Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 36: Kapitel 18: Fiktion und Wahrheit -------------------------------------------- Hallöchen! So - hier kommt also ein kurzes Intermezzo, bevor es wieder spannend wird... kein sehr aufregendes Kapitel, aber unerlässlich für die Storyline. Viel Spaß beim lesen, Eure Leira __________________________________________________________________________ Kapitel achtzehn: Fiktion und Wahrheit Ran war gegangen, vor etwa einer halben Stunde. Shinichi lag rücklings auf seinem Bett, starrte träge die Decke an, musterte ihre Struktur als wäre sie ein Kunstwerk und dachte nach, über das, was sie ihm erzählt hatte. Über seinen ersten Fall an Bord eines Flugzeugs, über ihr Abenteuer in New York, über ihre Zeit in der Schule, über seine Hobbies und ihre. Über ihr Leben und seins. Er hatte nicht auf die Uhr gesehen, aber als sie fertig war, fürs erste, hatten sie festgestellt, dass sie fast zwei Stunden geredet hatte. Ein Seufzen kroch ihm über die Lippen, als er sich auf die Seite drehte, die Stelle fixierte, an der sie gelegen hatte. Ein Abdruck in den Kissen ließ immer noch erahnen, wo ihr Kopf geruht hatte, und ein Hauch des Dufts des Shampoos, das sie benutzte, lag noch in der Luft. Pfirsich. Der Duft kam ihm bekannt, vertraut vor, und doch wusste er, hätte er ihn gerochen, ohne zu wissen, wer hier vorher gewesen war, er hätte ihn nicht zuordnen können. Unwillig kniff er die Lippen zusammen, presste Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand an seine Nasenwurzel – er konnte immer weniger begreifen, wie ein Mensch sich selbst so gründlich vergessen konnte. Ein ganzes Leben, über zwanzig Jahre Erfahrungen, Gefühle und Erinnerungen… so gründlich verschüttet, vergessen, als hätten sie nie existiert… Als hätte ich nie existiert. Ran hatte sich nicht groß verabschiedet. Sie hatte gewusst, dass sie ihm viel zum Nachdenken gegeben hatte, vieles, über das er sich nun seinen Kopf zerbrechen konnte, anhand dessen er versuchen konnte, sich zu erinnern, an irgendetwas. Sie hatte ihm nur einen kurzen Kuss auf die Wange gegeben, gesagt, sie fände allein raus und hatte ihn hier zurückgelassen, allein mit sich selbst. Und seither lag er hier. Er spürte immer noch, wie sein Herz raste, wenn er an sie dachte. In jeder anderen Situation wäre er der glücklichste Mensch auf Erden, sie als seine Freundin zu haben. Sie war intelligent, hilfsbereit, freundlich, ehrlich und… ziemlich hübsch, das konnte er nicht leugnen. Aber das Allerwichtigste… sie liebte ihn. Und sie ließ ihn das wissen, sehr gründlich, mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen – und doch erinnerte er sich nicht daran. Erinnerte sich einfach nicht an sie. Nicht an den Duft von Pfirschen, nicht an ihre strahlenden Augen, ihr hübsches Gesicht, ihr sanftes Lächeln, ihre Stimme. Und genau das war, es, was ihn innerlich zerriss, was es ihm so schwer machte, sich einfach fallen zu lassen und die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Es waren die Zweifel, die ihn marterten, jetzt noch mehr als zuvor, denn entgegen seiner Hoffnung waren die ganz und gar nicht verschwunden. Sie waren gewachsen. Ein gutes Stück. Shinichi hatte keine Ahnung, wie Ran jetzt darüber dachte, aber er, für seinen Teil, fühlte sich jetzt noch fremder, noch inhaltsloser, als je zuvor. Jetzt, da er ihre Vergangenheit kannte, er mehr über ihre Freundschaft, über sein altes Leben wusste, erfasste er so wirklich, wie anders er wirklich war. Wie weit entfernt von dem, der er sein sollte. Wie ungeheuer viel Leben er gehabt hatte, das jetzt weg war, restlos, fast. Wie konnte er glauben, dass er sich hier irgendwie einfügen konnte, irgendwie den Platz ausfüllen sollte, den Shinichi Kudô innegehabt hatte… nachdem er auch nur annähernd wusste, wer Shinichi Kudô eigentlich gewesen war. Wie sollte er das ersetzen? Wie sollte er das je alles wiederfinden…? Allein der Gedanke daran war absurd. Er, so wie er nun hier in diesem Bett in diesem Zimmer lag, war nicht einmal ansatzweise der Freund, der Sohn, der Detektiv, der er einmal gewesen war. Ein müder Abklatsch dessen, eine mehr als billige Kopie, eine Leerhülle, fast. Eine schöne Schachtel ohne Inhalt. Eine Atrappe. Aber sie alle sahen etwas ganz anderes, jemand ganz anderen in ihm. Und er fragte sich, wie lange sie das durchhielten. Wie lange sie sich das noch einreden konnten. Wie lange noch… bis ihr merkt, dass da nichts ist…? Merkt, dass ihr umsonst sucht…? Langsam setzte er sich auf, massierte