Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 33: Kapitel 15: Dilemma ------------------------------- Tja - neue Woche, neues Kapitel. Auch noch nicht der ultimative Adrenalinschub, aber ich denke, das Kapitel der nächsten Woche dürfte interessant werden. Ich wünsch euch viel Vergnügen hiermit, Viele Grüße, eure Leira ______________________________________________________ Kapitel Fünfzehn: Dilemma Shinichi war seit etwa einer Viertelstunde weg. Ran stand in der Küche und spülte ab; dass der Teller, den sie schon geraume Zeit mit kreisenden Bewegungen im Spülwasser mit dem Schwamm reinigte, schon längst sauber war, bekam sie gar nicht mit, obwohl ihr Blick doch geradewegs auf ihn gerichtet war – oder eher doch durch ihn hindurch. Kogorô saß am Tisch, sah ihr heimlich dabei zu; er tat so, als würde er lesen, aber kam nicht umhin, seine Tochter zu beobachten. Langsam rutschte ihm eine Augenbraue in die Höhe, und ebenso langsam legte er die Tageszeitung auf den Tisch, faltete sie leise raschelnd zusammen. Irgendetwas war im Busch. Ran benahm sich seltsam, irgendwie. Allein die Tatsache, dass sie für den Abwasch dieser Kleinigkeit von drei Tellern, drei Tassen, drei Löffel und drei Messern sowie einer Kaffeekanne eine halbe Ewigkeit zu brauchen schien, sprach Bände. Er konnte es ihr nicht verdenken, schließlich war der Tag gestern schwer für sie gewesen, die ganzen Dinge, die sie verkraften musste… Das lässt selbst mich nicht kalt – wie muss es da für dich sein, Mausebein. Und dann ist er auch noch hier, völlig unerwartet für dich, und das nach deinen… Vorsätzen, gestern… Aber... Einen Moment mal… Kogorôs Augenbrauen rutschten noch einen Tick weiter nach oben, sofern das ging – und stießen in der Mitte seiner Stirn zusammen. Du hast ihn heute zum ersten Mal seit dieser Sache gesehen… oder? Eigentlich hatte gerade das erste Treffen zwischen Shinichi und seiner Tochter stattgefunden, seit Conans Verschwinden. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber irgendwie… nicht das. Dafür, dass sie gestern noch alles über den Haufen werfen wollte, was sie mit ihm verband, dafür, dass sie seit gestern wusste, was mit ihm passiert war, dafür… dafür war sie für den Geschmack des schlafenden Meisterdetektivs heute viel zu ruhig gewesen. Auch wenn sie jetzt ein wenig neben sich stand und in ihren Gedanken absorbiert schien, so war sie doch, insgesamt betrachtet, viel zu ruhig, zu gefasst, zu gelassen. Eigentlich hätte sie heute Morgen bass erstaunt reagieren müssen, ihn in der Wohnung anzutreffen. Sie hätte heulen sollen, schreien, oder sich freuen, ihm um den Hals fallen, ihn anblaffen, mit ihm einen Streit vom Zaun brechen oder fluchtartig das Zimmer verlassen, oder, oder, oder… Oder. Ein leises, kaum hörbares Brummen entfuhr ihm, als er nachdachte und sich in seinem Kopf diese gewisse Ahnung manifestierte, er seine Schlussfolgerung zog. Oder. Sie hatte nicht überrascht gewirkt. Und egal ob nun positiv oder negativ überrascht, sie hätte anders reagieren müssen, als sie es heute getan hatte, heftiger, auf irgendeine Weise emotionaler. Stattdessen war sie verhältnismäßig ruhig geblieben. Abgeklärt, absolut bei sich war sie gewesen. Klar, besorgt, ja. Und unbeholfen im Umgang mit ihm, ja. Aber keinesfalls auch nur einen Funken überrascht, überrumpelt, erstaunt, fassungslos… Das ließ eigentlich nur einen Schluss zu. Er legte die sorgsam gefaltete Zeitung beiseite, versuchte, seine Gesichtszüge zu entspannend und einen väterlich-besorgten, verständnisvollen Gesichtsausdruck. Dann holte er tief Luft, ehe er sie mit leiser Stimme ansprach. „Willst du darüber reden… Mausebein?