrigen. Ich frage euch nun: was hat der heutige Abend uns also gebracht?!“ Langsam drehte er sich wieder um, umrundete den Tisch, kam hinter den drei Männern zum Stehen. „Zwei tote Scharfschützen, und ein alarmiertes FBI, ganz zu schweigen, dass die Tokioter Polizei überall nun ihre Augen hat, und zwar offen. Jeder weiß, wonach er suchen muss, dank euch. Das habt ihr wirklich schlau gemacht. Sie sind gewarnt und besser informiert als je zuvor, werden ihre Einsatzkräfte und Wachen verstärken, und noch intensiver nach uns suchen. Dieser Schlag gegen uns gibt ihnen Aufwind und macht sie aufmerksamer zugleich.“ Er lächelte bitter, applaudierte. Das Geräusch klang seltsam armselig in der Weite des Konferenzsaals und hatte genau die Wirkung sarkastischen Beifalls, die er anstrebte. Dann wurde er wieder ernst. „Wenn Ihr also das nächste Mal daran denkt, mich zu hintergehen, dann bitte, seid so gut, und denkt vorher noch einmal darüber nach, mit welchem Spielzeug Ihr da wirklich hantiert. Es könnte sein, dass ihr den Umgang damit doch erst noch lernen müsst.“ Er steckte beide Hände in seine Hosentaschen. „Und wenn Ihr glaubt, ihr könnt mir nicht vertrauen, geht Ihr irr. Glaubt Ihr, mir ist nicht klar, dass Ihr an mir zweifelt? Wahrscheinlich denkt ihr sogar schon daran, mich loszuwerden, irgendwie. Aber seid euch im Klaren… wenn Ihr das tut, oder noch einmal so einen Alleingang wagt, dann vernichte ich euch. Egal ob ich lebe oder tot bin, ich reiße euch mit ins Verderben, das schwöre ich euch. Seid nicht so dumm zu glauben, ich hätte nicht an alle Eventualitäten gedacht.“ Seine Stimme war gegen Ende leise geworden, hatte ihre Schärfe allerdings nicht verloren. Fast kameradschaftlich legte er Absinth eine Hand auf die Schulter. „Ihr vergesst wohl, ich spiele dieses Spiel fast genauso lange und mindestens genauso gut wie ihr. Also…“ Er räusperte sich geschäftlich, verstärkte seinen Griff. „Haben wir uns verstanden?“ Absinth würdigte ihn keines Blickes, starrte aus dem Fenster, sah seine Reflexion in der Scheibe, und hinter ihm die Yusakus. „Und was ist Ihr Plan nun, Cognac?“, meinte Rum, durchbrach mit seiner sonoren Stimme die Stille. Yusaku löste seinen Griff, verschränkte seine Hände hinter seinem Kopf. „Ich werde ein guter Vater sein und meinen Sohn nach Hause holen.“ Er warf den dreien einen Blick aus dem Augenwinkel zu. „Und ich gehe davon aus, Ihr werdet mich nicht daran hindern.“ „Sie wissen, Cognac, wir…“, begann Cachaça halbherzig. „…töten Ihre Frau, ja.“ Ein gelangweilter Ausdruck trat auf Yusakus Gesicht. „Ich kenne die Leier. Ich muss aber den Verdacht gegen mich entkräften, das seht Ihr schon ein, oder? Bevor wir ihnen den finalen Schlag versetzen, müssen sie sich in Sicherheit wähnen. Das tun sie nicht, momentan. Dank euch… sind sie wachsamer denn je.“ Langsam ließ er die Arme sinken, wandte sich um und ging wieder ein Stück um den Tisch herum, schenkte sich ein Glas Wasser ein. „Et ton fils? Was ist mit ihm? Sie wissen, auf Dauer wird…“ Yusaku schluckte, stellte das Glas auf den Tisch, kontrolliert. „Noch ist er keine Gefahr, sein Gedächtnis ist blank wie ein weißes Blatt. Das Timing ist essentiell, das solltet ihr doch jetzt gelernt haben.“, meinte er betont gelassen, bemühte sich um einen spöttelnden Unterton. Absinth stand auf, langsam. Drehte sich zu Yusaku, befand sich mit ihm nun auf gleicher Augenhöhe. „Gut. Aber…“ Yusaku zog fragend eine Augenbraue hoch. „Wenn Sie wollen, dass wir wieder voll hinter Ihnen stehen, so… knüpfen wir eine Bedingung an diesen Vertrauensvorschuss.“ „Der da wäre?“ Seine Stimme klang gelassen; auch, obgleich er wusste, was diese Forderung sein würde. Schließlich war Absinth der, der sie stellte. „Du wirst ihn töten. Du selbst wirst es tun.“ Yusaku atmete langsam aus, hob dann das Glas, setzte es sich an die Lippen und trank einen Schluck, ehe er antwortete. Ihm war der Wechsel vom Sie zum Du nicht entgangen, und er wusste, was Absinth damit bezweckte. „Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, werde ich tun, was zu tun ist. Keine Minute vorher, keine zu spät.