Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 43: Kapitel 25: Unruhe ------------------------------ Aloha! Ihr seht hier, Zeugnis meines guten Willens – eine Woche ist verstrichen und das neue Kapitel ist da! Ich bemüh mich echt, nicht nochmal so ne lange Pause einreißen zu lassen, aber manchmal… funktioniert das nicht. In diesem Sinne, meinen herzlichsten Dank für die vielen Kommentare zum letzten Kapitel, ich war echt baff! Beste Grüße, viel Spaß beim Lesen!!! Eure Leira ________________________________________________________________________________ Kapitel Fünfundzwanzig: Unruhe Auf dem Heimweg war ihnen die halbe Polizei Tokios entgegengekommen. Shinichi erinnerte sich lebhaft an das Meer blinkender roter Lichter in der Dunkelheit der Nacht auf der Landstraße, das sich ihnen entgegenschlängelte wie eine Perlenkette, zuckend und grell. Er hatte gemerkt, wie die Knöchel seines Vaters weiß hervorgetreten waren, als er das Steuer immer fester umklammerte, das Lenkrad mit seinen Fingern regelrecht umkrampfte. Ihm tat jetzt noch das Kiefer weh davon, wie sehr er seine Zähne zusammengebissen hatte und sich beherrscht hatte, um nichts zu sagen. Nicht, so lange Ran noch im Fond saß; auch wenn sie langsam einnickte, wie er bemerkte, als er einen Blick nach hinten geworfen hatte. Das war heut ein langer Tag für dich, nicht wahr…? Wahrscheinlich ist auch das Schlafmittel noch Schuld. Aber etwas Schlaf sollte dir ohnehin ganz guttun… Sie war kurz wach geworden, als sie anhielten, um Entwarnung zu geben, hatte sich nach vorn gebeugt und ihr Kinn auf der Schulterlehne des Beifahrersitzes gestützt. Den sanften Hauch ihres Atems spürte er immer noch an seinem Ohr. Shinichi schluckte, massierte sich mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger seiner rechten Hand die Stirn. Die Erleichterung war den Polizisten ins Gesicht geschrieben gestanden; da sein Vater ihnen aber nicht sagen konnte, wo das Hauptquartier war, weil er ja nur in den Wald gefahren war um sie zu suchen – Shinichi hatte an der Stelle wirklich, wirklich aufpassen müssen, nicht laut zu lachen oder auch nur bitter zu lächeln – waren sie, hinten und vorne eskortiert durch Polizeistreifen, nach Hause gefahren. Das war der Zeitpunkt gewesen, an dem auch er langsam müde geworden war. Man hatte ihn nicht angesprochen, und sein Vater, das ahnte er, würde den Teufel tun, etwas zu sagen. Und Ran – tja, Ran war tatsächlich eingeschlafen, noch während sein Vater draußen kurz mit Meguré gesprochen hatte. In diesem Moment, als er sie hinter sich leise Murmeln hörte, und bemerkte, dass sie wieder ins Polster der Rückbank gesunken war und schlummerte, hatte er sich eingestehen müssen, dass sie wirklich süß aussah, wenn sie schlief. Und dass sich das alles gelohnt hatte. Solange sie nur glücklich war, und unversehrt. Angesichts der also sehr offensichtlichen Tatsache, dass sowohl Ran, als auch Shinichi einigermaßen fertig mit der Welt aussahen, beließ man es für die Nacht mit der erfreulichen Wendung, die beiden Jugendlichen heil und am Leben zurück zu wissen. Ran war dann mit ihrem Vater nach Hause gefahren; sie war kaum wach geworden, als ihr Vater sie in sein Auto gehoben hatte. Er hatte es nicht über sich gebracht, mit Shinichi zu sprechen; schlicht und ergreifend, weil er nicht wusste, ob er sich bedanken sollte, dafür, dass er seine Tochter wieder hatte, oder er ihm den Kopf abreißen sollte, dafür, dass er sie überhaupt erst in solche Gefahr gebracht hatte. Allerdings hatte, und das war auch dem jungen Detektiv aufgefallen, Kogorô ihm länger ins Gesicht geschaut hatte, als es nötig gewesen wäre. Und er fragte sich, ob er etwas ahnte. Ob man es ihm ansah… Ob in seinen Augen etwas zu lesen war, das er nicht verheimlichen konnte. Shinichi selber hätte ihm Stehen schlafen können. Er hatte sich auch jetzt nicht über sein wiedergefundenes Gedächtnis geäußert, und sein Vater tat es auch nicht. Er wollte seine Ruhe, wollte sich erst einmal selber über die Dinge klar werden, ehe er sich diesem ganzen Mist würde stellen müssen. Die vielen Fragen beantworten würde müssen. Antworten auf Fragen geben, von denen er nicht wusste, ob er sie geben wollte. Entscheidungen treffen musste, von denen er nicht sicher war, ob er das konnte. Überhaupt... Allerdings, dessen war er sich ziemlich sicher, hatte Ai es bemerkt. Der Blick in ihren Augen hatte mehr gesagt als tausend Worte. Sie hatte es gespürt. Und er dankte ihr im Stillen, dass auch sie nichts gesagt hatte. Und nun lag er im Bett, todmüde, und doch irgendwie auf einmal viel zu aufgewühlt, um Schlafen zu können. Erst jetzt, da alles still und ruhig war, drangen all die Fragen auf ihn ein, die sich stellten, hörte er sie in seinen Ohren rauschen, spürte sie in seinen Fingern prickeln, in seinem Magen rumoren. Und diese Bilder vor seinen Augen. Jetzt, da er wieder wusste, was passiert war. Jetzt… Er atmete aus, tief. Langsam wurde ihm erst wieder klar, in welchem Dilemma er tatsächlich steckte. Er wusste, er konnte nur noch bis morgen geheim halten, dass er sein Gedächtnis wieder hatte; bis Ran aufwachte. Sein Vater würde ihn sicher nicht verraten, aber Ran – Ran würde die freudige Nachricht sofort verbreiten wollen. Ran. Er geriet ins Grübeln. Dachte an den Blick in ihren Augen, als sie erkannt hatte, dass er wieder zurück war; im Verhörraum. Dachte an das kurze Gespräch im Büro seines Vaters in der Chefetage; er wusste, was sie hören wollte. Eigentlich gab es auch nichts, das er ihr lieber sagen wollte. Nichts wünschte er sich mehr, als morgen einfach aufzuwachen, all seine