“ Die Tasse, die sie gerade auswischen wollte, entglitt ihr, fiel platschend zurück ins Spülwasser. Unsicher griff sie nach dem Geschirrtuch, wischte sich die Hände trocken, merkte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Ihr Blick begegnete dem ihres Vaters, und sie wusste, was er meinte, sofort. Auch wenn einen Großteil seiner Fälle Shinichi gelöst hatte, was ihren speziellen Fall betraf, lag er heute mit seinen Schlussfolgerungen wohl richtig. Sie schluckte schwer, wischte sich über die Stirn, fahrig. Sie wusste nicht, ob sie dieses Gespräch führen wollte, aber anscheinend kam sie dem nicht aus. „Woran…?“, murmelte sie fragend. Kogorô lächelte, deutete auf den Stuhl gegenüber. „Du warst heute Morgen überhaupt nicht überrascht, ihn hier anzutreffen, Ran. Man muss kein Detektiv sein, um zu erkennen, dass du ihn beim Frühstück nicht das erste Mal gesehen hast.“ Sie seufzte, sank auf die Sitzfläche, faltete ihre Hände in ihrem Schoß und starrte auf ihre Knie. „Ich schwör dir, heut Nacht war ich wahnsinnig überrascht.“ Ein schiefes Lächeln huschte über die Lippen, wurde von ihren Augen, in denen ihre Sorge nur allzu deutlich zu lesen war, Lügen gestraft. Kogorô seufzte lautlos. „Heute Nacht?“ Ran nickte. „Ich hatte Durst, und bin in die Küche gegangen, um mir einen Tee zu machen, oder etwas ähnliches, und da war er… Ich dachte zuerst, er wäre ein Einbrecher, ich hab ihn ziemlich erschreckt. Er… hatte Kopfschmerzen, das sagte er zumindest, und er konnte nicht schlafen, hatte sich… einen kühlen Lappen gemacht, für seine Stirn.“ Sie merkte, wie ihre Stimme versagte, und räusperte sich. Kogorô seufzte, strich sich nachdenklich über seinen Bart. „Wundert mich nicht, dass er gestern nicht schlafen konnte, nachdem, was den ganzen Tag über passiert ist.“ Ran nickte langsam, biss sich dann auf die Lippen. „Also habt ihr geredet?“ „Ja…“, Ran sprach langsam, bedächtig, starrte dabei die Tischplatte an, als ob sie sie mit Blicken allein durchbohren wollte und überlegte fieberhaft, was sie nun sagen sollte. „Ich hab ihn gefragt, warum er hier ist, er hat’s mir erzählt. Die Flucht aus dem Krankenhaus, die Begegnung mit Gin und Wodka, die Sache mit Shiho. Und ich… ich hab ihm über uns… erzählt. Über unsere Freundschaft. Damit er ein bisschen mehr von mir weiß.“ Ihre Stimme zitterte, und sie fragte sich, warum ihr das hier wie ein Verhör vorkam. Kogorô hatte aufgehorcht, als er das Zittern in der Stimme seiner Tochter vernommen hatte. „Nur über eure Freundschaft?“ Er schaute Ran aufmerksam an. Merkte, wie sie blasser wurde um die Nasenspitze, sah, wie ihr Blick immer starrer wurde, ihre Augen glasig zu werden begannen. „Mausebein…“ Ran seufzte, merkte, wie sich ihre Mundwinkel nach unten zogen, sich in ihren Augenwinkeln Tränen zu sammeln begannen. Sie presste ihre Kiefer aufeinander, bis sie ihre Zähne knirschen hörte, versuchte, sich zusammen zu reißen. Dann schüttelte sie den Kopf, schluchzte einmal auf. „Du hast ihm reinen Wein eingeschenkt.“, murmelte Kogorô leise. „Ja.“ Rans Stimme klang weinerlich. „Aber nicht nur das… Ich hab ihn so weit gebracht, es mir gleich zu tun.“ Kogorôs Augenbrauen fuhren nach oben. „Was?“ „Er hat… er hat lang gezögert. Und so wirklich reden wollte er darüber nicht, ich denke… es ist alles seltsam für ihn, er weiß ja gar nicht...“, wisperte Ran. Eine Träne rollte über ihre Wange, perlte auf ihre Lippe. Sie presste ihren Mund kurz zusammen, schmeckte Salz, schniefte. „Ich hab geredet wie ein Buch. Ich weiß, ich hätte das nicht tun sollen, aber ich wollte so gerne… ich wollte es hören, verstehst du?!“ Verzweiflung klang in ihrer Stimme. „Er druckste herum, sagte, er wolle diese Freundschaft nicht gefährden, wollte nicht weiter reden, gestern. Und da… war mir klar, was er meinte, und ich… ich wollte es so gerne hören. Endlich. Dass er genauso empfindet für mich wie ich für ihn, denn das… das tut er. Wir wissen es doch… eigentlich. Ich wollte, dass es endlich wahr wird.