“ Er hielt den Augenkontakt, blinzelte nicht. „Wie ich sagte… das Timing ist essentiell.“ Ein schmales Lächeln kroch auf Absinths Lippen, in seinen Augen glitzerte Boshaftigkeit. Yusaku stellte das Glas wieder auf den Tisch. „Wenn Ihr nun keine weiteren Fragen habt, ich wäre damit fertig. Ihr könnt euch entfernen, ich habe zu tun. Irgendwer muss die Unordnung, die Ihr veranstaltet habt, wieder aufräumen.“ Yusaku drehte sich um, schaute aus dem Fenster, beobachtete in der Glasscheibe, wie Absinth das Zimmer verließ, gefolgt von Cachaça und Rum, die ihrem Boss nur stumm zunickten. Als die Tür hinter ihnen zugefallen war, sank Yusaku kraftlos auf die Tischkante, hielt sich den Kopf. „Und was soll jetzt passieren?“ Shinichi schaute sie fragend an, in seinen Augen stand deutlich sein Unwille zu lesen. Der Leichentransport war nun endlich glücklich beendet worden, und seit zehn Minuten befand er sich im Haus, in dem die Moris wohnten, zusammen mit dieser blonden, jungen Frau und dem Professor. Er wollte endlich schlafen. Widerstrebend war er ihr in die Detektei gefolgt, wusste nicht, was ihn erwartete. Der Professor war mit dem Mann, der hier arbeitete und in der Wohnung über der Detektei wohnte, Herrn Mori, nach oben gegangen. Sie beide waren allein hier, und trotz allem, was sie heute zusammen durchgemacht hatten, beschlich ihn nun ein Gefühl von Unwohlsein. „Du erfährst es gleich.“ Shiho zitterte, und doch begann ihr der Schweiß auf die Stirn zu treten. Sie wischte ihn mit ihrem Ärmel ab, ließ ihn nicht aus den Augen. Ein herausforderndes Lächeln war auf ihren Lippen erschienen, während Shinichis Gesicht immer mehr Besorgnis zeigte. Sie stand neben ihm, war dem Professor dankbar, dass er es geschafft hatte, Herrn Mori davon zu überzeugen, sie beide hier allein zu lassen, für ihre kleine… Vorstellung. Shinichi schaute sie aufmerksam an, Zweifel und Unsicherheit standen in seinen Augen zu lesen. „Hör mal, geht’s dir nicht gut? Der Tag war sicher auch für dich anstrengend, soll ich dir…“ „Nein.“ Sie warf ihm einen fast schon mitleidigen Blick zu, dann trat sie um ihn herum, schloss die Tür hinter ihm, drehte den Schlüssel um und steckte ihn ein. Er warf ihr einen kalkulierenden Blick zu. „Sag mal, was hast du eigentlich vor?“ Seine Stimme klang skeptisch und ein wenig alarmiert. „Das siehst du gleich, Shinichi. Etwas, das dir sehr bekannt sein müsste.“ Sie war kalkweiß im Gesicht, ihr Atem ging keuchend, der Schweiß perlte sichtbar an ihrer Schläfe herab, stand in feinen Tropfen sogar auf ihrer Oberlippe. Er trat näher, langsam, starrte sie an. Ihre Augen waren fiebrig glänzend, ihre Finger zitterten leicht. „Du musst ins Krankenhaus…“, murmelte er leise, und ahnte doch, dass sie das anders sah. Seine Vermutung wurde auch prompt bestätigt „Du weißt, dass ich das nicht muss.“ Dann schrie sie kurz auf, schmerzerfüllt, erstickte ihren Schrei hastig mit einer Hand; vornübergebeugt wandte sich unwillkürlich ab von ihm, schlang ihren anderen Arm um ihren Bauch, kniff die Augen zusammen. Er war an sie herangetreten, hatte die Arme unwillkürlich ausgestreckt, als fürchte er, sie stürze gleich. Scharf atmete sie ein, richtete sich wieder auf, als sie sich wieder unter Kontrolle hatte – etwas wackelig zwar, aber immerhin. Sie biss die Zähne kurz zusammen, um sich soweit wie möglich zu sammeln, suchte dann seinen Blick und ließ ihn nicht mehr los. Shinichi schluckte hart, merkte, wie in ihm Angst und Unruhe gleichermaßen wuchsen. Die junge Frau hingegen lächelte traurig, als sie sprach. „Hör zu, Shinichi. Mein Name…“, presste sie langsam hervor, „ist Shiho Miyano. Ich habe das Gift erfunden, dass aus dir Conan Edogawa gemacht hat. Ich habe es dir bereits erzählt.