Probleme gelöst vorzufinden, und ihr endlich, endlich sagen zu können, was er für sie empfand. Ich liebe dich. Wirklich, weißt du… aber ich weiß nicht, wann der Zeitpunkt kommt, es dir auch zu sagen… Er würde ihr alles erzählen, solange er sie glücklich machte damit. Nur diese drei Worte kamen ihm nicht über die Lippen, nicht jetzt. Noch nicht. Und dabei, das wusste er, wartete sie nur darauf; jetzt noch mehr als je zuvor, weil sie es doch wussten. Sie wussten beide, was sie füreinander empfanden. Aber erst, wenn sie es aussprachen, dann würde es… echt sein. Erst ab dann galt es. Aber… Angesichts der Entwicklung, der Umstände, in denen er immer noch steckte, war es da schlau, jetzt eine Beziehung mit ihr anzufangen? War er überhaupt fähig für so etwas? Und dennoch wollte er. Am besten jetzt gleich. Er schluckte, als er sich an jene Nacht erinnerte, als er nach seiner Flucht aus dem Krankenhaus in der Küche der Môris auf sie gestoßen war. Es ist der schiere Wahnsinn, was diese Gefühle mit einem anstellen. Shinichi seufzte, massierte sich die Schläfen. Das Gefühl, sie in den Armen zu halten, die Wärme ihres Körpers zu spüren, ihren Atem auf seinem Gesicht… und erst der Kuss. Er merkte, wie es auf seinen Lippen leicht zu kribbeln anfing. Wie gerne würde er das wiederholen, am besten jetzt gleich. Und es noch einmal spüren, dieses absolut irre Gefühl, von ihr geliebt zu werden. Es nicht nur zu ahnen, zu wissen, sondern es zu spüren, mit jeder Faser seines Körpers und jedem Gedanken seines Seins, einzig und allein in dem Augenblick, wenn sie sich an ihn drückte, ihre Finger in sein Hemd krallte und ihn an sich zog. Ein erneuter, noch lauterer Seufzer entfloh seinen Lippen, befreite sich aus einem irgendwo tief in seiner Brust gelegenem Ort. Er konnte sie vor sich sehen, ihr lächelndes Gesicht, ihre strahlenden blauen Augen; er konnte fast den Duft ihrer Haare riechen. Dann presste er die Lippen aufeinander uns schallt sich einen Idioten. Verdammt hör auf damit! Hör. Auf. Du hast momentan etwas Dringenderes zu tun… Allerdings gab es jetzt erst einmal ganz andere Probleme zu klären – nämlich seine nächsten Schritte in diesem Fall. Was sollte er machen? Sollte er seinen Vater denunzieren? Meguré anrufen und ihm die Wahrheit erzählen über einen seiner besten Freunde, über Yusaku Kudô? Sollte er ihn belasten, ihn in den Knast bringen, vor ein Gericht – das ihn zum Tode verurteilen würde? Er merkte, wie sein Innerstes zu Eis erstarrte. Ich könnte sein Todesurteil unterschreiben. Jetzt gleich. Was tu ich da eigentlich? Was soll ich Mutter sagen? Sie weiß wohl… noch gar nichts, von allem… Was hatte seinen Vater überhaupt dazu getrieben? Wollte er das eigentlich wissen? Was sollte er tun? Er brauchte eine Strategie für morgen… er musste wissen, wie er den anderen entgegentrat… was er der Polizei erzählte, und was nicht. Wie er diese Organisation ausheben konnte, restlos und endgültig. Dass er vor einer gewaltigen Aufgabe stand, das ahnte er. Verdammt, was mach ich? Was mach ich? Ich kann ihn nicht hinhängen, noch nicht, nicht, bevor ich nicht alles weiß, bevor ich einen Plan habe, bevor ich… Sherlock Holmes hat auch nie vorschnell mit Fakten und Theorien um sich geworfen, nicht, bevor er nicht das Bild als Ganzes sah… aberich seh hier nur Teile. Durcheinandergeworfen, mit dem Gesicht nach unten, nicht erkennbar und zum Teil noch verschollen. Das Bild hat immer noch weiße Flecken, Lücken, die muss ich erst füllen, bevor ich eine Entscheidung treffe, die so schwerwiegende Folgen hat… Aber trotzdem… …muss ich morgen der Polizei etwas erzählen… Sie werden kommen, sicher… Er wälzte sich unruhig auf die Seite, schluckte, merkte, wie ausgetrocknet sein Mund war. Sein Blick blieb an den beiden Gegenständen hängen, die neben ihm auf dem Nachttisch lagen; die Festplatte und der Brief von Sharon. Ihn würde interessieren, was aus ihr geworden war; er fürchtete allerdings, dass sie den Tatsachen ins Auge sehen mussten. Sharon… Chris… Vermouth… oder wie auch immer sie geheißen hatte, hatte diese Nacht kaum überleben können. Wenn sie nicht im Gefecht gestorben war, dann hatte man sie sicher hingerichtet als Verräterin. Shinichi schluckte, stellte zu seiner Überraschung fest, dass ihm das Schlucken außergewöhnlich schwer fiel, bei dem Gedanken, dass sie vielleicht tot war. Überhaupt… fühlte er sich momentan leicht planlos und etwas überfordert. Er hatte keine Ahnung, wie er weitermachen sollte; nun, da wer wusste, was gewesen war. Wer sein Vater war. Er ahnte, dass das Gespräch mit ihm unausweichlich war; immerhin hatte der ihm ja vor ein paar Tagen versprochen, ihn anzuhören. Sich alles anzuhören, was er ihm vorzuwerfen hatte, und das würde nicht wenig sein. Aber war er bereit, sich denn anzuhören, was er ihm zu erzählen hatte? Wollte er die Geschichte hören, die Yusaku Kudô zu dem gemacht hatte, wer oder was er war? Er merkte, wie in ihm wieder Wut hochkochte. Du hast mir mein Leben versaut, verdammt… Sowas hab ich nicht verdient, und Mutter auch nicht. Warum zum Henker hast du das getan? Warum hast du dich an ihre Spitze gesetzt? Einen guten Grund kann es dafür doch gar nicht geben… Gut, wahrscheinlich… warst du vielleicht in einer ähnlichen Situation wie ich. Aber es ist das eine, sich einmal diesem Druck zu beugen. Über zwanzig Jahre eine Organisation zu führen, die mordet, stiehlt, erpresst und betrügt, das… ist etwas anderes. Warum hast du nichts getan? Verdammt, warum… Warum hast du nie etwas getan… warum hast du nie etwas gesagt…? Mittlerweile war er wieder hellwach; Adrenalin strömte durch seine