sich die Schläfen. Ran, soviel war zumindest zu sehen gewesen, hatte gehofft, ihm geholfen zu haben. Allerdings, und das war genauso deutlich zu sehen gewesen, hoffte sie noch mehr, endlich den wieder zu bekommen, den sie verloren hatte. Er würde sie enttäuschen. Langsam glitt sein Blick durchs Zimmer, blieb am Schreibtisch haften. Dort stand immer noch das Bild von ihnen beiden im Tropical Land. Shinichi betrachtete es aus der Entfernung, lächelte müde, merkte dennoch, wie sich sein Magen zu verknoten schien. Es war ja nicht so, als hätte er sein Leben nicht gern zurück. Er wollte diese Leere nicht in seinem Kopf, nicht dieses Gefühl von Vakuum, das ihn ausfüllte, und das Nichts deutlicher beschrieb als jede andere Metapher. In ihm war, bis auf die Erinnerung an Conan und die Fetzen, die er von seiner Flucht wusste, luftleerer Raum. Dabei hätte er so gern das alles wieder zurück. Besonders sie. Das Lächeln fiel ihm von den Lippen, bröckelte ab, Stück für Stück, seine Hände krampften sich um die Bettkante, bis seine Knöchel weißlich durch seine Haut stachen. Er liebte sie, und wusste doch, dass sie sich verrannt hatten. Eigentlich hatte er es schon gestern Abend geahnt, und eigentlich… hätte er heute darauf beharren sollen. Stattdessen hatte er ihr wieder gestattet, ihn weichzu-klopfen, weil er ihr nicht wehtun wollte, und fragte sich, ob wenigstens das etwas war, das ihn mit seinem alten Ich verband. Dieses irre Gefühl, jemandem mit Haut und Haar verfallen zu sein, jemanden so zu lieben, dass man diese Person auf keinen Fall verletzen wollte, auf keinen Fall enttäuschen wollte, nicht weinen oder traurig sehen wollte… Vielleicht war es das, schließlich hatte er sich aufgegeben für sie… Er hatte es wohl auch gekannt, als Conan, und als man ihn vor die Entscheidung gestellt hatte, was er vorzog… ihren Tod oder seine Selbstaufgabe und damit ihr Leben. Er hatte sie geliebt und doch nie lieben können. Genauso wie jetzt. Und das Gefühl war entsetzlich. Ihm blieb schier die Luft weg, als er sich in seine Gedanken immer mehr verstrickte; jeder neue schien sich wie ein dünner Faden um ihn zu legen, ihn ein ums andere mehr zu fesseln, handlungsunfähiger zu machen. Es schnitt ins Fleisch, und war doch kein Schmerz, den man beschreiben konnte. Unerträglich war er dennoch. Er fragte sich, wie er das hatte aushalten können, all die Jahre. Vielleicht fand er es noch heraus. Vielleicht auch nicht. Shinichi biss sich auf die Lippen, zwang sich dann, den Blick von dem Foto abzuwenden, starrte auf den Boden, versuchte, wieder Herr über sich und dem zu werden, was in seinem Kopf noch klar denken konnte, atmete schwer. Dann fuhr er sich mit dem Handrücken über die Stirn, merkte, dass seine Finger kalt und feucht geworden waren. Als er sie vor Augen hielt, zitterten sie leicht. Shinichi seufzte, rieb seine Hände aneinander. Es musste aufhören. Das war das Beste, für sie, und für ihn auch. Auch wenn es ihm das Herz zerriss. Auch wenn sich alles in ihm sträubte. Es war nicht fair ihr gegenüber, sie verdiente jemand anderen. Wahrscheinlich sogar jemand besseren als sein altes Ich. Dann klopfte es leise, und kurz darauf ging die Tür auf. Shinichi richtete sich auf, sah seiner Mutter, die den Kopf herein steckte, erschrocken ins Gesicht. „Ja?“ Yukiko schluckte, trat dann ganz ein, vorsichtig. „Alles in Ordnung?“ Shinichi wich ihrem Blick aus, stand auf, winkte unwirsch ab. „Ja, sicher. Aber das ist doch nicht der Grund, warum du hier bist?“ Seine Mutter kniff die Lippen zusammen. Er warf ihr einen Blick zu, wusste, dass sie ihm kein Wort glaubte. Sie bohrte nicht nach, und dafür war er ihr dankbar. „Nein. Ich bin hier, weil ich dir sagen wollte, dass das Essen fertig ist, Shinichi. Kommst du?“ Shinichi erhob sich vom Bett. „Natürlich.“ Er spürte den Blick seiner Mutter auf sich ruhen, als er neben ihr aus der Tür trat. Unsicher warf er ihr einen Blick zu; sie lächelte zwar, aber er wusste, sie beobachtete ihn genau, machte sich ihre Gedanken. Und er fragte sich, ob sie ahnte, was ihn bewegte. Vielleicht nicht. Vielleicht doch. Immerhin war sie ja seine Mutter. Aber… andererseits war er ein genialer Schauspieler, wie er erfahren hatte. Das Essen verlief schweigend, aber das störte Shinichi nicht; er aß seinen Teller auf, stellte zu seiner eigenen Überraschung fest, dass er verhältnismäßig viel Appetit hatte. Als er darüber jedoch nachdachte, wunderte ihn das gar nicht mehr so sehr; das Krankenhausessen war lausig gewesen, und er wusste nicht, wie viel er an dem Tag seiner Flucht gegessen hatte. Alles in allem waren die letzten Tage generell wohl etwas karg ausgefallen. Gedankenverloren schob er sich eine Gabel voll gebratener Nudeln in den Mund, und schreckte entsprechend hoch, als sein Vater ihn unvermittelt ansprach. „Hast du Interesse daran, dir mein neues Manuskript anzusehen?