“ Shiho schluckte, keuchte, rang nach Luft. Er wollte etwas erwidern, aber sie schnitt ihm mit einer herrischen Handbewegung das Wort ab, umklammerte die Tischkante des Schreibtischs. „Hör zu, ich hab dir das als Ai schon mal zu erklären versucht, aber du wolltest ja partout nicht hören. Deshalb dachte ich, ist das einzige, was dich zum Umdenken bringt, das, was du immer wolltest, immer willst – ein Beweis. Du glaubst einem ja ohne nichts. Fakten, Tatsachen… Beweise. Daraus besteht deine Welt.“ Bitterkeit schlich sich in ihre Züge, als sie fortfuhr. „Passe nie die Fakten der Theorie an, Watson. Es sind die Fakten, die die Grundlage jeder Theorie sind.“ Er zuckte zurück, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. Ihre Augen schauten ihn milde überrascht an. „Hier sind also die Fakten, nun sag mir – was ist deine Theorie, Holmes?“ Sie lächelte nachsichtig, lehnte sich langsam zurück, stützte sich auf ihre Hände; ließ ihn aber während alledem nicht aus den Augen. „Warum, zum Teufel, Shinichi, bist du so überrascht? Warum willst du dir selbst nicht endlich glauben? Du ahntest es doch die ganze Zeit, wer ich bin, ich hab deine Blicke gesehen! All die Zeit, seit ich heute Abend in deinem Zimmer aufgetaucht bin. Der Ausdruck auf deinem Gesicht, als es in deinem Kopf arbeitete, denkst du, der ist mir entgangen? Du zogst deine Schlüsse, und ich kann dir jetzt sagen - endlich, endlich sind es die Richtigen. Ai Haibara ist Shiho Miyano. Genauso, wie Conan Edogawa Shinichi Kudô war.“ Sie kniff die Augen zusammen, als eine neue Welle von Schmerzen wie ein Pfeil durch sie fuhr, vom Scheitel bis zur Sohle. Sie krümmte sich nach vorn, ihre Arme erneut fest um ihren Bauch geschlungen, den Blick starr auf ihn gerichtet. Sie keuchte leise. Ihm rann ein Schauer nach dem anderen über den Rücken, als ihm der Schweiß ausbrach. Er sah den Schmerz in ihren Augen, fühlte, wie ihn nie gekanntes Entsetzen packte. „Nun, sieh’s dir an…“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Shinichi schüttelte den Kopf, langsam, schaffte es aber nicht, dabei die Augen von ihr abzuwenden. „Hier ist dein verdammter Beweis.“ Er wich zurück, tastete nach hinten, bekam eine Sessellehne zu fassen und stolperte dagegen. „Du hast dein eigenes Gegengift genommen? Warum hast du… du hättest…“ Fassungslosigkeit stand in seinen Augen. „Hättest du mir denn geglaubt? Hättest du irgendwem geglaubt?“ Sie war laut geworden, hatte sich am Schreibtisch regelrecht festgekrallt. Shinichi war zur Tür zurückgewichen, versuchte umsonst, sie zu öffnen, lehnte sich dagegen. Sein Teint war leichenblass, und doch schüttelte er den Kopf, immer noch. Wahrscheinlich hatte sie Recht, er hätte nichts geglaubt. Er war ja meisterhaft darin gewesen, sich etwas vorzumachen und sich andere Erklärungen zu suchen, für alles, was mit diesem kleinen Jungen zu tun hatte. Allerdings war er jetzt schon so weit, es gern zu glauben, wenn es dafür sofort aufhörte. Es sah nur nicht danach aus. Vielmehr schien es gerade erst anzufangen. Shiho stützte sich schwer auf die Tischplatte, atmete schnell und flach, auf ihren Lippen ein trauriges Lächeln. „Ich hätte es dir gern erspart. Aber vielleicht… vielleicht glaubst du mir dann nicht nur, sondern… erinnerst dich wieder daran…“ Sie verlor den Halt, langsam, ließ sich kraftlos gegen den Tisch sinken, glitt nach unten bis sie zum Sitzen kam, als ein Krampf sie zwang, sich nach vorne zu krümmen. Erstickt stöhnte sie auf. Er näherte sich ihr, vorsichtig, widerstand dem Drang, zu ihr zu stürzen, alle Vorsicht fahren zu lassen. Seine Beine fühlten sich kraftlos an, als ob seine Knie aus Gelee bestünden. Als er vor ihr angekommen war, sank zu ihr auf den Boden. Ihre Schultern bebten, ihre Finger krallten sich mit Gewalt in den grauen Teppich, ihre Knöchel traten weiß hervor. Der Blick, der ihn traf, als sie aufschaute, ging ihm durch Mark und Bein. Er wusste, er würde ihn nie vergessen können. Sie hob die Hand, krallte sie in sein Hemd, zog ihn zu sich, bekam ihn auch mit der zweiten Hand zu fassen, hörte, wie er nach Luft schnappte, merkte, wie er kurz versuchte, ihre