Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 32: Kapitel 14: Altes, neues Leben ------------------------------------------ So - nach den letzten etwas turbulenteren Kapitel folgen vor dem nächsten Großereignis ein paar etwas gesetztere Kapitel... muss schließlich auch sein, ein Adrenalinhoch kann nicht ohne Pause ans nächste ansetzen. Eine Story braucht Entwicklung - ich hoffe dennoch, das Kapitel langweilt euch nicht. Ich wünsche gute Unterhaltung! Eure Leira PS: Vielen herzlichen Dank für eure Kommentare zum letzten Kapitel! Leute, ihr ahnt nicht, wie oft ich es umgeschrieben hab, bis es so dastand... freut mich sehr, dass ihr damit leben könnt ;) __________________________________________________________ Kapitel Vierzehn: Altes, neues Leben Der Morgen erwachte mit einem Paukenschlag, zumindest im Hause Mori. Shinichi fühlte sich, als hätte er keine zwei Stunden geschlafen, als er fast von der Couch fiel, weil ihn das laute Scheppern eines auf den Boden gefallenen Topfes aus den Träumen riss. Etwas hilflos hing er in seiner Decke verheddert über der Sofakante, von der aus er langsam zu Boden glitt, fluchte leise. Als er auf dem Boden angekommen war, streifte er unwillig die Decke ab und stand mühselig auf, sah sich suchend um. Nur sehr langsam kam die Erinnerung an die letzten Stunden zurück; die Männer in Schwarz, seine Flucht, die Aktion von Shiho… und das Treffen mit ihr. Unwillkürlich presste er seine Lippen aufeinander, schluckte hart. Ein fast surreales Gefühl überkam ihn, als er seine Gedanken zurückschweifen ließ, an das Gespräch, an ihre Worte – an die Momente, die zu diesem Punkt geführt hatten, zu… diesem Kuss. Seine Augen starrten blicklos auf einen Punkt in der Luft vor seiner Nase; langsam atmete er aus. Dann entspannte sich seine Mimik, unwirsch schüttelte er den Kopf. Es kam ihm vor wie ein Traum; und er wusste nicht, wie viel davon jetzt bei Tageslicht noch wahr sein würde. Die Situation gestern war eine Ausnahme gewesen, wer wusste schon… Er seufzte, dann tappte er etwas orientierungslos in die Küche, in der er Ran fand, die gerade den Topf abwischte, der ihren spülschaumtriefenden Händen entglitten war. Als sie ihn bemerkte, wandte sie sich zu ihm um, lächelte sie ihn schüchtern an. „Hast du… gut geschlafen?“ Er schluckte, merkte, wie sein Herz erneut zu rasen begann, hoffte, dass sie ihm die Aufregung nicht ansah, die sie bei ihm auslöste. Er zwang sich zu nicken; tatsächlich hatte er irgendwann in dieser Nacht tatsächlich noch gut geschlafen – wenn auch nicht lange. Ihr schien nichts von seiner Nervosität aufzufallen, oder zumindest ließ sie sich nichts anmerken. Stattdessen deutete sie auf einen Haufen Klamotten, der auf einem Stuhl neben dem Tisch lag. „Schön… nun, ich würde sagen, du machst dich zuerst mal frisch, bis dahin ist auch das Frühstück fertig. Ich hab dir eine neue Zahnbürste auf den Waschbeckenrand gelegt. Und die Sachen hier hat der Professor gerade vorbeigebracht, für dich.“ Ran lächelte immer noch, wartete auf eine Reaktion seinerseits. Shinichi starrte sie an, fuhr sich langsam über die Augen, dann durch die Haare. Es war ungewohnt für ihn, wie sie mit ihm umging, was kein Kunststück war; in seinen Augen sah er sie heute zum zweiten Mal in seinem Leben. Aber dennoch war da etwas; etwas, dass sich vertraut anfühlte, in der Art, wie sie mit ihm sprach, wie sie sich um ihn kümmerte, ihn spüren ließ, dass er willkommen war, dass sie ihn mochte. Nur wusste er immer noch nicht, warum. Was würde