“ Sie strich sich mit dem Handrücken über die Nase. „Er hat Angst, dass es nur eine Phase ist. Fürchtet, es vergeht, wenn er sich wieder erinnert. Aber dann… dann hat… er hat es gesagt, und ich…“ Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen, atmete tief ein, krallte ihre Finger in ihre Haare. Kogorô fragte nicht weiter. „Denkst du nicht, du verlangst ein wenig viel von ihm…?“ Sie ließ die Hände sinken, presste die Handflächen flach auf die Tischplatte. „Doch. Ich weiß es ja…“, hauchte sie. „Ich weiß das doch. Ich versteh es besser, als jeder andere es könnte, deshalb ist es so schäbig von mir. Ich hätte ihm einfach eine gute Freundin sein können, bis er wieder alles weiß. Stattdessen reiß ich ihn in ein Gefühlschaos ohnegleichen. Du hast es gesehen, heute Morgen.“ Kogorô wiegte seinen Kopf in stummem Verständnis. Ihr war die Anspannung des Jungen und seine Ratlosigkeit nicht entgangen, auch wenn Shinichi durchaus bemüht war, sich nichts anmerken zu lassen. Sie schüttelte den Kopf, merkte, wie etwas ihr Herz zusammenzupressen schien, eine unsichtbare Kraft, wie eine Faust, die ihre Finger immer mehr schloss. „Aber ich liebe… liebe ihn.“ Sie schaute ihren Vater aus glasigen Augen an. „Und irgendwie dachte ich wohl auch… nur die Wahrheit hilft ihm weiter.“ Eine Träne perlte ihr über die Wange. „Er sucht doch immer nach der Wahrheit…“ Shinichi war gerade mal eine halbe Stunde beschäftigt damit, einen Gegenstand nach dem anderen in die Hand zu nehmen und zu untersuchen, um ihn dann wieder dorthin zu räumen, wo er vermutete, das er dort gewesen war – und glaubte nach diesen kurzen dreißig Minuten schon, die Decke müsse ihm auf den Kopf fallen. Er hatte festgestellt, dass er einen ziemlich teuren Füllfederhalter besaß, und eine Unmenge von vollgeschriebenen Notizbüchern, eine ganze Schublade voll davon, die auf seine Tätigkeit als Detektiv schließen ließ. Er hatte Eintrittskarten gefunden von Fußballspielen, also war er wohl Fußballfan. Tokio Spirits. Er besaß keine Art von Tagebuch, was ihn nicht überraschte - für Jungen war diese Art der Selbsterforschung eher ungewöhnlich. Er hatte seinen Computer eingeschaltet, aber feststellen müssen, dass das sinnlos war - der Computer war passwortgeschützt und ihm fiel das Passwort nicht ein, und den Nerv, sich jetzt groß den Kopf zu zerbrechen, besaß er nicht, nicht, wo er überhaupt keinen Ansatzpunkt besaß… auch wenn ihn die Aufgabe an sich reizte. Er liebte wohl Rätsel, nur fehlte ihm gerade die Geduld dafür. Ein Handy fand er nicht, das hatte wohl Conan besessen, und wahrscheinlich hatte man es ihm abgenommen, bei seiner Entführung. Und irgendwie glaubte er, er war hier sowieso ganz falsch. Hier sprach nichts so wirklich über ihn. Tja, Shinichi… wie ich das sehe, bist du ein durchschnittlicher Jugendlicher… intelligent, ein Krimifreak, ein Fußballfan… Allerdings haben durchschnittliche Jugendliche nicht solche Schwierigkeiten wie du. Aber hier… hier spricht nichts davon. Hier wohnt nur der nicht unintelligente, mäßig fußballbegeisterte Sohn wohlhabender Eltern, mit einem eindeutigen Faible für gewisse Kriminalliteratur. Es gibt aufregenderes. Wo also finde ich… dein Leben? Mein… Leben? Wenn nicht hier… Er seufzte. Eigentlich konnte er sich die Antwort denken, mehr als das – eigentlich wusste er sie bereits. Das Paar Schuhe bei den Moris gestern war aussagekräftiger gewesen als dieses ganze Sammelsurium von Siebensachen, die er hier in der Zimmermitte aufgehäuft hatte. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein, bevor das alles passiert war, und er hatte das Gefühl, dass er aber seit diesem Zeitpunkt eine Veränderung mitgemacht hatte, die dieses Zimmer hier nicht erfahren hatte. Hier war nur die Vergangenheit zu finden, die Vergangenheit eines siebzehnjährigen Oberschülers, der Fußballfan war und ein irrsinniges Faible für Detektivkram hatte. Sein wahres Leben war hier nicht. Oder besser… es war hier nicht mehr. Er wusste nicht, wie viel von Shinichi Kudô noch übrig war - von dem Shinichi Kudô, der vor Conan Edogawa gewesen war. Er konnte sich ansehen, was er wollte, anfassen, die Dinge drehen und wenden wie es ihm gefiel; er konnte Notizen lesen und sich anhören, was auf seinem MP3-Player gespeichert war; nichts brachte auch nur einen Erinnerungsfetzen zurück. Shinichi seufzte, merkte, wie sein Kopf zu schmerzen begann, als sich in ihm eine Ahnung manifestierte. Nicht nur über Shinichi Kudô galt es, mehr herauszufinden. Es ging hier auch um Conan Edogawa. Und die jüngere Vergangenheit, besonders der Teil, der mit der Organisation zu tun hatte, war untrennbar verknüpft mit diesem kleinen Hosenscheißer. Seine Stirn legte sich in Falten, ein unwilliges Seufzen verließ seine Kehle. Himmel, was muss das so kompliziert sein. Als ob es nicht schon kompliziert genug wäre… Er würde wieder bei null anfangen müssen. Seine Erfahrungen machen, seine Nachforschungen anstellen, herausfinden, wie glaub- und vertrauenswürdig sie alle waren und was hinter ihnen steckte. Sich anhören, was sie wussten, über Conan Edogawa, seine Geheimnisse, seine Pläne, sein Verhalten. Er musste ein wahrer Detektiv sein. Und wenn er hier in seinem Zimmer keinen Hinweis fand, der ihn schlagartig weiterbrachte, dann sollte er vielleicht… Kontakt mit dem Umfeld des Opfers aufnehmen, das Oberschüler und kleiner Junge zugleich war. Mit seinem Umfeld. Conans Umfeld. Ungelenk stand er auf, verließ sein Zimmer und stieg die Treppe ins Erdgeschoss hinab. In der Küche stieß er auf seine Mutter, die gerade Kaffee kochte und auf einen Teller Kekse stapelte. Sie hielt ihm den Teller hin, worauf er sich einen nahm, unschlüssig, wie und mit wem er seine Nachforschungen anfangen sollte, als es an der Tür klingelte. Sein Vater steckte kurz den Kopf herein, nickte seiner Frau zu und ging zur Tür, um sie zu öffnen. Shinichi merkte, wie sich sein Magen ekelhaft zusammenzog bei dem Gedanken, dass es die Polizei sein könnte. Er hatte keine Ahnung, warum ihm das so ein mulmiges Gefühl bereitete; wusste nicht, ob es die Fragen waren, die man ihm stellen würde, oder seine Unfähigkeit, zu antworten… oder die Wahrheiten, die vielleicht noch ans Licht kamen, über ihn, über seine Zeit… als Armagnac. Armagnac… Als er nach draußen gehen wollte, hielt ihn seine Mutter am Arm fest, schüttelte den Kopf. „Besser nicht, Shinichi. Man sollte dich nicht sehen.“ Bedauern schwang in ihrer Stimme. Er biss sich auf die Lippen, nickte dann, wenn auch widerstrebend. Er hasste es, wenn ihm die Hände gebunden waren. Dann hörte er den Besucher; es war allerdings nicht die Polizei, soviel war schnell klar. „Isser hier?!“ Shinichi zog eine Augenbraue hoch, spürte den Blick seiner Mutter auf sich ruhen. Sie lächelte ein wenig, und er folgerte daraus, sie kannte den Besucher. Es war eine Männerstimme, die hereinschallte, aber von eher jugendlichem Tonfall. Wohl so in seinem Alter. Er kratzte sich am Hinterkopf, dachte nach, fragte sich, wer in Gottes Namen das sein könnte; spontan fiel ihm nur ein Name ein, der auf diese Stimme passen könnte. Heiji Hattori. Der Kerl, der angeblich sein Freund war, laut Aussage des Professors; und der ihn heute hätte im Krankenhaus besuchen sollen. Die Antwort kam mit lautem Gepolter näher. Sekunden später wurde die Tür aufgestoßen, und ein Recht außer Atem scheinender, aufgeregter, nervöser junger Mann stand ihm Türrahmen, hielt sich mit beiden Händen am Türstock fest. Shinichi lächelte bitter. Volltreffer. Shinichi ließ sich nach hinten sinken, umklammerte mit seinen Händen die Theke, zog eine Augenbraue hoch, presste die Lippen zusammen, leicht. „Hallo, Heiji.