Hände zu lösen, ihre Finger aufzubiegen, was sie dazu veranlasste, noch fester zuzupacken. Ihre Stirn lehnte gegen seine, ihr Atem ging unglaublich schnell. Sie starrte ihn an, fühlte, wie die Schmerzen langsam unerträglich wurden, sah, wie blass er geworden war. Er blickte sie nur an, unfähig, sich zu bewegen. Seine Hände umklammerten immer noch ihre Handgelenke, aber er versuchte nicht mehr, sich aus ihrem Griff zu winden, vielmehr hielt er sich nun fest, sein Gesicht so weiß wie nie. Und in seinen Augen stand das pure Entsetzen. Er sah sie an, wie gebannt, nicht in der Lage, den Blick von ihr abzuwenden, und merkte doch, wie alles in ihm ihn einfach nur weg wollte. Verschwinden. Im Erdboden versinken. In Luft auflösen. Wie kann das wahr sein, wie kann… Sein Blick wurde glasig. Shiho schluckte, biss sich die Lippen blutig, umklammerte sein Gesicht mit ihren Händen. Seine Haut fühlte sich fast leichenhaft kühl an; allerdings war sie sich nicht sicher, ob ihr das nicht nur so vorkam, weil sie selbst so glühte. „Du musst dich erinnern, hörst du!“, keuchte sie, kniff die Augen zusammen, fühlte sich, als würde sie innerlich verbrennen. Sie begann ihn zu schütteln, bis er sie wieder ansah. „Nein…“, murmelte er kraftlos. „Ich will mich nicht – nicht an das, nicht…“ „Doch!“ Sie schrie ihn an. Er versuchte sich zu weigern, wusste nicht, warum. Er merkte, wie in ihm etwas zu bröckeln anfing, etwas drohte, freigelegt zu werden, von dem er nicht wusste, ob er es sehen wollte. Er kniff die Augen zusammen, keuchte, hielt sich den Handrücken an die Lippen. „Doch…“, flüsterte sie. Ihr Griff lockerte sich ein wenig. Shiho schaute ihn an, merkte, wie in ihr ihr schlechtes Gewissen tobte, sah sie doch, was sie ihm antat. Er hatte doch eigentlich genug für heute. Sein Atem strich über ihr Gesicht, als er stockend Luft holte und wieder ausatmete. „Verdammt, ich mach das nicht zum Spaß, das muss wenigstens einen Sinn haben, du musst…“ Er öffnete seine Augen wieder, unwillig, sah geradewegs in ihr Gesicht, sah Shiho… und sah Ai. Ihre Sicht hingegen verschwamm langsam, ihr Kopf sank auf seine Schulter. Er hörte sie wimmern, merkte, wie die Kraft sie langsam verließ, geriet fast in Panik, wusste er doch nicht, was mit ihr los war. Sie kippte gegen ihn, verlor vor Schmerzen fast das Bewusstsein, merkte nur, wie er wie automatisch einen Arm um sie legte, sie festhielt, und doch merkte, wie sie ihm entglitt. Ihr Körper schien unglaublich heiß zu sein, fiebrig, und sie zitterte unkontrolliert. Angst keimte in ihm auf, Angst, dass sie starb, jetzt. Shiho klammerte sich fest, krallte ihre Hände in seinen Rücken, merkte nicht, wie weh sie ihm dabei tat. Genau genommen merkte sie nun gar nichts mehr – nichts, außer dem unbändigen Schmerz, der sie an die Grenze ihrer körperlichen Belastbarkeit trieb. Als sie schrie, hörte sie nicht nur ihren Schrei in ihren Ohren. Unsichtbar für sie brach in seinem Kopf das blanke Chaos los. Der Duft von nassem Gras stieg ihm in die Nase, gedämpft drang Musik an seine Ohren. Wo war er? Was war das für eine Musik? Aus seinem Augenwinkel heraus sah er Lichter, die sich drehten und hüpften, bunte Lichter. Ein Rummelplatz. Vor ihm stand ein Mann, der sich nun zu ihm runterbückte. Er konnte kaum verstehen, was er sagte, in seinem Kopf pochte es schmerzhaft. Offenbar hatte man ihm gerade eins von hinten übergebraten. Und offenbar war es der Mann gewesen, der nun redete, und deren Kopf nun in seinem Sichtfeld erschien. Silberblonde Haare umrahmten ein schmales Gesicht, eisblaue Augen sahen ihn musternd an. „… es ist ein neuartiges Gift, entwickelt von unserer geliebten Organisation. Tötet binnen Sekunden und ist im Blut nicht mehr nachweisbar…“ Er merkte, wie der Kerl ihm mit einer Hand in die Haare griff, seinen Kopf hochzog, fühlte erst jetzt, dass sein ganzer Körper viel zu träge war, um sich zu wehren. Er war wie betäubt. Er war betäubt. Leise stöhnte er auf, unwillkürlich; sein Kopf schmerzte