er darum geben, zu wissen, wie ihr Verhältnis vorher gewesen war. Wie sein Leben in diesem Haus gewesen war, mit Herrn Mori und Ran. Es waren zu viele Fragen einfach noch unbeantwortet, und er wusste, es würde dauern, bis er all diese losen Enden verknüpfen konnte, die sich seit gestern vor seinen Augen anhäuften. Ein immenser Berg an losen Fäden. Shinichi schluckte, merkte, dass Ran ihn immer noch ansah, wusste, sie wartete noch auf eine Reaktion seinerseits. Ihm war klar, woran sie dachte, schließlich dachte auch er an nichts anderes - er wusste ja, was letzte Nacht gelaufen war, über was sie geredet hatten. Er konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie nahe sie sich gekommen waren. Und er war sich sicher, sie wusste das alles auch noch. Aber dennoch war es seltsam, jetzt, bei Tageslicht, genauso wie er es befürchtet hatte. Es schien alles so unwirklich, als hätte er es geträumt. Und er fragte sich, ob es ihr genauso ging. Wie hatte… wie hatte es gestern soweit kommen können? Was erwartest du jetzt von mir, Ran? Ich muss gestehen, ich hab keine Ahnung… was jetzt passieren müsste. Ran merkte, wie sich in ihrem Magen ein flaues Gefühl einstellte. Sie stellte den Topf ins Spülbecken, trat langsam näher, als er nicht antwortete, stattdessen intensiv auf den Boden schaute, scheinbar das Muster des Fußbodens studierte und mit den Gedanken, das wusste sie, doch gerade Karussell fuhr. Sie konnte sehen, dass mit ihm etwas nicht stimmte, dass er nachdachte, wohl über gestern. Sie griff nach den Klamotten, dann einen seiner Arme, drückte ihm die Kleidung in die Hand, gegen seine Brust, sah ihn nur an. Sie verstand nur zu gut, wie es in ihm aussah, sie… hatte es doch selbst schon erlebt. Er zuckte bei der Berührung zusammen, schaute auf, fand sie auf einmal so nah vor sich stehen. Sie sah die Leere in seinen Augen, und es kam ihr vor, als blickte sie direkt in ihre Vergangenheit. Sie wusste, wie er sich fühlte. Und sie wusste, warum. „Shinichi.“, murmelte sie leise. Er schüttelte den Kopf, wie als ob er aus einem Traum erwachen würde, fokussierte ihr Gesicht, langsam. „Alles in Ordnung?“ Rans stimme drang an sein Ohr, leise. Er nickte automatisch. Sie wusste, die Frage war absurd. Nichts war in Ordnung, konnte einfach nicht in Ordnung sein; aber die Worte waren ihr einfach so über die Lippen gerutscht, zu schnell, als dass sie es hätte verhindern können. Er blickte sie an, merkte erst jetzt, wie er auf sie gewirkt haben musste. „Entschuldige…“, murmelte er dann langsam. Es war unhöflich gewesen, so abwesend gewesen zu sein. Shinichi sah, wie sie die Lippen zusammenkniff, sah die Sorge in ihren Augen, einen Anflug von Kummer. Unmerklich holte er Luft, zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. „Entschuldige bitte, ich war in Gedanken. Ich… geh dann wohl ins Bad. Sollte nicht lange dauern.“, meinte er, bemühte sich um einen gelassenen Tonfall und machte kehrt, traf beim Verlassen der Küche auf Kogorô, stieß fast mit ihm zusammen und wich gerade noch rechtzeitig aus. Der Detektiv schaute ihm verdutzt wie nachdenklich hinterher, bevor er sich seiner Tochter zuwandte. In ihren Augen stand immer noch Besorgnis zu lesen, und ein leiser Anflug Kummer. Er ahnte, woher der rührte, aber schnitt das Thema lieber nicht an. „Unfassbar, dass wir so lange nicht sahen, wer er ist, oder?“, murmelte er dann langsam, um irgendetwas zu sagen. „Ich meine… Dieses Lächeln, die Gestik, der Ton, um den er sich bemüht, wenn er spricht, nur um nicht offenzulegen, wie beschissen er sich fühlt. Conan, wie er leibt und lebt.