Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 50: Kapitel 32: Gewinnen und verlieren ---------------------------------------------- Tja, Leute... langsam geht es doch tatsächlich dem Ende zu mit dieser Geschichte. Aber noch - noch - ist nicht aller Tage Abend. Lest selbst. Beste Grüße, eure Leira PS: Herzlichen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! PPS: Nächste Woche kommt statt einem neuen Kapitel wohl ein anderes, kurzes Intermezzo - etwas, das besser zu Weihnachten passt ;) PPS: Entschuldigt die seltsame Großschreibung - ich habs gerade erst selbst bemerkt. ________________________________________________________________ Kapitel Zweiunddreißig: Gewinnen und verlieren Stille hatte sich wie ein dickes, jeden Ton verschluckendes Tuch über den Parkplatz gelegt. Starr stand er da, starrte auf die Gestalt, die einsam noch stand, im fahlen Licht der Laternen des Firmengebäudes. Shuichis Hand ruhte auf seiner Waffe, die fest in ihrem Holster an seiner Hüfte steckte. Noch immer war er zu weit entfernt, die Sicht durch Bäume und Sträucher versperrt, das Risiko eines Querschlägers zu hoch. Er war für alles heute zu spät gekommen; seine Rache an Gin hatte er nicht nehmen können, und auch Absinth hatte jemand anderer außer Gefecht gesetzt. Jetzt fing er allerdings an, sich wieder zu bewegen, als sich die zweite Person am Boden wieder zu regen begann. Auch in Shinichi kam wieder Bewegung. Er fasste sich, presste seinen Lippen zusammen, bis sie nur noch einen schmalen Strich in seinem Gesicht bildeten, schritt dann entschlossen aus, auf Absinth zu, der nun aufschrie vor Schmerz, seine rechte Hand hielt, die blutüberströmt war und nach der Waffe greifen wollte. Shinichi hob die Pistole auf, die er ihm aus der Hand geschossen hatte, sicherte sie und warf sie in die Büsche, beugte sich über Absinth, der gerade aufstehen wollte, richtete seine Pistole auf seinen Kopf, drückte mit dem Lauf gegen seine Stirn, zwang ihn so, sich hinzulegen und ging auf Abstand zu dem Mann. Er ertrug seine Nähe nicht. Absinth starrte ihn an, Hohn und Spott glitzerte in seinen Augen. Shinichi hielt dem Blick nur mühsam stand, sein Atem ging schwer, sammelte sich in weißen Wolken vor seinem Gesicht in dieser Nacht, die langsam immer kälter wurde. „Ich sagte doch, du schaffst das nicht.“ Absinth stöhnte leise auf, grinste dennoch breit, bedachte seinen Gegenspieler mit einem spöttischen Blick. Shinichi schüttelte den Kopf, kurz. „Es reichte doch, dass ich Ihnen die Waffe aus der Hand schieße.“ Absinth lachte leise, bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. „Und da bist du dir sicher?“ Shinichi zog die Augenbrauen hoch, sah ihn verwirrt an – ein eisiger Schauer kroch seinen Rücken hinab und ein gewisses Prickeln blieb in seinem Nacken zurück, sorgte dafür, dass seine Haare sich sträubten, verursachten dieses unbestimmte Gefühl, diese Ahnung, dass dieser Abend noch nicht ausgestanden war. Dennoch, und daran klammerte er sich fest, standen zum ersten Mal in dieser Nacht die Vorzeichen günstig für ihn. Der junge Detektiv schaute seinem Widersacher in die Augen, merkte, wie sich das Frösteln verstärkte, das ihn ergriffen hatte, allein durch den Blick in diese eisblauen Augen. Sag, was planst du? Was willst du noch? Kurz schien der Moment