Adern, und er fragte sich beinahe, wie er angesichts diesen Problemen und dieser gewaltigen Aufgabe überhaupt an Schlaf hatte denken können. Seine Augen hafteten immer noch auf der Festplatte. Vielleicht wäre das ein Mittel, ein paar weiße Flecken zu füllen. Auch wenn ich am liebsten einfach nur meine Ruhe hätte – am besten doch gleich wieder alles vergessen möchte… sollte ich mir das mal ansehen. Allzu viel Zeit kann ich mir nicht lassen… die wissen, dass ich wieder alles weiß, die wissen, wer Vater ist, ich fürchte… die Reaktionszeit wird nicht lange sein. Der Gegenschlag wird bald kommen… und wir müssen dem zuvor kommen. Aus der Nummer komm ich nicht raus. Und sie verlässt sich auf mich. Silver bullet. Aus irgendeinem Grund traut sie mir das zu. Er lächelte bitter. Weiß der Geier, warum. Unwillig schälte er sich aus dem Bett; anscheinend kam er doch noch nicht so schnell zum Schlafen. Er griff nach der Festplatte, schlüpfte in einen Hausmantel und schlich sich leise aus seinem Zimmer, die Treppe runter, ins Arbeitszimmer. Schaltete den PC ein und stöpselte die Festplatte an, wartete, bis er auf die Daten zugreifen konnte, unterdrückte ein Gähnen. Das blaue Licht des Bildschirms tauchte den Tisch und seine Hände in gespenstisches Licht. Er merkte, wie sein Puls zu rasen anfing, als er die Festplatte öffnete, sich die Ordner anzeigen ließ. Las die Titel der einzelnen Dateiordner, und merkte, wie ihm das Blut in den Adern zu gefrieren schien. APTX 4896 – Stand Atsushi und Elena Miyano APTX 4896 – Stand Shiho Miyano Versuchsperson a_Sharon Vineyard Versuchsperson b_Alan Vineyard_(†) Fall_Miyano Fall_Starling Fall_Hondo Fall_Kudô Shinichi schloss die Augen, fuhr sich mit eiskalten, schweißnassen Händen über sein Gesicht. Sein Puls raste. Fall Kudô. Dann zwang er sich, die Augen wieder zu öffnen, riss sie weiter auf als Nötig, um die restlichen Ordnernamen zu lesen. Neben ein paar weiteren „Fällen“ beinhaltete die Festplatte noch die Kassenberichte, Mitgliederlisten und Lagepläne der Gebäudestruktur sowie Grundrisszeichnungen. Dann klickte er auf die Akte Fall_Miyano, öffnete sie; seinen eigenen Fall zu öffnen brachte er nicht über sich. Wahrscheinlich würde ihn dort nichts neues erwarten, aber sich selbst als wissenschaftliches Experiment auf einer Festplatte zu finden bereitete ihm doch einigermaßen großes Unbehagen. Zwei Unterordner kamen nach dem Doppelklick auf „Fall Miyano“ zum Vorschein; er klickte auf den ersten, und fand eine minutiöse Auflistung der Forschungsergebnisse, ein genaues Protokoll über die Beschlussfassung der Ermordung des Ehepaars Miyano, sowie den genauen Verlauf der Exekution, und eine wasserdichte „Unfall“-Version für die Hinterbliebenen. Dazu noch ein paar Berichte, die erst zu der Ermordung des Ehepaars geführt hatten. Einer davon war von Scotch. Reporting Member: Scotch Forschungsbericht „Operation Jungbrunnen“ Medikament: APTX 4869 Atsushi und Elena Miyano zeigen in den letzten Wochen leider unerfreulichen Widerstand gegen die weitere Erprobung des sich in der Entwicklung befindlichen Apoptoxins. Ziel des Gifts ist nach wie vor eine dauerhafte Verjüngung des Menschen zu erreichen; bis dato reicht es leider nur als hervorragendes Mittel zur spurenlosen Liquidierung. Das erste freiwillige Testsubjekt (Alan Vineyard) ist nach kurzer Zeit an den Folgen des Giftes gestorben, weshalb einige Modifikation vorgenommen werden mussten. Nach vielversprechenden Testreihen an Mäusen wird nach einem zweiten Testsubjekt gesucht; allerdings sträuben sich die Miyanos, weitere Versuche am Menschen durchzuführen. Ich schlage daher vor, diese Arbeitsbehinderung durch ein Abziehen des Ehepaars Miyano vom Fall zu beheben. Da die beiden Forscher merkliche ethische Skrupel, was die Arbeit unserer Organisation generell betrifft zeigen, schlage ich vor, das Ehepaar dauerhaft handlungsunfähig zu machen. Ergebenst, Scotch Darunter die handschriftliche Notiz. Bewilligt, Cognac Seine Haare stellte sich auf. Dann klickte er eifrig weiter, um sich nicht zu lange mit seinen persönlichen Problemen aufzuhalten. Es folgte ein Zeitungsartikel über den Unfall der Miyanos, gefolgt von einem Exekutionsbericht, der den Unfall ad absurdum führte; Shinichi überflog ihn, merkte, wie ihm flau im Magen wurde. Shihos Eltern… wurden wirklich ermordet… Und er hat es gestattet. Er hat… Er überwand sich, klickte sich weiter durch die Ordner. Der zweite Unterordner dieser Akte befasste sich mit der Ermordung Akemi Miyanos. Seine Augen blieben an einer Passage hängen. Er schluckte schwer, als er die Zeilen las. … aufgrund des hohen Störpotentials durch Akemi Miyano, das sich als arbeitsschädlich auf das Werk ihrer Schwester Shiho auswirkt, wird mit der heutigen Sitzung die Liquidierung Akemi Miyanos beschlossen. Das Vorgehen ist folgendes: Miyano A. wird mitgeteilt, dass sie ihre Schwester freikaufen könne. … Die Geschichte kannte er. Shinichis Augen glitten nach unten. Der Auftrag zur Liquidierung wird dem Mitglied Gin übertragen. Beschlossen durch: Darunter waren vier Unterschriften zu sehen. Absinth. Rum. Cachaça. Cognac Eindeutig die Schrift seines Vaters. Ihm wurde schlecht. Shinichi stieß sich vom Tisch ab, stand auf, ging ein paar Schritte zurück, atmete schwer. Immer wieder strich er sich mit den Händen durch die Haare. Dann schluckte er hart, ging zurück, setzte sich an den Tisch. Nach ein paar weiteren tiefen Atemzügen griff er wieder nach der Maus. Im Anschluss wurden noch ein Foto und eine Sounddatei aufgeführt; er sparte sich, sich das Bild anzusehen; er war dabei gewesen, als sie gestorben