“, fügte er an, schaltete die Kaffeemaschine an, bemerkte erst dann, dass seine Tochter immer noch keine Anstalten machte, sich zu bewegen. Er zwirbelte seinen Bart, sah sie lange einfach nur an. Ihm entging der Zustand nicht, in dem sie sich befand. Ach, Ran… Sie atmete flach, ihre Lippen waren leicht geöffnet und ihre Wangen rot geworden, ihre Augen glänzten leicht glasig, und er wusste, in diesem Augenblick, jetzt gerade, riss sie sich unheimlich zusammen. Er seufzte leise, wollte etwas sagen. Wollte mit ihr darüber reden, wie es ihr ging, jetzt, nachdem ihre Vorsätze so über den Haufen geworfen worden waren, ihn nicht zu sehen, ihn nicht zu besuchen. Wollte sie fragen, wie sie damit zu Recht kam, ihn so zu sehen. Ihm nahe zu sein und zu wissen, dass er sie nicht erkannte. Er ahnte, dass sie sie ohnehin nicht eingehalten hätte, ihre Vorsätze… schlicht und ergreifend, weil sie es nicht konnte. Egal wie es ihr dabei ging, egal, wie sehr sie mit ihm mitfühlte, sein Leid zu ihrem machte. Allein, wie sie ihm jetzt nachsah, sprach Bände. Sie liebte ihn wirklich. Und sie litt mit ihm, wegen ihm. Dann läutete das Telefon, und Kogorô wurde der Entscheidung enthoben, ob er mit Ran redete oder nicht. Er eilte in den Flur, nahm den Anruf entgegen. Am anderen Ende der Leitung war Meguré. Als Shinichi ein paar Minuten später aus dem Bad zurückkehrte, fühlte er sich anders. Vielleicht lag es daran, dass er seit drei Tagen das erste Mal etwas anderes trug als Krankenhauskittel und Pyjama; vielleicht lag es daran, dass es seine Klamotten waren, die er nun trug. Es war nicht so, dass er sich wie er selbst fühlte. Er wusste ja nicht, wie er selbst sich normalerweise fühlte. Unwillig verzog er das Gesicht, als er die Tür zur Küche öffnete. Aber er fühlte sich nicht mehr ganz so hilflos. Nicht mehr ganz so sehr wie ein Opfer. Tja, was soll ich sagen, es stimmt. Kleider machen wohl tatsächlich Leute. Er seufzte, drückte dann die Tür auf und der Duft von frisch gebrühtem Kaffee und geröstetem Toastbrot stieg ihm in die Nase. Definitiv der beste Morgen seit drei Tagen. Ran, die sich mittlerweile wieder gefasst hatte, stellte gerade eine Tasse zu einem Teller auf den Tisch, der offenbar für ihn gedacht war, und deutete auf den dazugehörigen Stuhl. Sie lächelte ihn an, zog einen Stuhl zu Recht, setzte sich auf einen anderen. „Setz dich.“ Aufmunternd nickte sie ihm zu, goss ihm ungefragt Kaffee ein und nahm ebenfalls Platz. Er murmelte ein Dankeschön und nippte vorsichtig an seiner Tasse, fragte sich, wann er zum letzten Mal Kaffee getrunken hatte; verwarf dann die Frage, und genoss ihn einfach. Kogorô faltete seine Zeitung ein wenig kleiner, schaute Shinichi, der nach kurzem Zögern nach einer Scheibe Toast gegriffen hatte, zu, wie er etwas Butter darauf verteilte. Als er merkte, dass er beobachtet wurde, schaute er auf, zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. Ran ließ ihre Tasse wieder sinken, aus der sie gerade trinken wollte, ihre Augen wanderten zwischen ihrem Vater und Shinichi hin- und her. Kogorô räusperte sich. „Die Polizei möchte heute mit dir reden, Kommissar Meguré hat angerufen, als du im Bad warst. Und deine Eltern möchten, dass du nach Hause kommst.“ Shinichi schluckte unwillkürlich, dachte kurz nach. Ran schaute ihn aufmerksam an. „Schätze, das ist wohl vernünftig. Nach… nach Hause zu gehen, meine ich.