wie eingefroren; dann allerdings riss ihn ein anderes Geräusch aus seinen Gedanken, zog seine Aufmerksamkeit auf sich und brachte ihn dazu, Absinth, der sich die Schulter hielt und entwaffnet auf dem Boden lag, den Rücken zuzukehren. Leises Stöhnen. Er fuhr herum, merkte, wie unbeschreibliche Kälte in ihm wieder hochkroch, sich in jeder Faser seines Körpers festsetzte und hartnäckig blieb. Yusaku Kudô lag auf dem Parkplatz und starb. Vor Shinichis Augen drehte sich kurz alles, ehe er wieder Herr über seine Sinne wurde. Diese wenigen Minuten totaler nervlicher Anspannung hatten alle anderen Gefühle, alle anderen Gedanken, ausgeblendet, verdrängt und in den Hintergrund geschoben; dieses leise Geräusch hatte jedoch gereicht, sie alle wieder heraufzubeschwören, und nun kamen sie zurück, mit Macht, rissen ihn fast um. Schmerz, Angst, Panik – Angst. Vor allem Angst. „Vater!“, flüsterte er leise, Entsetzen schwang in seiner Stimme. Er eilte zur Gestalt Yusakus, der mittlerweile ausgestreckt auf dem Boden lag, die Augen geschlossen hatte und um Atem rang. Shinichi fiel auf die Knie, als ihm plötzlich die Beine ihren Dienst versagten, zuckte zusammen, als er etwas Nasses an seinem Unterschenkel spürte, tastete danach, hob die Hand… spürte, roch und sah es. Klebrig, metallisch, fast schwarz… Blut. Es war überall; er sah es im Licht der Laternen dunkel glitzern, fast geheimnisvoll. Spätestens jetzt wurde ihm tatsächlich speiübel, aber er riss sich am Riemen, ein weiteres Mal, wenn auch mit sehr viel Mühe. Er hatte eigentlich kein Problem mit Blut, aber in diesem speziellen Fall… lag die Sache wohl anders. Es war so viel Blut. Und es war sein Blut. Ohnmacht keimte in ihm auf, Hilflosigkeit in dem Grad, in einem Maße, wie er sie noch nie gespürt hatte – und das wollte etwas heißen, nach den Erlebnissen der letzten Tage. Er rutschte näher, bettete den Kopf seines Vaters auf seine Knie, griff nach seiner Hand, strich ihm mit der anderen mit fahrigen, kalten Fingern über die Stirn, fühlte kalten Schweiß, kühle, fast wächserne Haut unter seinen Fingerkuppen. Yusaku öffnete seine Augen einen Spalt. „Ist es vorbei?“ Shinichi wandte sich kurz um; Absinth lag immer noch vor Schmerzen stöhnend auf dem Boden, hielt sich die Hand, schien sich nicht zu bewegen. Es schien fast irreal, aber der Mann schien tatsächlich kapituliert zu haben, trotz der gerade noch gespuckten großen Töne. Shinichi schluckte, verschwendete keinen weiteren Gedanken daran und wandte sich wieder seinem Vater zu. „Ja.“, murmelte er dann abwesend. „Gut.“ Das Wort klang wie ein einziger, langgezogener Seufzer; dann schloss er die Augen. Er fühlte sich so müde, so erschöpft… Shinichi beugte sich beunruhigt über ihn. Er wusste, sein Vater starb, aber er war noch lange nicht bereit, das wirklich zu akzeptieren. Er nestelte an seiner Jacke, wollte sein Handy herausziehen um Hilfe zu rufen, als sein Vater sein Handgelenk festhielt. „Es ist sinnlos. Du weißt das doch.“ „Nein!“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Hör zu, ich hole Hilfe. Ich…!“ Er versuchte, die Finger seines Vaters zu lösen, scheiterte kläglich, als er merkte, wie klamm und kalt seine Finger noch waren, wie seltsam klebrig von Dreck und Blut und wie wenig Gefühl er in ihnen hatte; wahrscheinlich wäre er nicht einmal in der Lage gewesen, das Handy zu bedienen, hätte er es denn überhaupt aus seiner Jackentasche bekommen. „Nein, Shinichi. Lass gut sein.