“ Ein Teil der Nudeln fiel von Shinichis Gabel, die er gerade wieder zum Mund führen wollte, verteilten sich auf der Tischplatte. Er fluchte leise. „Entschuldige, ich…“ „Bleib sitzen.“ Yukiko stand auf, um ein Tuch zu holen, fasste ihn an der Schulter um ihn, der bereits halb aufgestanden war um das gleiche zu tun, wieder auf die Sitzfläche zu drücken. Er warf ihr einen leicht verstimmten Blick zu, schluckte seinen Missmut runter, schob mit der Hand die Nudeln zusammen, um wenigstens irgendetwas zu tun. Dann wandte er sich seinem Vater zu. „Entschuldige, ich war in Gedanken, ich hab nicht zugehört. Was hast du gefragt?“ Yusaku lächelte nachsichtig. „Du hast ja schon festgestellt, dass ich keine Ladenhüter schreibe. Interessiert dich denn, was ich… für literarische Ergüsse unter die Leute bringe?“ Er warf seiner Frau einen kurzen Blick zu. Shinichi fing ihn auf, konnte erraten, auf welchem Mist dieser Vorschlag eigentlich wirklich gewachsen war. Er legte seine Gabel beiseite. „Ist das nicht… störend? Ich meine, du bist ja noch mitten im Prozess, wenn ich das Recht gesehen habe, und ist es da nicht eher hinderlich, wenn ich schon etwas lese? Es könnte doch sein, dass du alles noch einmal umwirfst…“ Yusaku strich sich über seinen Bart. „Generell würde ich dir Recht geben, Shinichi. Normalerweise gebe ich meine Manuskripte nicht aus der Hand, ehe sie nicht fertig sind. Ich denke aber, in diesem Fall kann ich eine Ausnahme machen, diese Storyline ist sehr fix. Außerdem… hätte ich, muss ich wohl zugeben, gerne deine Meinung dazu. Auch wenn, wie du wohl richtig bemerkt hast…“, er grinste kurz, „deine Mutter an dieser Idee nicht unschuldig ist. Dennoch, ich würde mich freuen, wenn du es liest und mir sagst, was du davon hältst. Abgesehen davon wär’s nicht das erste Mal, Shinichi. Du hast immer mal wieder Stücke meiner Manuskripte gelesen, du… du weißt es nur nicht mehr.“ Shinichi zog fragend seine Augenbrauen hoch, konnte seine Überra-schung kaum verbergen. „Meine Meinung? Inwiefern könnte ich dir da behilflich sein?“ „Das wirst du dann sehen. Also, hast du Lust? Ich will dich natürlich nicht zwingen.“ Yusaku legte seine Gabel beiseite, versuchte ein Lächeln, und konnte doch eine gewisse Angespanntheit nicht leugnen. Er wusste nicht, ob er es wirklich wollte, dass sein Sohn sein Manuskript las. Tatsache war… ja, es war wirklich Yukikos Idee gewesen, ihm das Skript zu geben, und mit welchem Argument hätte er es ablehnen können? Denn ja - es stimmte auch, Shinichi hatte immer mal wieder Teile seiner Bücher gelesen, unter anderem wirklich, weil er seine Meinung hatte wissen wollen. Ein besseres Feedback zu Kriminalromanen hätte er nie bekommen können. Tatsache war aber auch, dass er ausgerechnet von diesem Buch Shinichi am liebsten keine Seite hatte geben wollen. Keine Zeile. Yukiko, das wusste er, hatte vor, alles so natürlich für ihn zu machen, wie es ging. Shinichi zu behandeln, wie immer, mit ihm umzugehen, zu reden, wie vor seiner Amnesie. Sie hoffte, er würde dadurch sein Gedächtnis wiederbekommen, und wenn das nicht ging… dann sollte er sich wenigstens etwas mehr wie ihr Sohn fühlen. Und das Manuskript lesen gehörte in ihren Augen dazu, zu diesem ‚normalen‘ Umgang mit seinem Sohn. Generell, das gestand Yusaku Kudô sich ein, hätte er momentan den Kontakt zu seinem Sohn gern auf ein Minimum beschränkt. Und er verachtete sich dafür. Jedesmal wenn er ihn ansah, plagte ihn sein Gewissen – und jedesmal fürchtete er sich ein wenig mehr vor dem Tag, an dem Shinichi sich erinnern würde. Oder vor dem Tag, an dem er die Kontrolle endgültig verlor. Beides, das ahnte er, war nicht mehr sehr fern. „Gut, dann… lese ich es selbstverständlich gern.“, Shinichi schob sich die letzte Gabel Nudeln in den Mund, ohne dabei seine Augen von seinem Vater abzuwenden. Der Mann wirkte angespannt, aber er wusste nicht, woher das rührte. Allerdings, gestand er sich ein, fühlte er sich selbst ja auch etwas gestresst – warum sollte es seinen Eltern anders gehen als ihm? Die Situation war für sie alle schwierig. Yusaku zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, hoffte, dass es nicht allzu gekünstelt aussah. „Schön. Wenn du fertig bist, kannst du ja gleich mitkommen, dann suche ich dir einen Teil heraus.