Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 51: Kapitel 33: Gewinner und Verlierer ---------------------------------------------- Hallo zusammen! Nun, bevor es an dieser Stelle gleich weitergeht, möchte ich euch allein ein gutes, neues Jahr wünschen! Ich hoffe, ihr seid alle gut gerutscht! Viel - äh - Vergnügen beim Lesen. Ein paar Kapitel liegen noch vor uns, und ich hoffe, es wird für alle klar, warum es kam, wie's kommen musste. Beste Grüße, eure Leira _____________________________________________________________________________________________ Kapitel dreiunddreißig: Gewinner und Verlierer Absinth lachte. Aus vollstem Halse, laut und anhaltend, schien schier nicht aufhören zu wollen. Es war ein gespenstisches Gelächter, passend zu dieser Stunde, zu diesem Ort – aber doch voller Triumph, Hohn und Schadenfreude. Ich habe gewonnen, und das weißt du… Shinichi fühlte sich wie schockgefroren, merkte wie eine Welle eisigen Entsetzens ihn packte, festhielt und nicht mehr losließ; dennoch trat er näher. Absinth lag rücklings auf dem Boden, zum zweiten Mal an diesem Abend; zum zweiten Mal wegen ihm. Seine Waffe war ein paar Meter weiter neben ihm gelandet; er hatte sie fallen lassen, als die Kugel seinen Oberkörper durchschlagen hatte, auf dem Asphalt war sie nach dem Aufprall noch ein wenig weiter geschlittert. Und jetzt starrte er in den Himmel und lachte, laut, voller Spott, beißend und voller Genugtuung. Dann hielt er inne, richtete sich auf, langsam, kam auf die Knie – sah ihn an, in seinen Augen ein kaltes Glimmen, das seinesgleichen suchte. „Herzlich willkommen in der Organisation, Armagnac!“ Die Worte waren nur geflüstert, kaum laut genug sie zu hören – dennoch trafen sie ins Ziel, präzise, wohlgesetzt und vernichtend. Shinichi wankte, fühlte sich, als habe ihm jemand mit der Faust mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. „Nein!“ Er schüttelte den Kopf, trat unsicher einen Schritt zurück. „Ich bin nicht wie ihr, ich bin…“ Die Worte wollten ihm wie ein Wasserfall über die Lippen, allein die Kraft und auch die Überzeugung fehlten ihm – und so klangen seine Worte wider von dem Gefühlen, die ihn ausfüllten, keinen Platz ließen für etwas anderes. Entsetzen, Verzweiflung, Angst. Angst, dass das die Wahrheit sein könnte. Absinth lachte heiser, aber nicht minder amüsiert. „Nun doch, ich muss es zugeben… du hast das Aufnahmeritual bestanden, wenn auch verspätet. Dein Vater kann wahrlich stolz auf dich sein… du trägst den Namen nun zu Recht.“ Er röchelte, hustete, fing sich aber wieder, beobachtete sein Opfer mit wachsendem Interesse. „NEIN!“ Der Oberschüler schüttelte den Kopf, immer heftiger, bis sich leise pochend hinter seinen Schläfen Kopfschmerzen einstellten; er merkte, wie ihm schwindelte, ihm langsam bewusst wurde, was geschah. Was er getan hatte. Er näherte sich Absinth, ging neben ihm in die Knie, packte ihn am Kragen. „Ich bin nicht wie ihr, ich bin…!