war. Akemi. Shinichi schluckte schwer, massierte sich die Schläfen, als er sich der Tragweite dieser ganzen Ereignisse bewusst wurde. Deine Schwester, Shiho, starb, weil mein Vater den Befehl dazu gab. „Verdammt…“ Er schloss die Datei. Das alles war schön und gut; Beweise waren genügend vorhanden, da hatte Sharon nicht gelogen. Allerdings half ihm das noch nicht weiter, was die Zerstörung dieses Syndikats betraf. Dass er sie zerstören musste, war ihm in den vergangenen Minuten so klar wie nie zuvor geworden. Und dafür… waren wohl ganz andere Dinge viel interessanter. Sein Blick fiel auf die Ordner „Mitgliederliste“ und „Lagepläne“. Damit war sicher was anzufangen. Allerdings fragte er sich dennoch, warum ausgerechnet ihm die Ehre zuteilwurde, sich mit der Entsorgung dieses verrottenden Apfels zu beschäftigen. Wenn es so einen Fundus gab, hier, auf dieser Festplatte – warum hatte sie es nicht selbst erledigt? Warum musste er das machen? Seine blauen Augen starrten unfokussiert auf den Monitor. Warum ich? Nur weil ich so ein Gerechtigkeitsfanatiker bin? Nur weil ich nicht in den Knast wandere, wenn ich euch den Garaus mache – wenn ihr es selber tätet, müsstet ihr euch outen, und ihr wärt genauso dran wie eure Mittäter. Aber kann das ein Grund sein? Kann man so feige sein? Ist es deshalb, weil ich bis an die Grenzen gehe… weil es mir egal ist, was aus mir passiert? Übersteht denn so eine Silberkugel den Schuss? Was wird aus ihr, wenn sie getroffen hat? Wird sie ebenso zerstört? Mit Sicherheit wird sie gezeichnet sein… nie mehr so makellos und rein sein, wie sie es war. Auf was hab ich mich eingelassen, Sharon, warum ich? Warum ich? Er seufzte. Wahrscheinlich gab es gar keine echte, logische Begründung. Er hatte den Fehler gemacht, ihr in New York das Leben zu retten, und nun hatte er den Salat. Anscheinend hatte er dermaßen Eindruck geschunden, dass sie seither auf diesen Augenblick hingearbeitet hatte. Sie wusste, er hatte die Vorrausetzungen dafür; er war schlau, er war entschlossen und mutig genug. Oder einfach nur dumm. Ein bitteres Lächeln glitt ihm über die Lippen. Er wusste, er würde es jederzeit wieder tun. Er würde jederzeit wieder jedem Menschen das Leben retten, sofern er in der Lage dazu war. Und er würde auch vor dieser Aufgabe nicht davonlaufen. Es bedurfte wirklich keiner logischen Begründung, um jemanden zu retten. Genausowenig, wie der Kampf gegen ein Verbrechersyndikat wie der Schwarzen Organisation einer bedurfte. Aber braucht es auch keinen Grund… um jemanden zu verzeihen? Er seufzte, dann doppelklickte er auf die Mitgliederliste, öffnete die Worddatei, wunderte sich, warum es ihn nicht wunderte, zahllose prominente Namen zu lesen. Sein eigener war netterweise auch schon darunter. Fast entfuhr ihm ein Lachen, allerdings nur fast. Er druckte die Liste aus, wandte sich dann den Plänen zu. Das ist nun doch schon deutlich interessanter. Vor seinen Augen öffneten sich detaillierte Pläne über die Räumlichkeiten der Schwarzen Organisation. Darunter einige Pläne, die sich mit Geheimgängen befassten; ähnlich dem, den sie zu ihrer Flucht benutzt hatten. Shinichi lächelte. „Interessant.“ Er griff nach einem Blatt Papier, begann sich Notizen zu machen, druckte einzelne Pläne aus. Wollte er diese Organisation ein für alle Mal vernichten, musste er sicher gehen, dass sie alle in diesem Gebäude, am allerbesten in einem Raum, anwesend waren. Langsam manifestierte sich in seinem Kopf ein Ansatz. Wenn so viele prominente Gesichter darunter waren, so viele Personen der Öffentlichkeit, dann reichte es nicht, eine Mitgliederliste zu haben. Diese Leute hatten die besten Anwälte, und so eine Liste allein bewies noch gar nichts – aber sie half ihm, all diese Leute zu kontaktieren. Und das würde er tun. Genau jetzt. Langsam wandelte sich der Schock in Tatendrang, führte ihn heraus aus einer gefühlten Handlungsunfähigkeit von vor ein paar Minuten. Er verließ den Allgemeinbenutzer auf dem Computer, meldete sich ab, und wählte das Profil seines Vaters. Mit etwas Glück fand er hier auch seine… Firmenemailadresse. Und von dieser Adresse aus würde er einen Verteiler einrichten, der alle Mitglieder zu einem Treffen bat. Das Treffen würde einen triftigen Grund brauchen, aber den würde er sich ausdenken – da fand sich sicher etwas Nettes. Shinichi grinste breit. Die Enttarnung ihrer zweiten Identität war so ein Grund. Sie würden wie die aufgescheuchten Hühner angerannt kommen. Und er würde da sein. Allerdings nicht die Polizei. Es war davon auszugehen, dass man die Augen doppelt wachsam offenhalten würde, nun, da er frei war, und sich in der Organisation wohl keiner mehr der Position ihres Chefs sicher war. Für diese Aktion hatte er genau eine Chance; eine zweite würde er nicht kriegen. Gedankenversunken starrte er auf den Bildschirm, als ihn die Anmeldeaufforderung wieder in die Realität zurückholte. Benutzername:_ Passwort:_ Auch bei Professor Agasa brannte noch Licht. Heiji saß mit einer Tasse Kaffee am Tisch, auf seinem Gesicht ein nachdenklicher Ausdruck wie man ihn selten sah; ihm gegenüber Ai und Shuichi Akai. Der Professor war bereits ins Bett gegangen. Heiji jedoch hatte nicht schlafen können, und irgendetwas sagte ihm, dass dieses kleine Mädchen etwas zu sagen hatte. Akai war als Aufpasser abgestellt worden; nun, da die Hütte langsam aber sicher wirklich am Brennen war, hatte man es nicht gewagt, den Professor, das Mädchen und die beiden Jugendlichen aus Osaka allein zu lassen. Vor dem Haus der Kudôs stand eine Polizeistreife, James Black und Jodie Starling waren mit zu den Môris gefahren. Ai schlürfte leise an ihrer heißen Schokolade. „Er weiß es.