“ Er rieb sich gedankenverloren die Nasenwurzel, ließ dann die Hand sinken. „Von welchem Nutzen ich der Polizei allerdings sein kann, ist mir schleierhaft. Aber gut, wenn sie meinen, dann muss ich mich wohl mit ihnen unterhalten. Sagte der Kommissar denn, wo er… also, muss ich aufs Revier, oder…?“ Kogorô schüttelte den Kopf. „Nein. Sie kommen zu dir nach Hause. Nach dem Frühstück kommen deine Eltern dich abholen.“ Shinichi schluckte, fühlte sich sonderbarerweise etwas überrascht. Aber gut, er hätte es wissen müssen, dass er nicht wieder dauerhaft hier einzog. Er war hier nur für eine Nacht gewesen, als Unterschlupf nach seiner Flucht. Dennoch bedauerte er es irgendwie, derart schnell wieder verschwinden zu müssen. Gerade jetzt, nachdem… „Aha.“, meinte er dann leise, biss in seinen Toast und griff mit einem gemurmelten Danke nach dem Teil der Zeitung, den Kogorô ihm kommentarlos reichte. Als seine Eltern nach einer halben Stunde kamen, um ihn mit nach Hause zu nehmen, ging er widerstandslos mit; und fragte sich, warum er von sich dachte, gegen irgendetwas Widerstand leisten zu müssen, beziehungsweise, sich zu wundern, warum er keinen leistete. Er fühlte Rans Blicke auf sich ruhen und fragte sich, ob er ihr noch irgendetwas sagen sollte; Fakt war, nach gestern Nacht wusste er nicht genau, wie er nun mit ihr umgehen sollte. Er liebte sie, und sie ihn auch, aber zur Tagesordnung eines Pärchens übergehen, das brachte er nicht über sich… dazu kannte er sie doch zu wenig, eigentlich. Und dennoch ging es ihm zuwider, nun zu gehen. Noch dazu, ohne wirklich mit ihr noch einmal über gestern geredet zu haben. Unter vier Augen. Ihre Blicke trafen sich, und er bemerkte das Lächeln auf ihren Lippen, als er durch die Tür ging. Ein trauriges Lächeln. Er hob die Hand zum Gruß, schloss dann die Tür hinter sich, atmete aus, gepresst. Dann zog seine Mutter seine Aufmerksamkeit auf sich. „Shinichi, kommst du?“ Ihre Augen strahlten immer noch, und die Erleichterung, ihn zu sehen, und ihn mitnehmen zu können, stand ihr fast buchstäblich auf die Stirn tätowiert. Und das war es auch, was ihn am Meisten schockierte, mehr noch als im Krankenhaus gestern - ihre aufrichtige und ehrliche, ungehemmte Freude, ihn wieder zu haben. Mutter… Yukiko war kaum durch die Tür getreten, als sie auf ihn zugeeilt war, ihn kurz in die Arme genommen und ihm einen Kuss auf die Stirn gedrückt hatte. Er hatte es mit hochgezogenen Augenbrauen und einem schüchternen Lächeln quittiert, als er gemerkt hatte, wie atemlos sie war. Ohne Zweifel war es ihr ein großes Anliegen, ihn endlich wieder unter ihrer Fuchtel zu haben; oder unter ihren Fittichen, je nachdem, wie man es auslegte. Er tendierte zu letzterem, schlicht und er greifend, weil ihn ihre Fürsorge zutiefst rührte. Und auch jetzt fühlte er, wie sie ihn musterte, wie sie ihn studierte, mit dem Ziel, ihm zu helfen; er sah immer noch die Sorge und die Sorte Wärme und Zuneigung, die man in den Augen der eigenen Mutter vermutet. Sein Vater verhielt sich wie auch gestern schon, etwas zurückhaltender. Shinichi entging auch nicht, dass das Verhältnis zwischen seinen Eltern etwas angespannt schien; ein sachtes, elektrisches Knistern begleitete ihre Blickkontakte, und er fragte sich, ob das die Nachwirkungen eines frühmorgendlichen Donnerwetters waren. Und wenn ja, interessierte es ihn irgendwie brennend, worüber dieses Gewitter ausgebrochen war. Oder weswegen. Die Fahrt nach Hause dauerte nicht lange, kaum ein paar Minuten; kein Wunder, dass er und Ran sich angeblich schon so lange kannten, ihre