“, begann er, schaffte es aber nicht, den Satz zu vollenden; selbst in seinen eigenen Ohren klangen diese Worte halbherzig und unüberzeugt. Er glaubte sich selbst nicht, nicht ein Wort. Irgendetwas in ihm flüsterte ihm ein, dass Absinth Recht hatte. Eine kleine Stimme, die in seinem Kopf beständig die gleichen Worte flüsterte. Du bist wie sie. Du konntest nicht anders werden… Schließlich war er dein Vater. Du bist der Erbe des Barons der Nacht… Er war wie sie, kein Gramm besser. Er hatte geschossen, und in ein paar Minuten würde er auch getötet haben. Denn Absinth starb. Wegen ihm. Absinths Gelächter verstummte, ließ nichts als ein feines Lächeln zurück; ein dünner Blutfaden wand sich aus seinem Mundwinkel. Shinichi spürte, wie eine Hand ihn am Kinn packte, wollte sie wegzerren und fand doch nicht die Kraft, es zu tun. Eisblaue Augen fixierten seine, machten es ihm unmöglich, sich abzuwenden. „Du bist ein Mörder, Shinichi Kudô… du weißt das. Mein Mörder...“ Ein heiseres Kichern entwich seiner Kehle. Shinichi starrte ihn an, schluckte, unfähig sich zu bewegen. „Nun, ich muss sagen, es ist erstaunlich, damit hatte ich nicht gerechnet… aber ich sehe es nicht ohne Freude. Es amüsiert mich königlich, und der Preis… dich so zu sehen, jetzt in dieser Stunde, zu wissen, dass dein Leben verwirkt ist, durch deine eigene Hand… das war es wert...“ Er lachte leise, ein zufriedener Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus. Shinichi schluckte hart, biss sich auf die Lippen. „Nein…“ "Doch." Absinth grinste. „Oh doch. Du hast keine Ahnung, wie ähnlich du deinem Vater bist, gerade in diesem Moment… er hatte genau den gleichen Ausdruck auf dem Gesicht, als er das erste Mal tötete. Ekel, Abscheu, Angst vor sich selbst, vor dem, was er zu tun in der Lage war… und doch wissend, dass er es wieder tun konnte. Diese Waffe wieder und wieder einsetzen würde, für seine Zwecke. Nach dem ersten Mal fällt es leichter, das weißt du doch…“ Der Oberschüler merkte, wie sich seine Hände verkrampften. „Diesen Rausch von Macht…“ „Hören Sie auf!“ Shinichi merkte, wie sein Schädel zu dröhnen anfing. „Ich will es nicht hören. Das ist nicht wahr…!“ Er wandte den Kopf ab, starrte auf den Boden, versuchte, alles auszublenden – die Nacht, Absinth, den Geruch von Schießpulver, Blut und Tod. „Das. Ist. Nicht. Wahr!“ Das kann nicht wahr sein… Heftig senkte sich sein Brustkorb, machte ihm erst jetzt bewusst, wie schwer ihm das Atmen fiel. „Das darf nicht wahr sein...“, kraftlos krochen ihm die Worte über die Lippen; immer noch klebte sein Blick am Asphalt. Langsam hob er den Kopf, sah in Absinths Gesicht, dieses Gesicht, dass er so hasste - und es starrte ihn an, mit Augen, die glitzerten von irrem Triumpf, böse und voller Genugtuung. „Du weißt, dass das die Wahrheit ist.“ Shinichi kniff die Augen zusammen, hielt sich den Kopf, als er meinte, er müsse platzen; er hielt es nicht aus. Absinths Worte bohrten sich in seinen Kopf, eindringlich, sich beständig wiederholend. Du weißt, dass das die Wahrheit ist. „Letztendlich hat dich die Organisation doch bekommen… dich vernichtet… Shinichi Kudô. Und das weißt du. Du hast verloren. Du konntest nie gewinnen… von Anfang an nicht.