Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 34: Kapitel 16: Verhör ------------------------------ Hallo, oh werte Freunde der Trivialliteratur! Ich muss gestehen, es ehrt mich, dass ihr noch so tapfer dabei seid – und noch mehr ehrt es mich, dass sich einige noch die Mühe machen, zu kommentieren. Ich hoffe, ihr hört nicht auf damit – Feedback ist unschätzbar wertvoll, und ich muss gestehen, es tut gut zu wissen, dass man das Ganze nicht ungelesen hinausschickt in die Weiten des Internets, sondern auch eine Antwort bekommt. In diesem Sinne, möchte ich mich wirklich sehr herzlich bedanken bei meinen Kommentatoren! Ansonsten – geht’s jetzt jetzt weiter, und die Spannungskurve schraubt sich langsam wieder etwas hoch – ich sagte langsam. Mark my words. But now: Leira proudly presents – die mieseste Auflösung eines Cliffhangers, ever. *garharhar* Viel Spaß beim Lesen an diesem verregneten Tag, eure Leira __________________________________________________________________ Kapitel Sechzehn: Verhör Was genau „Folgendes“ war, sollte Shinichi allerdings allzu bald nicht erfahren. Kaum hatte Heiji angesetzt, ihn auf den neuesten Stand der Ermittlungen zu bringen, klingelte es erneut an der Haustür – und diesmal war es tatsächlich die Polizei, die um eine Audienz bat. Heiji saß mit den Mädchen nun im Wohnzimmer, hing wie ein nasser Sack höchst unmotiviert in einem der schönen, gemütlichen Polstersessel und starrte ungeduldig Löcher in die Luft. Leise trommelte er mit den Fingerspitzen auf die Armlehnen, ein Laut, den der weiche Stoff gänzlich verschluckte. Er hatte taktvoll mit Ran und Kazuha die Küche verlassen, auch wenn man ihm ansah, dass er lieber dabei geblieben wäre, beim Verhör seines besten Freundes. Allerdings, und das hatte ein entsprechend scharfer und vielsagender Blick von Meguré in seine Richtung sehr deutlich gemacht, hatte er da jetzt laut Meinung der Polizei nichts zu suchen. Je weniger Leute dabei waren, desto besser, abgesehen davon, dass eigentlich ohnehin schon zu viel Polizei und FBI anwesend war. Außerdem, und das war das Wichtigste, durfte man Shinichi nichts in den Mund legen, was er nicht mehr wusste… die reine Wahrheit würde man nur bekommen, wenn man ihn relativ unvorbelastet mit Mutmaßungen ließ. Heiji war trotzdem einigermaßen verstimmt. Ihm ging die Sache hier viel zu langsam voran, abgesehen davon, dass er seinen besten Freund nicht gern in so einem Zustand sah. Seine finstere Miene wich einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. Allerdings wollense ihm ja jetzt nichts; er steht nich‘ im Verdacht, ein Verbrechen begangen zu haben. Er soll ja nur bei der Aufklärung helfen... und da werdense jetzt eh nicht weit kommen, mit ihm. Ein schelmisches Grinsen huschte über seine Lippen. Sollte das kürzeste und uninformativste Verhör in Megurés Karriere werden, abgesehen von den Knilchen, die die Aussage verweigern. Er zog eine Augenbraue hoch, wandte sich kurz um, als er ein leises Schaben vernahm, kam nicht umhin, ein gewisses Erstaunen zu empfinden. Hinter ihm saß Yusaku Kudô an seinem Schreibtisch und ließ seine Füllfeder übers Papier gleiten. Das sanfte Kratzen der Feder auf dem Papier erfüllte den Raum, ansonsten war es still. Wie kanner jetzt seiner Arbeit nachgehen? Wenn sein Sohn grad verhört wird, wie kann er da an Kriminalromane denken? Heiji zuckte mit den Schultern, drehte sich wieder um, betrachtete die Mädchen, die ihm gegenüber saßen und leise redeten. Ran war fix und fertig, das wusste er. Und es war auch kein Wunder, wirklich nicht. Er fragte sich, wie viel die beiden schon gesprochen hatten, und worüber. Ran hatte gefasst gewirkt, als sie sich neben ihren Freund gesetzt hatte, vor ein paar Minuten. Shinichi selbst hatte mindestens genauso gefasst reagiert. Überhaupt hatte er sich bemerkenswert gut im Griff. Ein gewisses Misstrauen ihnen allen gegenüber hegte er wohl, aber ansonsten ließ er sich nicht das Geringste anmerken. Hinter ihm raschelte es kurz, als Yusaku Kudô sich eine neue Seite heranzog. Heiji bemerkte den Blick, den der Schriftsteller ihm zuwarf, nicht. Yusaku war der skeptische Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Detektivs gerade eben nicht entgangen, und er ahnte, dass Heiji es verwunderte, wenn nicht sogar missbilligte, dass er hier war, und nicht bei Shinichi in der Küche; schließlich hätte er es bestimmt gekonnt, hätte er es gewollt. Allerdings, dessen war er sich leider sehr bewusst, war er besser hier aufgehoben als in der Küche, wo er konfrontiert werden würde, mit allem, was die Polizei bisher wusste. Mit allem, was man über seinen Sohn herausgefunden hatte, über seine Zeit bei der Organisation. Er wusste nicht, ob er sich würde beherrschen können, ob er in der Lage wäre, seine Nerven zu behalten. Yusaku durfte sich nicht verdächtiger machen, als er schon war, das war ihm mehr als klar. Auch wenn er das wohl genau jetzt auch tat. Er machte sich verdächtig, indem er seinem Sohn nicht beistand. Und er fragte sich, ob Shinichi sich über sein Verhalten auch wunderte. Yusaku seufzte, zerzauste sich gedankenverloren mit einer Hand die Haare. Dann schraubte er seinen Füller zu, legte ihn beiseite. Unschlüssig sah er auf sein Manuskript, las die ersten paar Zeilen der Seite, an der er gerade schrieb. … Er fühlte sich unbehaglich, war sich nicht sicher, über das, was er nun zu tun hatte - ob er es schaffen würde, ob er es tatsächlich fertigbringen würde. Es war nicht sein Metier, in das er sich begab, ganz und gar nicht. Eigentlich hatte er immer auf der anderen Seite dieser Linie