Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 45: Kapitel 27: Die Königin des Gerichtssaals und der Meisterdetektiv des Westens ----------------------------------------------------------------------------------------- Viel Spaß! ______________________________________________________ Kapitel Siebenundzwanzig: Die Königin des Gerichtssaals und der Meisterdetektiv des Westens Genervt blickte sie auf, als das Telefon klingelte, legte ihren Kugelschreiber beiseite, seufzte still. „Kanzlei Kisaki, Eri Kisaki am Apparat… Ran?“ Ihre schlechte Laune verflog sofort. „Was ist los, Ran?“ Sie hörte dem ziemlich aufgeregten und daher vollkommen unstrukturierten Redeschwall ihrer Tochter kurz zu, ehe sie sie unterbrach. „Wen hat man eingesperrt, Ran?“ Dass es um eine Inhaftierung ging, hatte sie gerade noch mitbekommen. „Shinichi.“ Ran seufzte. „Entschuldige Mama, das Ganze regt mich nur ziemlich auf. Ich denke, Papa hat dir die Sache gestern erzählt?“ Eri nickte grimmig, seufzte dann leise. „Ja, hat er. Und es freut mich zu hören, dass du dich schon wieder so aufregen kannst.“ Ran lächelte. „Äh, ja. Also. Shinichi sollte heute seine Aussage machen, da er nun ja sein Gedächtnis wieder hat. Nur hat er… die Aussage verweigert.“ Eri lehnte sich zurück, strich sich mit einer Hand über die Haare, auf ihrem Gesicht ein Ausdruck purer Überraschung. „Das ist ja ein Ding. Eigentlich würde man erwarten, dass er nun reinen Tisch macht. Weißt du, warum er nichts sagt?“ Sie hörte ihre Tochter seufzen. „Ich denke, es ist wegen der Identität des Bosses. Die Sache nimmt ihn ziemlich mit. Er will erst selbst in Ruhe mit ihm reden, und ich denke, er hat Angst, dass die Sache unkontrollierbar ausartet, wenn er die Informationen jetzt alle preisgibt. Ich meine, ich war ja drin…“ Sie schluckte. „… er hat sich da wirklich mit jemand Gewaltigen angelegt. Auf jeden Fall hat man ihn jetzt in Beugehaft gesteckt. Um ihn zum Reden zu bringen. Was nichts bringen wird, wenn er nicht reden will, wird er nicht reden und…“ Eri zog die Augenbrauen hoch, beugte sich vor. „Beugehaft, sagst du?“ „Ja.“ „Wann ist Haftprüfung?“ „Weiß ich nicht, Mama.“ Ran klang genervt. „Ich nehme an, wahrscheinlich ruft er dich selber an, aber ich dachte mir, ich…“ Eri seufzte. „Schon gut, Ran. Ich fahr hin und schau mal, was ich machen kann, mit deinem sturen Bock von einem Freund.“ Sie grinste, als sie ihre Tochter lospulvern hörte, legte auf. Nun gut, Shinichi Kudô. Sehen wir mal, was hinter deiner Verstocktheit steckt. Er schätzte, dass etwa eine Stunde vergangen war, als man seine Zelle wieder aufsperrte. Herein kam Chiba, der ihn freundlich aus seinem runden Gesicht anlächelte. „Du hast Besuch, oder so ähnlich. Frau Kisaki ist hier. Ich nehme an, sie vertritt dich in der Sache?“ Shinichi zog die Augenbrauen hoch. „Anscheinend. Es stimmt zwar, ich wollte sie noch anrufen… aber ich kam ja noch nicht dazu.“ Chiba zuckte mit den Schultern. „Dann hat es wohl wer anders für dich getan.“ Er winkte ihn aus der Zelle auf den Gang, wo zwei Beamte bereits warteten. Shinichi verdrehte die Augen. „Ich lauf nicht weg. Und ich hab auch nichts ausgefressen, ist es wirklich nötig, mich wie einen Schwerverbrecher zu behandeln…?“ „Nötig nicht… aber ich schätze, genau weil es dich wohl nervt, möchte der Chef es so. Er hofft immer noch, dass du einlenkst.“ „Da hofft er umsonst.