“, meinte Yukiko freundlich, begann, für die zwei Detektive Tassen und Löffel auf den Tisch zu platzieren. „Setz dich doch.“, fügte sie an. Heiji, der bis gerade eben Shinichi wie einen Geist angestarrt hatte, wandte sich ihr zu, kratzte sich dann verlegen am Hinterkopf. „Frau Kudô, wie schön, Sie zu sehen. Bitte verzeih‘nse meine Manieren, ich…“ Sie sah auf, lächelte ihn an, brachte ihn damit dazu, zu schweigen. Das Lächeln auf ihren Lippen sprach von ihrer Sorge, genauso wie ihr blasser Teint und ihre Augen. „Schon gut, Heiji. Kaffee?“ Er nickte nur, trat langsam näher, hatte seine Augen nun wieder auf Shinichi gerichtet, der seinem Blick mühelos standhielt. Er musterte ihn aufmerksam, registrierte jedes Detail an ihm, versuchte, seine Schlüsse zu ziehen. Der Kerl hatte außergewöhnlich dunkle Haut für einen Japaner, schwarze Haare, die vorn an der Stirn seltsam abstanden, und trug ein Baseballcap, ein Shirt und Jeans. Er war ungefähr in seinem Alter, schätzte er; und ungefähr so groß wie er, vielleicht aber ein wenig muskulöser. Und sprach Dialekt. Heftigen Dialekt, Kansai-Region. Shinichi spürte seinen wachen Blick auf sich ruhen, und schätzte, dass er ihn momentan genauso taxierte, wie er ihn, wenn auch wohl aus anderen Gründen. Er wollte wohl wissen, wie viel von seinem Freund Shinichi Kudô noch da war; während Shinichi wissen wollte, wer überhaupt Heiji Hattori war. Shinichi legte den Keks zurück auf den Teller, ohne die Augen vom Gesicht des Fremden abzuwenden. Heiji seufzte schwer, als er in das Gesicht seines Freundes sah. So sah Shinichi aus, wenn er seine Schlussfolgerungen zog - wenn er sich ein Bild von seinem Gegenüber machte, versuchte, herauszufinden, wen er vor sich hatte und wie er ihn einschätzen, mit ihm umgehen musste. Über diese Phase der Freundschaft sollten sie schon lange hinaus sein. Er schluckte. Kudô… Etwas müde ließ Heiji sich auf einen Stuhl sinken, legte seine Hände auf die Tischplatte, ohne den Blick von Shinichi zu wenden. Yukiko stellte den beiden Kaffee und den Keksteller auf den Tisch, verschwand dann mit ihrem Mann aus der Küche, überließ die beiden Detektive sich selbst. Jeder andere Anwesende hätte in diesem Moment nur gestört. Heiji schluckte, merkte, wie seine Hände leicht feucht wurden. Shinichi sah im Prinzip aus, wie er ihn in Erinnerung hatte; und doch gleichzeitig so anders. Und das nicht nur, weil er einfach müde wirkte, angeschlagen, blass. Er schaute ihn an, erblickte dieses Nichts in seinen Augen, da, wo sonst Shinichi gewesen war. Selbst in Conan hatte man Shinichi deutlicher gesehen… als jetzt und hier, in dem Menschen, der ihm gegenüber saß, und doch niemand anders war, als eben Shinichi Kudô, der brillante Oberschülerdetektiv, der neue Sherlock Holmes, der Retter der japanischen Polizei... der beste Freund, den er wohl hatte. Schließlich war auch Heiji es, der das Schweigen brach. Er hielt die Stille nicht mehr aus, musste wissen, was noch da war… wie viel noch da war, überhaupt. „Und, was denkste?“, fragte er kurzangebunden, bemühte sich um einen gelassenen Tonfall. Shinichi kratzte sich kurz an der Nase, griff dann nach einem Keks, drehte ihn in den Fingern. „Eins achtzig groß, circa zwanzig Jahre alt, stammend aus Osaka oder Umgebung- Kampfsportler, vermutlich Kendo, Detektiv - und du hast eine Schwäche für ein gewisses Mädchen - oder sie eine für dich.“ Heiji pfiff anerkennend durch die Zähne, merkte, wie er langsam etwas ruhiger wurde. Auch wenn Shinichi sich gerade an nichts erinnerte, seine Denkweisen waren offenbar noch die gleichen. Also bist du doch noch irgendwo da drin, Shinichi... Er ließ sich zurück sinken, gegen die Lehne seines Stuhls, fühlte den stützenden Widerstand im Rücken, atmete aus. „Über die ersten Sachen brauchen wir nicht reden. Wie kommstde auf Kendo?