“, bemerkte sie dann nüchtern. Ihre Stimme klang sachlich, nicht der Hauch einer Emotion war darin zu hören. Sie war ihm unheimlich, und wurde ihm immer unheimlicher. Etwas genervt atmete er aus, provozierte kleine Ringe auf der Oberfläche seines Kaffees. „Wer weiß was? Kannste vielleicht etwas deutlicher werden?“ Ai warf ihm einen kurzen, eindeutig genervten Blick aus Halbmondaugen zu. „Der Blick in seine Augen war zu eindeutig, auch wenn er aufgepasst hat, sich nicht zu verraten. Hast du das nicht gesehen?“ „Weißte, eigentlich kuck ich Kudô so tief nich in die Augen…“, giftete Heiji gereizt. „Also, was is nu?“ Das rotblonde Mädchen schüttelte seinen Kopf. „Das hättest du mal sollen. All die Tage jetzt, waren sie… leer; fragend, suchend, aber leer. Heute aber… war in ihnen nur Chaos. Schmerz, Wut, Hass, Verzweiflung. Eine teuflische Mischung.“ Sie schaute auf. Heiji starrte sie an, presste seine Lippen kurz zusammen. In seinem Gesicht stand die Ungeduld deutlich zu lesen, dahinter drei Ausrufezeichen. Akai lehnte sich zurück, ließ dabei die Straße vor dem Fenster nicht aus den Augen. „Er hat seine Erinnerungen wieder.“, bemerkte er dann sachlich. Ai nickte ernst, schaute auf ihre kurzen Kinderfinger, die sie auf der Tischplatte flachdrückte. Heiji ächzte, beugte sich nach vorn. „Bitte, WAS?!“ Er stürzte zum Fenster, seine Augen suchten die in Dunkelheit getauchte Villa der Kudôs. Dann drehte er sich wieder um, sichtlich aufgewühlt. „Warum sagt er denn nichts? Wär ja nich‘ so, als ob wir alle Zeit der Welt hätten, ihm muss doch klar sein, dass…“ Ai seufzte, schaute ihn aus unergründlichen Augen ruhig an. „Ich sagte dir doch, man hat es ihm angesehen. Seine Welt steht Kopf, gerade, ich will nicht wissen… wie es in ihm aussieht. Lass ihm Zeit, zu sich zu kommen. Du weißt, der Boss ist jemand, mit dem ihn viel verbindet. Du weißt, er hat viel durchgemacht. Er… muss in Ruhe darüber nachdenken. Er wird sich die Zeit nehmen, die er braucht, und die er sich nehmen kann, angesichts der Entwicklungen, das weißt du. Er wird nichts tun, das uns gefährdet. Aber überstürzt handeln wird er auch nicht.“ Akai nickte langsam. „Aber…“, begann Heiji entrüstet, drehte sich unwirsch um, um anschließend wieder zum Haus der Kudôs zu starren, ganz so, als versuche er seinen Detektivkollegen mit purer Gedankenkraft herauszulocken. „Kein aber.“ Ai schnitt ihm das Wort ab. „Lass ihn in Ruhe. Er wird kommen, wenn er etwas zu sagen hat. Und du weißt genauso gut wie ich, dass er der letzte Mensch ist, der diesen Haufen Abschaum davon kommen lassen wird.“ Heiji seufzte, strich sich durch die Haare. „Ich hoffe, ihr habt Recht. Kudô… tendiert leider dazu, manchmal etwas emotional zu reagieren, gerade wenn es um Menschen geht, die auf irgendeine Weise Vorbild für ihn sind. Die er zu kennen glaubte, und in denen er sich getäuscht hat.“ Heiji trat zurück an den Tisch, setzte sich. In Gedanken war er bei jenem Abend, als er es einmal hatte mitansehen müssen… zusehen hatte müssen, wie Shinichi stur nicht glauben wollte, dass er sich in seinem Idol so hatte täuschen können. So stur gewesen war, dass er sich geweigert hatte, diese Option überhaupt in Betracht zu ziehen. Ai schaute ihn fragend an. „Das hört sich an…“ „Als ob ich das schon erlebt hätte? Hab ich. Der Fall Ray Curtis.“ Shuichi hob interessiert die Augenbraue. „Die eiserne Festung?“ „In diesem Fall wohl eher der König des Freistoßes.“, murmelte Heiji bedächtig. „Aber ja, genau dieser Ray Curtis. Der Profifußballer. Das große Idol unseres Fußballfanatikers Shinichi Kudô.“ Er warf einen nachdenklichen Blick auf das Nachbargebäude. „Ich hatte bis dahin keine Ahnung, dass er so sein kann. Dass er so begeistert für eine andere Sache is‘ außer für seinen Holmes. Dass er tatsächlich ein existierendes Idol hat. Und dass er in seiner Sicht so festgefahren sein kann.“ „Nun mach’s nicht so spannend.“, meinte Akai kühl. „Allerdings.“, stimmte Ai ihm zu. „Was war denn nun?“ „Ray Curtis sitzt mittlerweile im Knast; Shinichi hat ihn dann doch überführt. Es ging um einen Mordfall bei der Neueröffnung eines Restaurants, das Curtis zusammen mit Ricardo Balleira und Mike Norwood gegründet hatte. Wir warn als Gäste da – also ich, der Kurze, Ran und Onkelchen. Der Mord geschah während des Abends; ein Klatschreporter war getötet worden. Der Verdacht lag nahe, dass einer der drei Ex-Profisportler späte Rache genommen hatte; das sah Shinichi schon genauso. Aber für ihn kam Ray für den Mord einfach nicht in Frage. Schlicht und ergreifend, weil es Ray war. Ich hab mich mit ihm gestritten, deswegen.“ Er seufzte. „Er hat weiter ermittelt, fest entschlossen, den Mann zu entlasten, und hat doch nur immer mehr Beweise für seine Schuld gefunden. Irgendwann kam er nicht mehr umhin, es zu sehen.“ Heiji kratzte sich am Kopf. „Die Sache war sehr unschön. Die Enttäuschung in seinen Augen, und die Anklage, die er seinem Idol an den Kopf geworfen hat… aber er hat’s gemacht. Immerhin kann man ihm nicht Betriebsblindheit vorwerfen; allerdings hat die Einsicht etwas gedauert… und ich fürchte, die Zeit für lange Einsichtsprozesse haben wir diesmal nicht.“ „Du hast ihm also doch mal in die Augen geschaut.“, frotzelte Ai. Heiji warf ihr einen ungnädigen Blick zu, schüttelte dann den Kopf. „Ich meine, wenn’s der ist, den ich für den Boss halte, dann…“ Akai sah ihn nachdenklich an. „Ich denke, die Einsicht muss er nicht mehr gewinnen. Er kennt die Wahrheit. Einzig und allein, wie er damit umgeht, dafür braucht er noch ein wenig Zeit.