entsetzlich, und nur an den Haaren festgehalten zu werden, während sein Gewicht ihn nach unten zog, tat ihr übriges. Als ihm der Mann eine Kapsel in den Mund schob, wollte er sie ausspuken, aber fand sich außerstande zu dieser eigentlich so einfachen Reaktion. Als man ihm Wasser in die Mundhöhle schüttete und ihm dann Mund und Nase zuhielt, um ihn zum Runterschlucken zu zwingen, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Kapsel runterzuwürgen, um wieder Luft zu bekommen. Er hatte eine dumpfe Ahnung, dass das keine gute Idee gewesen war. Es war tatsächlich keine gute Idee gewesen. Die Sekunden, oder vielleicht Minuten, die dieser Einnahme gefolgt waren, kamen ihm wie die längsten seines Lebens vor. Schmerz durchschnitt seinen Körper wie ein Pfeil, tauchte seine Welt in Dunkelheit und Stille. Weg war der Duft von Gras, weg war die Karussellmusik, und weg waren die bunten Lichter, die ihren Schein aufs Gras geworfen hatten. Nur Schmerz und Dunkelheit existierten noch. Er schrie auf, als er meinte, seine Knochen würden schmelzen, griff haltsuchend ins Gras, als er glaubte, zu verbrennen, wusste doch, dass es nichts half, dass egal, wie sehr er seine Finger in die Erde bohrte, ihm das doch keine Erleichterung verschaffen würde. Er starb. Als er wider Erwarten doch wieder aufwachte, fand er sich vom Licht mehrerer Taschenlampen geblendet. Polizisten standen um ihn herum. Er erinnerte sich nicht mehr daran, was sie gesagt hatten. Aber er sah seinen Pulloverärmel, der mehr als locker über seine Hände baumelte, konnte sich nur zu gut an die neue Perspektive erinnern, als er, selbst nachdem er aufgestanden war, den Polizisten nicht einmal annähernd in die Augen sehen konnte… trotz seiner siebzehn Jahre und gut eins siebzig Körpergröße. Er lag auf dem Rücken, als er wieder zu sich kam. Sein Atem ging keuchend, er fühlte sich, als hätte er das, was er gesehen hatte, am eigenen Leib erlebt, und zwar gerade eben. Blicklos starrte er an die Decke, unfähig einzuordnen, wo er sich befand, und was passiert war. Nur langsam holte ihn die Realität wieder ein. Das Mädchen lag auf dem Boden, eine kleine Hand halb auf seinem Bauch, und rührte sich nicht. Sein Kopf schien durch eine Walzenpresse gedreht worden sein - und in seinem Schädel hämmerte ein Presslufthammer auf dem herum, was von seinem malträtierten Hirn noch übrig geblieben war. Unsicher stemmte er sich auf den Ellenbogen hoch, merkte, wie keuchend sein Atem noch war, sah sich unsicher um. Sein Herz raste, ihr Schrei – sein Schrei? - klang immer noch in seinen Ohren. Shinichi ließ sich wieder zurücksinken, kniff die Augen zusammen, presste seine Handballen auf seine geschlossenen Lider, bis schwarze Kreise vor seinen Augen zu tanzen anfingen, sich ein dumpf pochender Schmerz einstellte. Die Bilder, die Gefühle waren fast zu viel für ihn, wie sie da eins übers andere auf ihn einströmten, ihn mit sich rissen und nicht mehr losließen. Er keuchte, wischte sich mit einem Ärmel über die schweißnasse Stirn; dann stand er auf, eine unendlich mühselige Prozedur - und ging zum Fenster, riss es auf und streckte seinen Kopf hinaus in die kalte Nachtluft. Kühler Wind wehte ihm um die Nase, von fern war ein Auto zu hören, ein paar Gesprächsfetzen von Jugendlichen, die sich auf den Weg in die nächste Karaoke-Bar machten, eine der wenigen, die zu so später Stunde noch geöffnet war. Ansonsten war es erstaunlich still. Und das tat so gut. Dann hörte er leises Stöhnen, hinter sich, kurz. Es raschelte, und er drehte sich um. Schwankend, in viel zu großen Klamotten, stand da Ai Haibara, bleich und zittrig. Sie wich seinem Blick aus, bückte sich und begann, in ihren Kleidern zu wühlen, fand den Schlüssel, hob ihn hoch. Er ging zu ihr, schaute auf sie herab, nahm ihr dann den Schlüssel aus der Hand und hob sie auf den Arm. Ai ließ es geschehen, sagte nichts, fragte nichts, lehnte sich nur gegen seine Schulter. Er fühlte ihren heißen Atem an seinem Hals, ihr Körper war unnatürlich