“ Shinichi biss in den Keks, kaute gedankenverloren, ehe er zu einer Antwort ansetzte. „Durchtrainierter Körper, Schwielen an den Händen, blaue Flecken auf den Oberarmen- das deutet auf Kendo hin, denn als Turner schätze ich dich nicht ein, der hätte aber ähnliche Flecken und Schwielen, aber… dazu fehlt dir die Geduld. Du bist zu ungestüm, du kannst es nicht abwarten, musst sofort zuschlagen. Als Reckturner ist Konzentration, Geduld und Selbstbeherrschung das A und O - und so wie du grad reingeplatzt bist, fehlt dir das alles. Zu Kendo gehört zwar auch ein gewisser Sinn für Taktik, aber… “ Er hob die Hände entschuldigend. „Hm.“ Heiji winkte locker ab, nickte dann langsam, griff nach seiner Tasse, nippte daran. „Nicht schlecht. Woher hast du den Detektiven?“ „Gewusst - man hat es mir gesagt.“ „Unfair.“ Shinichi kniff die Augen zusammen, lächelte gequält. „Erzähl mir nichts von Unfairness… aber wenn du Begründungen haben willst - du hast nicht gefragt, ob ich dich erkenne, und du hast dich auch nicht vorgestellt. Das schließt daraus, dass du zuerst beobachtet hast, ob ich mich an dich erinnere, und dann festgestellt dass dem nicht so ist. Du musst nicht fragen, weil du die Antwort schon kennst - du hast eine Beobachtung gemacht und die richtigen Rückschlüsse gezogen. Wenn du noch kein Detektiv wärst, dann würde ich es dir jetzt mal sehr ans Herz legen…“ Heiji lächelte traurig. „Und das Mädchen…?“, hakte er nach, fragte sich, wie um alles in der Welt Kudô auf Kazuha kam. Shinichi grinste - zum allerersten Mal. „Einfach. Sie steht da draußen am Fenster seit ein paar Minuten, drückt ihre Nase an der Scheibe platt und glotzt dich an.“ Heiji fuhr herum, starrte aus besagtem Fenster. Tatsache, draußen stand Kazuha, mit dezidiert beschämten Gesichtsausdruck; hinter ihr stand Ran, die nicht minder peinlich berührt aussah, hob die Hand und winkte schüchtern. Shinichi seufzte, puhlte mit seinem Finger an einem Astloch in der Tischplatte. Seine Ungeduld, sein Missfallen an dieser Situation merkte man ihm in diesem Moment nur allzu deutlich an. „Wärst du so gut und machst die Tür auf? Ich darf das nicht.“ Er grinste säuerlich. Heiji nickte nur, eilte dann los. Shinichi stützte sein Kinn auf seine Hand und schaute weiter aus dem Fenster, fing sich einen Blick von Ran ein, ehe sie zur Haustür eilte, Kazuha hinterher. Ein leises Seufzen wich über Shinichis Lippen, als er sich fragte, wie sinnfrei es war, ihn nicht an die Tür zu lassen, wo jeder Mensch doch in den Garten gehen und durchs Fenster sehen konnte. Er schob sich den restlichen Keks in den Mund, spülte ihn mit einem Schluck Kaffee runter. Ein paar Augenblicke später stand Heiji mit den beiden Mädchen in der Küche. Ran holte für sich und Kazuha noch eine Tasse, ehe sie sich neben Shinichi setzte. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, stellte fest, dass ihre Augen etwas gerötet aussahen, dass ihre Bewegungen etwas fahrig wirkten, und ahnte die Ursache – aber sagte nichts. Er wollte dieses Thema nicht vor Publikum anschneiden - abgesehen davon, dass dieses Publikum in eben diesem Moment seine Aufmerksamkeit auf sich zog. „Kazuha?! Was zur Hölle machste hier?!“ Heiji war fassungslos, seine Stimme war laut geworden, in ihr klang deutlich sein Missfallen, ebenso wie seine Überraschung. Shinichi fragte sich, was ihn so aufbrachte; allerdings, wenn er für das Mädchen eine Schwäche hatte, und ganz danach sah es aus, so wie er sich aufregte, dann wollte er sie wohl einfach nur aus dem Mist heraushalten, den er selbst gebaut hatte; Tokio war in seiner Umgebung und für alle, die ihn kannten, wohl momentan nicht das sicherste Pflaster, und das wusste wohl auch Heiji. Kazuhas Reaktion war vorhersehbar. Sie stützte ihre Hände in ihre Hüften, schürzte die Lippen und leise Wut war auf ihrem Gesicht zu sehen. „Schrei mich nich‘ an, Heiji! Und wenn du mal dein Handy anschau’n würdest, dann würdeste auch wiss’n…“ Heiji winkte ab, ungestüm. „Jaja, ich hab nich auf mein Handy geschaut. Ich hatte zu tun, verstehste? Aber warum biste…“ „Ich wollt‘ wissn, ob es wahr ist. Und wo du steckst und ob du dich in Schwierigkeiten gebracht hast. Mal wieder.