gestanden, die er nun zu überschreiten im Begriff war. Und er hatte sich dort wohl gefühlt. Unangreifbar. Er war dort der Herr der Lage, der, der das Sagen hatte. Nun begab er sich in gänzlich unbekanntes Gewässer. Und doch hatte er das Gefühl, dass es das Richtige war, was er tat. Schlicht und ergreifend, weil die andere Option ganz und gar falsch war. Das wusste er. … Langsam atmete er aus, zog die leere Seite über das bereits Geschriebene, seufzte. Dann straffte Yusaku seine Schultern, griff nach seinen Zigaretten und dem Feuerzeug, verließ das Zimmer. Spürte Heijis Blicke im Nacken, aber drehte sich nicht um, sondern warf sich im Flur seinen Mantel über und verließ das Haus. Wenig später sah Yukiko sein Auto die Auffahrt verlassen, als sie Kommissar Meguré eine Tasse Kaffee anbot. Sie war bei Shinichi geblieben, auch nachdem sie den Beamten von Polizei und FBI Kaffee angeboten hatte. Shinichi hatte es ohne mit der Wimper zu zucken hingenommen, und wartete nun angespannt darauf, dass die Polizei damit anfing, das zu tun, weswegen sie eigentlich gekommen waren. Fragen stellen. Sagen Sie, Herr Kommissar… was wollen Sie wissen? Was könnte ich wissen, was ihnen noch unbekannt ist, jetzt, in diesem Moment? Meguré starrte ihn an, merkte, wie dieses fiese Unbehagen, das er schon am Vortag verspürt hatte, wieder in ihm hochkeimte. Neben ihm stand James Black, hinter ihm befand sich Takagi, der nervös von einem Bein aufs andere trat. Der Mann machte ihn gerade ein ganz klein wenig wahnsinnig, hätte er doch selber gerade lieber das Weite gesucht, als dieses Gespräch mit dem Sohn seines Freundes zu führen, mit einem jungen Mann, der fast schon für ihn arbeitete, fast ein Mitglied seiner Truppe war. Und dem zu helfen sie alle so eklatant versagt hatten. Sie wussten alle, wie sinnlos diese Unterredung für sie war. Es war offensichtlich, dass Shinichi sich noch an nichts erinnerte, und es war nicht absehbar, wann das wieder der Fall sein würde. Ob überhaupt. Wahrscheinlich war dieses Verhör für ihn wesentlich aufschlussreicher, als es das für sie war. Nun, dann wäre wenigstens einem von uns ein wenig geholfen, nicht wahr, Kudô? Der Kommissar nahm unbeholfen seinen Hut ab, knetete ihn mit beiden Händen, ehe er sprach. „Vielleicht erinnerst du dich, Shinichi, wir haben uns gestern getroffen, im Krankenhaus. Mein Name ist Kommissar Jûzô Meguré. Wir… kennen uns schon länger, du hast schon oft mit mir… und meiner Abteilung zusammengearbeitet. Das hier ist Wataru Takagi, ihn kennst du eigentlich auch, er ist Inspektor, und arbeitet unter mir. Und das ist Special Agent James Black vom FBI, der dir ebenfalls nicht unbekannt ist, auch wenn du ihn erst als Conan kennengelernt hast.“ Er reichte seinem jungen Freund die Hand, der sie zögernd ergriff und kurz drückte. „Danke, für… gestern.“, murmelte Shinichi, ließ sich auf seinen Platz sinken. Yukiko setzte sich neben Shinichi, räusperte sich kurz, faltete ihre Hände vor sich auf dem Tisch, warf den drei Männern ein warmes Lächeln zu, die mittlerweile ihnen gegenüber Platz genommen hatten. Shinichi griff nach seinem Glas Wasser, führte es aber nicht zum Mund. Seine Augen waren an einer Stelle auf dem Kopf des Kommissars hängen geblieben, unwillkürlich. „Diese Kopfverletzung sieht übel aus, selbst jetzt noch. Ich nehme an, Sie tragen den Hut deswegen?“ Meguré hob erstaunt die Augenbrauen, überrascht über diese Bemerkung, aber nicht verärgert. Eigentlich kannte jeder dieses Geschichte, auch Shinichi. Er strich sich kurz mit den Fingern über die Stelle, die nun eine unübersehbare Narbe zierte, und nickte dann. „Ja.“ Shinichi kratzte sich an der Nase. „Sie muss um die zwanzig Jahre alt sein…“ Megurés Gesicht verfinsterte sich bei dem Gedanken daran, wie er sich die Narbe eingehandelt hatte. Gedankenverloren begann er, an seinem Ehering zu drehen. „Das kommt so in etwa hin, ja.“ Shinichi wandte seinen Blick nicht ab, studierte sein Gegenüber. „Ihre Frau war involviert, ja?“ Der Kommissar schreckte auf. „Wie kommst du darauf?“ Shinichi nickte nur nachdenklich, legte sich einen Finger ans Kinn. „Also war sie involviert. Ich schätze, bei dem Unfall oder was es auch war, der Ihnen diese Verletzung beschert hat, wurde auch sie verletzt? Und Sie waren in irgendeiner Weise schuld daran, dass ihr etwas passiert ist, nehme ich an. Wahrscheinlich hätten Sie sie beschützen müssen oder sie hat unter einem Fehler, den Sie gemacht haben, gelitten.“ „Shinichi!“ Yukiko starrte ihn an. „Du solltest nicht…“ Meguré schüttelte den Kopf. „Nein, Yukiko, lass ihn ruhig.“ Er seufzte, sah seinen jungen Freund an. „Du hast Recht, mit allem, was du sagst. Woher…?“ Shinichi sah auf, blickte dem Kommissar ruhig ins Gesicht. „Sie spielen, seit ich angefangen habe, über Ihre Kopfverletzung zu sprechen, mit Ihrem Ehering. Sie sehen schuldig aus, und wütend. Daher nehme ich an, dass Ihre Frau…“, er deutete auf den Ring an Megurés rechtem Ringfinger, „bei irgendeiner Art von Unfall oder Zwischenfall, bei dem auch Sie sich Ihre Narbe eingehandelt haben, aufgrund eines Fehlers oder einer Unachtsamkeit Ihrerseits ebenfalls verletzt wurde. Verletzt, weil Sie den Ehering noch tragen; und Sie sehen zwar schuldig aus, aber so schuldig auch wieder nicht. Ihr Gesicht verrät Sie, Kommissar.“ Er schluckte kurz. „Und so wie Sie mich gerade ansehen, schätze ich, dass Sie sich an meinem Schicksal auch irgendwie die Schuld geben. Nur… habe ich diesmal nicht die blasseste Ahnung, warum.“ Er merkte, wie ihm sein Herz bis zum Hals schlug, fühlte, wie seine Finger kalt und starr wie Eiszapfen wurden, als er sah, wie der alte Mann sich seinen Hut wieder aufsetzte und langsam nickte. „Ja.