Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 37: Kapitel 19: Gesprächsbedarf --------------------------------------- Etwas Geduld müsst ihr noch haben, bis es richtig losgeht - ich hoffe dennoch, dieses und die folgenden Kapitel sind interessant für euch. Viel Spaß beim Lesen, eure Leira __________________________________________________________________ Kapitel neunzehn: Gesprächsbedarf „Nun, weißt du… wir haben ja geredet, ziemlich lange sogar.“ Leises Klingen erfüllte den Raum, als Ran bedächtig ihren Kaffee umrührte, so vorsichtig, dass sie kaum die Wände der Tasse berührte. „Aber…“, begann sie, nur um sogleich wieder innezuhalten. Ihre Augen waren konzentriert auf ihren Kaffeebecher gerichtet; die kreisende Bewegung ihrer Hand hörte langsam auf, das sanfte Klirren erstarb. „Aber?“ Sonoko schaute sie abwartend an, ihre Frage hing in der Luft. „Ich weiß immer noch nicht, ob er denkt, dass das gut geht, so. Versteh mich nicht falsch…“ Sie lächelte sanft, schaute in ihren Kaffee, hielt die Tasse mit beiden Händen und spürte die Wärme an ihren Fingern. „Ich liebe ihn. Und er weiß, er liebt mich auch, und ich weiß das auch. Es ist die Art, wie er mich ansieht, was er sich für Gedanken macht, meinetwegen, was er getan hat für mich… das spricht alles eine sehr klare Sprache...“ Sie schluckte, zog ihre Lippe zwischen ihre Zähne, kurz. Sonoko seufzte, hielt in ihren Händen eine Tasse Kaffee, schaute aus dem Fenster, wo die Sonne auf den Dächern von Tokios Skyline zu sitzen schien. Ran hatte nicht glücklich ausgesehen, als sie ihr die Tür vor ein paar Minuten geöffnet hatte. Sonoko war spontan vorbeigekommen, nachdem sie nun – in Anbetracht der Umstände – länger nichts mehr von ihrer Freundin gehört hatte; und stellte nun fest, es war wirklich bitter nötig, dass Ran sich mal aussprach. Und zwar nicht nur bei ihrem amnesiegeplagten Freund – sondern bei ihrer besten Freundin. Sie hatten Frühstück gemacht, und nun saßen sie hier; und seit sie sich gesetzt hatten und die erste Tasse Kaffee in ihren Händen zu dampfte, erzählte Ran. Mittlerweile waren sie beide schon bei ihrer zweiten Tasse - aber Ran schien noch lange nicht am Ende zu sein damit, zu erzählen, was ihr auf dem Herzen lag. Es war eine Menge. Sonoko wandte sich vom Fenster ab, sah ihre Freundin aufmunternd an, ehe sie ein Stückchen von ihrem frisch aufgebackenen Croissant rupfte und gedankenverloren in den Mund steckte. „Aber es macht einen Unterschied, auch wenn ich es nicht glauben wollte, nicht glauben will, ob er weiß, wer ich bin, oder nicht. Für ihn… und für mich auch.“ Sie biss sich auf die Lippen, ihr schlechtes Gewissen stand ihr mit dicken Buchstaben auf die Stirn geschrieben. „Deshalb frage ich mich ja… gestern wollte ich sie nicht hören, aber langsam verstehe ich seine Zweifel. Je mehr ich denke, und je mehr ich mich… an meine Amnesie erinnere. Ich wusste nicht, wer er war… und ich weiß nicht, was ich getan hätte, wär er vor mir gestanden. Ich fürchte nur…“ Sie biss sich auf die Lippen, trommelte mit ihren Fingernägeln gegen die Tasse. „Ich fürchte, ich hätte nicht mit ihm eine Beziehung angefangen. Und ich verstehe nicht, warum ich ihn so gedrängt habe.“ Sonoko wischte sich einen Blätterteigkrümel von der Wange. „Nun, das ist offensichtlich, wenn auch wahrscheinlich die einzige Sache, die wirklich offensichtlich ist… du liebst ihn. Deshalb.“ Ran hörte auf, ihre Unterlippe zu malträtieren, öffnete den Mund, nahm einen winzigen Schluck Kaffee und dachte nach. „Ich weiß nicht, Sonoko. Vorgestern Nacht…“, begann sie dann, „vorgestern Nacht hab ich ihn nur gesehen, und das war alles, was ich brauchte, aber mittlerweile… habe ich gemerkt, was eigentlich alles fehlt… wer noch fehlt.“ Sie lächelte erneut, allerdings zog ihr eine unsichtbare Macht bereits die Mundwinkel nach unten, ihre Augen waren dunkel vor Sorge. Sonoko griff ihre Finger, drückte sie sacht. „Was ist das bloß? Ich kann… ich kann ihn doch einfach nicht… nicht mehr lieben, er ist es doch, und ich weiß es doch, ich spüre es doch…“ Sie starrte in ihren Kaffee, merkte, wie ihre Augen zu brennen anfingen. „Aber der, der mir jetzt gegenübersteht, das ist nicht Shinichi… er sieht aus wie er, aber er ist es nicht, er ist nicht da, er…“ „Ran, schhht…“ Ran schüttelte abwehrend, unwillig den Kopf, schluchzte trocken und presste dann kurz die Kiefer zusammen, um sich zu sammeln, hielt ihren Handrücken an die Nase, schniefte und kniff die Augen zu. „Mir fehlt sein oberschlaues Gequatsche. Sein Lachen. Mir fehlt, wie er mich aufzieht, wie unbeschwert er sein kann, mir fehlt sein Gefasel über Holmes und Krimis… mir fehlt so viel an ihm, so viel an ihm… ich wusste gar nicht, es war mir nie klar… wie viel es eigentlich ist, das ihn ausmacht. Ich dachte, dieses Verlustgefühl das ich habe, als er das erste Mal verschwand… würde besser werden, wäre er nur endlich wieder da. Aber das ist es nicht.“ Sie räusperte sich angestrengt, versuchte den Kloß runterzuschlucken, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, aber der blieb hartnäckig, wo er war, und ließ sich auch von einem weiteren Schluck Kaffee nicht wegspülen. „Es ist nicht besser geworden… weil er immer noch nicht da ist…“ Eine Träne rollte ihr über die Wange. „Wie kann das sein, Sonoko! Wie kann das sein…“ Sie schniefte leise, merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. „Ich dachte doch, das macht nichts aus, ich will’s immer noch glauben. Sein Körper ist wieder da, und ich dachte, das reicht. Ich hab ihm gestern lang und breit erzählt, wer ich bin, und wer er ist, und mir wurde immer klarer, beim Erzählen… dass uns mindestens noch ebenso viel trennt, wie in der Zeit, als er noch Conan war. Es ist nur nicht so offensichtlich. Und er… er weiß das auch. Er wusste es die ganze Zeit. Ich wollte es nur nicht hören.