“ Er stand auf, winkte seinen Sohn mit sich ins Wohnzimmer, wo sein Schreibtisch stand, ein schwerer Ebenholztisch, fast schon eine Antiquität, auf dem sich seine Utensilien ausbreiteten. Für einen Außenstehenden sah es sich er aus wie ein Chaos, für ihn war es genau die notwendige Mischung von Unordnung und Ordnung, die ihm ein kreatives Arbeiten ermöglichte. Er wusste, wo alles lag, wusste, wo Blätter mit Fragmenten von Ideen lagen, die er noch nicht hatte einbauen können, wusste, wo jeder Stift lag, und kannte die Buchstaben auf der abgewetzten Tastatur seines Laptops ohnehin auswendig. Allerdings kam der Computer erst zum Einsatz, wenn das Manuskript fertig war. Er tippte es immer selber ab; denn während dem Abschreiben seiner Geschichte fielen ihm oft noch Dinge ein, Dialoge oder Hinweise, die er spontan einbaute – eine Tatsache, die ihn davon abhielt, diese Arbeit einem Lektor oder einem Assistenten im Verlag zu überlassen, auch wenn die diese Arbeit gern übernommen hätte, um nur früher an die Manuskripte zu kommen. Der Schriftsteller griff nach der leeren Tasse, die neben dem Etui mit den Stiften stand, und zog darunter einen Stapel Blätter heraus, die sie beschwerte. Er reichte ihn seinem Sohn, ohne ihn anzusehen. „Mach's dir bequem.“ Mit diesen Worten ging er selbst in die Küche, um sich seine Tasse aufzufüllen, und um einen weiteren Becher für seinen Sohn zu holen. Als er einen kurzen Blick über die Schulter warf, sah er, dass Shinichi immer noch neben seinem Schreibtisch stand, wo er sich bereits in das Manuskript vertieft hatte. Seine Mimik sprach von großer Konzentration; ohne aufzublicken, wohin er ging, steuerte er um das Sofa herum und ließ sich in einen der großen Ohrensessel sinken. Yusaku seufzte lautlos, fuhr sich mit seiner Hand über die Stirn, wandte sich dann ab und ging zurück in die Küche. Ran ging zu Fuß nach Hause. Es regnete leicht, aber das machte ihr nichts aus; es wurde Herbst, die Bäume verloren ihre Blätter, zwar erst langsam, jetzt… aber diese Entwicklung war nicht aufzuhalten, in ein paar Wochen würde alles kahl und kalt und grau sein. Sie erinnerte sich zurück, an die Tage auf Izu, es war doch noch keine Woche her… und dennoch schien es ihr so weit weg, dieser Ausflug mit Sonoko und Makoto. Dort war das Wetter noch herrlich gewesen, dort hatte man noch vom goldenen Herbst schwärmen können; und auch in Tokio war es bis vor ein paar Tagen traumhaft warm gewesen. Sonst wäre der Professor kaum mit den Kindern zum Camping gefahren. Ran blieb stehen, unbewusst, strich sich eine Strähne aus ihren Augen, umklammerte ihren Regenschirm fest mit der anderen Hand. Wäre doch nur das Wetter schlechter gewesen… hätte es doch bloß geregnet! Dann wäre der Professor nicht gefahren und ihm wäre das alles erspart geblieben. Allerdings wäre er dann auch noch Conan, noch immer, ohne Aussicht auf ein Ende. Und sie wusste nicht, ob ihm das so gut getan hätte. Unsicher biss sie sich auf die Lippen, begann, an ihrer Unterlippe zu nagen. Sie hatte Conan eigentlich immer als fröhlichen, aufgeweckten Jungen im Gedächtnis. Allerdings, das gestand sie sich jetzt langsam ein, hatte sie wohl oft Dinge nicht gesehen… oder übersehen wollen. Wenn sie an Conans Verhalten in den letzten Tagen dachte, fiel ihr im Nachhinein auf, dass er eigentlich verhältnismäßig still geworden war. Zwar immer noch aufgeweckt und gewitzt, so gut er konnte, immer dann, wenn er in ihrer Gegenwart gewesen war oder sich in Gesellschaft gewusst hatte… aber es war aufgesetzt gewesen, irgendwie. Ihr war es nur manchmal aufgefallen, wenn er nicht wusste, dass sie ihn ansah, ihn beobachtete. Er hatte in die Leere gestarrt, seine Augen merkwürdig dunkel, seine Lippen zusammengepresst, sein Gesichtsausdruck viel zu ernst für einen Jungen seines Alters. Hast du es langsam geahnt, dass es so nicht mehr lange weiter geht? Du hast es zuerst ja scheinbar… ganz locker genommen. Deine zweite Kindheit… Aber ich bin mir sicher, je länger sie dauerte, je öfter du scheitertest bei dem Versuch, sie zu fangen, desto schwerer wurde es für dich. Und dann mich noch zu sehen… Tag für Tag. Ich hab dir dein Leben nicht unbedingt einfacher gemacht, nicht wahr? Warum hast du mir nichts gesagt, Idiot…! Es musste die Hölle gewesen sein für ihn, und ein Zustand, den er auf Dauer nicht mehr ausgehalten hätte, wahrscheinlich, so sehr er es auch versucht hatte. Deshalb war er