“ Ai nickte. „Ich denke auch, zumindest die wenigen Stunden bis zum Morgen sollten wir ihm lassen. Dann wird er ohnehin nicht mehr verheimlichen können, dass er es weiß…“ Ai gähnte. „Und ich für meinen Teil hau mich solange aufs Ohr. Ich bin schließlich noch ein kleines Kind und brauch meinen Schlaf. Gute Nacht, die Herren.“ Sie rutschte vom Stuhl, schlurfte in ihren Puschelpantoffeln aus der Küche, gähnte leise. Akai schmunzelte kurz, wurde aber sofort wieder ernst. Er trat in durch die Tür, bemerkte nicht, dass im Arbeitszimmer jemand war. Yusaku hatte nun schon zum dritten Mal versucht, sie zu erreichen, erfolglos. Sharon. Wahrscheinlich mussten sie der Wahrheit einfach ins Gesicht sehen. Vermouth war tot. Dann wurde er sich gewahr, dass er nicht allein war. In der Tür stand er, starrte ihn unverwandt an. Shinichi zog die Festplatte ab, hielt sie so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten, schaltete den Computer aus. „Ich nehm sie dir nicht weg.“ Shinichi erwiderte nichts, ließ seinen Vater nicht aus den Augen, der die Tür hinter sich schloss und langsam näher trat. „Wenn du denkst, dass ich jetzt mit dir darüber rede, irrst du dich.“ Shinichis Stimme klang bissig. „Ich seh nicht ein…“ „Das ist nicht sehr fair von dir.“ Yusaku massierte sich die Schläfen. „Was ist schon fair.“ Sein Sohn lachte bitter auf. „Nach den letzten Erkenntnissen muss ich leider feststellen, dass dieses verdammte Leben auch nicht fair zu mir war. Da braucht es von mir auch keine Fairness erwarten.“ Er strich sich über die Oberarme, starrte zu Boden, blinzelte. Yusaku konnte genau sehen, wie sehr Shinichi kämpfte, mit den Ereignissen der letzten Tage. „Ich sehe, an deiner Einstellung mir gegenüber hat sich nichts geändert.“, seufzte der Schriftsteller. Shinichi blickte auf, in seinen Augen ein merkwürdig mitleidiger Ausdruck. „Ich bitte dich, sei realistisch. Du bist der Boss des wahrscheinlich größten Verbrechersyndikats in Japan, allein das reicht für mich, um dich zu verabscheuen, abgesehen mal davon, was du mit mir die letzten Tage und Jahre veranstaltet hast.“ Er wollte sich an ihm vorbeidrücken, aber Yusaku hielt ihn fest. Shinichi schüttelte unwillig seine Hand ab. „Was hast du jetzt vor?“ „Zur Polizei gehen. Zum FBI. Was sonst?“ Shinichi schaute ihn nicht an, als er sprach. „Das schaffst du?“ „Was? Dich hinzuhängen?“ Der junge Detektiv kaute auf seiner Lippe, stöhnte auf. „Verdammt, es wäre schön, wäre es so einfach.“ Er sah auf. „Ich will dich hassen. Ein Teil von mir tut das auch. Aber wenn ich dich an die Polizei ausliefere, dann bringen… dann bringen die dich um.“ Seine Stimme war auf ein kaum hörbares Minimum gesunken, und das Entsetzen, das dieser Gedanke bei ihm auslöste, war nur zu deutlich in seinem Gesicht zu lesen. Ein Zittern durchlief seinen Körper. „Ich kann dich nicht laufen lassen. Aber hinhängen… wenn ich dich hinhänge, dann unterschreibe ich dein Todesurteil. In Japan gibt’s die Todesstrafe, wie du weißt, ja noch – und für deine Taten…“ Yusaku seufzte schwer. „Würde ich sie bekommen. Und man würde sie auch ausführen.“ Er sah, dass Shinichi würgte bei dem Gedanken. Alles in ihm rebellierte, und er wusste, dass ihn diese Entscheidung zerriss. Dass er sie eigentlich nicht treffen wollte. Er würde sie treffen, nichtsdestotrotz. „Hör zu.“, murmelte Yusaku leise. „Es tut mir Leid, dass du…“ Shinichi schaute auf, in seinen Augen blitzte die blanke Wut. „Es tut dir Leid?! Und was hilft mir das?!“ Er schrie ihn an, sein Atem ging schnell. Dann verstummte er, schaute hektisch in den Flur, lauschte. Alles blieb ruhig. Als er weitersprach, senkte er deutlich seine Stimme, der scharfe Tonfall jedoch blieb. „Verdammt, was hast du dir dabei gedacht – ach was, nein, lass stecken, ich will es gar nicht wissen, ich kann das ohnehin nicht verstehen, wie man…“ „Shinichi!“ Yusaku stand da, herrschte seinen Sohn an. „Nun lass mich dir doch erklären, was-…“ „Ich will's nicht hören! Es interessiert mich nämlich nicht, warum du dort warst.“ Shinichi atmete gepresst aus. „Lass mich in Ruhe.“ Damit drückte er sich an ihm vorbei, stieg die Treppe in sein Zimmer hoch. Yusaku starrte ihm hinterher, wortlos. Shinichi seinerseits stand in seinem Zimmer, seufzte. Ihm kam vor, als würde sich sein Kopf unabhängig von seinem Körper drehen, so schnell fuhren seine Gedanken darin Karussell. Er würde hier nicht bleiben, nicht heute Nacht. Er hatte das Gefühl, dass die Decke ihm auf den Kopf stürzen würde, bliebe er hier. Er musste hier raus. Dringend. Einen klaren Kopf bekommen, nachdenken, und das ging nicht hier – nicht hier, wo er Tür an Tür mit seinem Vater war. Er griff in den Schrank, zog sich ein paar Sachen heraus und schlüpfte hinein. Er schob die Festplatte ein, vergewisserte sich, dass seine Tasche nicht einfach aus Versehen aufgehen konnte, und öffnete das Fenster. Die frische Nachtluft strich um seine Nase. Er seufzte tief, atmete die kühle Brise ein und schwang sich dann aus dem Fenster. Es war ja nicht das erste Mal, dass er ausbrach. Und so rutschte er das Verandadach nach unten und kletterte über das Rosenspalier, das unter seinem Gewicht etwas ächzte, nach unten. Weich landete er im Gras, schlich sich dann durch den Hinterausgang aus dem Garten und wanderte die verlassenen Straßen entlang. Sein Ziel war das Haus, das ihm in den letzten Jahren zu einem neuen Zuhause geworden war. Jodie stieß James an, als sie eine dunkle Silhouette näher kommen sah. Angestrengt starrte sie nach draußen, als sie die Person erkannte, die vor der Tür stehen geblieben war. Sie stöhnte leise auf, konnte sich ein leises Lächeln jedoch nicht verkneifen. „Mein Gott, der Kerl ist schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe.“ James lachte kurz. „In der Tat. Aber lassen wir ihn.“ Sie beobachteten, wie die Tür geöffnet wurde, und er sie sich hinter sich wieder schloss, lehnten sich wieder zurück. „Eigentlich sollte uns das aber schon zu denken geben.“, murmelte Jodie nüchtern, gähnte. Er hatte ihm geöffnet, stand nun wortlos vor ihm. Kogorô starrte ihn an, zögerte kurz; in ihm kochte es, all die Anspannung der letzten Tage suchte sich ein Ventil, wollte raus, an die Oberfläche – und der Verursacher dieser Anspannung stand vor ihm. Eigentlich die Gelegenheit. Shinichi holte Luft, wollte etwas sagen, aber Kogorô schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab, als es aus ihm herausbrach. „Du bist das Letzte, Shinichi Kudô. Weißt du eigentlich, in welche Gefahr du uns gebracht hast? Hast du eine Ahnung,-“ Shinichi biss sich auf die Lippen, wandte den Blick ab. „Mehr als jeder andere hier, fürchte ich.“ Kogorô stutzte, hielt inne. Erst jetzt sah er ihm genauer ins Gesicht, sah die Erschöpfung in seinen Zügen, aber noch etwas anderes. Und die Ahnung von vor ein paar Stunden bestätigte sich nun. Der Blick aus seinen Augen war ein anderer. Er kannte den Unterschied, er hatte ihn bereits einmal sehen dürfen – bei seiner Tochter. Bei Ran. Nichtsdestotrotz starrte er ihn ungläubig an. „Häh?!“ Shinichi hob den Kopf, blickte ihn aus müden Augen an. „Sie denken schon richtig, Herr Môri. Ich… weiß es…“ „Dann musst du zur Polizei.“ Der Mann drehte sich um, um die Treppe nach oben zum Telefonieren zu gehen. Shinichi schüttelte den Kopf, heftig, merkte, wie sein Kopf davon zu schmerzen anfing und ließ es wieder bleiben. Er eilte einen Schritt nach vorn, griff Kogorô am Arm. „Nein!“ Kogorô drehte sich um, sah ihn genervt an. „Hör zu. Es ist keine Zeit, den Helden zu spielen oder einen Alleingang machen zu wollen…“ „Verdammt, das weiß ich! Aber so einfach… ist das nicht, ich…“ Der Mann sah, dass es ihn fast zerriss. Shinichis Stimme klang gepresst, so als halte er nur mit Mühe zurück, was er eigentlich nur zu gern loswerden würde. Kogorô sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich. Shinichi schluckte, wandte den Blick nicht ab. „Bitte.“, flüsterte er schließlich. „Keine Polizei. Heute noch nicht.“ Er schluckte schwer. Kogorô schaute in nachdenklich an; Shinichis Reaktion ließ eigentlich nur eine Schlussfolgerung zu. „Du wirst mir nicht sagen, wer es ist, nicht wahr?“ „Nein. Ich… kann nicht. Nicht weil… ich es nicht wüsste.“ Er stöhnte auf, ließ Rans Vater los, rieb sich mit den Handballen über die Augen. „Ich kann nicht. Noch nicht. Ich wollte eigentlich nur… Ihnen meine aufrichtige Entschuldigung aussprechen, bevor wieder etwas dazwischen kommt.“ Ein bitteres Lächeln huschte ihm über die Lippen. „Und auch wenn es dreist in Ihren Ohren klingt, und seltsam, so wollte ich doch fragen, ob ich… heute Nacht noch einmal auf ihrer Couch…“ „Warum schläfst du nicht zuhause? Oder beim Professor?“ Kogorô hatte ihn unterbrochen, schaute ihn etwas verwirrt an. Eine Antwort wurde Shinichi allerdings erspart, als die Tür der Wohnung aufging und eine zerzaust aussehende Ran ihren Kopf aus dem Türrahmen steckte. „Paps, was ist los? Wer ist denn…“ Sie stockte, trat dann näher, auf ihrem Gesicht breitete sich eine Mischung aus Freude und Sorge aus. „Shinichi?“ Langsam stieg sie die Treppe runter. „Was machst du hier?“ Er strich sich übers Gesicht. „Ich fürchte, das weiß ich nicht, ich…“ Sie lächelte, umarmte ihn, vergrub ihren Kopf an seinem Hals. Er zögerte, ehe er die Arme hob, sie sanft an sich drückte, merkte, wie gut ihm diese flüchtige Berührung doch tat. Unsicher schaute er zu Kogorô, der kurz die Augen verdrehte. „Na schön. Aber du pennst auch wirklich auf der Couch.“ „Wird er nicht, Paps, und halt die Klappe bitte. Ich bin erwachsen.“ Sie löste sich von ihm, lächelte ihn an und zog ihn die Treppe hoch. Kogorô schaute ihnen nach, seufzte, zuckte dann mit den Schultern. „Ich kann dir sagen, warum du gekommen bist, Westentaschendetektiv.“, grummelte er leise, lächelte dann aber, allerdings nur kurz. Du bist nach Hause gekommen. Zu ihr. Ran zog ihn ins Zimmer, drückte hinter sich die Tür zu, schob ihn zum Bett. Shinichi zog sich etwas unbeholfen die Jacke aus. „Hör zu, die Couch wär absolut okay gewesen… ich will keinen Stress mit deinem Vater, Ran…“ „Den kriegst du schon nicht.“ Sie seufzte, nahm ihm die Jacke ab. „Aber nun, warum bist du wirklich da?“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Ich meine, ich freu mich, dich zu sehen, aber…“ Sie schaltete ihre Nachttischlampe an und erschrak, als sie den bedrückten, niedergeschlagenen Ausdruck in seinen Augen sah. „Ran, ist es… okay, wenn ich einfach nur hier bin?“ Er rieb sich die Augen. „Ich will eigentlich nicht darüber reden. Ich will… nur hier sein. Einfach nur hier sein, weil ich es woanders nicht aushalte, ich…“ Ran starrte ihn an. „Shinichi…“ „Bitte.“ Er starrte auf seine Finger, sah ihr dann ins Gesicht. „Bitte. Ich will nicht darüber reden, ich will nicht… darüber nachdenken, nicht einmal das. Ich will nur… hier sein. Ich weiß nicht genau warum, aber…“ Ein sanftes Lächeln huschte für Sekundenbruchteile über seine Lippen. „Doch, du weißt es, Shinichi.“, murmelte Ran leise. Sie streckte die Hand aus, strich ihm durch die Haare. „Du warst als Conan zwei Jahre hier. Und nun…“ Sie fing seinen Blick mit ihren Augen, lächelte ihn warm an. „Du...