warm, strahlte eine Wärme ab, die ihn fast schaudern machte. Shinichi sperrte die Tür wortlos auf und machte das Licht aus. Draußen auf dem Gang standen der Professor und Kogorô Môri, die sie beide gleichermaßen besorgt wie ernst anschauten. Shinichi übergab dem Professor wortlos das Mädchen, der es auf den Arm nahm. Der alte Mann nickte nur, drückte ihm wortlos die Schulter und verabschiedete sich kurz von Môri, der Shinichi mit einer knappen Handbewegung bedeutete, die Treppe hochzugehen. Er würde heute hier bleiben müssen. Oben angekommen stieß der Detektiv die Wohnungstür auf, die nur angelehnt war. „Sei leise, Ran schläft bereits. Sie hat deinetwegen viel durchgemacht.“ Shinichi nickte nur, er wusste nicht, ob und was er sagen sollte. Beim Betreten der Wohnung fiel er fast über ein Paar kleiner, rot-weißer Turnschuhe. Unwillig blieb er stehen, dann bückte er sich, hob die Schuhe auf, stellte sie ordentlich beiseite. „Du schläfst ihm Wohnzimmer, ich hab die Couch für dich bereitgemacht, wenn du etwas zu trinken haben willst, das steht in der Kü-…“ Môri war ihm vorangegangen, hatte die Tür zum Wohnzimmer bereits geöffnet, als ihm aufgefallen war, dass sein Gast ihm nicht gefolgt war. Er ging ein paar Schritte zurück, fand ihn im Flur, wo seine Augen immer noch auf ein paar kleine Schuhe geheftet waren. Môri starrte ihn an, konnte sich kaum vorstellen, was in ihm vorging. Allerdings, soviel war offensichtlich, war das wohl eine Menge. Offenbar war Shihos kleine Erinnerungshilfe keineswegs an ihm vorbeigegangen, ohne Spuren zu hinterlassen, wie es schien. Sie hatten sie gehört, er und der Professor. Sie beide, sowohl ihn, als auch sie. Sein Gesicht sprach jetzt noch Bände. „Herr Môri?“ Den Detektiven schauderte unwillkürlich. Erst jetzt merkte er, wie selten er sich eigentlich mit Shinichi unterhalten hatte; seine Stimme klang seltsam fremd in seinen Ohren, und doch erinnerte alles an ihm, wie er dastand und die Schuhe anstierte, die kleine Jacke anfasste, die vor ihm hing, an Conan. Die Ähnlichkeit war eigentlich einfach unbestreitbar und – unübersehbar. Und doch war sie ihm während all der Zeit nie aufgefallen. Er trat näher, einen Schritt nur. „Ja… Shinichi?“ Der junge Mann sah auf, presste seine Lippen aufeinander, schluckte schwer. „Es tut mir leid, Sie über Jahre so unverschämt angelogen zu haben. Das ist… eigentlich unverzeihlich. Und es ist mir schleierhaft, warum Sie mir helfen. Sie sollten mich hochkant rauswerfen.“ Seine Stimme war leise, der Ton seiner Worte ungeheuer ernst. Kogorô stutzte. „Du… erinnerst dich?“, fragte er vorsichtig, trat noch näher. Shinichi schüttelte den Kopf, halbherzig. „Nur an eine Sache, jetzt.“ Er schluckte, merkte, wie ihm allein bei dem Gedanken noch übel wurde, taxierte die Schuhe ein letztes Mal, ehe er den Kopf hob und den Mann vor ihm fest anschaute. „Nur an eine einzige Sache.“ Kurz schloss er die Augen, atmete gepresst aus, als er versuchte, die Bilder und Gefühle in seinem Kopf, in seinem ganzen Körper, einigermaßen niederzukämpfen und unter Kontrolle zu bringen. „Conan Edogawa.“ Ai lag in ihrem Bett im Zimmer des Professors, hatte sich die Decke bis ans Kinn gezogen. Vor ihrem geistigen Auge konnte sie immer noch diesen Schrecken in seinem Gesicht sehen. Dieses Entsetzen, diesen Schmerz, als er sie sah, diese Bilder, sie spürte, noch einmal durchlebte, wie es war… wenn das mit einem passierte. Hörte diesen Schrei in ihren Ohren, als viel zu viel auf einmal über ihn hereinbrach. Ihr Leid, gepaart mit seinem, mit den Erinnerungen an den Abend, der sein Leben aus den Angeln gerissen hatte. Denn dass er sich erinnert hatte, soviel war offensichtlich. Der Professor betrat das Zimmer, trug einen mit kleinen Pandas bedruckten Pyjama und drückte ihr eine Tasse Milch mit Honig in die Hände. Sie nahm sie dankbar entgegen, schlürfte am Schaum. Die Wärme und der süße Geschmack taten ihr gut. Agasa warf ihr einen fragenden Blick zu, ehe er ebenfalls einen Schluck von seiner Milch nahm. Als sie seinen wortlosen Wink nicht verstehen wollte, seufzte er. „Hat es denn nun etwas gebracht? War deine Aktion, die euch heute fast das Leben gekostet hätte, denn von Erfolg gekrönt?