“ Absinth lachte ein letztes Mal; ein leises, ersticktes, röchelndes Lachen, heiser und voller Gehässigkeit. „Verloren…“ Shinichi starrte ihn nur an, fühlte, wie Absinths Griff sich lockerte und wich zurück, ließ ihn los, saß auf dem nasskalten Boden und schaffte es nicht, sich abzuwenden. Sein Blick haftete auf Absinths Gesicht, unfähig, sich zu bewegen, sah ihn wieder zu Boden sinken, halb auf den Rücken liegend und in den Mond blickend, sah seine Augen brechen, auf seinen Lippen immer noch dieses ekelerregende Grinsen und hielt sich den Mund zu, als er schreien wollte, fühlte, wie sich in ihm eine Übelkeit breitmachte, wie er sie in seinem Leben noch nicht gespürt hatte. Dann bemerkte er die Waffe, die er immer noch in seiner Hand hielt, wurde sich bewusst, was er damit getan hatte. Wollte ich es nicht immer wissen? Seit diesem Abend quält mich doch die Frage… ob ich es könnte. Er schluckte hart. Wissen, ob ich in der Lage wäre, zu töten…? Er hob die Pistole hoch, den Finger um den Abzug gekrümmt. Dann schleuderte er sie von sich, als er das Gefühl hatte, dass sich das Metall weißglühend in seine Hand brannte. Klappernd traf sie auf dem Boden auf, schlug einen Funken aus dem harten Asphalt. Jetzt weiß ich die Antwort... Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mit ihr glücklich bin. Regen nieselte auf ihn nieder, klebte ihm seine Kleidung auf die Haut wie vom Kleister nasse Tapete. Shinichi bekam das nicht mit. Sein Blick verlor sich irgendwo in der Luft vor ihm, verirrte sich in der Dunkelheit. In ihm herrschte Chaos, Schuld und Angst zerrten an ihm, zerrissen ihn. Er wusste, etwas starb in ihm, auf sehr schmerzhafte Weise. Er wusste nicht was es war, konnte es nicht lokalisieren, nicht greifen. Das Licht verging, hinterließ nichts als schwarze Finsternis, ließ ihn zurück mit seinen Gedanken, mit der Verwirrung, den vielen Fragen, auf die er keine Antwort finden wollte. Langsam kippte er nach hinten, schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt auf, hielt sich mit beiden Händen die Augen zu, presste die Handballen so fest auf seine Augäpfel, dass er schwarze Kreise tanzen sah. Ich kann nie mehr zurück. Wie kann ich ihnen unter die Augen treten, jemals wieder. Ich habe einen Menschen umgebracht, und es spielt keine Rolle warum, oder wie sehr er es verdient hat. Er hatte Recht… Ich bin nicht besser… Ich dachte es nur. Wollte es glauben. Er wusste nicht, wie lange er so da lag. Eigentlich konnten es kaum Minuten gewesen sein, bis Akai und Heiji endlich die Stelle erreichten, an der sie ihn fanden, wie zu Stein erstarrt. Irgendwann hörte er die Schritte. Langsam, aber stetig näherten sie sich. Zögernd drehte er sich um, sah einen Schemen, der sich aus dem Nebel löste, und erkannte ihn. Er lächelte bitter. „Warum wart ihr nicht schneller…“, murmelte er, konnte seine Worte selbst kaum hören. Es war Shuichi Akai, der auf ihn zutrat, seine Waffe in der Hand, in seinen Augen ein schwer zu deutender Blick. „Bist du verletzt?“ Ihre Blicke trafen sich kurz; Akais Stimme war leise und sachlich wie immer. Shinichi presste die Lippen aufeinander, spürte einen kalten Tropfen Schweiß, der ihm die Schläfe hinabrann, unfähig etwas zu tun oder zu sagen, schüttelte dann den Kopf, stand mühsam auf, merkte erst jetzt, wie kalt sein Körper war. Wie steif und erfroren seine Muskeln, wie starr seine Knochen. Akai bückte sich, hob die Waffe hoch; dann wischte er sie sorgfältig ab, streckte den Arm aus und feuerte einen Schuss in die Nacht, steckte sie anschließend ein. Shinichi starrte ihn an. Heiji war neben ihm getreten, stumm. Sah seinen Freund an, und erschrak; und versuchte doch, sich nichts anmerken zu lassen. Shinichi hingegen sah den Agent verständnislos an; dann breitete sich auf seinen Zügen langsam die Erkenntnis aus. „Was…!?