“ Kazuha räusperte sich. Heiji hielt inne, ließ sich langsam auf seinen Stuhl zurücksinken. Das Mädchen aus Osaka knetete ihre Finger, ehe es aufsah. „Die Schwierigkeiten gehen auf mein Konto.“, meinte Shinichi gelassen, griff dann nach der Kaffeekanne und goss die Tassen der Mädchen voll, bemerkte voll Erstaunen, wie schwer ihm diese verdammte Kanne vorkam. „Was wolltest du wissen? Ob was wahr ist?“, hakte er nach, um ihr wieder ins Gespräch zu helfen. Kazuha zog unwillkürlich ihr Shirt zu Recht, ehe sie ansetzte. „Ich hab Zeitung gelesen, und da stand das… das über dich. Die Sache mit dem Verbrechen… und dann war ich bei Heiji, um zu fragen, was das soll, und Heiji… war nich‘ da. Deshalb… bin ich hergekommen, ich dachte mir schon, wo er steckt, ich mein‘…“ Während der ganzen Zeit hatte sie nur Shinichi angeblickt. „… er is doch dein Freund…?“ „Er behauptet es zumindest, glaube ich.“ Shinichi versuchte ein Lächeln und scheiterte doch kläglich. Sie nickte, nimmer noch etwas unbeholfen, leicht überfordert mit der Situation, wie jeder hier und ließ sich neben Heiji auf den Stuhl sinken. Immer noch starrte sie ihn unverwandt an. „Ran… Ran hat es mir gesagt, dass du… du dein Gedächtnis verloren hast…“ Unglaube und Mitgefühl gleichzeitig standen in ihrem Gesicht zu lesen. Sie hatte sich gesetzt, aber ihr Oberkörper war angespannt nach vorn gebeugt. „Kazuha! Das is‘ nicht eben höflich, was-…“ Heiji verzog das Gesicht. Shinichi seufzte, winkte ab. „Schon gut.“ Er fuhr sich nervös durch seine Haare am Hinterkopf, merkte, wie er sich langsam unwohl zu fühlen begann; fragte sich, was man von ihm nun erwartete. „Wie man mir wohl anmerkt, entspricht das der Wahrheit. Aber wenn ich mir mal eine Frage erlauben darf - was führt euch hierher? Osaka ist nun nicht unbedingt um die Ecke…“ Der Detektiv aus Osaka knetete seine Stirnfransen kurz. „Na, um dir zu helfen. Ich… war schon da, als du verschwunden bist. Also ich kam gleich, als ich es erfahren hab…“ „Hast du denn nichts Besseres zu tun?“ „Kudô!“ Kekskrümel sprühten über den Tisch. Heiji starrte ihn entrüstet an, während Kazuha ihrem Freund einen tadelnden Blick zuwarf, um dann die Krümel, die er gerade auf den Tisch gespuckt hatte, in ihre hohle Hand zu wischen, um sie wegzuwerfen. Heiji unterdessen sah fast beleidigt aus. „Ich bin dein Freund. Ich bin hier, weil du das Gleiche auch für mich tun würdest. Wir sind hier, um deine Fragen zu beantworten. Um dir zu helfen. Genügt dir das als Grund? Und nein…“ Er grinste sarkastisch. „Ich hab nix Besseres zu tun. Wann erlebt man denn so was schon mal?“ Shinichi lächelte bitter. „Nicht allzu oft, schätze ich.“ Er fuhr sich kurz mit beiden Händen über das Gesicht, sammelte sich, ehe er sprach. „Also schön, ihr wollt mir helfen?“ Heiji nickte fest. „Dann sag mir, Heiji…“ Der Angesprochene lehnte sich aufmerksam nach vorn. „Wer ist Conan Edogawa…?“ Shinichis Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Heiji schluckte. „Du warst das, Shinichi.“ Shinichi presste die Lippen aufeinander. „Ja, das weiß ich.“ Er bemerkte den verdutzten Ausdruck auf Heijis Gesicht und seufzte tief. „Aber wer war er? Ich meine… wie zum Henker hat er gelebt? Wie hab ich gelebt? Wie hält man so was aus? Was hat er getan, wie hat er seinen Alltag gemeistert, wie war er… was hat er versucht, um wieder zu werden, wer er war, eigentlich… ich? Wer bin… ich?