auch immer empfindlicher geworden, am Telefon, immer schneller gereizt; er wusste, dass er den Karren langsam aber sicher gegen die Wand fuhr, und fand doch die Bremse nicht, und das Steuerrad… wollte ihm ohnehin schon lange nicht mehr gehorchen. Langsam ging sie weiter, schaute auf den Boden, wo dick und schwer die Tropfen auf den schmutziggrauen Asphalt platschten, zersprangen, in unzählige kleine Tröpfchen. Ohne aufzusehen blieb sie automatisch vor ihrer Tür stehen. Sie kannte den Weg schon so gut, dass sie ihn hätte blind gehen können. Shinichi, das wusste sie, würde momentan nicht einmal sehenden Auges hierherfinden. Weil er ihn vergessen hatte… den Weg zu ihr. Als sie die Tür zur Wohnung aufsperrte, stutzte sie. „Denkst du, wenn es wirklich jemand ist, den er kennt, er hängt ihn hin, ohne zu zögern? Könnte er das, nach allem, was er dieser Person schuldet?“ Die Stimme ihrer Mutter. Ran schloss die Wohnungstür leise hinter sich, kaum ein Klicken war zu hören, als sie ins Schloss rastete. Lautlos schlüpfte sie aus ihren Schuhen, stellte sie ordentlich ins Schuhregal, zog sich die Hauspantoffeln über, merkte, wie ihr Magen etwas flau wurde, ganz kurz nur, als sie Conans kleine Pantoffeln stehen sah. Und seine Schuhe, neben denen ihres Vaters. Die rot-weißen Sportschuhe, die er immer getragen hatte. Unwillkürlich begann sie auf ihrer Unterlippe zu kauen. So ganz verdaut hatte sie diese Geschichte sicher noch nicht. Sie wusste aber auch, dass sie nicht die einzige war, der es dabei so ging. Leise ging sie in die Küche, stieß die Tür auf, blickte in zwei erschrockene Gesichter, offenbar hatten ihre Eltern sie nicht gehört, ganz wie beabsichtigt. „Hallo Mama.“, begrüßte sie ihre Mutter lächelnd, das ihr wie festgefroren auf den Lippen lag. Jeder hier im Raum wusste, dass Ran gehört hatte, was gesprochen worden war. Und für Ran war genauso klar, dass ihre Mithörerschaft eigentlich nicht beabsichtigt gewesen war. Sie schluckte, überging die Stille. „Wer hängt wen hin?“, fragte sie scheinbar unwissend. Eri seufzte, fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben von den Augen ihrer Tochter tatsächlich transparent wie ein Aquarium. Sie hob ihre Kaffeetasse an die Lippen, nahm einen Schluck, ließ Ran dabe nicht aus den Augen. Sie gestikulierte in Richtung eines Stuhls. Ran verstand den Wink, hängte ihre Handtasche über die Stuhllehne und setzte sich, fuhr dann fort, ihre Eltern abwartend anzuschauen. „Nicht… nicht so wichtig.“, fing Eri schließlich an, die Frage ihrer Tochter abzuwiegeln. „Nichts, worüber du dir den Kopf zerbrechen musst, Ran. Wie geht’s Shinichi?“ „So gut und so schlecht, wie gestern. Du weißt, wie’s mir ging. So geht’s ihm.“ „Es ist alles so… seltsam. Ich frage mich, wie’s für ihn damals war, als ich ihn ansah, und in meinen Augen nicht der Hauch eines Erkennens zu finden war. Als ich ihn stehen ließ, ihm nicht sagte, wohin ich ging, damit er mich nicht wieder retten musste und sich dabei selbst in Gefahr brachte.“ Sie griff sich eine leere Tasse, die auf dem Tisch stand, und schenkte sich Kaffee ein, um irgendwie ihre Hände zu beschäftigen. Sie war nervös, soviel war offensichtlich; nervös, und auch etwas erregt, auch wenn sie sich noch gut im Griff hatte. „Darin ist er ja mittlerweile meisterlich.“, fügte sie an. „Allerdings.“ Kogorô nickte bestätigend. Sie sah ihren Vater kalkulierend an, fixierte dann ihre Mutter. „Aber ihr lenkt vom eigentlichen Thema ab.“ Ran kniff die Augen zusammen, beugte sich nach vorn, legte eine Hand auf die Tischplatte. „Ihr habt über ihn geredet, nicht wahr? Ihr fragt euch, ob er den Boss ausliefert, wenn er sich je wieder an ihn erinnert. Es ist jemand, den er gut kennt, nach allem, was wir über ihn wissen. Denkt ihr denn, er deckt ihn?“ Eri rieb sich die Schläfen. „Ich fürchte, wenn es soweit kommt, Ran, wird er nicht anders können. Und es wird wohl nur allzu verständlich sein, nichtsdestotrotz…“ Rans Kinnlade klappte nach unten, ungläubig schüttelte sie den Kopf, starrte ihre Mutter an, dann ihren Vater. Der winkte nur müde ab, er hatte mit seiner Frau schon genug diskutiert, darüber. Ehe Ran etwas dazu sagen konnte, begann Eri mit ihrer Erklärung. „Ich meine, der Boss ist wer, den auch wir kennen.