“, murmelte er ungläubig. Hinter Akai war Black erschienen, warf seinem Mitarbeiter einen kurzen Blick zu, nickte. „If somebody asks you, who has shot that bastard… it has not been you. Verstanden?” Der Oberschüler blickte ihn voll Unverständnis an. Er ahnte, was hier gerade vorging, und was die beiden Agenten vorhatten; und er wusste, er wollte das nicht. Seine Augen wanderten wieder zu Absinth. „Nein. Nein. Das tun Sie nicht, ich…!“ Ich hab ihn umgebracht…! „Nein.“ Meguré trat ebenfalls näher, schüttelte den Kopf, schluckte schwer, bedachte seinen jungen Freund mit einem schuldvollen Blick. „Nein. Du hast genug zu tun, Kudô. Du musst dir nichts vorwerfen, das war Notwehr, du konntest nicht anders handeln; aber lass uns dir das Verfahren ersparen.“ „Aber ich..!!“ Shinichi brauste auf, in seinen Augen ein Ausdruck unbändigen Entsetzens und Schuld. „Ich hab ihn… ich hab ihn…“ Er brachte das Wort kaum über die Lippen. „… erschossen…“ Unwillkürlich griff er sich an den Hals. „Ihr habt ihn doch gehört… ich bin nicht besser als sie… ich…“ Der junge Detektiv erschauderte. „Mein Gott, das glaubste doch nicht wirklich?!“ Heiji starrte ihn völlig entgeistert an. „Der Kerl war ein Psychopath! Du glaubst doch nicht wirklich auch nur ein verdammtes Wort von dem Schwachsinn, das der Typ ausgespuckt hat!? Du hattest nen schweren Tag, aber bei aller Liebe – spinnste jetzt total?“ Langsam waren auch die anderen am äußersten Ende des Parkplatzes angekommen, eilten näher; Jodie zog sich im Laufen ihre Schuhe wieder an. Sie alle hatten gesehen, was passiert war; und sie alle wussten, dass er keine andere Wahl gehabt hatte, als zu schießen. Wie er damit klarkommen würde, das wussten sie allerdings nicht. Aber ihm war anzusehen… allzu gut klarkommen würde er damit in nächster Zeit nicht. Im Moment… kam er wohl gar nicht klar damit. Shinichi schluckte, schloss die Augen, schüttelte den Kopf. Als er sie wieder öffnete, blitzte in ihnen Wut und Unverständnis. „Wenn du gehört hast, was er sagte, dann hast du sicher auch gesehen, was ich getan hab.“ Er schluckte. „Falls nicht, ich helf‘ dir auf die Sprünge. Das Ergebnis liegt vor deinen Füßen.“ Seine Stimme verlor sich. Er krümmte sich unwillkürlich, kniff die Augen zusammen, verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, schien sich selbst noch mehr nach unten zu drücken. Shinichi hatte das Gefühl, sein Kopf müsste platzen. Heiji schluckte, schaute ihn betroffen an. Der Oberschüler aus Tokio stöhnte leise auf, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, sah sie dann an, starr. „Ich hab ihn erschossen. Ich wollte nicht, aber ich habs... getan.