“ Ai verzog das Gesicht, schleckte sich dann mit ihrer Zungenspitze den Milchbart von der Oberlippe und sah dabei mehr wie ein Kind aus als je zuvor. Agasa spürte einen kurzen Stich, als er sich an die junge Frau erinnerte, die mit ihm die Wohnung verlassen hatte. Es war jedes Mal wieder schwer zu begreifen, was mit ihnen geschah. Dann riss ihn ihre Stimme aus seinen Gedanken. „Erstens, Professor, waren Gin und Vodka schon in seinem Zimmer, als ich kam. Ich möchte behaupten, meine Anwesenheit trug maßgeblich dazu bei, dass er entkommen konnte.“ Sie schluckte, merkte, wie sich in ihr maßlose Angst breitmachte bei dem Gedanken an Gin. Sie hörte sein Lachen, sah seine blauen Augen, und spürte diese Gier in ihm, sie endlich zur Strecke zu bringen. Diese Mordlust umgab ihn wie eine dunkle Aura. „Und zweitens?“ Ai stutzte. „Na, du sagtest, erstens- also hast du wohl ein zweitens?“ Müdigkeit schwang in der Stimme des Professors mit. Er steckte seine Beine unter seine Bettdecke. Seine kleine Mitbewohnerhin hingegen sammelte sich wieder. „Ach ja. Ja. Zweitens.“ Sie leerte ihre Tasse auf einen Zug. „Ich weiß nicht, wie viel es ist. Aber ich denke, die Erinnerung an diesen Abend, über den er ja nicht reden will, niemals reden wollte, und auch nie geredet hat - ist wieder da.“ Er fuhr hoch, starrte ihn an. „Was?“ Das kleine Mädchen nickte bedeutungsschwer, strich sich über die Augen. Die heiße Milch mit Honig tat ihren Dienst, sie merkte, wie ihre Glieder langsam bleischwer wurden, sich das Adrenalin, dass sie bis vorhin noch viel zu nervös zum Schlafen gemacht hatte, endlich egalisierte. „Es war der Blick in seine Augen, Professor. Er hat nichts gesagt…“ Sie ließ sich in die Kissen sinken, merkte, wie ihr die Augen zufielen. „Aber dieser Blick… so sieht man nur aus, wenn man gerade sein Leben in die Brüche gehen gesehen hat. Zum… zweiten Mal.“ Sie gähnte. „Und jetzt wird er beschäftigt sein damit, die Scherben einzusammeln und wieder zusammenzusetzen. Es wird auch langsam Zeit.“ Agasa warf ihr einen einigermaßen verdutzten Blick zu. Dann löschte er das Licht- und wenige Minuten später verriet ein sonores Schnarchen, dass er im Land der Träume angekommen war. In der Tokioter Polizeizentrale hingegen brannte noch Licht. Alle hatten sich im großen Konferenzraum versammelt, nachdem die Schwarze Organisation abgezogen war. Sie hatten es zwar geschickt angestellt, es waren nicht alle auf einmal verschwunden, langsam, einer nach dem anderen waren sie aus dem Krankenhaus rausgetröpfelt, als dort wieder der Alltag einkehrte… aber es war doch offensichtlich. Die Schlacht für heute war vorbei. Hidemi stand neben Sharon an der Tür, betrachtete Chiba mit mitleidigem Blick, der sich einen Eisbeutel an die große Beule an seinem Hinterkopf hielt und Shiratori nach einer weiteren Schmerztablette fragte. Nachdem die Luft rein gewesen war, hatte man ihn bald gefunden. Am anderen Ende des Tischs unterhielten sich leise Takagi und Meguré. Sharon lehnte sich zurück, beobachtete die beiden. Es war klar, worum es ging; Takagi hatte die Polizei selbstverständlich zur Teeküche geführt. Jetzt lagen auch tatsächlich zwei Leichen in der Autopsie des Präsidiums; Korn und Chianti. Sie seufzte nur, lächelte sanft, tippte dann Hidemi an der Schulter, winkte sie mit sich. Sie mussten zurück, das wussten sie beide. Shuichi beobachtete die beiden, als sie den Raum verließen. Neben ihm stand Jodie mit ihrer dritten Tasse Kaffee, ihre Augen auf Sharon fixiert, bis die Tür hinter ihr zugefallen war. „Muss man mit ihr nicht noch reden?“, fragte sie launisch. Shuichi schüttelte den Kopf, nur kurz. „Sie redet, wenn sie reden will. Sie erzählt nur, was sie erzählen will. Es bringt nichts, sie hierzuhaben. Sie bringt nur alles durcheinander.