“ Sonoko starrte sie betroffen an, biss sich auf die Lippen, wusste nicht, was sie dem entgegensetzen sollte. „Ich wollte es nur nicht hören…!“ Ran wischte sich unwillig die Tränen aus den Augen, nippte erneut an ihrem Kaffee. Ihr Croissant lag immer noch unberührt vor ihr auf dem Teller, daneben ein kleiner Klecks roter Himbeermarmelade. „Und was willst du jetzt tun?“ Ein Ausdruck leichter Frustration trat auf Rans Gesicht. „Ich werd‘ ihm beistehen. Ich muss.“ Fast wagte Sonoko nicht, die Frage, die ihr auf der Zunge brannte, zu stellen. „Und was tust du, wenn er sich nie wieder erinnert?“ Ran schüttelte den Kopf. „Das passiert nicht.“ Sonoko seufzte. „Du weißt, dass das passieren kann. Denkst du, du kannst dich in ihn verlieben, so wie du Kudô…“ Ihr fiel sichtlich schwer, so über Shinichi zu sprechen. Und sie sah die Qual in Rans Gesicht, wusste, dass sie weder ihr, noch sich selbst, diese Frage würde beantworten können. Jetzt nicht. Wahrscheinlich sogar nie. „Er ist es doch…“, murmelte Ran schließlich. Ihre Stimme klang matt, auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Resignation, den Sonoko an ihrer Freundin nie gesehen hatte. „Bestimmt wird er wieder so werden wie…“, hörte sie Ran leise ergänzen; dass sie auch diesen Satz nicht vollenden konnte, zeugte nur umso mehr von ihrer eigenen Unsicherheit. Man hörte aus ihren Worten ganz genau, dass sie selber nicht so recht an das, was sie sagte, glauben mochte. Yusaku Kudô stand am großen Fenster der Bibliothek und starrte hinaus auf die Straße. In der Einfahrt stand sein Wagen, ein silberner Traum aus Chrom und Stahl, Gummi, Leder und Edelholz. Er hatte keine Ahnung, wo der kleine Kunststoffknopf klebte, den Heiji gestern dort mit Sicherheit montiert hatte. Es interessierte ihn auch nicht- er würde nicht danach suchen, denn er wollte ihn auch gar nicht entfernen. Entfernte er ihn, enttarnte er sich. Und das wollte er nicht. So würde er die Chance nutzen, diese kleine Wanze für seine Zwecke zu gebrauchen. Er würde diesen Detektiv in die Irre führen, genauso, wie er seinen Sohn über all die Jahre in die Irre geführt hatte. Er war geübt darin. Und er war gut in seinem Fach. Dass er allerdings das erste Täuschungsmanöver früher als beabsichtigt würde starten müssen, ahnte er noch nicht. Heiji saß wieder einmal auf der Couch des Professors. Neben sich stand eine Kiste mit Büchern, die ihm der alte Mann heute Morgen in die Hand gedrückt hatte – seine persönliche Sammlung handsignierter Bände des Barons der Nacht. In seiner Hemdtasche steckte die Radarbrille. Immer wieder sah er von dem Buch auf, das er gerade las - dem zweiten Band des Barons der Nacht. Immer wieder kontrollierte er, ob das Auto noch in der Einfahrt der Kudô-Villa stand. Bisher hatte sich nichts getan. Er musste gestehen, er kam sich schäbig vor. Heiji hasste es, dass er dem Vater seines besten Freundes hinterherschnüffelte, wie er es mit gewöhnlichen Kriminellen zu tun pflegte. Und immer noch hoffte er, dass er mit seinem Verdacht falsch lag. Aber andererseits… warf er immer wieder seine Überlegungen über den Haufen, die sich darum drehten, seinem Gewissen Genüge zu tun und den Transmitter wieder zu entfernen. Wenn Yusaku Kudô der Boss war… dann war er es Shinichi schuldig, das zu beweisen, solange er selbst es nicht konnte. Wenn dieser begnadete Schriftsteller die Inkarnation seiner eigenen Romanfigur geworden war, dann musste er das beweisen - und Shinichi warnen. Zwar war er sich sicher, dass Yusaku seinem Sohn nichts antun würde – alle Aktionen des Bosses sprachen ja dafür, dass ihm viel am Leben Shinichis lag. Aber eben… als Boss der Organisation musste diese Person sich letzten Endes fügen. Der Organisation. Seinem Schicksal. Sollte Yusaku Kudô wirklich der Boss sein… dann musste sein Leben gerade einem Aufenthalt in der Hölle Konkurrenz machen. Und Heiji fragte sich ernsthaft, ob sich Yusaku, so er der Boss war, seiner Lage bewusst war. Er musste sich doch darüber im Klaren sein, dass dieser Zustand hier nicht auf ewig hielt. Dass weder er dieses Doppelleben noch lange aufrecht erhalten können würde – noch dass er seine Familie auf Dauer würde schützen können. Shinichi stand auf der Abschussliste, und zwar ganz weit oben - keiner wusste das besser als der Boss. Daran, wie er Shinichi das beibringen wollte, wenn er denn den endgültigen Beweis dafür in die Hände bekam, dass sein Vater einer der raffiniertesten und gefährlichsten Männer Japans war… daran… wollte er gerade lieber nicht denken. Am besten wäre es wohl, Shinichi… wenn du dich endlich wieder erinnerst. Auch wenn du vielleicht gerade das nich‘ willst. Langsam senkte er seinen Blick wieder, tauchte ein in die Nacht, in die Szene, die die Buchstaben vor seinen Augen woben, um mit dem Baron seinen nächsten großen Coup zu starten. Shinichi hatte sich nach dem Frühstück wieder dem Manuskript gewidmet. Ihm fiel ohnehin Stück für Stück die Decke auf den Kopf, und da war ihm jede Ablenkung, jede Beschäftigung recht – solange er noch warten musste… warten musste bis morgen. Morgen war der Tag, von dem er sich so viel erhoffte, von dem er sich ein Stück seines Lebens zurückwünschte. Morgen würden sie in die Wälder fahren, an die Stelle, an der man ihn gefunden hatte. Sie würden den Strand besuchen, die Klippen, ihren