“ Die Müdigkeit in der Stimme des Schriftstellers ließ ihn beunruhigt innehalten; der Griff seines Vaters verlor an Kraft, langsam aber sicher. Shinichi schluckte, beugte sich über ihn, Panik kroch in ihm hoch und ergriff die Hand umso fester. „V… Vater?“ Er wisperte es nur, dieses eine Wort. Der Mann öffnete seine Augen wieder, mühselig, wirkte etwas weggetreten. Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. „Bin ich das denn noch für dich…?“ Sein Sohn starrte ihn an. „Es sieht so aus.“ Schwer kamen ihm die Worte über die Lippen, aber er meinte sie ernst. Du bist der Boss dieser Organisation, du bist ein Erpresser, ein Erzverbrecher, ein Mörder… ich hab es heute selbst gesehen. Und nun liegst du hier und stirbst… wegen mir. Er merkte, wie in ihm Schuld zu wühlen begann, mit einer Intensität, die ihn seine Angst und seine Panik für den Moment vergessen ließ. Dann merkte er, wie eine Hand ihn am Kragen packte. Shinichi umgriff sie zögernd, sein Blick traf den seines Vaters. „Fang nicht damit an, Shinichi.“ „Womit?“, presste er hervor, zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er kämpfte um seine Fassung, bis jetzt mit Erfolg. „Du weißt, was ich meine. Fang nicht an, dir die Schuld dafür zu geben. Ich hab mir das selbst zuzuschreiben, und ich kam freiwillig mit, das weißt du. Vergiss das nicht! Und ich… hätte und würde immer wieder mein Leben für deins geben. Auch wenn meine Entscheidungen nicht immer gut waren, ich wollte immer nur… dass du lebst… ich wollte…“ Er brach ab, schüttelte sich selbst tadelnd den Kopf. „Vergib mir.“, murmelte er. „Für all das gibt es… keine Rechtfertigung. Ich bin, was ich bin.“ Er holte angestrengt Luft, ehe er weitersprach. „Du kennst die Geschichte, ich wusste, was ich dir antat, als ich dich zum Mitglied machen wollte, aber sterben sehen… sterben sehen konnte ich dich noch viel weniger, Shinichi…“ Seine Stimme war seltsam ruhig, sein Blick ruhte auf seinem Sohn. Dann hustete er; ein dünner Blutfaden bahnte sich seinen Weg aus seinem Mundwinkel. Shinichi schluckte, merkte, wie ihn langsam eine Kälte ergriff, die aller Beschreibungen und Vergleiche spottete. Kälte… „Du sollest aufhören zu reden. Du bist verletzt, es strengt dich zu sehr an, du…“ Verzweiflung schwang in Shinichis Stimme. Yusaku schaute ihn bekümmert an, ein fast mitleidiges Lächeln kroch auf seine Lippen, setzte sich mühsam fest. „Es spielt keine Rolle mehr, Shinichi, du weißt das, und ich weiß das auch. Du hast überlebt, das allein zählt. Ich bin froh… wirklich froh… wenigstens dieses eine Mal das Richtige getan zu haben.“ „Aber…!“ „Ach, Shinichi…“ Yusaku lächelte unglücklich. „Wie kannst du nach all dem, was ich dir angetan habe, was dir wegen mir widerfahren ist, immer noch um mich trauern, immer noch an mir festhalten wollen,…“ Er seufzte, griff seine Hand noch fester. „Du solltest mich hassen und verdammen, das solltest du. Und du solltest dir das hier nicht antun müssen. Am besten wäre, du stündest auf und gingst.“ „Das kann ich nicht. Nicht mehr. Nicht so… wie du es gern hättest.