“ „Warum?“ Shinichis Stimme war leise, aber klang deswegen nicht minder drängend. Meguré verknotete seine Finger unbeholfen, strich sich über den Bart, ehe er ansetzte, sich zu erklären. „Wir sind dir begegnet. Zweimal. Während deiner Zeit als Armagnac. Und wir haben nichts getan.“ Er hörte auf, als Shinichi scharf die Luft einsog, sich ein Ausdruck von Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht manifestierte. „Wie meinen Sie das?“, fragte er dann langsam, bedächtig, willens, keine Vorurteile zuzulassen, kein Urteil zu fällen, bevor er nicht alles wusste. Meguré zögerte, und so war es Takagi, der das Wort übernahm. „Das erste Mal, als wir dich nach deiner Entführung trafen, hattest du Ai gerade das Leben gerettet. Gin - der große Blonde, den du gestern im Krankenhaus getroffen hast – hatte sie hier aufgespürt. Du und Sharon seid ihm gefolgt, habt es geschafft, vor ihm hier zu sein, und uns zu warnen. Wir waren gerade alle beim Professor versammelt, weißt du…“ „Wer ist Sharon?“, unterbrach ihn Shinichi kurz. Takagi überlegte. „Sharon ist… so etwas wie ein Maulwurf in der Organisation. Wir wissen nicht, für wen sie arbeitet, ob sie auf unserer Seite steht, aber auf deiner ist sie sicher, auf welcher du auch immer gerade bist.“ Black nickte zustimmend. Besser hätte er es auch nicht ausdrücken können. „Nun, wir konnten alle das Haus verlassen, aber Ai, die im Keller war, bekam von alledem nichts mit. Du bist sie suchen gegangen, während Gin schon das Haus betreten hatte. Es gelang dir, mit ihr zu verschwinden, und sie zu uns zu bringen…“ „Und da hätten wir das erste Mal verhindern sollen, dass du zu denen zurückgehst.“ Megurés Stimme klang reuig, ein Tonfall, denn Takagi selten von ihm gehört hatte. Der Kommissar fuhr sich durch seinen Schnauzbart, immer und immer wieder, während seine Augen blicklos in seine Kaffeetasse starrten. „Wir taten es nicht, weil wir fürchteten, Ran wäre noch in zu großer Gefahr. Wir hatten Angst, alles nur schlimmer zu machen, wenn wir dir in deine Pläne pfuschten. Du hattest dich dafür entschieden, um sie zu schützen, wir dachten, jetzt etwas zu tun, wäre falsch. Wir dachten, die Lawine, die wir lostreten würden, wenn wir dich verraten würden, indem wir dich daran hindern, wieder zurückzugehen und so zu tun, als ob nichts gewesen wäre, wäre nicht zu kontrollieren.“ Shinichi nickte langsam. Er war in seinen Stuhl gesunken, hatte seinen Rücken gegen die Lehne gepresst, seine Arme vor seiner Brust verschränkt und starrte nachdenklich auf die Tischplatte. „Das zweite Mal…“, fuhr Meguré fort, der sich mittlerweile wieder gesammelt hatte, „war, als wir dich zusammen mit Gin, Wodka und Sharon bei der Abwicklung eines Drogendeals beobachtet hatten. Du hattest uns bemerkt, und Gin auch. Es schien Schwierigkeiten gegeben zu haben, von der… Art, die einen wie Gin dazu veranlasst, zu beschließen, den armen Wurm umzubringen, der den Fehler gemacht hatte. In diesem Fall war der arme Wurm der Abnehmer der Drogen. Der Dealer.“ Shinichi sah auf, merkte, wie sein Atem stockte. „Er hat Sie bemerkt? Wollte er da kein Exempel statuieren?“ Meguré wandte seinen Blick ab. „Wollte er. Hat er auch.“ Takagi bewegte sich unruhig, seine Augen huschten von Shinichi zu Meguré und wieder zurück. „Inwiefern?“, fragte Shinichi mit schleppender Stimme, obwohl er wusste, dass es unnötig war, eigentlich. Er hatte eine gute Ahnung, worin dieses Exempel bestanden hatte. „Du solltest ihn töten. Er hat dir die Waffe in die Hand gedrückt. Er wollte uns als Zeugen für deinen ersten Mord.“ Shinichi setzte sich auf, langsam, hob den Blick, sah den drei Männern ihm gegenüber ins Gesicht. „Ich hab ihn nicht erschossen.“ Seine Stimme zitterte nicht. „No, you haven’t.“ Black nickte langsam. „I take it, you know from the professor, that you have committed no crime.“ Der junge Detektiv nickte. „Ja. Aber ich wusste nicht, dass es um Mord ging.“ Meguré räusperte sich unverwandt. „Nun, doch. Du solltest ihn erschießen, aber du hast es nicht. Du bist in die Gasse gegangen, ein paar Schritte, und wie angewurzelt stehen geblieben. Wir denken, du hast ihn da gesehen, den Boss. Und erkannt. Denn als du zurückkamst, wirktest du sicher, abgeklärt, ganz anders, als noch Sekunden vorher, als es dich fast zerriss, zwischen deinem und vor allem Rans Leben und dem Leben dieses Mannes zu wählen. Du hattest einen Entschluss gefällt, mit deinem Schicksal verhandelt. Du hast in die Luft geschossen, um möglich viel Aufmerksamkeit auf euch zu lenken und dann die Waffe durch einen Kanalschacht fallen lassen. Der Lärm hat fast ganz Shibuya zu euch gelockt. Der Mann konnte entkommen, weil ihr eiligst verschwinden musstet. Und in der gleichen Nacht fand man dich auf der Landstraße in Tottori, im Regen, verletzt und ohne Gedächtnis…“ Shinichi rieb sich die Schläfen. „Sie denken, Sie hätten eingreifen sollen.“ Er ließ die Hände sinken, fixierte den Kommissar mit seinen blauen Augen. Meguré nickte zögernd. „Ja.“ „Wahrscheinlich wären Sie dann jetzt tot.“, bemerkte Shinichi nüchtern. „Ich denke, so wie Sie sich verhalten haben, war das das Vernünftigste, in Anbetracht der Situation. Sie hätten vielleicht gar nicht da sein sollen, dann wäre der Abend eventuell anders verlaufen, aber eingreifen – nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Das wär glatter Selbstmord gewesen bei diesen Männern. Und mir wohl auch keine große Hilfe gewesen. Oder Ran.