Zeltplatz – alle Orte, die sie beim Camping aufgesucht hatten. Er merkte, wie sich in seinem Magen ein flaues Gefühl breitmachte, bei dem Gedanken daran. Ein leichter Schauer rieselte von seinen Fingerspitzen zu seinen Zehen, machte sich als leises Prickeln im Nacken bemerkbar. Shinichi konnte nicht verhindern, dass in ihm die Hoffnung keimte, dass irgendwo zwischen den herbstlichen Blättern ein Stück seiner Erinnerung lag… und dort auf ihn wartete, um wieder mitgenommen zu werden. Unwillig seufzte der Oberschüler leise, legte das gerade fertig gelesene Blatt zur Seite, ließ seine Augen über die nächste Seite gleiten. Und so lange er noch warten musste… las er das Manuskript eben fertig. Klar, das hier war ganz offensichtlich das, was man Trivialliteratur nannte; aber sein Vater schrieb wirklich auf extrem hohem Niveau. Die Nacht war sternenklar. Er seufzte lautlos, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte hinauf, sah nichts weiter als die unendliche Finsternis des Weltalls, pechschwarz und still. Pechschwarz und still… und gespickt mit tausenden Sternen – und ein jeder von ihnen funkelte heller als der reinste Diamant. Das All hielt einen Ewigkeitsanspruch inne, der mit keinem irdischen Phänomen vergleichbar war. Wunderschön und unfassbar groß. Und doch wusste er, dass manche dieser Sterne, deren Leuchten er noch sah, längst vergangen waren. Ihr Strahlen bestand noch, ein Abglanz ihrer selbst, ihre letzte Botschaft an jeden, der es sah. Sie selbst waren bereits erloschen, tot – gestorben, Lichtjahre entfernt; und irgendwann würde auch ihr Leuchten vergangen sein, und nichts blieb mehr, das von ihnen zeugte. Genauso würde es bei ihm sein. Ein bitteres Lächeln kroch auf seine Lippen. Mit etwas Glück würde seine letzte Tat über seinen Tod hinaus wirken, alles überstrahlen, das er verbrochen hatte, alle Taten sühnen, die er begangen hatte. Aber irgendwann, dessen war er sich sicher, würde er vergessen sein. Er war es auch nicht wert, in Erinnerung behalten zu werden. Dann holte ein eisiger Luftzug ihn zurück in die Gegenwart, und er wandte seinen Kopf. Er stand auf dem Dach des Millennium Towers, und der Wind, der aufkam, fing sich in seinem Umhang, riss ihn fast mit sich. Kurz wankte er, schaute in die Tiefe, sah Tokio fast einen Kilometer unter sich. ‚Irrwitzig, was der Mensch für Bauwerke in die Gegend stellt… er versucht es doch immer wieder; immer wieder will er den Naturgesetzen trotzen, ihren Gewalten die Stirn bieten, zeigen, dass er es besser kann als sie… und muss sich doch immer und immer wieder eines Besseren belehren lassen. Und diese Lektionen… sind fast immer schmerzhafte.‘ Dann stand er wieder fest, seine Augen durch die schmalen Schlitze seiner Maske starr auf den Boden geheftet. Autos rasten unter ihm in der Dunkelheit vorbei – Ströme aus weißen und roten Lichtern, die so schnell vorbeizogen, dass sie als leuchtende Wirbel erschienen, die sich die Straße entlang wanden. Reklametafeln blinkten und blitzten, besonders Karaokebars machten durch diese Art von Werbung auf sich aufmerksam – und wirkten doch in ihrer Winzigkeit unglaublich unscheinbar. Hier in dieser Höhe verlor das Nachtleben Tokios seine Hektik, seine Lautheit, alles Grelle und Schrille… und das lag einzig und allein an der Stille. Kein Ton drang an seine Ohren, nichts weiter außer dem Rauschen des Windes, der um die Fassade pfiff und an seinem Mantel zerrte. Der Baron zog ihn etwas enger um sich, dann prüfte er kurz noch den Sitz seiner Maske. Sie würde heute fallen… Allerdings – noch nicht jetzt. Einen letzten Dienst würde ihm das starre, bösartige, weiße Antlitz noch erweisen müssen, ehe sie ihr Ende fand. Shinichi starrte auf das weiße Blatt, ohne die Buchstaben zu lesen. Dann wandte er sich um, sah seinen Vater über einem weiteren Blatt sitzen, emsig kratzte die Feder über das blütenweiße Papier. „Was hast du mit ihm vor…?“ Yusaku fuhr auf. Shinichi hatte sich aufgesetzt, einen Packen Blätter in den Händen, sah ihn fragend an. „Was meinst du?“ Yusaku schraubte den Füller zu, legte ihn beiseite, stand dann langsam auf und trat näher. Shinichi verfolgte jede seiner Bewegungen, setzte sich wieder etwas bequemer hin, als er ein unangenehmes Ziehen in seiner Seite bemerkte. Yusaku steckte sich langsam die Hände in die Hosentaschen, schaute seinen Sohn aufmerksam an. Shinichi warf einen kurzen Blick auf das Manuskript, dann hielt er es in die Höhe. „Er hört sich an, als wolle er Schluss machen. Willst du die Reihe beenden? Warum?“ Der Schriftsteller seufzte leise, ließ sich seinem Sohn gegenüber in einen Sessel sinken, langsam. Dann nahm er die Hände aus den Hosentaschen, legte die Fingerspitzen aneinander, ehe er zu einer Antwort ansetzte. „Erstens, ja- will ich. Und zu deiner zweiten Frage: er hat sein Leben einfach satt, so wie es ist.“ Shinichi lächelte, in seinen Augen blitzte kurz Amüsement. „Tatsächlich? Wann hat er dir das gesagt?