“ Er hob den Blick, in seinen Augen kein Hauch mehr von Zynismus. Entsetzen stand quer über sein Gesicht geschrieben, blankes Entsetzen, Angst, Ekel, Abscheu. Angst. „Heiji, ich hab ihn erschossen. Das Leben kann doch nicht weitergehen wie bisher, ich… ich hab… ich dachte nie, dass ich das könnte, dass ich dazu in der Lage bin, ich will nicht zurück, wie kann ich zurück, ich hab… ich habe einem Menschen das Leben genommen, wie… was, wenn…“ Heiji schaute ihn bedrückt an, legte ihm die Hand auf die Schulter; zog sie zurück, als er merkte, wie sein Freund zusammenzuckte, merkte, wie es in seinem Bauch zu wühlen begann. Warum zwang man ausgerechnet dich dazu… Warum waren wir nicht einmal schneller?! „Kudô. Von wem willstes schriftlich haben? Das war Notwehr! Das weißt du. Er hätte dich erschossen, sonst. Er hat deinen Vater auf dem Gewissen. Er hätte uns, hätte deine Mutter, hätte Ran umgebracht, und zwar noch heute, hättest du ihn nicht aufgehalten. Und du hast versucht, ihn zu verschonen, verdammt! Du hast es doch versucht, es ging nicht anders…“ Shinichi schüttelte abwesend den Kopf. „Das ändert nichts an der Tatsache, dass er tot ist.“ Meguré trat näher; in seinem Gesicht spiegelte sich Unverständnis über so viel Starrsinn. „Du weißt, wie oft man aus Notwehr tötet, es ist uns allen schon passiert. Und nie hast du das verurteilt! Warum fängst du bei dir damit an…?“ Shinichi schaute ihn nicht an, schwieg. Starrte auf den Boden, merkte, wie er zu zittern anfing, unwillkürlich. „Nur weil dein Vater ein Mitglied dieser Organisation war? Weil man dich zum Mitglied machen wollte? Verdammt, du hast das doch nicht zum Spaß gemacht!“ Der junge Detektiv schluckte hart, schüttelte dann langsam den Kopf. „Nein, so läuft das nicht. Und Sie sollten sich schämen, Meguré, Sie sind doch Polizist! Egal ob Notwehr… oder nicht, ich hab… ich hab… einem Menschen das Leben genommen.“ Er merkte, wie ihm erneut übel wurde, kämpfte verbissen gegen den Würgereiz. Er roch immer noch das Pulver, und er war sich nicht sicher, ob er jemals diesen ekelhaft-metallischen Geruch von Blut wieder aus seiner Nase bekommen würde. Er sah den Menschen vor seinen Füßen, und er wusste, er war tot, wegen ihm. „Das ist ein Verbrechen! Sie können mich doch nicht so einfach gehen lassen! Das…!“ „Kudô!“ Meguré trat näher. „Nein!“ Shinichi wich zurück. „Bitte, führen Sie mich ab, sperren Sie mich ein, irgendwie muss ich doch… muss ich doch bezahlen dafür, was ich gemacht hab, ich hab ihn erschossen, ich… ich bin doch nicht besser als er, was unterscheidet mich von ihm? Ich hab…“ Er griff sich in die Haare, kniff die Augen zu. „Das Recht muss doch auch für mich gelten…“, presste er hervor, atmete mühevoll ein- und aus. „Welches Recht...“ Der alte Kommissar näherte sich ihm langsam, legte ihm seine Hand auf die Schulter. Shinichi zuckte zusammen, wich zurück. „Du hast dich nur selbst verteidigt. Die beschützt, die du liebst. Du… verdammt, du hast genug mitgemacht. Du hast etwas erlebt, das dich für dein Leben zeichnet. Du musstest erkennen, dass dein halbes Leben eine Lüge war. Dass dein Vater nicht der war, der er vorgab zu sein; man wollte dich umbringen, und alle anderen auch. Jeder andere an deiner Stelle hätte genauso gehandelt. Kein Richter würde dich einsperren, also lass uns dir doch das Verfahren ersparen…“ Shinichi schüttelte den Kopf. „You know, even Sherlock Holmes didn’t bring every criminal to justice. Auch er hat manchmal einen Verbrecher laufen lassen.