“ Meguré massierte seinen Bart immer noch. „Dennoch. Nun…“ Er klärte seinen Hals, nahm einen großen Schluck Kaffee, versuchte dann zu lächeln. „Nun, du hast es gut geschafft, vom Thema abzukommen und mir Informationen aus der Nase zu ziehen, anstatt andersrum.“ Er lachte unbeholfen, bedachte seinen jungen Kollegen mit einem anerkennenden Blick. „In dir steckt noch mehr von dir, als du denkst, Shinichi. Aber… deswegen sind wir ja eigentlich nicht hier.“ Shinichi seufzte, nippte an seinem Wasser. „Sie wollten eigentlich mir die Fragen stellen.“ Takagi und Meguré nickten synchron, während James Black sich einen Keks nahm, ihn neugierig inspizierte. Der Kommissar unterdessen suchte nach Worten, ein weiteres Mal an diesem Tag. Black saß neben ihm, rührte lautlos seinen Tee um. Shinichi beobachtete ihn und fragte sich unwillkürlich, wie er es schaffte, dabei mit dem Löffel nicht die Tasse zu berühren. Und die Stille dehnte sich aus. Shinichi seufzte, ahnte, was den Kommissar das Leben so schwer machte, momentan. Er räusperte sich, fixierte den Mann mit festem Blick, ehe er sprach. „Kommissar Meguré. Warum reden wir nicht endlich Tacheles und beenden das hier? Ich nehme auch an, Sie haben nicht den ganzen Tag Zeit…“ Er lächelte bitter. Meguré starrte ihn an, merkte, wie James Black neben ihm seinen Löffel aus seiner Teetasse hob, ihn ebenso lautlos auf dem Untersetzer ablegte, wie er umgerührt hatte. „You’re right; it’s not, as if we have any time to waste. We should start with what we came for.“ Black platzierte den Keks, den er bis eben noch in seiner Hand gehalten hatte, neben seiner Tasse. Shinichi beobachtete ihn dabei, trank einen Schluck Wasser. „Which would be asking me questions about a certain organization, and my time as a member within that… syndicate. We’ve already touched matters, so it shouldn’t be that difficult to pick up that thread… although I’m afraid I won’t be of much help to you.“ Black lächelte breit. Yukiko stutzte, warf ihrem Sohnemann einen erstaunten Blick zu. „We’ll see to that, my friend.” Der Brite fuhr sich mit Zeigefinger und Daumen über den Bart, strich sich dann über Mundwinkel und Kinn. Meguré saß wortlos da, war wieder einmal verblüfft über das makellose Englisch des Oberschülers. Takagi hatte sein Notizbuch gezückt und hielt seinen Stift in der Hand, unschlüssig, ob er schon Notizen machen musste oder nicht, seufzte lautlos, wandte seinen Blick jedoch nicht von Shinichi ab. Dachte an jenen Abend im Garten, als er ihnen unter die Augen getreten war, als Armagnac. Dachte an gestern, als sie ihn aus dem Krankenhaus hatten bringen müssen, weil sie hinter ihm her waren wie der Teufel hinter der armen Seele. Und sie würden nicht ruhen, bis sie ihn hatten, soviel war klar gewesen. Bis sie ihn hatten, oder draufgingen beim Versuch, ihn zu kriegen. Takagi hoffte inständig auf letzteres. Allerdings, das war ihm gestern sehr klar geworden, spielten sie ein gefährliches Spiel mit einem unberechenbaren, aber mächtigen Gegner. Eine fatale Kombination. Wie konntest du dir das einbrocken, Kudô? Wie oft hast du wohl jenen Tag schon verflucht, als sich eure Wege kreuzten…? Dann riss ihn die Stimme seines Vorgesetzten aus seinen Gedanken in die Realität zurück. „Kannst du uns denn etwas darüber sagen, Kudô? Hast du eine Erinnerung an irgendetwas…? Shinichi schüttelte den Kopf. „Nein, leider an nichts hilfreiches. Egal wie sehr ich es versuche, und glauben Sie mir… ich versuch es wirklich. Ich weiß nur, was mir gesagt wurde, über Armagnac. Ich weiß nicht, wie es im Hauptquartier war, wer diese Leute sind, wo es liegt.“ Shinichi schluckte, starrte seine Hände an, die mittlerweile das Wasserglas umklammerten. Seine Knöchel traten weiß hervor. Er zwang sich, seinen Griff zu lockern, presste seine Handflächen stattdessen flach auf die Tischplatte. Yukiko warf ihm einen besorgten Blick zu. Eine Weile war alles still, ehe er aufsah, sich James Blacks Blick einfing, der ihn mitfühlend und ernst zu gleich musterte. „If you don’t mind…“ „There’s nothing I could tell you.“, unterbrach ihn Shinichi, fast ein wenig unwirsch, und doch auch verärgert über sich selber. Über das blanke Nichts in seinem Schädel. „Nothing at all, I’m afraid.“, fügte er an. “But you speak pretty good English, still.”, bemerkte der Brite. Shinichi lächelte niedergeschlagen. „Man verlernt keine Fähigkeiten bei einer Amnesie. Etwas, das einmal gelernt wurde, bleibt erhalten, sagte man mir. Nur alles, was im semantischen Gedächtnis war, ist weg. Nun, bis auf… eine größere und eine kleinere Episode. Die größere Episode, ich weiß nicht, ob der Professor oder Herr Môri es ihnen gesagt haben…?“ Meguré nickte. Man sah ihm an, wie viel ihn das kostete. „Die kleinere?“ Der junge Detektiv schüttelte vage den Kopf. „Ich weiß nicht, ob sie weiterhilft, wahrscheinlich nicht. Ich denke, es war auf der Flucht…“ Er trommelte kurz mit seinen Fingern auf der Tischplatte, um Nervosität abzubauen, bemerkte es, und zwang sich, damit aufzuhören. „Als ich gestern mit Shiho vor diesen beiden Männern davon lief, im Krankenhaus, da riefen sie hinter uns her.“ Meguré hob die Augenbraue fragend. „Er darf nicht entkommen.“ Bedächtig sprach er die Worte aus, starrte dabei auf die Tischplatte. Es war still im Raum, so leise, dass er das Prickeln seines Mineralwassers hören konnte. Heiji ließ gedankenverloren seine Knöchel knacken, fing sich einen tadelnden Blick von Kazuha ein, aber hörte dennoch nicht auf damit. Er fragte sich, wohin Shinichis Vater schon wieder verschwunden war; für seinen Geschmack verschwand der Mann viel zu oft in letzter Zeit spurlos, für Stunden. Er atmete pfeifend aus, wünschte sich, er hätte einen dieser Mikroemitter, wie Shinichi sie gehabt hatte. Er hätte dem Herrn Schriftsteller sofort einen ans Auto geklebt. Wie vom Blitz getroffen fuhr er hoch. Das isses! Das is die Idee, überhaupt…! Heiji sprang wie von der Tarantel gestochen auf, rannte aus dem Zimmer. „Komm gleich wieder!