“ Shinichi stopfte seine Hände in seine Hosentaschen, versuchte, entschlossen zu wirken, als er Chiba ins Besucherzimmer folgte. Der Gang dorthin dauerte nicht lange; und wie erwartet saß sie da, mit übereinandergeschlagenen Beinen, wie gewohnt in Rock und Bluse; ihren Blazer hatte sie abgelegt. Vor ihr lag ein Klemmbrett und ein Füller. Er setzte sich ihr gegenüber, sagte nichts, bevor die Tür ins Schloss gefallen war. Dann erst schaute er auf, der Frau ins Gesicht, die ihn ihrerseits aufmerksam taxierte, aber nicht die kleinste Gefühlsregung dabei zeigte. Er sah blass aus, das bemerkte sie wohl. Sie kannte den Jungen nun schon sehr lange, aber so hatte sie ihn selten gesehen; so zerrissen, innerlich. Es war klar, dass er vor einem Problem stand, das zu groß für ihn schien, das er aber nichtsdestotrotz zu bewältigen hatte; dass er eine Entscheidung treffen musste, die er nicht treffen wollte. „Ich nehme an, Ran hat Sie informiert.“ Seine leise, aber durchaus angenehme Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie konnte langsam verstehen, was ihre Tochter an ihm fand; er sah gut aus, war intelligent, er kümmerte sich um sie, er… würde alles für sie tun, soviel war klar geworden. Sie musste zugeben, sie hatte ihn lange nicht gesehen, im Prinzip… seit ihrer Trennung von ihrem Mann nur noch von weitem. Und gesprochen… Gesprochen hatte sie mit ihm schon eine Ewigkeit nicht mehr. „Ganz Recht.“, antwortete sie ihm schließlich. Sie seufzte, ließ ihre steife Körperhaltung fahren, beugte sich nach vorn. „Willst du darüber reden, Shinichi? Einen Grund muss es doch geben, für all das hier.“ Sie ließ ihn nicht aus den Augen. „Nein.“ Er zögerte, schien noch einmal kurz über seine Antwort nachzudenken. „Nein, das Angebot ist nett, aber… nein, danke.“, wiederholte er dann. Sie nickte verständnisvoll. „Was erwartet man von dir?“ „Dass ich ihnen den Namen vom Boss und den Standort des Hauptquartiers liefere.“ „Könntest du das?“ Er schluckte schwer. „Ja.“ „Aber du hast triftige Gründe, warum du nichts erzählst?“ „Abgesehen davon, dass man sie plattmachen würden, die Polizei hätte nicht die geringste Chance – ist das nicht triftiger Grund genug?“ Eri lächelte spöttisch. „Denkst du nicht, du überschätzt dich – und unterschätzt die Polizei?“ Shinichi schaute auf, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. „Waren Sie oder ich eine Woche in den Fängen dieses Syndikats? Haben Sie oder ich seit Jahren mit denen zu tun, mitverfolgt, wo sie ihre Hände im Spiel haben und welchen Einfluss die haben? Und… haben Sie oder ich seit Jahren mit der hiesigen Polizei zusammengearbeitet?“ Eri lachte leise. „Sherlock Holmes wie er leibt und lebt.“ Shinichi grinste kurz. „Nein, so ist das nicht. Ich halte unseren lieben Meguré mitnichten für den Einäugigen unter den Blinden. Es sind viele fähige Männer hier, unter anderem er. Das Problem liegt wo ganz anders.“ Er schluckte. „Ich habe Informationen, wonach sogar in der Polizei Mitglieder der Organisation sind. Sie sind in der Presse, im Stadtrat, in verschiedenen Ausschüssen, an allen wichtigen Positionen. Deshalb… ist das kein Fall für die Polizei. Die Organisation ist groß und gut informiert. Die Polizei hätte, käme sie bis zum Hauptquartier, keine Chance, reinzukommen. Man würde sie niederschießen innerhalb der ersten fünf Minuten. Das ist kein Witz.“ Er war blass geworden. „Mir ist selber auch erst in den letzten Tagen klar geworden, was für Ausmaße das Ding hat. Es übertrifft die Yakuza bei weitem, und, Frau Kisaki, würden Sie denn der Polizei zutrauen, an einem Tag die Yakuza durch einen simplen Polizeieinsatz auszulöschen?“ Die Königin des Gerichtssaals schüttelte wortlos den Kopf. „Sehen Sie. Und… abgesehen davon, dass ich einfach nicht… die hiesige Polizei in ihr Verderben schicken will, gibt es da… noch ein ganz anderes Problem.“ Seine Miene verdüsterte sich. „Der Boss ist aus deinem Bekanntenkreis.“ „Das zu erraten war wohl nicht schwer.