“ Shinichi zuckte kurz zusammen, als er sich versehentlich auf die Lippen bis, weil ihn mittlerweile echter Schüttelfrost gepackt hatte, so fest, dass seine Zähne klapperten, seine Kiefer aufeinanderschlugen. Seine Hände waren weiß, seine Fingerspitzen blau - er fühlte sich wie versteinert, unfähig, sich zu bewegen, und wusste nicht, warum… das hieß, doch, er wusste es schon, aber er wollte es nicht wahrhaben. Der Hauch des Todes greift um sich… eine Kraft, die kein Lebewesen in ihrer Umgebung unberührt ließ, egal ob zum Sterben verurteilt oder nicht. Er zog seinen Vater fester an sich, krallte seine Hand um seine, drückte sie gegen die Schussverletzung. „Du musst durchhalten, hörst du?!“ Eindringlich klangen diese Worte, so leise sie auch ausgesprochen worden waren. Yusakz sah ihn an, in ihm wühlte beinahe das schlechte Gewissen. „Wofür denn, Shinichi? Um im Gefängnis zu enden, oder aufs Schafott geführt zu werden? Du weißt, was mir blüht…“, er schluckte hart, „für all meine Verfehlungen, es interessiert keinen, warum ich das getan habe… nein, glaub mir, das hier ist schon besser so.“ „Nein!“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Du musst durchhalten. Du… musst. Für Mama. Für… mich. Du musst einfach. Du kannst doch nicht… ich wollte nicht, dass du…!“ Yusaku schaute ihn an, brachte ihm mit einem entschiedenen Blick zum Verstummen. „Es konnte für diese Geschichte kein Happy End für mich geben. Das war mir klar. Und dir doch auch…“ „Ich wollte nicht dass du stirbst! Ich weiß nicht, wie ich mir das Ende heute vorgestellt habe, aber nicht so! Hörst du! Und deshalb darfst du nicht…“ Ein leises, amüsiertes Lachen brachte ihn zum Verstummen. Yusaku sah ihn an, in seinen Augen mitfühlender Spott. „Sicherlich, Shinichi. Aber auch wenn du es nicht wolltest, du wusstest es. Du hast es nur verdrängt, nicht daran denen wollen, das ist alles. Aber du wusstest es. Wie ich auch. Ich wusste, worauf ich mich einlasse, also mach dir keinen Vorwurf deswegen.“ Er schaute ihm in die Augen, ernst. Shinichi biss sich auf die Lippen, schüttelte den Kopf. „Bitte nicht. Bitte… nicht, bitte, wie…“ „Shinichi.“ Sein Vater sah ihn an, eindringlich – und Shinichi verstummte, stöhnte leise auf, als ihm die Ausweglosigkeit dieser Situation bewusst wurde. Und er hielt es fast nicht aus. Der Schriftsteller schluckte hart, hob mühsam eine Hand, legte sie seinem Sohn in den Nacken, sah ihn fest an, zwang ihn, ihm ebenfalls ins Gesicht zu sehen. „Shinichi, hör mir gut zu.“ Er atmete langsam ein. „Egal was passiert, führ dein Leben genauso weiter, du bist auf dem richtigen Weg. Lass dich von keinem davon abbringen. Egal welche Entscheidung du triffst, es wird immer die Richtige sein. Lass dich von deinem Gefühl leiten, es täuscht dich nicht...“ Mühselig waren ihm die Worte über die Lippen gekommen. Er versuchte zu schlucken, und merkte, wie trocken sein Mund geworden war. "Pass auf dich auf, versprich mir das..." Leise aufseufzend ließ der Schriftsteller sich zurücksinken, wischte sich über die Augen, starrte in den Himmel, wünschte sich fast, dass sein Sohn jetzt nicht hier war, in diesem Moment, konnte er doch spüren, wie es ihn zerriss. Und dennoch war seine Gegenwart tröstlich, das Gefühl, nicht allein zu sein beruhigte ihn, irgendwie. Pass auf dich auf... Shinichi blickte ihn an, merkte, wie Tränen aus seinen Augen zu rinnen begannen, wollte