“ Yusaku grinste kurz – seine Bartspitzen hoben sich, seine Augen jedoch blieben ernst. Shinichi registrierte das, sagte allerdings nichts. „Wir kennen uns nun schon sehr lange, er und ich…“, begann Yusaku langsam, warf Shinichi einen kurzen Blick zu, fand es zu seinem Erstaunen jedoch unmöglich, ihm länger in die Augen zu sehen. Shinichis Blick ruhte ernst auf seinem Gesicht, jeder Anflug von Erheiterung war verschwunden aus seinen Zügen. Der Schriftsteller schüttelte kurz den Kopf, strich sich durch die Haare. Er starrte auf die Kaffeetasse, die auf dem Tisch stand. Sie war noch halbvoll, und der Geruch von starkem, langsam kalt gewordenem Kaffee kroch ihm in die Nase. Er seufzte. „Weißt du, es mag seltsam klingen, aber als ich als Schriftsteller anfing, da kam er mir nicht vor wie eine… erfundene Figur. Er trat in mein Leben, offen für alles. Ich machte einen Mörder aus ihm. Ich hab ihn im ersten Roman gezwungen, zu töten. Ich hab aus einem kleinen Taschendieb einen Meisterdieb und Mörder gemacht. Er hat es geschehen lassen. Ich denke, anfangs war es ein Problem für ihn…“ Er lächelte müde, blickte kurz auf. „Ich denke wirklich, man merkt ihm in den ersten beiden Bänden seine Unmut, seine Reue an. Später, dann… ich denke, er hatte Blut geleckt. Er sah, was er erreichte, wurde immer skrupelloser. Er führte zwei Leben, wie du vielleicht mitbekommen hast; seine wahre Identität, der Mensch, der er tagsüber war, wurde nie enthüllt. Nachts, allerdings… des Nachts war er der Baron. Er stahl, er tötete, er herrschte. Er ist ein Despot in seinem eigenen Reicht der Dunkelheit, ein Gesetzloser, ein Gejagter und ein Jäger in einer Person.“ Unwillig massierte er sich die Schläfen, als er merkte, wie unangenehmes Pochen sich in seinem Kopf ausbreitete. „Du wirst mich sicher für einen Verrückten halten, dass ich über ihn spreche, wie über einen echten Menschen. Natürlich habe ich ihn erfunden, aber irgendwie… schien er immer ein Eigenleben zu haben. Wir haben miteinander gerungen, und irgendwie bekam ich wohl meinen Willen, ich war schließlich der mit der Feder in der Hand. Eine Zeitlang arbeiteten wir dann Hand in Hand und nun… sind wir wieder an einem Wendepunkt angekommen. An unserem letzten… er will nicht mehr… und ich… ich auch nicht.“ Erneut schaute er auf, sein Blick seltsam starr. „Kein Mensch kann mit solchen Taten leben und glücklich sein. Kein lebender, und kein fiktiver.“ Shinichi lehnte sich zurück, legte das Manuskript beiseite. „Klingt schlüssig.“ „Freut mich, dass du das so siehst.“ Yusaku ließ seinen Kopf los, umfasste mit seinen Händen die Armlehnen des Stuhls, atmete langsam aus. „Aber eine Frage hätte ich doch - was war es konkret, dass ihn… euch… zum Umdenken brachte?“ Shinichi faltete die Hände über seinem Knie, beugte sich interessiert nach vorn. Sein Vater lächelte, als er den Ausdruck unverhohlener Neugierde im Gesicht seines Sohns sah. „Ich denke, du wirst es noch erfahren. Lies einfach weiter.“ Shinichi seufzte. „Lies es einfach zu Ende, Shinichi. Die Geschichte verliert an Reiz, wenn man das Ende kennt, bevor man die Geschehnisse nachvollzogen hat, die darauf hinauslaufen.“ Damit stand er auf, drückte ihm kurz die Schulter und verließ das Zimmer, als er merkte, dass in seiner Tasche sein Handy zu vibrieren begann. Shinichi starrte ihm hinterher, mit dem seltsamen Gefühl, dass er aus dem Buch unter Umständen nicht nur eine Geschichte herauslesen konnte. Yusaku unterdessen trat in die Bibliothek, zog sein Handy aus der Tasche, fluchte lautlos, als er die Nummer sah, die ihm das Display zeigte. Er verschwand hinter ein paar Bücherregalen ans andere Ende des Raums, nahm erst dann den Anruf entgegen. „Was ist?!“, zischte er ins Telefon. Er konnte diesen Lackaffen Absinth am anderen Ende der Leitung fast grinsen hören. „Cognac, es tut mir Leid, Sie in dieser Sache zu behelligen müssen, noch dazu… wo es ja durch und durch die Schuld des Triumvirats ist, dass es überhaupt dazu gekommen ist.“ Er zog die Stirn kraus. Ihm war klar, was Absinth plante. „Fassen Sie sich kurz, Absinth. Meine Zeit ist kostbar.“ Yusaku spähte um die Ecke. Die Tür zur Bibliothek war noch immer geschlossen. „Nun, wie Sie ganz richtig festgestellt hatten, ist das Scheitern der Gefangennahme Ihres Sohns unserer Misskoordination und fehlendem Gespür für Taktik und Strategie zu verdanken…“ Yusaku brodelte innerlich. Er wusste, dass Absinth das absichtlich tat, dieses genüssliche Herumreden um den Kern der Sache; aber er wusste auch, dass, wenn er sich noch weiter darüber aufregte, dies keinesfalls zur Beschleunigung der Angelegenheit führen würde. Er atmete also tief durch. „Ja, ich erinnere mich deutlich. Ihr drei hattet fulminant Mist gebaut. Und zwar derart, dass die Folgen immer noch außerordentlich deutlich zu spüren sind.“ Er seufzte, warf einen Blick aus dem Fenster. Vorm Haus des Professors stand immer noch die Zivilstreife der Polizei. Meguré war gründlich, und nicht willens, noch ein weiteres Risiko einzugehen. „Nun, leider zieht diese… etwas missglückte Operation…“ Der Schriftsteller hielt an sich, etwas zu sagen. „… auch Folgen nach sich, was unsere personelle Aufstellung betrifft.“ „Mhm.“ Yusaku dachte kurz nach. „Um welche Mitglieder handelt es sich konkret?“ „Beaujolais. Es wundert mich, dass Sie fragen.“ Yusaku horchte auf. Das spielte ihm ja unter Umständen ausnahmsweise mal in die Karten. „Ich erinnere mich vage, ihren Namen im Bericht gelesen zu haben.“, meinte er dann kühl, schaute dabei aufmerksam um sich, um eventuelle unerwünschte Mithörer zu entdecken. Absinth lächelte. „Der Bericht, ja. Sie war diejenige, die Ihren Sohn unter ihren Augen aus dem Krankenhaus hat fahren lassen.“ Ein grimmiges Lächeln schlich sich auf Yusakus Lippen. Er für seinen Fall war diesmal über die Unfähigkeit dieser Frau sogar mal dankbar. Anmerken durfte er sich das aber nicht lassen. „Welche Art von Ahndung schwebt Ihnen vor, Absinth?“, meinte er dann langsam. „Was ihren Fall und die daraus folgenden disziplinarischen Maßnahmen betrifft, hätte ich doch gern, dass Sie sich darüber mit uns dreien unterhalten, Cognac. Schließlich wollen wir uns ja durchaus kooperativ und loyal zeigen.