“ Sie sah ihre Tochter fest an. „Ran, stell dir vor, der Boss wäre… wäre zum Beispiel dein Vater, oder ich; würdest du uns ohne zu zögern der Polizei ausliefern? Nachdem wir nicht nur dir, sondern auch… nehmen wir einfach ihn, Shinichi… das Leben gerettet haben? Bei allem, was wir wissen, hat der Boss deinen Namen bisher aus dem Spiel gelassen, hat versucht, nur Shinichi mit hineinzuziehen, und das auf möglichst eine Art und Weise, die ihn am Leben lässt. Ein… unglückliches Leben, eins, dass er nicht wollte, aber immerhin, er atmete noch, er lebte. Das ist… besser, anders, als tot zu sein. Und noch dazu viel besser, als zu sterben, und zu wissen, dass man Schuld ist am Tod derer, die man liebt.“ Ran seufzte, wandte ihren Blick ab, verknotete ihre Hände in ihrem Schoß. Ihre Mutter nickte leicht. „Siehst du… es ist nicht so einfach… und ich denke, wenn er wieder weiß, wer er ist…“ Ran sah auf, in ihren Augen glomm eine Entschlossenheit, die Eri überraschte. „Shinichi ist nicht wie ich, Mutter.“ Sie blickte zur Seite, sah in Richtung Tür, als sie sprach. „Ich kann dir nicht sagen, wie ich reagieren würde, ich… weiß es nicht.“ Ran schluckte schwer, merkte, wie sich in ihrem Hals ein Kloß gebildet hatte. „Aber Shinichi würde und wird auf keinen Fall zulassen, dass alles so weitergeht wie bisher. Ich weiß nicht, ob er den Boss sofort hinhängen würde. Aber er würde dafür sorgen, dass diese Sache ein Ende hat. Dass die Organisation auffliegt. Er würde ihn nicht decken, dauerhaft, und er würde auch nicht, auf gar keinen Fall, seinen Komplizen spielen. Damit könnte er nicht leben. Er würde ihn konfrontieren, mit seinem Leben und seinen Verbrechen.“ Sie lächelte müde. „Und wehe dem, den Shinichi mit seinen Taten konfrontiert.“ Eri seufzte, strich ihrer Tochter über die Finger. Ran drehte die Hand um, griff nach der Hand ihrer Mutter. Sie schluckte, vor ihrem inneren Auge spielte sich eine Szene ab, die in ihrem Kopf schon herumspukte, seit sie wusste, dass Shinichi den Boss einer derartigen Verbrecherorganisation persönlich kannte. Dass sie ihn wohl alle persönlich kannten. Sie waren auf dem Weg von der Schule nach Hause gewesen. Jetzt im Nachhinein hatte Ran keine Ahnung mehr, wie sie überhaupt auf dieses Thema gekommen waren; wahrscheinlich über eine seiner zahllosen Geschichten über Sherlock Holmes. „Was ich machen würde, wenn ich den Verbrecher persönlich kenne?“ Überraschung spiegelte sich nur kurz in seinen Zügen, ehe sie einem gespannten Ausdruck wachen Interesses wich. Sie straffte ihre Schultern, wusste, dass ihre Frage prekär war; aber die Neugier trieb sie weiter. „Was würdest du tun, wenn du herauskriegst, dass Professor Agasa ein Mörder ist?“ „Ihn darauf ansprechen.“ Seine Antwort hatte nicht lange auf sich warten lassen. Sie stutzte, erstaunt über seine schnelle, entschiedene Aussage. Unsicher schaute sie ihm ins Gesicht, fand in seinen Augen aber nicht den geringsten Zweifel. „Sowas würdest du dich wirklich trauen?“ Er wandte den Kopf ab. Ein erstaunlich ernster Ausdruck war auf sein Gesicht getreten, als er versonnen in die Ferne starrte. „Ich würde ihm direkt ins Gesicht sagen: ‚Sie sind ein Mörder, Professor.‘“ Sein Blick wanderte zu Boden, während sie ihn immer noch anstarrte. „Cool… ich bewundere dich, Shinichi.“ Shinichi schüttelte den Kopf, schaute sie dann an, als er sprach. „Das hat doch mit cool nichts zu tun. Ich würde ihn nur darauf ansprechen, wenn ich hundertprozentig sicher bin. Bevor man jemandem unterstellt, ein Verbrecher zu sein, sollte man sauber recherchiert haben, aber die Wahrheit muss immer ans Licht…“ „Die Wahrheit muss immer ans Licht.“ murmelte sie leise. „Er wird nicht nachgeben. Selbst wenn er sich dafür den Rest seines Lebens hasst, weil er den Menschen verrät, den er sein Leben lang kennt, und ihm viel verdankt. Er wird so etwas wie die Organisation nicht weiter bestehen lassen, wenn er ihnen das Handwerk legen kann. Und dass er es kann… steht für ihn außer Frage, fürchte ich. Und wenn er dabei draufgeht, wird es ihm auch egal sein, das… wissen wir mittlerweile wohl alle. Er wird ihm das Handwerk legen, und wenn er mit ihm fällt, wie Sherlock Holmes mit Moriarty… dann wird es ihm nur Recht sein. Und deshalb… bin ich mir absolut sicher, dass Shinichi, so er sich wieder erinnert, den Boss der Organisation seine Verfehlungen nicht durchgehen lassen wird. Und wenn es sein eigener Vater ist.