noch so viel sagen und war doch unfähig zu auch nur einem weiteren Wort. Er hielt ihn fest, stumm, brach nicht den Augenkontakt, wagte nicht einmal zu blinzeln, und ertrug es kaum, seinen Vater sterben zu sehen. Er zitterte am ganzen Körper, fror so sehr, dass er nicht glaubte, dass ihm im Leben noch einmal warm werden könnte – er fühlte sich, als wäre er bis in sein Innerstes zu Eis erstarrt. Unbewegt saß er da und lauschte. Hörte die Atemzüge, hoffte auf einen weiteren, noch einen. Stirb nicht. Ich verzeih dir alles, aber bitte… bitte stirb nicht. Und so kauerte er auf dem Asphalt während seine Hosenbeine sich langsam rot färbte, als das Leben aus dem Schriftsteller herausrann; und hielt die Hand seines Vaters mit beiden Händen fest, horchte in die Stille, und dann - hörte er es ganz deutlich. Ein letztes, leises Seufzen. Shinichi hielt den Atem an. Als der Glanz in seinen Augen brach, das Licht aus ihnen entwich und erlosch, wagte er es, seine kurz zu schließen, seine Lieder aufeinander zu pressen, als sie kam, die erste Welle dieses namenlosen Gefühls. Schmerz war einfach kein Wort dafür, um es zu fassen. Er schnappte mühevoll nach Luft, rang um Atem, als ihm plötzlich etwas die Luft nahm, seinen Brustkorb zusammenpresste, bis der letzte Lufthauch draußen war, und ihm nicht gestattete, einen neuen Atemzug zu tun. Und es war so gespenstisch still. Akai und Heiji waren immer noch weit entfernt – dennoch konnten sie sehen, wie die Gestalt am Boden sich über den liegenden Körper krümmte, die Hände in den Stoff des Sakkos krallte, von inneren Schmerzen zerrissen, von seelischen Qualen zerfressen. Dann schrie er; nur einmal, aber so voller Qual, dass es allen Anwesenden eiskalt den Rücken hinablief, sich ihnen sämtliche Haare aufstellen und sie schaudern machte. Und dann… war es wieder still. Wie wieder Bewegung in die zweite am Boden liegende Figur kam, sahen sie nur allzu deutlich. Jemand anders allerdings nicht. Heiji keuchte. „Nein!“ Shinichi bekam davon nichts mit. Er war damit beschäftigt, irgendwie zu verstehen, was gerade passiert war, als er etwas spürte, das ihn schmerzhaft in die Realität zurückkatapultierte. Etwas Kaltes berührte ihn im Nacken. Und dann hörte er es, dieses noch kältere, leise, ihm leider mittlerweile allzu bekanntes Lachen und glaubte, auf der Stelle festfrieren zu müssen. Absinth. Absinth hatte die Gunst der Stunde genutzt, nur auf diesen Augenblick gewartet, auf diesen schwächsten aller Momente. Nun stand er hinter ihm, seine Reservepistole in der Hand, ein überlegendes Funkeln in den Augen. Mal sehen, wie weit wir dich heute noch kriegen, Kudô. Shinichi hob den Kopf, starrte blicklos in den Quadratmeter Nachtluft vor seinen Augen, hörte nichts, außer das überlaute Rauschen seines eigenen Blutes in seinen Ohren und diese Stimme, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Auf seiner Haut in seinem Nacken spürte er immer noch die kalte kreisrunde Form eines Revolverlaufs, die sicherlich ihren Abdruck dort hinterlassen wurde. Resignation überfiel ihn, Frustration und Enttäuschung. Die ganze Zeit hatte er gekämpft, versucht, fair zu bleiben und gerecht, ohne Gewalt auszukommen, und nun… das. Er schloss die Augen, atmete gepresst aus, tastete dann nach der Pistole, die vor seinem Knie halb verdeckt