Häuser lagen kaum einen Steinwurf auseinander. Ran. Unwillkürlich berührte er seine Lippen mit Zeige- und Mittelfinger, presste sie dagegen, merkte, wie ihm bei der Erinnerung an letzte Nacht ein Schauer über den Rücken rann. Wahrscheinlich hatte er sich dieses Erlebnis auch anders vorgestellt… nicht in so einem Zustand, zumindest. Sie hatte sicher auch einen anderen Traum von ihrem ersten Kuss geträumt. Und dennoch… war es gerade so gekommen. Er schluckte, merkte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg, erneut, als er daran dachte. Dieses Gefühl… Er biss sich auf die Lippen, konnte es immer noch spüren… dieses Kribbeln, als ihre Lippen seine berührt hatten, so unglaublich zart, kaum spürbar, und doch… unvergesslich eingebrannt in seine Erinnerung, genauso wie der Wunsch, diesen Moment zurückzuholen. Er hörte immer noch ihre Worte in seinen Ohren, dieses Versprechen, das er so gerne glauben würde. Roch den Duft ihrer Haut, ihrer Haare - spürte sie unter seinen Fingern, weich und seidig. Fühlte sich ihr so nah, so unendlich nah… und stellte fest - er mochte das Gefühl, das ihre Nähe in ihm auslöste. Sehr sogar. Es war neu, ja. Und er hatte immer noch Angst, er verrannte sich da in etwas. Aber es fühlte sich so unglaublich gut an, wenn sie ihm nahe war. Er fühlte sich gut, wenn sie da war. Dicht bei ihm war. So nah, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren konnte, und die Wärme ihres Körpers an seinem, wenn er sie im Arm hielt, ihre Hände in seinem Nacken, wenn sie sich festhielt, ihm das Gefühl gab, gehalten zu werden und gleichzeitig selbst zu halten. Und er wollte es nicht aufgeben, jetzt noch nicht. Nie, am besten. Er wollte sie nicht missen, sie, die ihm als einzige dieses Gefühl von Geborgenheit vermittelte, von Zuhause, von… Ruhe und Sicherheit. Wärme. Er merkte, wie er langsam Blut schmeckte, weil er sich zu fest auf die Lippen gebissen hatte, gedankenverloren. Ein bitterer und metallischer Geschmack breitete sich kurz auf seiner Zunge aus, ehe er ihn schluckte, und ihn damit vertrieb. Dann riss ihn die Stimme seiner Mutter aus seinen Gedanken. Sie hatte sich umgedreht auf dem Beifahrersitz, umklammerte mit einer Hand die Kopfstütze, mit der anderen berührte sie sein Knie. Sie hatte ihn wohl bereits mehrmals angesprochen, aber er hatte nicht reagiert. Shinichi zuckte zusammen. „Entschuldige.“, murmelte er dann. „Ich war in Gedanken. Du… hast was gesagt?“ Yukiko sah ihren Sohn besorgt an, fragte sich, was ihn momentan wohl so beschäftigte, und konnte nur raten - durch seinen Kopf mussten an die tausend Dinge gehen. „Wir sind zuhause, Shinichi.“, meinte sie dann, lächelte ihn aufmunternd an und deutete auf das Haus vor ihnen. Shinichi folgte ihrem Blick und konnte nicht verhindern, dass ihm die Kinnlade nach unten fiel, als er aus dem Auto ausstieg. Unwillkürlich hielt er sich an der Autotür fest, als er nach oben blickte, die Fassade und den Garten in sich aufnahm. „Oha. Lass mich raten, du schreibst keine Ladenhüter.“, stellte er dann lakonisch fest, warf seinem Vater einen Blick zu. „So kann man es nennen, ja.