“ Eine leise Drohung schwang in diesen Worten mit, und der Schriftsteller wusste genau, worauf sie abzielte. Yusaku beugte sich vor, sah den Gang nach vorne, wo Shinichi immer noch auf dem Sofa mehr hing als saß und sein Manuskript durchging. „Da wir momentan genug zu tun haben, hält das Triumvirat es für sinnvoll, dieser Angelegenheit sofort Aufmerksamkeit zu schenken- je eher die Sache vom Tisch ist, umso besser.“ Die Stimme des Triumviratsmitglieds klang fest, und hörte sich keinesfalls so an, als würde sie Widerspruch dulden. Yusaku überlegte kurz. Tatsächlich wäre es momentan möglich, sich für ein paar Stunden zu verabschieden; Shinichi las, Heiji und Kazuha waren beim Professor und Yukiko würde es nicht auffallen, wenn er sich unter dem Grund, sich kurz mit seinem Verleger zu treffen, aus dem Staub machte. Er musste ihr nur einen Grund nennen… und am besten traf er sich auch wirklich noch mit seinem Verleger, für den Fall der Fälle, dass sie sein Alibi nachprüfen wollte. Also nickte er langsam. „Schön, Absinth. Bereiten Sie alles vor, ich bin in etwa einer Stunde bei Ihnen.“ Heiji fuhr hoch, als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel vernahm. Als er sah, wer das Haus verlassen hatte und auf sein Auto zusteuerte, warf er das Buch, in dem er bis gerade eben gelesen hatte, achtlos neben sich aufs Sofa, sprang auf und rannte in den Flur. Ai warf ihm einen fragenden Blick aus hochgezogenen Augenbrauen zu. Heiji bemerkte ihn gar nicht, sondern beeilte sich, in seine Schuhe zu kommen, griff sich im Laufen seine Jacke, dann hielt er inne, machte vorsichtig die Haustür auf, wartete, bis das Auto an ihm vorbeigefahren war. Dann lief er zu seinem Motorrad, das in der Auffahrt parkte. Kazuha erschien etwas atemlos in der Haustür. „Heiji! Wo willste denn hin?“ Er antwortete nicht, hatte sich bereits auf sein Motorrad geschwungen, die Brille auf der Nase, und erweckte sein Gefährt mit einem Kick zum Leben. Einen Augenblick später war er unter lautem Geratter um die Ecke gebrettert und aus Kazuhas Blickfeld verschwunden. Ratlos starrte sie ihm hinterher. Neben ihr erschien Ai in der Tür, ihre Hände vor der Brust verschränkt, auf ihrem Gesicht ein ernster Ausdruck. Sie ahnte, was Heiji vorhatte. Sie hatte die Brille, die er seit gestern mit sich herumtrug, sofort erkannt, auch wenn man sie in der Tasche seines Hemds fast nicht sah. Ihn verdächtigst du also, Heiji? Ich gebe zu, der Gedanke ist nicht abwegig… Aber wir sollten uns doch wünschen, dass du dich irrst. Für ihn. Heiji hingegen raste durch den Vormittagsverkehr Tokios, versuchte, den blinkenden Punkt auf seinem Radar nicht zu verlieren, und fragte sich gerade ernsthaft, wie Kudô das immer geschafft hatte, mit dem Ding auf der Nase irgendwem zu folgen. Er fand es irrsinnig schwer, gleichzeitig dem Verkehr als auch seinem Ziel die nötige Aufmerksamkeit zu schenken - und noch dazu wollte er Yusaku Kudô nicht zu sehr auf die Pelle rücken, schließlich sollte der Mann nicht mitbekommen, was hier lief. Was er nicht wusste, war, dass Yusaku Kudô natürlich schon lange wusste, dass ihm der beste Freund seines Sohns auf den Fersen war. Zwar war diese erste Konfrontation nicht geplant gewesen, allerdings hatte er schon eine konkrete Ahnung, wie er vorgehen wollte. Auch wenn ihm, das musste er zugeben, die Tatsache, sich um Heiji auch noch kümmern zu müssen, gerade in diesem Moment etwas ärgerte. Als ob ein Schülerdetektiv nicht reichen würde. Er warf einen schnellen Blick in den Rückspiegel, stellte fest, dass er den Jungen aus Osaka nicht sah; also verfolgte ihn der Kerl wohl außerhalb Sichtweite. Das hatte einen Vorteil; er bekam nicht mit, wohin er fuhr, oder wenn er ausstieg und das Fahrzeug wechselte- wenn er schnell war. Ein spöttisches Lächeln schlich ihm auf die Lippen. Heiji Hattori – wenn du wüsstest. Ich bin schon mit allen Wassern gewaschen – nichts, das du tust, kann mich noch überraschen. Dann lenkte er seinen Wagen Richtung Innenstadt. Sein Ziel war das nächste große Einkaufszentrum. Das nächste große Einkaufszentrum mit mehrstöckiger Tiefgarage. Als Heiji das Auto endlich gefunden hatte, war das Objekt seiner Beschattung längst über alle Berge. „Verdammt!“ Ein paar weitere unflätige Schimpfwörter füllten das Parkdeck, die ihm eindeutig entsetzte Blicke einbrachten, sowohl von einem älteren Ehepaar, das gerade nach ihrem Auto fahndete, als auch von einer jungen Mutter, die ihrem Kind schleunigst die Ohren zuhielt. Heiji hingegen ließ sich gegen einen der Pfeiler sinken, die die Decks stützten, und verschränkte die Arme vor der Brust, überlegte. Was suchte Yusaku Kudô hier? War er Einkaufen gegangen? Wenn ja, was? Ihn hier zu suchen kam der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleich. Wenn er hier sein Auto abstellte, um anschließend in die Innenstadt zu gehen, aus welchen Gründen auch immer – eine Metapher für diese Art von Suche kam ihm nicht in den Sinn. Einen Mann mittlerer Größe und mittleren Alters, im Sportsakko in der Innenstadt Tokios zu finden, war wie ein Sechser im Lotto. Selbst einen Elefanten würde man hier nicht so schnell finden, geschweige denn eine Person, die aussah wie ungefähr vierzig Prozent der sich zu dieser Tageszeit in diesem Raum bewegenden Personen. Unwillig drehte er sich um, ging zu seinem Motorrad. Er schätzte es für leidlich sinnlos ein, hier auf den Mann zu warten – er war sich sicher, dass er ihm dann ohnehin nur nach Hause folgen würde. Egal ob Kudôs Vater der Boss war oder nicht – für heute war die Beschattung gelaufen. Yusaku Kudô war über Umwege ins Hauptquartier gekommen. Er hatte sich, nachdem er aus der Kaufhaustiefgarage getreten war, ein Taxi genommen, das ihn in die Nähe des Gebäudes brachte; anschließend hatte er sich von Sharon, wie schon so oft, aufgabeln lassen. Sie war es nun, die ihr Auto die letzten Kilometer zum Hauptquartier lenkte, und sich von Yusaku auf den neuesten Stand bringen ließ. „Beaujolais?