“ Eri schluckte, ernst ruhte ihr Blick auf dem Gesicht ihrer Tochter. Sie sah die Sorge in den Augen ihrer Tochter, die sie fest im Griff hielt – Sorge, und schreckliche Angst um ihren Freund. Shinichi lag rücklings in einem der bequemen Sessel, hatte seine Füße auf einem Hocker liegen, neben ihm stand mittlerweile auch eine Tasse Kaffee - und blätterte sich eifrig durch das Manuskript. Neben ihm auf dem Boden lag bereits ein kleiner Haufen dicht beschriebener Blätter. Er musste zugeben, sein Vater schrieb extrem gut; auch wenn er den „Baron der Nacht“ nicht kannte, ihm die ganze Vorgeschichte fehlte, so fand er sich erstaunlich schnell zu Recht. Die Charaktereinführung war kurz aber prägnant, der Stil flüssig, detailliert aber ohne zu viele lästige Schnörkel. Er fing rasant an und las sich weiterhin packend. Die Geschichte des Diebes und Mörders, der im Schutz der Nacht seinem Handwerk nachging, war erstaunlich intelligent. Hat was von den klassischen Detective Stories, nur dass es hier nicht um einen Detektiven geht, sondern um die andere Seite der Medaille… den Verbrecher. Überrascht sah er auf. Hm? Wie komme ich dazu, über das Genre der Detective Story zu grübeln… wenn ich nicht mal mehr Sherlock Holmes kenne, der doch der Klassiker unter ihnen sein soll. Er biss sich auf die Lippen. Yusaku sah auf, bemerkte das Grübeln seines Sohnes. „Shinichi, ist was? Stimmt etwas nicht?“ Er deutete mit seiner Feder auf den Packen Blätter in Shinichis Händen. Der schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Damit ist alles in Ordnung.“ Er nickte in Richtung der Blätter in seiner Hand, hob sie kurz hoch. Ein entschuldigendes Lächeln glitt ihm über die Lippen, dann setzte er sich auf. „Er ist ein Mörder, schreibst du. Und ein Dieb. Ein eigentlich wahrlich übler Charakter, grausam, gerissen, so intelligent wie skrupellos, und dazu ein Mann ohne Namen, du verrätst nie seine Identität. Aber dennoch… scheint das nicht alles zu sein, was er ist. Wie…“ Yusaku lachte leise. „Lies weiter, Shinichi. Du willst das Ende doch nicht schon vorher wissen.“ Shinichi nickte gedankenverloren, ließ sich in seinen Sessel zurücksinken, glitt wieder hinein in die Geschichte, schon nach den ersten Zeilen. Er betrachtete sich im Spiegel, die Maske in seinen Händen. Sein Blick wanderte zwischen seinen Identitäten hin und her. Hier das menschliche Antlitz, die wachen Augen, die ernste Miene, dort das manische Grinsen einer weißen Fratze, die bösartigen Augen einer blicklosen Maske. Wie hatte es eigentlich je soweit kommen können? Wann hatte das angefangen? Wann hatte er damit begonnen, als gesichtsloses Monster die Straßen Tokios unsicher zu machen, wann hatte er sich selbst so vergessen, dass er stahl, um des Stehlens willen, Leute umbrachte für Geld oder aus Rache? Wann war er zu so einem Menschen geworden… oder besser, wann hatte er aufgehört, ein Mensch zu sein? Sie alle wussten es nicht… sie ahnten nicht, wer er wirklich war. Was für ein Monster aus ihm wurde, nachts, wenn sie alle schliefen. Nun hatte er die Chance, das zu ändern. Er wusste nicht, welchen Preis er dafür zahlen würde… unter Umständen war er horrend. Unter Umständen bezahlte er mit seinem Leben dafür, jetzt das Richtige zu tun. Sich gegen sich selbst zu wenden, gegen die Maske, gegen alles, was zu ihr gehörte, und der zu sein, der ihm aus dem Spiegel entgegenblickte. Unsicher fuhr er sich mit einer Hand durch sein kurzes Haar. Ein Paar blauer Augen starrte ihn musternd an, genauso, als wollten sie ihn prüfen. Prüfen, ob er der Richtige war, für diese Aufgabe. Sehen, ob er mutig genug war, endlich den Schlussstrich zu ziehen. Dem Baron der Nacht den Dolch ins Herz zu stoßen. Er hob die Maske langsam an, sah ihr ins Gesicht, sah die leeren Augen. Noch war er sich nicht sicher. Auch wenn er, und das ahnte er, eigentlich die Entscheidung schon längst gefällt hatte. Heiji saß in einem der weißen Sessel in Professor Agasas futuristisch eingerichtetem Wohnzimmer. Draußen wurde es dunkel, und neben ihm brannte deshalb eine Leselampe; die Vorhänge hatte er noch nicht vor die Fenster gezogen. In der Tür erschien Professor Agasa mit zwei Tassen Tee in den Händen, betrachtete den jungen Mann schweigend. Heiji starrte geradewegs aus dem Fenster, hinaus in die Nacht. Er folgte seinem Blick, sah, was der junge Detektiv beobachtete; es war das Haus der Kudôs, oder besser, die Tatsache, dass im Wohnzimmer noch Licht brannte. Vor dem Haus stand eine Polizeistreife in Zivil, aber die interessierte ihn nicht. Agasa ahnte, wo Heiji mit seinen Gedanken war. Kazuha schlief auf dem Sofa neben ihm, Ai war im Labor. Der alte Mann betrat das Zimmer, stellte die Tassen auf dem Tisch ab. Heiji sah nur kurz auf, sagte aber nichts. Agasa warf schweigend eine Decke über die schlafende Kazuha, ehe er sich in den Sessel neben Heijis sinken ließ, und ebenfalls das Haus der Kudôs observierte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Heiji in seinen Händen ein Buch hielt. Es war der erste Band des Barons der Nacht. Heiji bemerkte Agasas erstaunten Blick, lächelte verlegen. „Ich wollte etwas zur Ablenkung. Ich geb zu, ich habs mir… ausgeliehen.