“ Dann lächelte er kurz. „Allerdings hat sie sich heute auch endlich einmal nützlich gemacht.“ Dann hörten sie, wie Meguré sich räusperte. „Werte Kolleginnen und Kollegen, Agent Black…“, er nickte zu James, der ebenfalls mit einer Tasse Kaffee bedient am Tisch saß, „Agents Akai und Starling.“ Grüßendes Gemurmel hob an und verebbte, zum Zeichen, dass er ihre Aufmerksamkeit genoss. „Bevor wir für heute hier Schluss machen und uns in den wohlverdienten Feierabend begeben, fasse ich für Sie den Stand der Dinge zusammen.“ Er räusperte sich, nippte an seinem Wasserglas. „Auf unserer Seite gab es keine Opfer. Lediglich zwei leicht verletzte Officers, Officer Miyamoto und Inspektor Chiba sind zu vermerken. Sie bestätigen allerdings beide ihre Einsatztüchtigkeit.“ Leiser Applaus kam auf, und die beiden angesprochenen nickten, eine Geste, die Chiba offensichtlich doch Kopfschmerzen bereitete. „Das Krankenhaus hat seinen Normalbetrieb aufgenommen. Weder die Belegschaft noch ein Patient hat Schaden genommen.“ Er nickte ernst. „Shinichi Kudô wurde sicher aus dem Krankenhaus gebracht und befindet sich an einem sicheren Ort, den ich aus Gründen der Geheimhaltung nicht öffentlich mache, vorerst.“ Beistimmendes Nicken folgte dieser Ankündigung. „Zwei Mitglieder der Schwarzen Organisation sind tot.“ Diese Ankündigung verursachte nun doch etwas mehr Aufsehen; nicht alle hatten bereits erfahren, was sich im Korridor, in dem sich Shinichis Zimmer befunden hatte, abgespielt hatte. „Die Scharfschützen der Organisation, zwei Mitglieder mit dem Namen Korn und Chianti, wurden heute erschossen. Korn wurde von Mrs Sharon Vineyard, bekannt unter dem Namen Vermouth, getötet. Sie arbeitet offenbar als Maulwurf für uns.“ Seine Stimme versank in genuscheltes Murmeln. „Irgendwie werd ich aus der Frau nicht schlau.“ Unwillig räusperte er sich. „Wie dem auch sei. Unser werter Inspektor Wataru Takagi hat Chianti, Korns Partnerin, erschossen, eine Geste der Notwehr, aber nichtsdestotrotz.“ Stolz spiegelte sich in Megurés Augen. „Sie waren zwar dämlich und unvorsichtig, als sie sich allein auf die Suche nach Miyamoto und Sato machten, aber Sie haben heute Mut und einen kühlen Kopf bewiesen. Gut gemacht, Takagi!“ Takagi wurde rot, fing an zu stammeln, hielt die Klappe, als Sato seine Hand drückte und beließ es dabei, sich verlegen am Hinterkopf zu kratzen. „Seien Sie aber so gut und befolgen Sie das nächste Mal Ihre Befehle.“, hängte der Kommissar an, was ihm das Gelächter der im Raum anwesenden Polizisten einbrachte und dafür sorgte, dass Takagis Gesichtsfarbe sich der einer reifen Tomate anglich. Dann räusperte sich Meguré ein weiteres Mal vernehmlich. Als Ruhe eingekehrt war, sprach er schließlich. „Wie Sie sehen, werte Kolleginnen und Kollegen, war dies heute ein erfolgreicher Tag für uns und das FBI. Wir danken den Agents an dieser Stelle für ihre Zusammenarbeit, und hoffen…“ Er seufzte. „Hoffen, dass wir sie das nächste Mal vernichten. Gute Arbeit, von euch allen. Bis morgen.“ Er wandte sich um, verließ den Raum. Takagi, Sato, Black, sowie Shuichi und Jodie, die sich ihnen genähert hatten, starrten ihm hinterher. Jodie hob eine Augenbraue. „Er hat’s nicht leicht, momentan, has he?“ Takagi schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht. Morgen ist Kudôs Verhör, das macht ihm zu schaffen. Schon seit er ihn heut gesehen hat, beschäftigt ihn nichts anderes mehr.“ Er schob seine Hände in seine Hosentaschen, merkte zufrieden, wie sich Sato an ihn lehnte. Black nickte schwer. „Won’t be easy, for anyone of us. Aber für heute sollten wir uns eine Pause gönnen. Gehen Sie nach Hause, ruhen Sie sich aus. You all did a really good job today.“ Er wandte sich um und ging. Jodie und Shuichi folgten ihm wortlos. Und so löste sich die Ansammlung im Konferenzraum langsam auf, bis schließlich auch hier endlich das letzte Licht verlosch und im Polizeihauptquartier Tokios Ruhe einkehrte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)