“ Sie zog die Augenbrauen hoch, nickte dann aber. „Tja, das wundert mich nicht. As far as I recall, she did really bad. Die Gute hat richtig Mist gebaut.“ Sharon lächelte kurz. „Mist im Sinne der Organisation, to be correct. Was uns betrifft - uns konnte ja nichts Besseres passieren, als dass sie den guten Shinichi, die lebende Leiche, unter ihren Augen aus dem Krankenhaus hat fahren lassen. Exceptionally stupid, indeed.“ Sie parkte ihren BMW schwungvoll ein. Yusaku griff unwillkürlich nach der Armlehne, sah sie an. „Allerdings. Er wär sonst tot.“ Fahrig strich er sich übers Gesicht. Ihr war das Lächeln von den Lippen gebröckelt; ernst sah sie ihn nun an – ein Ausdruck auf ihrem Gesicht, den man bei ihr nicht gewohnt war. Ein Ausdruck, der die alte Sharon verriet, die sie sonst so sorgsam versteckte. „Yusaku, that mustn’t ever happen again. Nie wieder darf das Triumvirat etwas solches tun - nie wieder darf es so hinter deinem Rücken entscheiden. Or else, he’ll be dead without our notice. Wir werden sonst nur noch seine Beerdigung mitbekommen.” Er nickte nur, stieg wortlos aus, schritt gemessenen Schrittes über den Hof. Hinter sich hörte er kurz die Zentralverriegelung des BMW klicken, dann folgte ihm das abgehackte Stakkato von Sharons High Heels über die großen, grauen Betonpflastersteine. Unwillig ließ er seinen Blick nach oben schweifen. Von außen betrachtet sah das Gebäude aus wie eine stillgelegte Fabrik. Eine überaus hässliche, stillgelegte Fabrik, ein schmuckloser, schwarzgrauer Betonklotz mit Fensterbändern und Flachdächern. Eine weitere Bausünde, wie sie in Japans Landschaft leider zu oft anzutreffen war. Was für ein Ameisennest sie beherbergte, war keinem bewusst, der das Bauwerk aus der Ferne – oder auch aus der Nähe sah. Erst, wer es betrat, bekam eine Ahnung von den Geschäften und der Geschäftigkeit, die ihm innewohnten. Allerdings kam kein Unbefugter je so weit. An den Haupteingangstoren standen Mitglieder der Organisation in Pförtner- und Wachmannuniform, um jeden abzuwimmeln, der sich doch hierher verirrte - mit dem Hinweis auf die Lagerung von Gefahrenstoffen ließ sich für gewöhnlich jeder noch so neugierige Wanderer loswerden. Und für die Behörden war das hier auch nichts anderes – ein Lager und eine Entsorgungs- und Aufbereitungsanlage für Altöl und ähnliches. Mit ein paar Mitgliedern der Organisation in den entscheidenden Positionen und ein paar Millionen Yen Bestechungsgeldern jährlich ließ man sie hier ganz gut in Ruhe – dort, wo man überhaupt noch von ihnen wusste. Für alle anderen war dieses Gebiet hier ohnehin ein weißer, beziehungsweise grüner Fleck auf ihrer Landkarte. Was ihn betraf - für die Mitglieder, die ihn sahen, war er einer der ihren; keiner wusste von seiner Identität als Boss, keiner ahnte, dass er die vielbeschworene und ominöse, gefürchtete „graue Eminenz“ war. Der Verein hier war mit den Jahren so groß und damit so anonym geworden, dass längst nicht mehr jeder jeden kannte. Auch Beaujolais kannte ihn nicht. Sie würde ihn auch nicht kennenlernen. Ganz davon abgesehen pflegte er eher selten den Haupteingang zu benutzen; er bediente sich mit Vorliebe der Geheimgänge, und er kannte sie alle. Heute jedoch steuerte er den nächsten Eingang an, den er sah. Er hatte es eilig, und sich durch die Geheimgänge bis in die Chefetage winden, das stahl Zeit – es musste heute reichen, wenn er den Rest ungesehen zurücklegte. Er zückte seinen Ausweis, wurde vom Pförtner durchgewunken, genauso wie Sharon hinter ihm. Dann eilte er den Gang entlang, zum nächsten Aufzug. Wie immer blitzte alles vor Sauberkeit; die hausinterne Putzkolonne arbeitete ordentlich und in Schichten. Ungeduldig drückte er auf den Knopf, um den Lift zu rufen, warf dabei Sharon einen ernsten Blick zu. Sie erwiderte ihn nicht, starrte stattdessen auf die Aufzugtüren mit ihrer Oberfläche aus gebürstetem Stahl, als könne sie sie per Telekinese dazu zwingen, sich zu öffnen. Als wenige Augenblicke ein leises ‚Ping!‘ die Ankunft der Kabine ankündigte und die Türen fast lautlos beiseite glitten, traten sie ein, drehten sich um und stellten sich beide mit dem Rücken gegen die Wand. Yusaku starrte nach draußen, während Vermouth mit der flachen Hand auf die gewünschte Etage klatschte. Etwa bei der Hälfte der der Fahrt hielt sie den Aufzug an. Yusaku zog einen Schlüssel hervor, hebelte mit einer geschickten Bewegung die Bedientafel auf und steckte den Schlüssel in das dafür vorgesehene Schloss. Hinter ihnen klickte es mechanisch, und er wusste, dass der Schließmechanismus betätigt worden war. Sharon griff nach der Rückwand, die ein Stück vorgesprungen war, und zog sie auf; dahinter erstreckte sich ein weiß gekachelter Gang. Yusaku zog den Schlüssel ab und klopfte die Schalttafel wieder fest, ehe er in den Gang trat und die Tür eilig hinter sich schloss. Sie würde allein nach oben fahren und den gewöhnlichen Weg zu ihm ins Büro nehmen. Je weniger Aufmerksamkeit sie beiden vom Triumvirat auf sich zogen, umso besser. Wenige Minuten später und ein paar Treppen höher betrat er sein Büro, das, wie er erfreut feststellte, verschlossen und leer war, ganz so, wie er es zurückgelassen hatte. Allerdings verrieten ihm Stimmen vor der Tür, dass schon jemand auf ihn wartete. Er seufzte, trank einen Schluck Wasser aus einer Flasche, die er sich aus dem Kühlschrank der Minibar holte. Dann erst bewegte er sich zur Tür und öffnete sie. Innerlich zählte er bis drei ehe er sich umdrehte und sich zu seinem Schreibtisch zurückbegab. Absinth, Cachaça und Rum betraten den Raum, schlossen die Tür hinter sich. „Meine Herren. Ich hoffe, wir kommen hier heute schnell zu einem Konsens - wie Euch bekannt sein dürfte, bin ich ein beschäftigter Mann.