“ Sie brach ab. Er schluckte, sah sie an. Merkte, wie ihn das gleiche Gefühl von Hilflosigkeit ihr gegenüber befiel wie vor ein paar Tagen in der Küche. Sie schaffte es, ihn zu entwaffnen, ihm all seine Schlagfertigkeit zu nehmen, und dabei stand sie nur vor ihm, in ihrem Nachthemd, mit zerzausten Haaren und etwas Schlummer in den Augen. Und er wusste, dass er nichts mehr wollte, als einfach jetzt mit ihr zusammen zu sein. Sie festzuhalten, sie dicht an sich zu spüren, ihren Atem zu fühlen, ihr Leben… und ansonsten nichts weiter zu tun. Nur fühlen, dass du da bist… „Ich…“, begann er, brach dann ab. Dann griff er nach ihrer Hand, zog sie an sich, küsste sie auf die Stirn. Ran schluckte, legte seine Arme um ihn, schmiegte sich an ihn, merkte, wie er sie noch fester an sich presste, seine Arme um ihren Rücken und ihre Taille legte, seine Nase in ihren Haaren vergrub. … liebe dich… Shinichi kniff die Augen zusammen, seufzte leise. „Danke, dass du da bist, Ran…“, flüsterte er leise. Seine Stimme klang rau. Ran kniff kurz die Augen zusammen, merkte, wie sich in ihrem Hals ein Kloß bildete, beherrschte sich aber. Sie merkte, wie er sie langsam wieder los ließ, sah ihm eindringlich in die Augen. Sie sah, sie fühlte, dass ihn etwas bedrückte, mehr als das. Shinichi hatte echte Probleme, litt wirkliche Qualen. Ein leises Seufzen entfloh ihrer Kehle. „Immer für dich, das weißt du. Ich würde mir nicht vergeben, wäre ich das nicht. Allerdings wäre mir lieber, du würdest mir sagen, was los ist. Was passiert ist, Shinichi.“ Er lächelte bitter, schüttelte aber bestimmt den Kopf. „Ich kann nicht. Ich habs deinem Vater gerade gesagt. Es geht nicht. Noch nicht. Es… hängt zu viel daran… und momentan hab ich keine Ahnung, wie ich dem Herr werden kann.“ Müde ließ er sich auf die Bettkante sinken, stützte seine Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln ab. Langsam hob er den Kopf, griff nach ihrer Hand, zog sie neben sich. Ran ließ sich neben ihm aufs Bett sinken, kuschelte sich an ihn. Was ist nur passiert, dass es selbst für dich zu viel wird, Shinichi? Er spürte, wie sie Luft holte, ahnte, dass sie etwas sagen wollte; und er sollte sich nicht irren. „Du musst mir nicht sagen, was passiert ist. Wir müssen über überhaupt nichts reden.“ Shinichi drehte den Kopf etwas, um ihr in die Augen zu sehen. „Aber?“ Ran presste ihre Lippen zusammen. „Ich weiß nicht, ob es dir hilft, aber… ich schätze, dass der Fall wohl eingetreten ist.“ Sie lächelte traurig. Er schaute sie perplex an. „Welcher Fall?“ Sie konnte nicht widerstehen, gab ihm einen kurzen Kuss auf die Nase, ehe sie ihre Stirn gegen seine lehnte, griff nach seinen Fingern. „Erinnerst du dich… ich hab dich mal gefragt, was du tun würdest, hättest du den Verdacht, dass jemand aus deinem Umfeld, in diesem Fall war es Professor Agasa, ein schweres Verbrechen, zum Beispiel einen Mord, begangen hätte.“ Sie merkte, wie er erstarrte, seine Augen kurz in die Leere blickten. Dann wandte er sich ihr wieder zu, das Leben schien ihn in zurückzukehren. „Ja. Ich erinnere mich.“ „Ich weiß es auch noch ganz genau.“ Ran lächelte, strich ihm über die Augenbraue. „Ich fragte dich, ‚Was würdest du tun, wenn du herauskriegst, dass Professor Agasa ein Mörder ist?‘- und weißt du noch deine Antwort?“ Er nickte. „Ihn darauf ansprechen.“ Sie schluckte, schaute ihn fest an. „Sowas würdest du dich wirklich trauen?“ Er wandte den Kopf nicht ab. Ein erstaunlich ernster Ausdruck war auf sein Gesicht getreten, als er in die Vergangenheit eintauchte. „Ich würde ihm direkt ins Gesicht sagen: ‚Sie sind ein Mörder, Professor.‘“ Ran blickte ihn aufmerksam an, dann lächelte sie kurz, als sie ihre Worte von damals wiederholte. „Cool… ich bewundere dich, Shinichi.“ Er schaute kurz weg, als er über seine Antwort nachdachte; er sah die Szene lebhaft vor seinen Augen. „Das hat doch mit cool nichts zu tun. Ich würde ihn nur darauf ansprechen, wenn ich hundertprozentig sicher bin. Bevor man jemandem unterstellt, ein Verbrecher zu sein, sollte man sauber recherchiert haben, aber die Wahrheit muss immer ans Licht…“ Ran griff sein Gesicht mit beiden Händen, sah ihn ernst an. „Und bist du dir wirklich sicher, hast du Beweise dafür…? Hast du sauber recherchiert?“ Shinichi schaute sie an, ernst. Atmete tief ein und aus, ehe er antwortete. „Ja.“ Dann schüttelte er den Kopf, seine Züge etwas gelöster. „Ich muss mit ihm sprechen, du hast ja Recht. Ich wollts eigentlich vermeiden, weil es mich… aber du… hast Recht. Und ich auch, seinerzeit. Ich muss wohl…“ Ran drückte sich an ihn. „Das ist der einzige Weg aus deinem Dilemma, Shinichi. Wenn er dir solche Entscheidungen aufdrückt, dann musst du wissen, wieso. Auch wenn dich der Gedanke abstößt, angesichts dessen, was du durchmachen musstest, wegen dieser Person. Auch wenn dir das nicht leichtfällt.“ „Ich weiß ja.“ Er rieb sich über die Augen. „Eigentlich weiß ich es ja. Ich… es ist nur…“ „Die Realität ist härter als jedes Gedankenspiel.“ „So sieht’s aus.“ Bedächtig nickte er, sah sie dann an, lächelte kurz. „Danke fürs Gedankensortieren.“ Ran schüttelte den Kopf. „Nichts zu danken. Ich wünschte, ich könnte…“ „Scht.“ Er legte ihr den Finger auf die Lippen, schüttelte den Kopf. Sie seufzte, löschte das Licht. Er ließ sich nach hinten sinken, zog die Decke hoch, nahm sie in den Arm, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie kuschelte sich an ihn, lauschte noch lange in die Dunkelheit, hörte seinen ruhigen Atem, wusste, dass er eingeschlafen war. Und machte sich Sorgen. Ihr war nicht entgangen, dass er es immer noch nicht sagen wollte. Ich liebe dich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)