“ Agasa grinste. „Du hast noch nie etwas von Yusaku Kudô gelesen?“ „Nein.“ Heiji schüttelte den Kopf. „Ich wusste auch eine ganze Weile nicht, dass Shinichi der Sohn eines berühmten Autors ist. Das hat mich nie interessiert, und er hat’s nie erzählt.“ Agasa nippte an seinem Tee, nickte gedankenverloren. „Das ist wohl etwas, das Shinichi an dir sehr schätzt. Seine Klassenkameraden früher haben sich hauptsächlich wegen seines Vaters für ihn interessiert. Aber was…“ Er lächelte großväterlich. „… bringt dich jetzt dazu, den Baron der Nacht zu lesen?“ Der junge Detektiv beugte sich nach vorn, griff nach der Teetasse, trank einen Schluck. „Neugier. Und, wie gesagt, ich suchte Ablenkung. Allerdings bin ich noch nich so verzweifelt, dass ich Sherlock Holmes zu lesen anfang‘.“ Er grinste. Agasa lachte leise. „Und, sagt dir der Baron zu?“ Heiji atmete langsam aus, schlug die Stelle auf, an der er angehalten hatte, warf dem Professor einen kurzen Blick zu, ehe er zu laut lesen anfing. „Sein blauschwarzer Umhang flatterte lautlos im Wind, sein Zylinder hob sich deutlich ab gegen den fahlen Mond, der in seinem Rücken aufging und ihm einen unnachahmlich dramatischen Auftritt bescherte. Er konnte nicht sehen, wer er war; er sah nur das diabolische Grinsen seiner weißen Maske, spürte den kalten Blick aus leeren Augen. Ihn umwehte der Hauch des Geheimnisvollen, die Mystik des Meisterdiebs; aber er war kein Gentleman wie es Leblancs Arsène Lupin gewesen war. Er war ein Mörder, ein skrupelloser Verbrecher, dem jedes Mittel recht war und der vor nichts zurückscheute, um sein Ziel zu erreichen. Seine Seele war verdorben, schwarz wie Pech, verloren an den Teufel, verspielt… er schien wie ein Schemen, kaum zu fassen, mehr wie ein Gerücht als ein tatsächlich existierender Mensch aus Fleisch und Blut. Und doch sah er das Blut am Messer kleben, das der Baron in der Hand hielt. Er wusste, dass die Frau zu seinen Füßen tot war, und wusste, wer ihr Leben genommen hatte, weggewischt mit einer Handbewegung, als sie ihm nicht geben wollte, wonach er verlangte. Den Diamanten. Nun funkelte er in seiner Hand, leuchtete im Mondlicht rosafarben auf, ehe er in einer Manteltasche verschwinden ließ. Der Meisterdieb. Der Mörder. Ihre Blicke trafen sich. Ihn fröstelte, er fühlte sich, als ob sein Innerstes zu Eis erstarren würde, im Bruchteil einer Sekunde. Er war unfähig, sich zu bewegen, hörte nur das Rauschen seines eigenen Blutes in seinen Ohren, sein lautes Atmen in der ansonsten gespenstisch stillen Nacht. Dann hörte er ihn lachen. Laut, kalt, triumphierend. Und wusste, er hatte verloren, für heute. Wusste, er würde nicht zum letzten Mal verloren haben, denn vor ihm stand ein Meister seines Fachs. Er sah, wie er sich umdrehte, dabei das Messer fallen ließ, ein kurzes Aufblitzen von Metall in der Finsternis. Dann war er verschwunden, mit einem Schlagen seines Umhangs wie verschmolzen mit der Dunkelheit, hinweg in die Nacht. Er war der Baron, er war ihr Herrscher. Er war die Nacht.“ Heijis Stimme verklang, dann sah er auf, langsam. Sein Blick glitt hinaus in die Dunkelheit, verharrte auf dem immer noch erleuchteten Fenster der Bibliothek der Villa Kudô. Der Professor sah ihn abwartend an, befingerte unbewusst seinen Bart, als er nachdachte. „Unglaublicher Stil.“, meinte Heiji schließlich langsam. „Langsam wird mir klar, warum man ihm die Bücher aus den Händen reißt und ihm die Verleger im Nacken sitzen.“ Agasa nickte langsam, kratzte sich nun kurz am Hinterkopf. „Ich weiß. Ich hab sie alle gelesen, aber ich muss auch sagen… die erste Begegnung des Barons mit dem Kommissar jagt mir heute noch Schauer über den Rücken.“ Heiji klappte das Buch wieder zu, ließ seinen Finger zwischen den Seiten. „Wissen Sie, wie er auf die Idee kam, über einen Dieb und Mörder zu schreiben?“ Agasas Hand, die er gerade mit der Teetasse zum Mund hatte führen wollen, blieb wie eingefroren in der Luft schweben. Der alte Mann blinzelte, dann setzte er die Tasse mit einem leisen Klonk wieder auf die Tischplatte. Dann sah er auf, echte Überraschung und Verwirrung in den Augen. „Um ehrlich zu sein, Heiji, habe ich ihn das nie gefragt.“ Hosted by Animexx e.V. 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