“ Er lächelte zynisch. „Wenn Ihr mir nun also kurz und bündig den Sachverhalt darlegtet?“ Die drei Männer ließen sich ihm gegenüber in die Sessel sinken, tauschten Blicke aus, aus denen sich schwer etwas erkennen ließ. Yusaku lehnte sich zurück, legte seine Fingerspitzen aneinander. „Heute noch, bitte.“ Rum räusperte sich, ein Ton, der wie entferntes Donnergrollen klang. Sein Gesicht war unbewegt wie eh und je, seine ganze Haltung sprach von unaufdringlicher Selbstsicherheit und Gelassenheit. „Wie Sie mittlerweile wissen, Cognac, war das Ziel jener missglückten Operation vor ein paar Tagen im Krankenhaus, den Entflohenen zurückzubringen…“ Yusaku zog seine Augenbrauen zusammen. „Macht euch nicht lächerlich. Ihr habt Gin auf ihn angesetzt, und Ihr wusstet, das er ihn keinesfalls nur zurückbringt…“ „Wir machten keine Angaben darüber, in welchem Zustand er sein würde, wenn er wieder hier ist.“, bemerkte Absinth spitz, lächelte breit. Yusaku lehnte sich vor, lächelte mindestens genauso breit. „Und Ihr könnt von Glück sprechen, Absinth, dass euer Plan missglückt ist - denn hättet Ihr ihn an jenem Abend umgebracht, hätte ich euch wegen eigenmächtigen Handelns mit weitreichenden Folgen vom Dienst suspendieren und entsprechend bestrafen können – und dieser Paragraph bezieht sich eindeutig auf das willkürliche Töten von Mitgliedern oder wichtigen Gefangenen. Ihr solltet euch, bevor Ihr das nächste Mal eine kleine Vendetta an mir plant, oder irgendwelche anderen Intrigen spinnt, das Regelwerk durchlesen, dass unser Miteinander hier gewissen Ordnungen unterwirft.“ Yusaku war aufgestanden, hatte einen dicken Wälzer aus dem Regal gezogen und ließ ihn vor Absinth auf den Tisch fallen, schlug ihn auf, deutete mit dem Finger auf eine Stelle. „Also wäre eure Aktion von vorneherein regelwidrig gewesen, hättet Ihr ihn umgebracht. Und jetzt erzählt mir nicht, Ihr hättet ihn in Watte gepackt nach Hause gefahren. Dafür wäre Gin nämlich, und das wisst Ihr, nach der Vorgeschichte der beiden, der falsche Mann gewesen. Aber darum…“ Er schlug das Buch mit einer eleganten Handbewegung geräuschvoll zu, bemerkte mit Genugtuung die steinernen Mienen des Triumvirats. „… geht es ja jetzt nicht. Es geht um Beaujolais, die Ihr, wenn ich das Recht verstehe, wegen ihres Versagens bestrafen wollt – ich stimme euch zu, so ein kapitaler Fehler, der ihr unterlaufen ist, sollte tatsächlich nicht passieren, bei einer echten Operation wäre das indiskutabel. Was schlagt Ihr also vor?“ Shinichi lag Rücklings auf dem Sofa, starrte an die Decke. Neben ihm auf dem Boden lag der Papierstoß, den er nun vollständig durchgelesen hatte. Er kannte das Ende noch nicht; er wusste, sein Vater hatte noch ein paar Kapitel vorgeschrieben, aber noch nicht getippt, und so sehr ihn auch seine Neugier dazu trieb, so sah er sich doch vor, die Blätter anzurühren. Er wollte kein entgegengebrachtes Vertrauen enttäuschen. Außerdem… was er bis jetzt zu lesen bekommen hatte, gab ihm ohnehin schon genug zu denken. Unwillkürlich zog er die Augenbrauen zusammen, schloss die Augen. Irgendwie hatte ich die letzten Tage über das Gefühl, als würde er mir ausweichen… wenn er mit mir spricht, kann er mich nicht lange ansehen; wenn es geht, spricht er mich gar nicht erst an. Bis vorhin… Kurz dachte ich, jetzt erfahre ich etwas über ihn. Als er mir erzählt hat, wie er schreibt, wie er den Baron der Nacht erfunden hat. Aber selbst dann… dann weicht er wieder aus. Gibt auf keine Frage eine Antwort, und verzieht sich so schnell es geht. Er fragt mich nicht nach meiner Meinung, er fragt nicht, wie’s mir überhaupt geht. Er erzählt mir nichts von sich, nichts von uns. Und ich frage mich… warum…? Dann roch er den Duft von Rose und Sandelholz, öffnete die Augen. Wie er erwartet hatte, hatte sich seine Mutter über ihn gebeugt. In den Händen hielt sie zwei Teller mit je einem Sandwich, reichte eins ihrem Sohn. „Da dein Vater gerade mal wieder abgedampft ist, dachte ich, wir kochen abends und behelfen uns jetzt mit einem Snack.“, meinte sie, als sie sich neben ihn niederließ. Shinichi rutschte bereitwillig ein Stückchen beiseite. „Macht er das öfter?“ „Hm?“ Yukiko hatte gerade ein Stückchen von ihrem Sandwich abgebissen, sah ihn fragend an. „Naja… du sagtest, er wäre mal wieder abgedampft. Daraus schließe ich, er macht das wohl öfter.“ Er sah sie an, führte dann sein Brötchen zum Mund und biss hinein, ließ sie jedoch nicht aus den Augen. Seine Mutter kaute bedächtig, ließ dann den Teller in ihren Schoß sinken, wandte den Blick ab. Ein betrübter Ausdruck machte sich auf ihrem Gesicht breit. Shinichi stellte sein Teller ab, beugte sich vor. „Ist etwas? Hätte ich… nicht fragen sollen, ich meine…“ Er wurde rot, geriet ins Stottern. Yukiko sah ihn an, merkte, in welche Richtung seine Gedanken ging, kam nun nicht umhin, doch kurz zu kichern; allerdings wurde ihre Miene sofort wieder ernst. „Wenn du meinst, er hat eine andere… nein. Nein.