“ Eri nickte langsam. „Der Gedanke drängte sich schon nach den ersten Tagen deines Verschwindens auf. Die Tatsache, dass man dich nicht gleich liquidiert hat, die Tatsache, dass man dir das Gegengift gegeben hat, die Sache mit dem Zeitungsbericht. Es liegt einfach nahe…“ Shinichi bewegte sich unruhig. „… und sie stimmt wohl auch.“ „Ja.“ „Wie nah steht dir diese Person?“ „Sehr nah.“ Er blickte auf, Argwohn lag auf einmal in seinem Blick. „Frau Kisaki, als was sind Sie jetzt eigentlich hier? Als meine Anwältin oder als Besucher? Denn wenn Sie mich nur besuchen, dann sollte ich wohl überlegen, was ich sage…“ Sie lächelte amüsiert. „Als das, als was du mich haben willst, Shinichi Kudô.“ Shinichi stopfte seine Hände in seine Hosentaschen, überlegte kurz. „Würden Sie das für mich machen?“ „Engagierst du mich etwa gerade, Shinichi Kudô?“ Sie warf ihm aus ihren Augenwinkel einen belustigten Blick zu. „Sind sie denn in meinem Budget Frau Kisaki? Königin des Gerichtssaals?“, schoss er zurück, lächelte schwach. Sie seufzte, beugte sich zu ihm, drückte ihm kurz die Schulter. „Ich steck dich zu meinen Pro-Bono-Fällen. Mach dir da mal keine Gedanken. Außerdem redet meine Tochter nie mehr ein Wort mit mir, wenn ich dir nicht aus der Patsche helfe. Und da du wohl ohnehin bald zur Familie gehörst…“ Sie lächelte ihn an. Er hob den Blick, versuchte, das Lächeln zu erwidern. Es gelang ihm nicht, und so ließ er den Kopf wieder sinken, merkte, wie sehr ihm die Geschichte doch zu schaffen machte. Warum ausgerechnet du, Vater. Warum muss das mir passieren. Warum… Ich will das nicht. Ich. Will. Nicht. „Also ja. Die betreffende Person… steht mir sehr nah.“ Eri schluckte, merkte, wie sie zu frösteln anfing, als sie ihn ansah. Mit einem Mal schien ihn ein massives Gewicht nach unten zu drücken, die Last auf seinen Schultern war fast schon materiell sichtbar. „Du kannst mit vollem Recht die Aussage verweigern, würdest du damit dich oder einen Angehörigen einer Straftat beschuldigen. Danach wird man dich gehen lassen müssen.“ Langsam schaute er auf, war unter ihren Worten merklich zusammengezuckt. Eri war aufgestanden, hatte ihre Arme vor der Brust verschränkt. Sie dachte nach, und das konnte sie am besten, wenn sie nicht wie festzementiert auf einem Stuhl saß, sondern sich bewegte. Und so drehte sie sich kurz zur Seite, schaute die hellgrau getünchte Wand an, die das Zimmer noch trister erschienen ließ, als es der Anlass ihres Besuchs schon machte; dann wandte sie sich ihm wieder zu. Unruhig spielte sie an ein paar Haarsträhnen, die sich ihrer strengen Frisur entzogen hatten, ihr Blick ruhte ernst auf ihm. In seinen Augen war die Qual, die diese Wahrheit in ihm auslöste, deutlich zu lesen. „Sie wissen, dass er es ist, nicht wahr?“, murmelte er leise. „Nein.“ Sie schüttelte den Kopf, trat wieder näher, stützte sich mit ihren Händen auf ihrer Stuhllehne ab. „Ich weiß es nicht, ich ahne es bestenfalls. Aber ich weiß, dass ich der Person das Leben meiner Tochter verdanke… außerdem bin ich Anwältin, und als solche halte ich es für meine Pflicht, die Menschen auf ihre Rechte und Pflichten aufmerksam zu machen. Du weißt, wenn du da morgen reingehst, zur Haftprüfung, dann darfst du nicht lügen. Du musst die Wahrheit sagen.“ Er starrte blicklos auf die Tischplatte, nickte matt. „Aber du solltest auch wissen, dass du Gebrauch machen kannst, von deinem Recht der Zeugnisverweigerung. Sie können dich nicht hier festhalten. Nicht in einem solchen Fall.“ Shinichi schaute auf, lächelte bitter. „Und was würde es nützen? Es käme einem Geständnis gleich, Eri. Viel Auswahl haben die nicht…“ Die Anwältin lächelte sanft. „Aber sie haben keine Beweise und keine belastende Aussage. Er wäre frei, solange, bis du oder er es euch überlegt, und doch gesteht… oder ihr einen anderen Weg gefunden habt.