“ Kazuha und Ran sahen ihm erstaunt hinter her. „Der spinnt.“, stellte Kazuha lakonisch fest, verdrehte die Augen. Ran griff nur nach ihrem Arm, drückte ihn kurz, nippte dann an ihrem Kaffee, ließ es zu, dass ihre Gedanken zurück zu Shinichi drifteten. Und zu gestern Nacht. Bitte, versprich mir, dass es wahr ist. Dass es bleibt, versprich es mir… Sie seufzte tief, bewegte sich unruhig in ihren Polstern, schloss die Augen. Die Gedanken, die sie seit heute Morgen beschäftigten, rissen nicht ab, ließen ihr keine Ruhe. Kazuha warf ihr einen besorgten Blick zu. „Ran, is was?“ Die Angesprochene biss sich auf die Lippen. „Nein. Nein, alles…“ Kazuha zog eine Augenbraue skeptisch nach oben. „… in Ordnung? Das glaubste selber nich‘. Willste drüber reden? Vielleicht hilft’s? Ich versprech, ich sag auch nichts weiter, falls…“ Ran wandte sich ihr zu, und Kazuha verstummte sofort. Sie sah die Sorge in ihren Augen, ihren Kummer, und Schmerz. Unsicherheit, ein wenig Verzweiflung. „Ran, was is los…“, flüsterte sie, griff ihre Freundin mit beiden Händen an ihrer Hand, drückte sie sacht. Ran wandte ihren Blick ab, taxierte ihre Füße, ballte ihre Zehen, unwillkürlich, bohrte sie in den Teppich. „Shinichi war gestern Nacht bei uns. Nach seiner Flucht. Man hielt es fürs Sicherste, ihn zuerst zu uns zu bringen, dann erst hierher, bis man die Umgebung geprüft hatte…“ Kazuha nickte. Ran holte Luft, tief, atmete gepresst aus, sah ihre Freundin immer noch nicht an, als sie weiter sprach. „Er war wach, gestern Nacht, und ich auch. Wir haben uns in der Küche getroffen, ihn ließen die Ereignisse des Tages nicht schlafen und ich… ich hatte Durst, und nun… ich hab mir wohl auch Sorgen gemacht. Um ihn. Und da stand er dann…“ Sie biss sich auf die Lippen. „Wir haben dann geredet, ich mein, ich wollt wissen, warum er hier war, und nicht im Krankenhaus. Er hat's mir dann erzählt, und nun… wir kamen dann über uns, also, unsere Freundschaft, und irgendwie… ich… ich…“ Kazuha drückte ihre Hand ermutigend. „Ich hab ihm gesagt, was ich ihm eigentlich schon einmal gesagt hatte. Am Tag, bevor sie ihn geschnappt haben. Ich dachte, es is die Wahrheit, er weiß es eigentlich schon. Ich… ich hab ihm gesagt, dass ich ihn liebe.“ Kazuhas Kinnlade klappte nach unten, allerdings fasste sie sich schnell. „Nun, Ran, das… ist zwar wohl ein wenig viel für ihn gewesen für den Moment, aber immerhin, er…“ „Ich hab so lange weitergebohrt, bis er mir gesagt hat, dass er mich liebt.“ Ran ließ den Kopf hängen. Kazuha sank gegen die Polster, starrte an die Decke. „Mann.“, flüsterte sie. „Ran, wie biste denn dazu…“ Die Angesprochene schüttelte den Kopf, merkte, wie sich in ihren Augen die Tränen sammelten. „Ich wollts endlich wissen… ich wollts hören… er…“ Sie zitterte. „Er hat so lange rumgedruckst, ich meine, mir war klar, dass da was ist! Ich dachte, es geht ihm besser, wenn er es sagt, ich dachte mir, was hat er zu verlieren, er weiß doch von mir, dass ich ihn liebe, und warum hätte er das alles dann getan… ich dachte…“ Ran biss sich auf die Lippen, fest. „Ich weiß nicht, was ich dachte. Ich wollte ihm helfen. Ihm nah sein. Machen, dass er sich nicht so verloren fühlt. Ich weiß nur nicht, ob ich ihn nicht überfordert hab, und ob er… jetzt nicht einfach ratlos ist, wie wir weiter machen sollen, das ging gestern viel zu schnell nach dieser… Zeit. All diesen Dingen, die passiert sind.“ Kazuha zog die Augenbrauen hoch. „Was ging viel zu schnell?“ Ran rieb sich über die Augen, merkte, dass ihre Finger feucht wurden. Sie hatte zu weinen begonnen. „Ich hab ihn geküsst. Kazuha. Wir… haben uns geküsst. Und… seit heut Morgen, hab ich das Gefühl, dass… er mich zwar immer noch liebt, aber… dass er nicht weiß, wie er nun weiter machen soll. Die Basis fehlt, verstehst du? Und er hat Angst, dass es nicht bleibt. Dass er unsere Freundschaft zerstört hat, wenn er sich erinnert und feststellt, dass er mich doch nicht liebt.“ Sie seufzte, ihre Lippen bebten. „Aber das ist nicht das Schlimmste, diese Angst vor dem Danach. Es ist das Jetzt, das Probleme macht. Das Gefühl ist da. Der Wille… auch. Aber wir beide wissen wohl nicht, wie wir weiter machen sollen, weil ihm seine Vergangenheit fehlt. Er weiß nicht mehr, wie er mit mir geredet hat, wie er mit mir umgegangen ist, und das… Es ist, als ob wir uns komplett neu kennenlernen müssten… und dafür ging's gestern einfach zu schnell, wir waren uns so nah, ich meine…“ Sie brach ab. Shinichi fuhr sich durch seine Haare. „Ich denke, der große Blonde rief mir das hinterher. Egal… auf jeden Fall, während ich lief, da sah ich es. Hörte ich es… Ich war in einem Wald, es war dunkel, und es regnete. Ich weiß, das ich rannte, ich… hörte den Regen durch die Blätter prasseln, hörte meine Schritte auf dem nassen Boden, das Rascheln des Laubes, ich hörte das Blut in meinen Ohren, und sein Geschrei, und ich hörte… hörte den Schuss.“ Shinichi erstarrte, atmete langsam aus, merkte wie dieses seltsame Gefühl von Gestern sich wieder einstellte. Wie in Schleier, der sich hob, nur ein bisschen. Kurz vom Wind beiseite geblasen wurde, nur ein Stück, ehe er wieder zurückfiel. Ein eisiger Wind, der ihn zu streifen schien, ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. „Er… hat mich getroffen.