“ Heiji sah ihm an, wie sehr es ihn quälte, sich diese Fragen nicht beantworten zu können. Tatsache war, er konnte es auch nicht. Shinichi schien keine andere Antwort erwartet zu haben; nach ein paar Momenten schüttelte er den Kopf, lächelte bitter. „Seht ihr… wie wollt ihr mir helfen, wenn ihr mich doch nicht kanntet, wie es aussieht…“ Der Osakaer Detektiv ließ sich zurücksinken, biss sich auf die Lippen, bemerkte erst jetzt, welche Wahrheit in Shinichis Worten lag. „Du warst ein echter Geheimniskrämer. Du hast deine Sorgen nicht rumerzählt, ich meine… die meiste Zeit merkte man dir nicht an, was dich beschäftigte. Wenn dich etwas beschäftigte. Ich weiß nicht, wie du das mit Conan aushalten konntest. Fakt ist nur… du hast es getan. Du bist jemand, der ungemein viel erträgt, und ertragen kann, der jede Situation meistert. Du steckst was weg… du wirst auch das hier wegstecken. Du wirst auch das hier überstehen. Du wirst wieder du sein. Sicher.“ „Dein Wort in Gottes Ohr.“ Shinichi lachte hohl. „Momentan hab ich nicht das Gefühl, dass ich hier irgendetwas meistere.“ Er trank einen großen Schluck Kaffee, bemerkte, dass er langsam kalt wurde, verzog das Gesicht. „Du erinnerst dich an nichts.“ „Nein. Außer, an etwa zehn glorreiche Minuten im Gras hinter dem Riesenrad eines Vergnügungsparks namens Tropical Land.“ Shinichi schluckte, knetete seine Hände, merkte, wie Heiji zusammenzuckte, im Gegensatz zu Kazuha. Heiji hatte anscheinend mehr Ahnung, was ihm widerfahren war, als sie. Er sagte nichts, fragte nicht. Sah ihn nur an, und wartete. Er wartete nicht umsonst. „Shiho sagt dir was, ja? Sie war… ist… Ai. Sie hat das Gegengift genommen, und ist gestern vor meinen Augen wieder… Ai… geworden.“ Shinichi sagte die Worte langsam, vorsichtig. Heiji nickte bedächtig. „Ich schätze, es war fast unmöglich, sich danach daran nicht zu erinnern.“ Shinichi nickte, schluckte, massierte sich die Schläfen. Dann sah er auf. „Du bist doch drin, im… Ermittlungsteam. Wie weit seid ihr denn? Was wisst ihr denn, ich meine…“ Der Detektiv aus Osaka schaute ihn, wandte dann den Blick ab, seufzte. Shinichi ließ sich zurücksinken, merkte, wie Enttäuschung ein wenig hochkroch, in ihm. „Lass mich raten… nicht mehr als ich, momentan. Keine Ahnung, wo das Hauptquartier ist, keine Ahnung, wer alles zu ihnen gehört, und keine Ahnung, wer der Boss ist.“ Heiji nickte langsam, sah ihn immer noch nicht an. „Nur die Ahnung, dass der Boss jemand ist, der dich sehr gut kennt. Und den du sehr gut kennst. Sonst wärst du bereits tot.“ Shinichi fuhr hoch. „Was, bitte?“ Unruhe stieg in ihm hoch, irrsinniges Misstrauen keimte in ihm auf, erneut; ein Misstrauen, wie er es hatte eigentlich abschütteln wollen, nach seiner Flucht. Er musste doch vertrauen können, endlich. Damit er wieder zu sich fand. Wie sollte er das anstellen, wenn er ständig auf der Hut war und nie die Zeit und die Ruhe hatte, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen? Verdammt… Heiji sah ihn nun doch an, nickte erneut, merkte, wie sehr ihn das Entsetzen auf dem Gesicht seines Freundes aus der Fassung brachte. Merkte, wie schwer zu ertragen für ihn es war, Shinichi so… ohne Inhalt zu sehen. Denn genau das war er… Alles was er anstrengte, wie sehr er versuchte, etwas zu tun, zu denken… lief ins Leere, weil nichts da war, mit dem er arbeiten konnte. „Wir gehen davon aus, dass der Boss jemand aus deinem sehr nahen Umfeld ist.“ Seine Augen fixierten Shinichis. Der hielt dem Blick stand, als er antwortete. „Wieso das? Nur weil ich…“ „Nein.“ Heiji lehnte sich zurück. „Nich‘ nur, weil du noch lebst. Hör zu, ich weiß nicht, wie viel du weißt, was man dir schon erzählt hat, aber, folgendes…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)