“ Langsam blickte sie zur Seite, ließ dann den Kopf in den Nacken sinken, starrte an die Decke. „Man sollte von dir nicht verlangen, über Leben oder Tod eines anderen zu entscheiden, erst Recht nicht in so einem Fall. Dass du zu der Entscheidung nicht gemacht bist, hast du doch schon einmal bewiesen.“ Sie trommelte mit ihren Fingern gegen das Holz der Stuhllehne. „Also rate ich dir, mach von deinem Recht Gebrauch. Und ich rate dir, nutz die Zeit. Viel wird dir dieses Manöver nicht bringen.“ Er nickte nur. „Und was ist… mit heute?“ Sie seufzte. „Leider müssen wir den Haftprüfungstermin morgen abwarten. Und da man dich einen vollen Tag lang einsperren darf, Shinichi… müssen wir uns bis morgen Nachmittag gedulden.“ Er stöhnte auf. „Und was mach ich solange, hier? Verdammt, ich…“ Rans Mutter seufzte, schaute ihn mitfühlend an. „Warten, Shinichi. Auch wenn es dir schwerfällt.“ Sie sammelte ihre Sachen ein. „Ich hol dich morgen zur Haftprüfung ab.“ Er nickte nur, in Gedanken ganz woanders. Sie presste die Lippen aufeinander. Dann trafen sich ihre Blicke, als er doch noch einmal aufschaute, sie ansprach. „Eri?“ Sie schaute ihn an, verwundert. Er blickte erschrocken, merkte erst jetzt, dass er sie beim Vornamen genannt hatte. Er wollte sich gerade entschuldigen, als sie abwinkte. „Lass gut sein. Nenn mich ruhig Eri, wir sind beide erwachsen.“ Shinichi nickte, stand dann auf, trat ein paar Schritte näher. „Eri, Sie… Sie sagen doch der Polizei nichts über dieses Gespräch? Die Schweigepflicht…“ „… gilt immer und in jedem Fall, Shinichi. Keine Sorge. Aber überleg dir genau, was du tust.“ Er drehte sich um, atmete langsam und gepresst auf, durchfurchte sich mit den Fingern die Haare, um sich anschließend mit den Händen übers Gesicht zu streichen. Man sah ihm die Müdigkeit, die ihn quälte, deutlich an. „Ich überlege nur noch, glauben Sie mir. Einen Fehler kann ich mir nicht leisten, es hängt zu viel davon ab.“ Eri Kisaki warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, drückte ihm die Schulter. „Was auch immer du tust, sei vorsichtig. Du lebst dein Leben nicht allein.“ Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Kurze Zeit später lag er wieder in seiner Zelle auf der Pritsche, starrte die Decke an, studierte die Struktur des grauen Betons und dachte nach. Sein Coup morgen wollte gut geplant sein. Ran lief zur Tür, als sie das Auto ihrer Mutter ankommen sah, öffnete ihr. Ein angespannter Ausdruck war in ihrem Gesicht zu lesen, ihre Hände krampften sich um die Klinke. „Wie geht es ihm?“ „Ja, Töchterchen, es freut mich auch, dich zu sehen.“ Eri lächelte schwach. „Ich darf über den Fall nicht reden, das weißt du.“ Hinter Ran erschien Heiji, warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Frau Kisaki…“ Eri stöhnte auf. „Also zwei Schülerdetektive an einem Tag sind mir ehrlich gesagt, mindestens einer zu viel. Wartet doch bitte den morgigen Tag ab. Ansonsten schlägt er sich tapfer, ich denke, er hat schon schlimmere Nächte verbracht als eine in einer Gefängniszelle.“ Ran seufzte. „Ich hatte gehofft…“ „Vor der Haftprüfung geht leider nichts, Ran.“ Eri schaute sie mitfühlend an, straffte dann ihre Schultern. „Ist dein Vater daheim?“ „In der Küche.“, murmelte Ran, seufzte, lehnte sich mit ihrer Stirn gegen die Wand, kurz, schloss die Augen, atmete langsam aus. Es war offensichtlich, dass sie sich Sorgen machte. Unsicher, wie als ob sie frieren würde, schlang sie ihre Hände um ihren Oberkörper, stieg langsam die Treppe hoch. Heiji blieb kurz zurück, sah ihr kurz nachdenklich hinterher. „Ich weiß, sie dürfen nichts sagen. Aber…“ „Dann frag mich nichts, Heiji Hattori.“ Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. „Du kränkst sonst meine Berufsehre. Wenn du deinen Verdacht bestätigt wissen willst, frag ihn selber. Die Besuchszeit ist noch nicht um.“ Der junge Mann zögerte kurz. „Fein.“, meinte er dann, machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Haus. Dann würde er ihn eben konkret fragen. Wenigstens konnte er ihm diesmal nicht ausweichen oder einfach davon gehen. Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Eri sah ihm nur nach, steckte sich eine verirrte Strähne weg. Sieht aus, als ob du doch noch nicht deine Ruhe hättest für heute, Shinichi. Eri hob die Hand, strich sich eine lose gewordene Strähne hinters Ohr, stieg dann langsam die Treppe hoch. In Gedanken war sie noch immer bei dem Gespräch, das sie gerade mit dem jungen Mann geführt hatte – in ihrem Kopf immer wieder dieses Gesicht. Diese Endgültigkeit in seinen Augen, diese Niedergeschlagenheit – und die Enttäuschung. In ihr wühlte es, rumorte es; sie konnte es kaum verstehen, dachte irgendwie fast, das alles wäre ein schlechter Scherz. Sie kannten ihn so lange, Shinichi Kudô – und ebenso lange seine Eltern, Yukiko und… Yusaku. Und nun war er es. Dein Vater… Yusaku Kudô. Kein Wunder, dass das deine Welt aus den Angeln riss… Als die Tür erneut geöffnet wurde, war er fast eingedöst. Wieder war es Chiba, der den Kopf hereinstreckte. „Nochmal Besuch für dich.“ Shinichi verdrehte die Augen. „Ich will keinen Besuch. Schicken Sie ihn weg.“ „Das kommt nicht in Frage. Nicht bei dem Kandidaten. Der brät mir noch eins über, damit soll ich im Übrigen auch dir drohen, falls du keine Lust auf ein Gespräch hättest.“ Chiba grinste breit. Shinichi fuhr hoch, in seinen Augen ein ungläubiger Ausdruck. „Hattori?“ „Exakt, der.“ „Nicht doch…“, flüsterte er leise. Er konnte sich denken, warum Heiji gekommen war. Er hatte so oft mit ihm über seinen Verdacht reden wollen, und immer wieder war etwas dazwischen gekommen… aber diesmal wollte Shinichi nicht mit ihm reden. Es ging ihn nichts an. „Sie können ihn wirklich nicht wegschicken?“ „Willst du ihn denn wirklich nicht sehen?“ Shinichi stand auf, sehr langsam. Der junge Inspektor schaute ihn erstaunt an. „Eigentlich wirklich nicht, nein.“ „Ich dachte, ihr seid Freunde?“ Shinichi seufzte. „Eben deswegen.“ Chiba schaute ihn nachdenklich an. „Nun, du musst nicht, wenn du wirklich nicht willst…“ „Es interessiert mich nich‘, ob er will.“ Heiji drängte sich an Chiba vorbei in die Zelle. „Hey! Was machst du hier? Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst im Besuchszimmer warten? Besuch in der Zelle ist verboten…“ „Dann machense eben eine Ausnahme.“ Der braungebrannte Detektiv schaute dem Polizeibeamten herausfordernd ins Gesicht. Shinichi starrte ihn an. Heiji schob den völlig perplexen Chiba, der mit der Situation überfordert schien, kurzerhand aus der Zelle und verschloss hinter sich die Tür. Dann drehte er sich um, langsam, lehnte sich gegen den Ausgang. Verschränkte die Arme vor der Brust, schaute zu Boden, abwartend. Shinichi seinerseits rührte sich nicht von der Stelle, sah ihn nicht an. „Ich will keinen Besuch.“ „Interessiert mich nich‘.“, meinte Heiji gelassen, aber nicht ohne einer gewissen Schärfe in der Stimme. Dann hob er den Kopf, sah seinen Freund ruhig, aber auch ein bisschen herausfordernd an. „Nettes kleines Zimmer haste dir genommen. Nicht sehr geschmackvoll eingerichtet, aber immerhin sauber.“ „Was willst du?“, murmelte Shinichi ausweichend, wandte sich ab, verschränkte die Arme vor der Brust. „Wissen, was dieser Auftritt vor der Polizei heute sollt‘! Verdammt, ich dacht‘ ich wär dein Freund?! Ich will dir doch nur helfen, diesmal… wirklich.“ „Mir hilfst du am besten, wenn du mich in Ruhe lässt.