unter dem Arm seines Vaters lag, dort, wo er sie hatte liegen lassen, als seine Aufmerksam nur einem gegolten hatte. Vater. In seinem Kopf herrschte immer noch Chaos. Unsägliche Trauer befiel ihn, ein Gefühl, so tief, wie er es nie hatte spüren müssen und es war ihm, als risse es aus ihm alles heraus, was jemals froh und lebendig gewesen war. Er schloss die Augen, atmete ein weiteres Mal tief ein und wieder aus, biss sich auf die Lippen. Es spielte wahrscheinlich ohnehin keine Rolle. Er konnte von Glück reden, wenn er das Morgengrauen noch erlebte; froh würde er so oder so in diesem Leben kaum mehr werden. Dann hörte er Absinth hinter sich reden, konnte die Provokation seiner Worte fast körperlich spüren; ein jeder Satz saß gezielt, fühlte sich an wie eine Ohrfeige, schnalzte durch die Luft wie ein Peitschenhieb. Und mit jedem seiner Worte gewann ein anderes Gefühl mehr Macht über ihn. „Interessant… du, der Moralpostel vor dem Herrn und dein Vater, die sprichwörtliche Inkarnation des Teufels… ein Mörder. Und du vergibst ihm…“ Verzweiflung. „Was für eine edle Geste.“ Absinth lachte erneut. Triumpf erklang in seiner Stimme. „Ein wahrer Sohn. Sicherlich konnte er nun in Ruhe sterben, nun, da ihm vergeben wurde, was er angerichtet hat…“ Wut. „Allerdings, finde ich, passt so viel Noblesse nicht an diesen Ort. Steh auf. Es wird Zeit, dem hier endlich ein Ende zu setzen.“ Hass. „Ich will sehen, wie du stirbst, Shinichi Kudô. Ich will in deine Augen sehen, wenn du erkennst, dass du verloren hast. Ich will die Schuld in deinen Augen sehen, in deinem hübschen Gesicht, wenn dir klar wird, was du getan hast. Ich will dich zerbrechen sehen, auf jede erdenkliche Weise.“ Absinth lachte laut, schallend, triumphierend. „Los, steh auf!“ Er trat ihm in den Rücken. Shinichi kniff die Augen zusammen, fluchte innerlich. Kehre nie dem Feind den Rücken zu! Verdammt! Shinichi atmete gepresst auf. „Kann ich ihm wenigstens noch die Augen schließen, bevor wir’s hinter uns bringen?“ Absinth überlegte einen Moment, scheinbar. „Tu, was du tun musst; so oder so, du entkommst mir nicht, und es gibt auch keinen mehr, der dich noch rettet. Aber mach keinen Staatsakt daraus, Kudô.“ Shinichi drehte sich kurz um, starrte ihn unverhohlen wütend an, wandte sich dann wieder ab. Sein Gesicht, starr wie eine Maske, war seinem Vater zugewandt, dessen Augen leer in den Himmel blickten. Der Anblick kostete ihn fast seinen Verstand. Er wusste, was der Tod war, und er war auch schon oft direkt mit ihm konfrontiert worden. Aber hier und jetzt brachte er ihn schier an den Rand des Wahnsinns. Er sah ihn dieses bleiche Gesicht, konnte nicht glauben, dass er tot war. Konnte kaum glauben, was hier und heute passiert war. Er schluckte unwillig, strich sich über die Stirn, vergrub kurz sein Gesicht in seinen Händen, fuhr sich mit seinen Händen durch die Haare. Dann streckte er die Hand aus, unendlich langsam, legte sie auf seine Augen. Drückte seine Lider zu, atmete gepresst aus. „Lebwohl.