“ Sie lächelte kurz. „Nein. Das ist es nicht… und eigentlich verschwindet er nicht einfach so, nicht so häufig. Diesmal hat er zwar gesagt, er müsste kurz zu seinem Verleger, was nicht unwahrscheinlich ist, eigentlich… aber er war die letzten Tage so oft einfach mal weg, unauffindbar, auf unbestimmte Zeit, dass es mir schwerfällt, ihm das jetzt zu glauben.“ Ein leises Seufzen kroch ihr über die Lippen. „Du denkst also, er verheimlicht dir was?“ Sie wiegte langsam den Kopf, ihr Gesicht verriet ihren Unwillen deutlich. Sie kaute auf ihrer Lippe, verschränkte die Arme vor der Brust. „Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber ja. Irgendwie schon.“ „Dann sind wir schon zu zweit.“ Shinichi starrte auf die Tischplatte, wo sein Sandwich stand – der Appetit war ihm irgendwie vergangen. Yukikos Kopf war herumgefahren, ob der Aussage ihres Sohns, sah ihn erstaunt an. „Wie kommst du darauf?“ Shinichi fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. „Nun, ich meine, ich weiß, ich bin momentan schwer zu ertragen. Ich erkenn euch nicht, ich bin misstrauisch und skeptisch, ich fühl mich fremd, und ich denke, ihr merkt das.“ Er lächelte traurig. „Dabei bemüh ich mich, das hier für alltäglich zu finden, mich zu gewöhnen, aber es geht nicht. Aber im Gegensatz zu dir, die sich ständig kümmert, die nach mir sieht, mich fragt, wie’s mir geht, mir erklärt und erzählt… sagt und tut er nichts von sich aus. Gut, ich mach auch nichts, weil ich nicht weiß, wie weit ich gehen kann. Ich weiß ja nichts mehr über unser Verhältnis. Aber irgendwie… dachte ich doch, das wär anders. Ich dachte, er erzählt mir von sich. Von unserer Beziehung. Er fing erst zu sprechen an, als ich ihn über seinen Roman fragte, und da hatte ich das Gefühl hinterher, dass er jetzt bereut, mir so viel gesagt zu haben. Ich werd nicht schlau aus ihm. Ich dachte, es läge nur an mir, aber wenn du auch sagst, du hättest Veränderungen bemerkt- vielleicht täusch ich mich ja doch nicht…?“ Er beugte sich vor, warf ihr einen fragenden Blick zu. „Klingt das wirr?“ „Nein.“ Yukiko schüttelte den Kopf. „Ich meine, ich kann bestätigen… so sehr wir uns alle bemühen, die Situation ist komisch. Schwer. Und ich muss gestehen… es ist fast unerträglich, dich anzusehen, und in deinen Augen nicht den leisesten Funken von Erkennen zu sehen…“ Sie merkte, wie ihre Stimme brach. Er biss sich auf die Lippen, wandte den Kopf ab. Yukiko schluckte, rang kurz mit sich. „Aber er kommt mir auch anders vor… bedrückter. Als trage er ein Geheimnis mit sich rum, etwas… Schlimmes.“ Shinichi starrte auf die Tischplatte. „Tun wir das nicht alle?“ Yukiko warf ihm einen Blick von der Seite zu, stellte dann ebenfalls ihren Teller ab. „Du wolltest andere beschützen damit, Shinichi.“ Er blickte sie aus den Augenwinkeln an. „Das entschuldigt doch nichts.“, meinte er dann leise. „Ganz ehrlich, das entschuldigt doch rein gar nichts. Es entschuldigt nicht diese riesige falsche Identität, und auch nicht den Traum vom Leben als Meisterdetektiv, den ich Herrn Mori hab träumen lassen, es entschuldigt nicht die unzähligen Lügen die ich Ran aufgetischt hab, es entschuldigt nicht… die vielen Momente, an denen ich das blinde, naive Vertrauen anderer ausgenutzt hab oder euch Kummer und Sorgen bereitet hab. Kein Geheimnis der Welt kann das wert sein. Ich meine, hätte es nicht irgendeinen anderen Weg geben können? Bin ich mir mit meinem Ego einfach nur im Weg gestanden? Hätte ich nicht einfach mal um Hilfe bitten sollen…?“ Er sah sie nun direkt an. „Die Wahrheit sagen, meine Scham und mein angekratztes Ego, meinen Ehrgeiz über Bord werfen, und um Hilfe bitten?!“ Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit. „Und deshalb kann ich ihm Nachhinein nicht verstehen, wie man so etwas machen kann. Wie man seine Familie, seine Freunde, alle die man liebt, gleichzeitig in Gefahr bringen kann, und sie dann auch noch im Unwissenden lässt, mehr noch - bewusst anlügt. Betrügt. Hintergeht.“ Er biss sich auf die Lippen. „Will ich denn so ein Mensch sein…?“ Yukiko starrte ihn sprachlos an. Beaujolais schreckte hoch, als jemand ihr Appartement betrat. Sie war gerade dabei gewesen, den Bericht über ihre missglückte Operation zu lesen; dabei hatte sie sich die Unterlippe zerkaut, was die Lippenstiftspuren auf ihren Zähnen und der fehlende Lippenstift auf ihrer Lippe nur zu deutlich verrieten. Im Türrahmen, das erkannte sie nun, stand Gin. Hinter ihm, im Neonlicht des Flurs, stand Wodka. Die rothaarige Frau stand auf, langsam, merkte, wie ihre Hände kalt wurden. „Das Nachspiel.“, presste sie dann hervor, merkte, dass ihre Stimme auffällig hoch klang, ihre Angst verriet. Gin nickte nur, konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen, als er in ihre vor Furcht geweiteten Augen sah. Er genoss das, das wusste sie. „Was… haben die nun vor?“ „Nichts, worüber sie dich in Kenntnis setzen wollen, Beaujolais.“ Seine Stimme klang kalt wie eh und je. Dann trat er zur Seite, bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, auf den Gang hinauszutreten. Sie merkte, wie weich ihre Knie geworden waren. Und zum ersten Mal fühlte sie am eigenen Körper, wie es all jenen ging, die auf einmal auf der anderen Seite standen - auf der, die der Organisation gegenüber lag. Sie fragte sich, ob er sich genauso gefühlt hatte, als klar war, dass es für ihn keinen Ausweg mehr gab - auch wenn er immer doch noch einen gefunden hatte. Eine kleine Ritze, durch die er sich gequetscht hatte, ein noch so kleines Schlupfloch, durch das er gekrochen und entkommen war. Er, wegen dem sie nun in dieser Lage war. Kudô. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)