“ „Idiot!“ Shinichi drehte sich um, in seinen Augen lag ein einigermaßen wütender Ausdruck. „Darf ich dich dran erinnern, was das letzte Mal los war, als du mir helfen wolltest? Gin…“ „Hätte dich so oder so gekriegt.“ „Besonders hilfreich warst du dennoch nicht.“ Heiji biss sich auf die Lippen. „Ich geb ja zu, ich hab mich daneben benommen, aber…“ „Kein Aber.“ Shinichi schnitt ihm harsch das Wort ab. „Ich hatte heute eigentlich alles erklärt. Ich will keine Hilfe. Ich will nicht, dass ihr da eure Pfoten im Spiel habt. Ich…“ „… ich, ich, ich…!!!“ Heiji schrie, atmete schwer. „Warum willst du dir nicht helfen lassen, du sturer Bock!?“ „Weil mir keiner helfen kann, verdammt!“ Die beiden starrten sich wütend an, ein Knistern lag in der Luft; die Stimmung war erstaunlich schnell in einen Streit ausgeartet. Chiba streckte seinen Kopf herein. „Jungs…“ „Tür zu!“, blaffte Heiji. Der Inspektor beeilte sich, seinen Kopf wieder zurückzuziehen. Dann wandte sich Heiji Shinichi zu. „Warum zum Henker rückst du nicht raus mit der Wahrheit? Warum erzählst du uns nicht einfach alles, und wir hecken gemeinsam einen Plan aus? Das FBI is nich‘ blöd! Deine Eitelkeit als Meisterdetektiv ist hier echt fehl am Platz…!“ Shinichi starrte ihn wutentbrannt an. „Das hat, bitteschön, rein gar nichts mit Eitelkeit zu tun…! Ich hatte es euch heute erklärt – die sind einfach eine Nummer zu groß…“ „…ja, für die Polizei, aber nicht für den großartigen Detektiv des Ostens, nicht für Shinichi Kudô…“, begann Heiji, seine Stimme troff von beißendem Spott. Shinichi starrte ihn an. „Mein Gott, glaubst du das wirklich? Kennst du mich denn immer noch nicht? Ich wär lieber heute als morgen raus aus der Sache. Hast du eine Ahnung, was ich erlebt hab? Was ich durchmache? Ich…“ „Nein, weil du nichts sagst, Kudô! Ich bin kein Hellseher, verdammt!“ Shinichi schluckte, atmete schwer. Heiji stand ihm gegenüber, atmete mindestens genauso heftig, hatte seine Hände vor Zorn zu Fäusten geballt. Als er den beklommenen Gesichtsausdruck auf Shinichis Gesicht bemerkte, verrauchte seine Wut allerdings ein wenig. „Was is los?“, fragte er leise. „Bitte sag es mir. Was ist los?“ Seine Stimme klang eindringlich. Shinichi ließ sich kraftlos auf die Pritsche sinken. „Ich kann nicht.“ „Warum nicht?“ „Weil ich dein Leben nicht auch noch in Gefahr bringen will. Nicht mehr, als es das ohnehin schon ist, weil du mich kennst. Ran hat man schon entführt, um an mich ranzukommen…“ Er lächelte bitter. „Allerdings, dich würden sie wohl gleich abknallen, du bist zu nervig…“ Heiji grinste kurz. „Ich weiß, dass es ein Riesending ist, an dem du da festhängst. Aber Kudô, ehrlich… das Hauptquartier geheim zu halten, damit keiner von uns dahin geht und erschossen wird, versteh ich ja noch. Aber warum deckst du den Boss?“ Shinichi starrte ihn an, hilflos. Er merkte, wie er langsam nicht mehr konnte; er war diese Gespräche wirklich leid, hatte in den letzten zwei Tagen viel zu viele davon geführt. Langsam ließ er den Kopf sinken, vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Für Heiji war das allerdings schon Antwort genug. „Er isses, nicht wahr?“ Die Stimme des Oberschülers aus Osaka klang erstaunlich ruhig, dafür, wie sehr es in ihm eigentlich tobte. Ein wahrer Orkan wütete in ihm, ja,… aber äußerlich wirkte er ruhig. Er hatte sich heute wesentlich besser im Griff als das letzte Mal. Shinichi presste seine Kiefer zusammen, wollte diese Diskussion jetzt nicht führen. Heiji streckte seine Hand aus, packte ihn an der Schulter. „Sag es.“ „Lass mich in Ruhe, bitte. Ich bin fertig, ehrlich.“ „Du musst…“ „Heiji…“ „Nein!