“ Wer weiß, vielleicht sehen wir uns gleich… Er spürte, wie seltsam kalt sich seine Haut bereits anfühlte, und dachte daran, dass vor wenigen Minuten… So sieht’s aus… vielleicht liege ich gleich neben dir. Vielleicht auch nicht. Wir werden sehen. Dann stand er auf, mühsam und ungelenk, griff dabei heimlich nach der Pistole, die während der letzten Minuten auf dem Boden neben ihm gelegen hatte. Er fühlte sich kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten; und doch trieb ihn etwas an, das er nie in diesem Maße gespürt hatte. Unglaublichen Hass. Und unbändige Angst. Er drehte sich um, langsam, die Hand mit der Pistole leicht hinter dem Rücken versteckt, unauffällig. Absinth trat näher, zielte mit seinem Reserverevolver auf den jungen Detektiven, setzte ihm den Lauf an die Brust, griff mit der anderen Hand nach seinem Kinn, starrte ihm ins Gesicht. Suchte in seinen Augen und fand, wonach er suchte. Hass, Angst. Sturheit, Unwille, Trotz. Das war zu lesen, sehr deutlich. Absinth kniff die Augen zusammen; dann ließ er ihn los, angewidert. Sehr schön. Wir sind fast soweit... Das könnte noch spannender werden, als ich dachte. Dann lächelte er breit. Ich krieg dich klein, pass nur auf. Ich habe sie alle noch geschlagen, zu Boden geworfen und zertreten wie einen Wurm; du wirst nicht der sein, der sich gegen mich erhebt. Du nicht. Du wirst verlieren. Auch wenn du vielleicht noch nichts ahnst. Du wirst in dein Verderben rennen, geradewegs in deine Hölle. Deine ganz eigene Hölle… Er schlenderte ein paar Schritte zurück, lächelte immer noch. „Ich sagte dir doch, du musst mich erschießen. Du wolltest mir ja nicht glauben.“ Ein leises Lachen entfloh seiner Kehle. „Es wäre klüger gewesen, Sie wären liegen geblieben.“ Shinichis Stimme war kaum zu hören. „Der Typ bin ich nicht; und du doch auch nicht. Wir kapitulieren nicht, wir geben nicht auf. Entweder wir siegen, oder wir verlieren. Mit allen Konsequenzen.“ Absinth hob seine Waffe, trat langsam wieder näher. „Du weißt, sie werden alle sterben, wegen dir, das habe ich versprochen, und ich halte meine Versprechen. Deine Mutter. Dein vorlauter Freund und seine Freundin. Dieser alte Professor, und Sherry, ja… sie zu töten wird ein besonderes Vergnügen. Aber nichts im Vergleich zu der Freude, sich mit deiner hübschen Freundin beschäftigen zu dürfen.“ Absinth atmete aus, grinste breit; in seinen Augen glitzerten Spott und pure Bosheit um die Wette. Analysierend schaute er seinem Opfer in die Augen, ins Gesicht, suchte in seinen Zügen nach den ersten Anzeichen, und fand sie. Qual, innerer Zerrissenheit und Schuld. Er trieb ihn auf den Abgrund zu, und wusste, bald würde er ihn erreicht haben. Und wenn er erst einmal hinuntergeblickt hatte, dann würde es zu spät sein. Er würde fallen. Du wirst Geschichte sein, Shinichi Kudô. Egal wie, dein Leben endet hier und jetzt. Absinth hob die Waffe, zielte. „Nein.“ Shinichi flüsterte dieses Wort sehr leise; er hörte sich selbst kaum sprechen. Dann schüttelte er den Kopf, hob mit einer fließenden Bewegung die Pistole an, die er versteckt gehalten hatte an, zielte. Absinth lächelte amüsiert, hob höhnisch den Kopf, schüttelte ihn langsam, hin und her, als er sprach. „Das gleiche Spiel nochmal? Wir das nicht langsam langweilig, Shinichi Kudô?