“ Blacks ruhige Stimme brachte ihn dazu, wieder aufzusehen. „But that was only fiction, Mr. Black.” Shinichis Stimme klang müde, desillusioniert. Er schloss die Augen, atmete ruhig aus. „I killed him. I perfectly well knew what I did. I aimend, and I shot, and I knew, that blow could cause his death.“ Shinichi fuhr sich über die Augen, schaffte es dennoch nicht mehr, seinen Blick von der Leiche abzuwenden. „Und deshalb gehöre ich ins Gefängnis und vor ein Gericht, ich muss mich doch dem stellen, was ich verbrochen habe…“ Sie sahen ihn an, und wussten, dass es jetzt vorbei war. Über seine Wangen rannen Tränen, langsam, zeichneten helle Linien in sein angestaubtes Gesicht. Auch er spürte, dass er jetzt den Kampf verlor, langsam. „Verdammt, warum… hab ich das getan, das…“ Es war zu viel. Heiji war blass geworden, selbst unter seinem braungebrannten Teint sah man ihm die Blutleere im Gesicht an; jetzt aber kam Bewegung in den jungen Mann aus Osaka. „Shinichi…“ Er flüsterte den Namen, traute sich nicht, ihn lauter anzusprechen. Shinichi wandte sich dennoch um, unendlich langsam, sah ihn nur an. Er schien betäubt, innerlich leblos; nur Tränen rannen ihm übers Gesicht, stumm. Dann wandte er den Kopf weiter, sah seinen toten Vater auf dem kalten Asphalt liegen, zuckte zusammen, stöhnte leise auf. Meguré hatte seine Hände in seinen Taschen vergraben, starrte betroffen in das Gesicht des toten Schriftstellers. „Shinichi, bitte...“ „Nein!“ Der junge Mann fuhr herum. „Verstehen Sie das denn nicht? Verdammt, er sagte, er wäre stolz auf mich, und ich würde richtig handeln… und was mach ich? Keine fünf Minuten, nachdem er tot ist, bringe ich… einen Menschen ums Leben, ich…“ Er schloss die Augen, kniff sich in den Handrücken, aber der Schmerz half nicht, die Bilder kamen dennoch zurück. Kraftlos ging er in die Knie, krallte seine Hände in seine Haare. Er hielt seinen Kopf, atmete schwer, fühlte, wie es an allen Enden an ihm riss und zerrte. Und wünschte sich, er hätte sich erschießen lassen. Heiji musterte ihn sorgenvoll, wütend über seine eigene Hilflosigkeit. Dann trat er langsam nach vorne, packte ihn an der Schulter, zog ihn hoch. Schluckte, wusste nicht, was er sagen sollte, und versuchte es dennoch. „Shinichi, er gab dir die Waffe doch nicht zum Spaß, er wusste, wofür man sie benutzt, verdammt! Er hat versucht, die zu beschützen, die er liebte, und diese Aufgabe übertrug er dir. Du hast richtig gehandelt. Und… ich danke dir dafür.“ Shinichi warf ihm einen müden Blick zu. Er sah ihm an, wie sehr er kämpfte um seine Fassung, sah ihm an, wie wenig er seinen Worten glaubte. Dennoch bewunderte er ihn für seine Selbstbeherrschung; und wünschte sich doch, dass er sie einfach aufgäbe, dieses Mal. Das is zu viel, Kudô. Das kann kein Mensch einfach in sich reinfressen und verdaun, ohne dass er sich den Magen dabei verdirbt. Schrei, tobe, heule, meinetwegen. Schlag eins dieser Autos kurz und klein. Tu, was du willst. Aber hör auf zu schweigen, ich bitte dich. Etwa eine Viertelstunde später kam einer der Polizeiwagen, der den Umweg genommen hatten; und das übliche Prozedere fing an. Shinichi hatte ihnen tatenlos zugesehen, stand wie ein Zombie etwas abseits neben Heiji, der ihn am Arm gepackt hatte