“, murmelte er tonlos. Meguré stand auf, beugte sich nach vorn. Shinichi war schlagartig blass geworden, sein Gesichtsausdruck wirkte etwas weggetreten. Unbewusst fasste er an die Stelle, an der die Kugel seinen Körper durchschlagen hatte. Fühlte den Schmerz erneut, sah die Bilder vor Augen, in seinem Kopf. Sah das Blut an seinen Fingern, hörte seinen keuchenden Atem, hörte sich schreien und aufstöhnen und erschauderte. Er sah die Welt rasen, über ihm zusammenstürzen, begann zu zittern, kurz. Gedankenfetzen schwirrten durch seinen Kopf- weniger richtige Gedanken, eher Gefühle- Schmerz, Angst, Verwirrung. Angst. Panische Angst. Todesangst. „Ich bin weitergelaufen.“, murmelte er leise. „Ich wusste, wenn sie mich kriegen, bin ich tot.“ Seine Augen huschten über die Tischplatte, wie als ob er sie lesen würde. Auf einen Baum… auf einen Baum. Es ist dunkel, sie sehen mich nicht, sie hören mich nur. Wenn sie mich nicht mehr hören, dann… Ich muss warten, bis sie weg sind, und dann irgendwie zur Straße. Und hoffen, dass mich die Richtigen finden. „Shinichi?“ Er sah hektisch um sich, sah einen Baum, der geeignet schien, um hochzuklettern, griff nach dem ersten Ast, zog sich hoch, biss die Zähne zusammen, als Schmerz ihn durchbohrte wie ein Samuraischwert. Er hielt fest, stemmte einen Fuß gegen den Stamm, merkte, wie er an der nassen Borke ins Rutschen kam, setzte neu an, hob den zweiten von der Erde ab und griff mit seiner freien Hand nach dem nächsten Ast, merkte, wie erleichtert er war, als er vorankam, sich Ast für Ast hochzog. Er atmete kaum, schloss die Augen, als die Bilder erneut zu viel wurden, und merkte doch, das half nicht das Geringste. Black beugte sich über den Tisch, schaute dem jungen Mann besorgt ins Gesicht. Meguré blickte auf, starrte Yukiko an, die ihrem Sohn über die Schläfe strich. „Shinichi?“ Takagi warf seinem Chef einen fragenden Blick zu. „Meinen Sie, er…“ Er wusste, sein Kopf war so voll. So voller Gedanken, die rasten; im Kreis, drunter und drüber, vor und zurück und einfach nicht zu fassen. Er wusste, er war verwirrt… mehr als das. Er ahnte, dass sich seine Welt gerade einfach auf den Kopf gestellte hatte, wie eine volle Pappschachtel, die man hochhebt, umdreht, und den Inhalt einfach auf den Boden fallen lässt, wo er ungeordnet und wirr liegen bleibt. Er konnte die Teile nicht sehen, und auch nicht ordnen, zu verschwommen war es, zu kurz der Blick darauf, den er erhaschen konnte. Genauso fühlte sich sein Kopf an. Wirr, ungeordnet. Jetzt… und wohl schon damals. Er hatte wohl gewartet, er wusste nicht, was währenddessen passiert war. Ob er eingeschlafen war oder bewusstlos geworden war, oder einfach nur auf diesem Ast gehangen, klamm und starr vor Kälte und Feuchtigkeit, und gewartet hatte. Es galt, den Baum wieder runter zu kommen, ein Akt, der sich schwerer gestaltete, als er geahnt hatte. Als er fast unten war, hörte er es knacken. Beunruhigend knirschen. Er merkte, wie sich der Ast beugte, seinem Gewicht nachgab… Nein, nein, NEIN!!! … und aufgab, abbrach, ihm entgegenfiel. Mit der Hand immer noch um den Ast geklammert fiel er rücklings auf die Erde, prallte hart auf, merkte, wie seine Zähne aufeinanderschlugen, schmeckte Blut. Spürte einen unglaublichen Schmerz, nicht mehr nur da, wo ihn die Kugel getroffen hatte, sondern jetzt auch im Kopf. Es fühlte sich an, als würde er platzen, als müsse ihm jeden Moment die Schädeldecke hochgehen. Es passierte nichts. Stattdessen wurde wieder alles schwarz. Dann bemerkt er eine Hand an seinen Arm, hörte die Stimme seiner Mutter. „Shinichi?“ Er schüttelte den Kopf, hörte aber sofort wieder auf damit, als er merkte, dass der Kopfschmerz ihm in die Realität gefolgt war, es pochte hinter seinen Augen. Er bedeckte seine Augen mit einer Hand, weil ihm auf einmal das Licht im Zimmer viel zu hell war, stöhnte leise auf. „Shinichi?!“ „Einen Mikroemitter? Die Ersatzradarbrille?“ Der Professor schaute Heiji einigermaßen verwirrt an. Er hatte den jungen Detektiv gerade hereingelassen, der nun einigermaßen atemlos vor ihm stand. „Ja!“ Agasa rieb sich sein Kinn, wiegte den Kopf. „Ich denke, irgendwo sollte ich das noch haben. Aber wieso brauchst du das denn? Willst du denn wen verfolgen?“ Heiji biss sich auf die Lippen. Er konnte dem Professor unmöglich erzählen, wen er zu bespitzeln gedachte, und überlegte gerade fieberhaft, welche Antwort er dem alten Mann geben sollte, als ihm die Idee überhaupt einfiel. „Ja. Und eine Fliege, wenn Sie so eine noch haben. Und vielleicht dieses Skateboard, oder steht das bei den Môris? Ich meine, wenn wir ihm so viele Dinge aus Conans Zeit zeigen, wie wir haben, gerade eben diese… kleinen Hilfsmittelchen, dann erinnert er sich vielleicht wieder…!“ Dem Professor schien diese Erklärung sofort einzuleuchten. „Aber klar! Dass mir die Idee nicht selber gekommen ist! Ich seh mal gleich nach, was ich noch alles hier habe, Heiji. Setz dich doch so lange. Ai ist im Labor, wenn du mit ihr reden willst. In der Küche steht eine Kanne Tee, wenn du willst.