“ Er trat einen Schritt zurück; diesen Ausdruck in den Augen des Jungen zu sehen faszinierte ihn. Er wusste, irgendwann war bei jedem Menschen eine Grenze erreicht; dann brachen sie entweder ein, oder sie veränderten sich ins Gegenteil, kippten um, warfen alle ihre Grundsätze über Bord, nur um sich aufzulehnen, dem Gegner etwas entgegen zu stellen. Letzteres schien hier passiert zu sein. Er hatte eine Waffe in der Hand, und würde sie benutzen. Die Frage stellte sich nur, ob er diesmal den Schlussstrich darunter zog. Und auf irgendeine absurde Art und Weise bemerkte er es trotz des Unbehagens mit Genugtuung. Du weißt, du kannst nicht gewinnen… wenn du das tust,… Du bist nicht dafür gemacht, das zu ertragen. Damit zu leben. Er lächelte ein schmales, bösartiges Lächeln, dann umgriff er mit beiden Händen seinen Revolver. Sah in den Zügen seines Gegenübers den inneren Kampf, der sich im Kopf des Oberschülers abspielte und genoss es, mehr noch, viel mehr noch, als gerade eben schon. Er sah, wie er sich quälte, und es freute ihn über die Maßen. Shinichi hob seine Waffe ebenfalls, merkte, wie in ihm alles auf einmal seltsam taub und dumpf wurde. Ich kann das nicht. Ich kann… Er sah in Absinths Gesicht, sah auf die Waffe, in die schwarze Öffnung des Laufs. Sah, wie sich der Finger um den Abzug bog, sah dieses Lächeln. Ihm brach der Schweiß aus. Er wusste, jetzt wurde es ernst. In den nächsten Sekunden entschied sich, ob er heute sterben würde; ob Ran, ob seine Mutter, ob seine Freunde sterben würden. Ran. Und es lag in seiner Hand, das zu entscheiden. Er schluckte, merkte, wie seine Finger zu kribbeln anfingen. Eins. „Also, was ist nun?“ Absinths Stimme klang herausfordernd durch die Nacht. Shinichi krümmte seinen Finger um den Abzug, merkte, wie seine Hände unkontrolliert zu zittern anfingen. Zwei. Er biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte, und hörte auch dann nicht auf damit. Absinth sah ihm ins Gesicht, in seinen Augen nicht ein Hauch mehr von Angst, nur diabolische Freude; eine Fratze wie die des Teufels, der mit Vergnügen mit seiner neuesten armen Seele spielt. Und er fragte sich, warum sich dieser Mann nur so diabolisch freute. Hatte er keine Angst? Glaubte er immer noch nicht, dass er schießen würde? Oder freute ihn gerade diese Tatsache, ihn soweit gebracht zu haben? In seinem Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Shinichi stöhnte auf, leise. So ungeheuerlich ihm dieser Mann war, so beunruhigend er dessen offensichtliche Angstlosigkeit fand, wusste er doch gleichzeitig, wenn er nicht schoss, dann würde Absinth es tun. Absinth würde schießen. Er sah, wie sich dessen Finger um den Abzug krümmte, sah es in seinen Augen blitzen, erwartungsvoll der Dinge entgegenblickte, die da auf ihn zukommen würden. Shinichi schluckte, schloss die Augen. Die Zeit schien stillzustehen, kein Geräusch drang mehr an sein Ohr. In seinem Kopf hallte nur seine eigene Stimme wider. Drei. Dann fiel ein letzter Schuss an diesem Abend. Das leise Rascheln von Stoff war zu hören, der dumpfe Aufschlag eines Hinterkopfs auf den Asphalt, das scharfe Klirren von Metall, das auf den harten Parkplatzboden auftraf. Und dann hörte die Nacht erneut dieses Gelächter, leise, spöttelnd, schadenfroh. Schaurig hallte es über den Parkplatz, wurde immer lauter, bis an die Ohren des Trupps um Meguré und Black, die wie aus Wachs gegossen im Morast standen, unfähig zu einer Bewegung. Erreichte Heiji und Akai, die ebenfalls inne gehalten hatten, um nicht zu stören, und in die jetzt Bewegung kam. Absinth lachte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)