“ Yusaku merkte, wie ihm Hitze in den Kopf stieg, hoffte, dass man ihm nichts ansah und vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen, damit keiner merkte, wie sie zitterten. Es war Irrsinn, Shinichi, der in diesem Haus aufgewachsen war, davor stehen zu sehen – und zu wissen, dass er niemals in seinem Leben so baff vor diesem Haus gestanden hatte. Weil er es gewohnt war. Weil er darin groß geworden war, darin gewohnt hatte, seit er sich erinnern konnte, sich darin bewegt hatte, frei, mit jeder Ecke, jeder Stufe, jedem Staubkorn vertraut. Und nun stand er da wie erschlagen von der Größe des Gebäudes und dem Wohlstand, den es symbolisierte, auch wenn er sichtlich versuchte, nicht zu beindruckt auszusehen. Die Kudô-Villa war beeindruckend. Seine Mutter übernahm die Aufgabe, ihn mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen, und kam nicht umher, einen schmerzhaften Stich in ihrer Brust zu fühlen, als sie ihren Sohn wie einen Gast durch dieses Haus führte. Denn genau das schien er zu sein, und als nichts anderes schien er sich zu fühlen - als ein Gast. Shinichi trabte neben ihr her, immer noch darum bemüht, nicht allzu überrascht zu wirken, aber sie beobachtete ihn genau. Er reagierte wie die meisten Besucher, die sie hier herumgeführt hatte - sie sah, dass ihm die Küche gefiel, mit ihrer hellen Ausstattung und den großen Fenstern; sah, wie angetan er war vom Wohnzimmer, das gemütlich und aufwändig zugleich eingerichtet war. Und sie sah das Leuchten in seinen Augen, als er in der Bibliothek stand - und hatte das erste Mal seit Tagen das Gefühl, dass es wirklich ihr Sohn war, der neben ihr stand. Er hatte den Mund leicht geöffnet, in seinen Augen war Überraschung zu sehen, seit sie sie betreten hatten. Sie beobachtete ihn genau, merkte, wie ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen trat. Er ging ein paar Meter in den Raum, die Arme leicht vom Körper gestreckt, als versuche er, die Gewalt an Büchern, die hier ‚lebte‘, buchstäblich zu erfassen. „Wahnsinn.“, flüsterte er, aber sie hörte es genau. Er ging zu einem der Regale, strich mit seinen Fingern über die Buchrücken, las leise murmelnd die Namen vor. Dann drehte er sich um, ging zu ihr zurück. „Das ist gigantisch. Und du… sagst, hier stehen nur Kriminalromane? Bis unter die Decke?!“ Yukiko lachte leise, dann hakte sie sich bei ihrem etwas überraschten Sohn unter, zog ihn mit sich. „Wenn ich euch ließe, dich und deinen Vater, würde diese Bibliothek für all die Bücher, die ihr da noch reinstellen würdet, gar nicht reichen, Shinichi.“ Sie grinste, tippte ihn auf die Nase. „Komm, ich zeig dir dein Zimmer und das Badezimmer, das reicht dann fürs erste. Den Rest kannst du dir selber ansehen, das ist dein Haus. Fühl dich wie zu Hause, fass alles an, mach jede Tür und jeden Schrank auf, wirf einen Blick in jede Schublade – es steht dir alles offen. Du wohnst hier. Seit deiner Geburt. Merk es dir.“ Ihre Stimme, anfangs noch locker und gelassen, war gegen Ende immer ernster geworden. Sie war mit ihm die Treppe rauf gegangen und vor einer Tür stehen geblieben, schaute ihn starr an. Shinichi schluckte. „Ich versuch‘s.“ Yukiko schüttelte den Kopf. „Versuch es nicht nur. Das hier ist dein Zuhause …“ Sie strich ihm über die Wange, ließ dann seinen Arm los, öffnete die Tür, gab ihr einen Stoß, dass sie nach innen aufschwang. „Bitte. Dein Reich.“ Er trat ein, langsam, drehte sich um, wollte etwas sagen, aber sie schüttelte den Kopf. „Ich lass dich jetzt allein. Wenn du etwas brauchst, ich und dein Vater sind unten. Ich nehme an, er schreibt an einem Manuskript, sicher lässt er dich was lesen, wenn es dich interessiert.“ „Danke.