“ Nun war er doch ein klitzekleines Bisschen lauter geworden. „Er isses, nicht wahr? Er is der Boss, nicht wahr? Verdammt, nun gib's doch endlich zu, warum deckste ihn, er…“ „Bitte LASS es einfach…!“ „Nein! Du weißt selbst am besten, was er getan hat, nicht nur dir – du weißt, was das für ein Laden ist! Warum machst du dem nicht endlich ein Ende, warum sagst du’s nicht endlich? Er…“ Shinichi schaute auf, blickte ihm in die Augen. „… ist mein Vater, Heiji.“ Seine Stimme war kaum zu hören gewesen, als er gesprochen hatte, aber Heiji hatte ihn dennoch verstanden. „Er ist mein Vater.“, wiederholte er tonlos. „Das ist es doch, was du hören wolltest. Und ich warne dich, bei aller Freundschaft, wenn du das jemandem erzählst, dann…“ Fahrig wischte er sich über die Augen. „Aber…!“ Shinichi stand auf, befand sich dicht vor Heiji; so dicht, dass dieser seinen Atem auf seinem Gesicht spüren könnte, als er sprach. „Das ist nicht dein Problem. Ich decke ihn nicht aus Sentimentalität. Nicht… nicht nur.“ Er schluckte. „Außerdem ist nicht er es, vor dem wir uns fürchten müssen.“ „Aber…“ „Nein.“ Shinichi biss sich auf die Lippen, schüttelte den Kopf. „Ich weiß, was du denkst, was du von mir hältst, aber du kannst mir glauben, er ist nur die Spitze eines Eisbergs… und du weißt, was man sich über Eisberge sagt, nicht wahr?“ Er seufzte tief. „Glaub mir, ich werde nicht vergessen, was ich durchgemacht habe. Was beinahe Ran passiert wäre. Und ich verzeih ihm nicht, was er getan hat. Aber Fakt ist…“ Sein Gesicht verzog sich kurz, ganz flüchtig konnte Heiji die innere Qual sehen, die seinen Freund wohl schon seit Tagen zerriss. „… ohne ihn wäre ich tot. Und Ran… Ran auch. Meine Mum wohl auch. Wenn du glaubst, das alles lässt mich kalt, irrst du dich. Wenn du glaubst, ich will den Laden so lassen, wie er ist, irrst du auch. Aber hänge ich ihn jetzt hin… mal ganz ungeachtet der Tatsache, dass er mein Vater ist, auch wenn ich ihn dafür hasse, was er mir angetan hat, und dafür, was er ist…“ Er schnappte nach Luft, wie ein Ertrinkender, dessen Kopf von den Wellen ständig überschwemmt wurde, ständig unter Wasser tauchte, weil alles an ihm ihn nach unten zog, in die Tiefe. Heiji konnte fast sehen, wie die Wassermassen über ihm wieder zusammenschlugen, als er weitersprach. „Aber hänge ich ihn jetzt hin, Heiji, dann ist keinem geholfen. Er ist es nicht, der uns umbringen will. Sie sind es. Und ohne seine Hilfe kann ich den Laden nicht ausheben. Außerdem… du kennst die Konsequenzen, man würde ihn zum Tode verurteilen. Ich wäre sein Richter, sein Henker… das kann ich nicht… nicht so ohne weiteres, nicht, ohne mit ihm noch einmal vernünftig gesprochen zu haben, und glaub mir, die letzten beiden Gespräche, die wir geführt haben… “ Er lächelte bitter. „… waren nicht unbedingt das, was man vernünftig nennt.“ Nun war es Heiji, der sich auf die Pritsche setzte, und seinen Kopf auf seine Hände sinken ließ. Shinichi setzte sich neben ihn, lehnte sich gegen die kalte Wand, starrte blicklos an die Decke. „Und was machste jetzt?“ Heiji warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Shinichi überlegte kurz; er würde ihm auf keinen Fall alles sagen. Heiji würde darauf drängen mitzukommen, ihm zu helfen, und das wollte er nicht. Das musste er allein machen. „Morgen auf mein Zeugnisverweigerungsrecht bestehen.“ „Weil du mit einer Aussage dich oder einen Angehörigen beschuldigen würdest.“ Heiji nickte. „Klingt logisch. Dann müssen die dich eigentlich gehen lassen.“ „Ich hoff's. Eigentlich hab ich keine Zeit zum Warten.“ Heiji zog ein Bein an seinen Körper, legte seine Arme um sein Knie. „Und dann?“ „Dann werd ich mit ihm reden müssen, fürchte ich. Und eine Lösung finden. So oder so, morgen wird eine Entscheidung fallen. Gefallen wird sie mir nicht, in keinem Fall… aber was zählt das schon.