“ Heiji sah dem Mann zu, wie er davon eilte, wanderte dann zum Fenster, schaute hinaus. Ins Haus der Kudôs konnte man von diesem Punkt aus nicht hineinsehen, zumindest nicht ins Erdgeschoss; die Mauer, die das ganze Haus umgab, versperrte die Sicht. Ein langer Seufzer entfloh seinen Lippen, als er gedankenverloren seine Hände in die Hosentaschen steckte. Es wird Zeit, dass etwas passiert. Und selbst, wenn diese Spur ins Leere läuft, ist es immerhin eine Person, hinter die wir ein Häkchen setzen können… Er kniff die Lippen zusammen, merkte nicht, wie er seine Hände in seinen Taschen zu Fäusten ballte, so fest, dass seine Fingernägel ins Fleisch seiner Handballen schnitten. Als der Professor mit einer großen Kiste an Sachen von Conans Zweitausrüstung zurückkam, bedankte er sich herzlich, und machte sich auf den Rückweg. Sicher, er würde Shinichi die Dinge zeigen. Allerdings nicht alle. Er spähte in den Karton, während er ging, lächelte zufrieden, als er die Radarbrille obenauf liegen sah, daneben eine kleine Schatulle mit Emittern. Die wirst du mir ausleihen müssen, Kudô. Als er wieder soweit klar im Kopf war, um wieder zu wissen, wo er sich befand, bemerkte er, dass sie ihn alle anstarrten. Er ließ sich zurücksinken, in seinen Stuhl, griff nach dem Glas Wasser und trank es in einem Zug aus. Meguré schaute ihn angespannt an. „Was… war was…“ „Nützliches dabei?“, vollendete Shinichi seinen Satz, schüttelte gleichzeitig den Kopf, vorsichtig, lächelte bitter. „Nein, nicht wirklich. Ein paar weitere Fetzen meiner Flucht, aber keine Erinnerungen an das davor. Aber sagen Sie - weiß der Professor noch die Stelle, wo er mich aufgelesen hat? Wäre es möglich, da mal hinzufahren?“ Der Kommissar warf seinem Kollegen aus den USA einen schnellen Blick zu. Black nickte, nahm dann einen Schluck seines Tees, stellte die Tasse behutsam wieder auf ihren Untersetzer. „Sicher. Wenn du das willst…“ Shinichi biss sich auf die Lippen. „Das kann ich jetzt doch nicht wissen.“, meinte er dann, ein zynischer Ausdruck glitt über sein Gesicht. „Aber ich will mich erinnern, denn dieses Gefühl von Vakuum zwischen den Ohren geht mir auf den Geist.“ Er seufzte. „Wann könnten wir denn dahin fahren?“ Meguré wiegte sein Haupt nachdenklich. „Ich schätze, morgen. Frühestens. Wenn nicht übermorgen.“ Ein ungläubiges Ächzen entfuhr Shinichi. „Was? So spät erst?“ „You forget…“, begann der FBI-Agent sachlich, „that some precautions must be made. We cannot drive that near to the headquarters with you, without some checks. At least, we presume that this forest’s anywhere near the headquarters. And therefore, we must assume that they have people out there as well. Accordingly, you must be protected.” Takagi tippte mit seinem Kugelschreiber auf seinem Notizblock, übersäte dabei das weiße Papier mit kleinen blauen Punkten. „Soll ich mit Sato und den beiden Agents telefonieren? Eine Konferenz einberufen?“, fragte er dann dienstfertig. „Bitte, Takagi.“ Sein Chef nickte. „Bis wir die nötigen Vorkehrungen getroffen haben, damit die Sache auch einigermaßen sicher ist für dich und wir nicht gleich wieder eine Situation wie im Krankenhaus haben… müssen wir wohl ein wenig vorarbeiten.“ Er erhob sich, trank seinen Kaffee im Stehen aus. „Wir leiten das mal in die Wege. Und melden uns dann bei dir. Bis dahin… Gute Besserung, Kudô. Danke für den Kaffee und den Tee, Yukiko.“ Meguré reichte ihm unbeholfen die Hand. Shinichi stand langsam auf, ergriff sie, drückte sie kurz, um gleich darauf die Hand Blacks zu ergreifen, der sie ihm wortlos reichte. Takagi nickte ihm zu. Shinichi blieb zurück, während Yukiko die Beamten zur Tür brachte. Langsam sank er zurück auf seinen Stuhl, stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte auf, ließ seinen Kopf in seine Hände sinken, zerzauste sich die Haare. Im Wagen war es zunächst völlig still. Meguré hatte den Motor angelassen, neben ihm saß James Black, zupfte an einer Spitze seines silbernen Schnauzers, während Takagi sein Handy zusammenklappte, mit dem er grad per E-Mail seine Kollegen zusammengetrommelt hatte. Er saß auf der Rückbank, warf einen nachdenklichen Blick zum Haus der Kudôs. „Das ist doch Irrsinn.“, murmelte der Kommissar schließlich in die Stille. „Er weiß, dass da was Großes im Busch ist, er weiß genau, wie dünn das Eis ist, auf dem er sich bewegt, und doch weiß er… nichts mehr…!“ Black ließ seine Hand sinken, langsam, nickte dann bedächtig. „So ist es, mein Freund. Und ich denke, wenn seine Erinnerung zurückkehrt, wird sie ihn niederstrecken, it’ll blow him down, strike him straight in his face, change his world forever and irreversible. Denn ich denke, etwas, das diesen Charakter, dieses Hirn… dazu bringt, zum Schutz seiner selbst alles zu vergessen, muss in der Tat ungeheuerlich sein. Earthshaking, unbearable, unbelievable.“ Damit fuhren sie zurück ins Hauptquartier. Schweigend. Sharon schaute auf, als er ihr Büro, so man es so nennen wollte, betrat. Sie war gerade dabei, ihre Pistole zu säubern, die Teile lagen sorgsam ausgebreitet vor ihr auf einem weichen, fusselfreien Tuch. Sie war eine echte Kennerin ihres Metiers. Vorsichtig legte sie den Lauf ab, sank in den weichen Ledersessel zurück, zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. „Was verschafft mir die Ehre? Und wie geht es silver bullet, nach den Ereignissen des gestrigen Tages?“ Yusaku hatte gerade die Tür hinter sich zu gedrückt, sachte, drehte den Schlüssel im Schloss um, steckte sich dann wortlos eine Zigarette an, ohne ihr eine anzubieten. Langsam und offenbar in Gedanken versunken wanderte er zum Sessel, der ihr gegenüber stand, ließ sich auf die Kante nieder, ehe er auf der Sitzfläche nach hinten rutschte. Sie schlug ein Bein über ihr anderes, eine Geste, die unterstützt durch den fast verboten kurzen Rock, den sie trug, bei jedem anderen Mann ihre Wirkung nicht verfehlt hätte, hob eine Hand vor ihr Gesicht und betrachtete ihre makellos manikürten Finger. „Die Polizei ist in meinem Haus.“, bemerkte er schließlich nüchtern. „Sie befragen Shinichi nach den Ereignissen, über die er nichts mehr weiß. Ehrlich, Sharon… was ist das für eine Farce.