“, wisperte Shinichi, nickte. Yukiko nickte zurück, schloss die Tür hinter sich, ließ ihn allein. Shinichi seufzte die geschlossene Tür an, fuhr sich durch die Haare, unschlüssig, was er nun tun sollte. Was man von ihm erwartete. Er wusste, in etwa einer Stunde kam die Polizei. Und er wusste auch, er würde ihnen nicht viel sagen können; hinter wem sie her waren, wussten sie bereits, und das war aber auch alles, was er ihnen mitteilen konnte. Er kannte nicht ihre Namen, nicht die Verbrechen, die sie begangen hatten, wusste nicht, was sie ihm angetan hatten oder ihm befohlen hatten; er hatte keine Ahnung, wer ihr Boss war und wo das Hauptquartier lag, und er schätzte, das waren die Fragen, die ihnen am Meisten auf der Zunge brannten. Die Antworten auf diese beiden Fragen waren die Schlüssel zum Erfolg. Er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen, stöhnte kurz auf; trottete dann zu seinem Bett und ließ sich darauf nieder. Sein Zimmer sah nicht spektakulär aus, und verriet auch nicht viel über ihn, wenn er so darüber nachdachte. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Schreibtischstuhl, ein Schrank, zwei Regale voll mit Büchern, eine kleine Kommode neben dem Bett. Das war’s. Es roch ein wenig muffig, nach lange nicht geöffneten Fenstern, nach Papier, alten Büchern und ein wenig nach Holz. Die Wände waren cremefarben, der Boden aus hellem Parkett, die Decke weiß gestrichen; ein helles Zimmer, mit einem Fenster, das wohl nach Südosten aufging, denn momentan floss das Licht wie Honig ins Zimmer, malte einen breiten, hellen Streifen auf Boden und Wand. Shinichi stand auf, machte es auf, ließ frische Luft ins Zimmer strömen, merkte, wie ihm die Sonne auf dem Gesicht gut tat, irgendwie, und konnte schon nach ein paar Sekunden merken, wie eine frische Brise den Geruch nach abgestandener Luft vertrieb, buchstäblich aus allen Poren und Ritzen blies. Es wirkte nicht ungemütlich, auf den ersten Blick; die Einrichtung war sachlich, aber nicht kühl, helles Holz, heller Kunststoff, helle Vorhänge an den Fenstern. Ansonsten schien der Raum nicht sehr gesprächig zu sein, über das Leben seines Bewohners. Keine Dekoration, nicht die Art von persönlichem Schliff, den man gewöhnlich in den eigenen vier Wänden von jungen Leuten fand; keine Sammlung irgendwelcher Figuren, Spielzeugautos, kein Merchandise irgendwelcher Stars oder Vereine, oder sonstigem Kram, den man hobbymäßig anhäufen und zur Schau stellen konnte. Keine Poster an den Wänden oder etwas anderes, das dem Raum mehr Charakter verliehen hätte. Aber vielleicht war es ja gerade das, was ihn ausmachte. Es sah alles absolut rational aus; zweckdienlich, logisch angeordnet, nichts, das einen ablenken konnte, außer einem Foto auf dem Schreibtisch. Er trat näher, langsam, nahm es in die Hand und studierte es. Es zeigte ihn und Ran in einer Art Vergnügungspark. Unwillkürlich drehte er es um, öffnete den Rahmen. Hinter dem Foto steckte die Eintrittskarte, zeigte ihm das Datum, an dem sie ausgestellt worden war. 13.1.1994 14:32 Ein Schauer lief ihm über den Rücken, eisig und prickelnd und brachte seine Nackenhärchen dazu, sich spürbar aufzustellen. Er schüttelte sich, unwillkürlich, versuchte, dieses Gefühl loszuwerden, und dennoch… seine Gedanken kreisten um dieses Datum. Diesen Zeitpunkt. Wie lange waren sie schon in dem Vergnügungspark gewesen, bevor er diesen Männern über den Weg gelaufen war? Wann war dieses Foto entstanden? Stunden, vielleicht nur Minuten, nachdem dieses Foto gemacht wurde, war sein Leben komplett außer Kontrolle geraten… Stunden, vielleicht nur Minuten, nachdem dieses Foto gemacht worden war… war er irgendwo auf dem Gelände im Gras gelegen und hatte um sein Leben gekämpft, hatte tatenlos mit ansehen