“ Er wischte sich über die Augen. „Ich dachte ja nie, dass das mal so endet… dass das diese Dimensionen annimmt. Dass… das so persönlich wird.“ Der junge Mann versuchte zu schlucken, merkte, wie ausgetrocknet sein Mund eigentlich war. „Heiji… du… hältst doch dicht? Versprichst du mir das?“ Heiji spürte Shinichis eindringlichen Blick, wandte zögernd den Kopf. „Du unternimmst…“ „Ja.“ Shinichi nickte bestimmt. „Ich lass das in keinem Fall so stehen, das weißt du. Aber ich… würde das gern auf meine Weise klären. Ich will nicht in Megurés Büro sitzen und meinen Vater belasten, der in dieser Zelle hier sitzt. Das… musst du verstehen…“ „Das tu ich.“ Heiji schluckte hart. Eine Weile schwiegen beide, ehe der Detektiv aus Osaka wieder das Wort ergriff. „Hör zu, Kudô, mein Ausraster damals bei euch im Garten, ich…“ Shinichi winkte ab. „Vergiss das.“ „Aber…“ Der junge Mann schüttelte bedächtig den Kopf, warf seinem Freund einen verständnisvollen Blick zu. „Ehrlich, vergiss es. Jede andere Reaktion hätte mich überrascht, auch wenn sie etwas… frustrierend für mich war in der Situation. Ich nehm dir das nicht übel, also… hake es als passé ab.“ Dann sah er ihn an, plötzlich. In seinen Augen ein seltsam ernster Ausdruck. „Heiji, wo wir gerade mal unsere Ruhe haben und uns nicht anschreien - etwas anderes, von Freund zu Freund…“ „Hm?“ Shinichi schaute ihn nachdenklich an. „Was ist eigentlich… mit dir und Kazuha?“ Heiji starrte ihn an, merkte, wie ihm auf einmal unerträglich heiß wurde. „Was soll sein…?“ Shinichi verzog das Gesicht genervt. „Du weißt, was sein sollte. Du solltest ihr endlich sagen, was Sache ist, wie lange willst du das noch rausschieben? Ich meine, sie fährt dir nach, sie…“ „Das tut sie als Freundin…“ „Ja, als die Freundin.“ Shinichi seufzte leise. „Heiji, ehrlich… hast du eine Ahnung, was du dir entgehen lässt? Ich… hab auch viel zu lang gebraucht, hab mich auch viel zu lang nicht getraut, und dann kam der ganze Mist hier…“ Er schüttelte den Kopf. „Aber das alles wird viel erträglicher, wenn ich… an sie denke. Weil ich weiß, sie… wartet. Auf mich.“ Ein kurzes, verschämtes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Eigentlich will ich dir das nicht sagen müssen. Aber da wir befreundet sind, ist es wohl meine Pflicht, dir mal in den Hintern zu treten. Sag ihr was Sache ist, sie wartet doch darauf. Nur deshalb ist sie hier. Sie ist wegen dir hier, nicht wegen mir. Sie passt auf dich auf. Sorgt sich um dich. Du… sollest sie wirklich mal wissen lassen, wie sehr du das schätzt. Eigentlich.“ Unvermittelt ging die Tür auf und Chiba steckte den Kopf herein. Die beiden Detektive starrten ihn einigermaßen erschrocken wie genervt an. „Es ist so leise… habt ihr euch umgebracht, gegenseitig?“ Er seufzte. „Netterweise nicht, prima. Sonst hätte ich ein Problem mit dem Chef.“ Ein schiefes Lächeln huschte ihm über die Lippen. „Die Besuchszeit ist vorbei, ich muss dich bitten…“ Heiji nickte, erhob sich, drehte sich noch einmal zu Shinichi um. „Wir seh’n uns morgen?“ „Aller Wahrscheinlichkeit nach, ja.“ Shinichi nickte, hob die Hand zum Gruß. „Bestell Kazuha Grüße von mir.“ Heiji grinste säuerlich, drehte sich dann um, verließ die Zelle. Kaum stand er auf dem Gang, wich sein Lächeln jedoch einer sehr ernsten Miene. Chiba fiel das sehr wohl auf; allerdings wagte er nicht, ihn darauf anzusprechen. Shinichi hingegen machte sich auf seinem Bett lang, starrte wieder die Betondecke über seinem Kopf an. Ging seinen Plan für morgen durch, seufzte leise. Er wusste, was auf dem Spiel stand. Eine zweite Chance würde er nicht bekommen. Hosted by Animexx e.V. 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