“ Er griff sich an die Stirn. „Was hab ich ihm da bloß angetan? Was soll ich machen? Soll ich mich stellen? Aber welche Chance habe ich, mit der Polizei diesen Laden hochzunehmen?“ Er grinste bitter. „Die sind doch nicht blöd… und die haben ihre eigenen Leute in der Polizei, von denen noch nicht mal ich was weiß. Sobald da wer Wind bekommt, was ich mache, ist der ganze Laden hier ausgeflogen und meine Familie tot.“ Missvergnügt schüttelte er den Kopf. „Absinth ist verdammt gerissen. Und momentan weiß ich noch nicht, wie ich dem beikommen kann. Ich…“ Sharon schüttelte ungeduldig den Kopf. „Hör auf zu jammern, Yusaku, das kotzt mich an. Was ist es denn, was du willst? Am allermeisten?!“ Er sah auf, etwas verstimmt. „Meine Familie beschützen.“ „Dann, for heaven’s sake, mach das! Dann mach so weiter, wie du angefangen hast, denn so läuft’s doch gut. Dein Auftritt beim Triumvirat war genau das, was es gebraucht hat, um diesen Eierköpfen mal wieder zu zeigen, wo der Hammer hängt. Sie wissen, dass du nicht zu unterschätzen bist.“ „Ich bin ein Verdächtiger.“ Sharon grinste breit. „Wann warst du das nicht? Aber ehrlich, seit wann bist du so kurzsichtig, und so denkfaul? Was macht man, wenn man verdächtig ist?“ Sie verdrehte die Augen, hob eine Hand, machte sie zur Faust. Dann hob sie ihre andere Hand, bog damit einen Finger der Faust auf. „First and foremost: Alle Beweise vernichten, die einen belangen. Do not leave any traces leading towards you. Second: Alle anderen von der eigenen Unschuld überzeugen. If you are trusted and truthful, there’s no reason, why anyone should doubt your word. Mach dich durchsichtig und nachvollziehbar. Zeig jedem jede Minute deines Tages, lass alle nachvollziehen, was du tust und wo du bist. That’s it. And for the future…“ Sie ließ ihre Hände sinken. „Was diesen verrottenden Apfel betrifft, Yusaku, durch den wir uns wühlen wie Fliegenlarven… unterhalt dich mal mit deinem Sohn, wenn er wieder weiß, was Sache ist.“ Sharon lächelte breit, zeigte ihre perfekten, weißen Zähne. „He’s the silver bullet. And only silver bullets are apt to kill vampires and werewolves… and this castle’s full of both.“ Yusaku zog die Augenbrauen zusammen. „Was zum Henker hast du vor, Sharon? Und vor allem… was hast du mit meinem Sohn vor?“ Sie lächelte, griff wieder nach ihrem Lauf, inspizierte ihn gründlich. „You’ll see when time is ripe. And by the way, have you forgotten…? He’s not your son, anymore.” Sie hob den Blick, sah genau, wie sehr ihn das traf. Er würde, das wusste sie, solange er lebte, nie wieder die Worte vergessen können, die gefallen waren in seinem Büro, vor ein paar Tagen. Sie ließ das kalt; das war sein Leben, nicht ihrs. In ihrem Leben hatte sie ihre eigene Tragödie, sie hatte keine Lust und nicht die Kraft, sich mit den Desastern anderer Leben zu befassen. „Und nun hau ab, ich hab zu tun.“ Yusaku schnaubte, warf ihr einen genervten Blick zu, ging aber, nichtsdestotrotz. Es war früher Nachmittag, als er einbog, in die Auffahrt seines Hauses. Die Polizei war, wie er vermutet hatte, schon weg. Er griff nach der Tüte, die auf dem Beifahrersitz lag; darin befand sich Kuchen, den er noch besorgt hatte, damit er diesmal endlich einen Grund für sein Fernbleiben hatte. Mach dich durchsichtig und nachvollziehbar. Schokoladenkuchen war ein guter Grund. Besonders Schokoladenkuchen aus dieser Patisserie in der Innenstadt, den Yukiko so liebte. Er stieg aus, warf die Tür zu, zielte mit seinem Schlüssel auf sein Auto, um es abzuschließen, während er zur Haustür ging. Er brauchte nicht einmal klingeln, damit sie aufging. In der Tür stand, zu seiner Überraschung, nicht Yukiko, sondern Heiji, der ihn taxierte. Yusaku hob eine Augenbraue. „Herr Kudô.“ Heiji nickte, trat zur Seite. In seiner Hosentasche spürte er den kleinen Emitter in seiner Hand. „Die Polizei ist vor einer halben Stunde gefahren.“, bemerkte er. „Dacht ich mir. Ich schätze, viel geredet wurde ohnehin nicht.“, er seufzte leise. „Hat man ihm den vorgeschlagen, mit ihm zu dem Ort zu fahren, wo der Professor ihn gefunden hat?“ Der Schriftsteller trat ins Haus, stellte die Kuchentüte auf dem Telefontischchen ab, zog sich seine Schuhe aus und nahm seinen Mantel ab, während er in Hauspantoffeln schlüpfte. Er drehte sich um und bemerkte den einigermaßen verdutzten Gesichtsausdruck auf Heijis Zügen, der sich allerdings schnell fasste. „Ja. Nein.“ Er zog die Augenbrauen kraus. „Shinichi sagte, er habe sich an ein paar Details seiner Flucht erinnert, nicht viel… keine Gesichter, keine Namen, kein konkreter Ort. Aber er bat selbst darum, da hin zu fahren. Allerdings wird daraus vor übermorgen nichts, Meguré hat gerade angerufen. Sie kriegen das mit der Sicherheit nicht so schnell hin, nicht bei dem Gelände. Es wird morgen ausgekundschaftet, und die Posten eingerichtet, übermorgen dann…“ Yusaku nickte, schnappte sich die Tüte und ging in die Küche, wo er seine Frau begrüßte, die sich tatsächlich über den Kuchen freute. Heijis Hand, die in seiner Hosentasche gesteckt hatte, war ihm nicht entgangen. Auch nicht die Tatsache, dass der junge Detektiv ihm nicht gleich folgte. Er seufzte, als er mit Yukiko die Kuchenstücke ins Wohnzimmer trug. Heiji verdächtigte ihn wirklich. Zeig jedem jede Minute deines Tages, lass alle nachvollziehen, was du tust und wo du bist. Er mochte wetten, dass entweder an seinem Auto oder irgendwo im Futter seines Mantels nun ein Mikroemitter klebte. Nicht schlecht, Heiji. Aber du vergisst, wessen Vater ich bin. Yusaku würde auf der Hut sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)