müssen, wie Conan Edogawa das Ruder übernahm. Der Knirps, an den er immer noch so gut wie keine Erinnerungen hatte. Mit zitternden Fingern legte er das Foto auf dem Schreibtisch ab. Er atmete tief durch, versuchte, die Anspannung, die ihn befallen hatte, wieder etwas loszuwerden. Dann fiel sein Blick auf die Schreibtischschubladen. Er holte Luft, wusste nicht, ob es gut war, was er jetzt tat, oder ob es Sinn machte. Er wusste nur, irgendetwas musste er tun. Und so zog er die Lade heraus, kippte sie auf den Boden. Ihr folgten die zweite, und auch die dritte; danach wandte er sich dem Nachtkästchen zu, verfuhr genauso. In der Mitte seines Zimmer stapelten sich seine Sachen; er warf sie nicht durcheinander, aber hatte doch das Gefühl, ausgebreitet und mit einem Blick erfassbar, machte es mehr Sinn, sich durch die Relikte seines alten Lebens zu wühlen, als Schublade für Schublade. Vielleicht half ihm der Blick aufs große Ganze, Zusammenhänge zu erstellen. Erinnerungen zu finden. Er stieg über einen Haufen Schubladeninhalts und wandte sich dem Schrank zu. In ihm hingen größtenteils nur Klamotten. Ein paar Schuluniformen, Hemden und Hosen in verschiedenen Farben. Die Schubladen des Schranks waren leer, und er fragte sich, wohin die Sachen verschwunden waren, die einmal darin gewesen sein mussten. Im Regal standen nur Bücher; Schulbücher, Bücher mit naturwissenschaftlichen Inhalten, Kriminalromane. Er wollte sich gerade abwenden, als etwas aus dem Augenwinkel seine Aufmerksamkeit doch noch auf sich zog. Er griff nach einem Kriminalroman, zog ihn heraus, nahm ihn in die Hand. Der Wälzer war leinengebunden, bordeauxrot, der Einband bereits abgewetzt, aber der Titel in Goldlettern immer noch lesbar. A Study in Scarlett by Sir Arthur Conan Doyle Ein leiser Pfiff verließ seine Lippen; das Buch sah alt aus. Wie alt es war, fand er heraus, als er es aufklappte. Die erste Seite des abgegriffenen, starren, vergilbten Papiers zeigte ihm das Erscheinungsdatum und die Auflage. Es war eine Erstauflage. Shinichi musste kein Experte sein, um zu wissen, was er für einen Schatz in den Händen hielt. Eine Sherlock-Holmes Erstausgabe…! Er musste ein wirklich wahrer Fan sein, wenn er so etwas besaß. Und weit mehr als das, stellte er fest; eine genauere Untersuchung der anderen Kriminalromane im Regal zeigte, dass er einige solch wertvoller Bücher besaß. Nicht alles Doyle, nicht alles Sherlock Holmes; aber durchweg Klassiker der Kriminalliteratur in schwer aufzutreibenden Sammlereditionen, Erstausgaben oder Sonderauflagen. Nun, jetzt ist klar, was der Professor meinte, damit, als er sagte, ich wär ein Fan von Kriminalliteratur, und besonders von Holmes. Nur blöd, dass ich das nicht mehr weiß. Er verzog die Lippen, stellte die Bücher wieder ordentlich zurück, wandte sich dann von Regal und Schrank ab; diese auszuräumen würde wenig Sinn machen, vermutete er. Und er wusste wohl, was er wissen konnte, aus dieser Entdeckung… er war ein wirklich großer Fan von Sherlock Holmes. Also doch eine Art von Sammlung in diesem Zimmer. Ein echter Hinweis auf seine Person… denn einfach nur Krimis mögen, oder Unsummen für Erstausgaben ausgeben, dazwischen bestand doch ein leichter Unterschied. Gedankenverloren setzte er sich in die Mitte seiner Sachen auf den Boden, und wandte sich dem ihm am nächsten Berg an Kram zu, in der Hoffnung, sein Gedächtnis etwas mehr auffrischen zu können. Irgendetwas muss mir doch sagen, wer ich bin... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)