und sicherstellte, dass er sich nicht doch mitnehmen ließ. Für Shinichi lief der Film, in dem er die Hauptrolle spielte, neben ihm ab. Er fühlte sich innerlich ausgebrannt und leer, unfähig, irgendetwas zu tun, unwissend, wie er dieses Leben fortführen sollte. Er sah emotionslos zu, wie man sein Vater in einen Leichensack gehüllt abtransportierte. Ihm folgten Sharon und Absinth. Dann waren weitere Polizisten gekommen, und die Festnahmen hatten angefangen. Sie hatten warten müssen, bis Meguré den Einsatz koordiniert hatte; und so war ihm der Anblick von Rum und Cachaça zuteil geworden, in Handschellen und mit einigermaßen angesäuerten Gesichtern. Er fühlte keine Genugtuung. Auch nicht, als man mit Hilfe seiner Liste, die er ihnen stumm ausgehändigt hatte auf die Frage, ob es so etwas wie ein Mitgliederverzeichnis gäbe, herausgefunden hatte, dass man sie wirklich alle gekriegt hatte. Es würde eng werden in den Zellen des Tokioter Gefängnisses. Und nun saß er in einem Polizeiauto, gehüllt in eine Decke, fühlte sich immer noch erfroren und taub. Neben ihm saß Heiji, der ihn nicht aus den Augen ließ, etwas, das ihn langsam doch etwas störte, während Meguré den Wagen durch die Nacht lenkte. Der Kommissar war sehr blass geworden, mittlerweile. Seinen guten Freund tot aufzufinden, erschossen… hatte auch bei ihm Spuren hinterlassen. Meguré räusperte sich. Eins musste noch geklärt werden. „Shinichi?“ Der junge Mann rührte sich nicht. Der Kommissar schaute in den Rückspiegel, sah Heijis besorgen Blick. „Shinichi, hörst du?“ Der Angesprochene nickte kurz, sah aber nicht auf. „Es reicht, wenn du morgen die Aussage machst. Und vergiss nicht, was wir… besprochen hatten. Und du kannst sagen, was du willst. Ich werde dich für unzurechnungsfähig erklären lassen, solltest du etwas anderes behaupten. Bei dem, was du heute erlebt hast, attestiert mir das jeder Gutachter, das weißt du.“ Er wusste, dieser Satz musste in seinen Ohren wie ein schlechter Scherz klingen. Heiji warf ihm auch einen entsprechend bösen Blick zu; Shinichi hingegen starrte nur aus dem Fenster, sah die Bäume vorbeihuschen, Schatten und Schemen tanzen, konzentrierte sich darauf, um sich abzulenken. Nur nicht nachdenken. „Ist gut.“, murmelte er schließlich kraftlos. Meguré nickte langsam. Dann setzte er erneut an. „Hör zu. Von… der Sache mit deinem Vater wissen nur wir Eingeweihten. Davon ging nichts an die Öffentlichkeit. Und das… wird auch so bleiben.“ Nun fuhr Shinichis Kopf doch hoch; der Oberschüler schaute ihn fragend an. „Was?“ Meguré nickte ernst. „Es ist eigentlich… nicht üblich, das weißt du, wem erzähl ich das…“ Er lachte hilflos. „Aber angesichts der Umstände… fanden wir es für gerechtfertigt. Da sind genügend Sündenböcke, die zu Recht die Schuld verdienen. Dein… Vater hat teuer genug bezahlt. Und du auch.“ Shinichi starrte ihn an, sagte nichts. Er wusste, er hätte sich bedanken sollen, und irgendwann würde er das auch; momentan brachte er nur einfach keinen ganzen Satz über die Lippen. Zurück in Tokio setzte Meguré die beiden Oberschüler an der Kudôvilla ab. Er hatte ihnen noch nachgesehen, bis Shinichi den Schlüssel aus seiner Tasche gezogen hatte, und die Tür aufsperrte. Dann war er gefahren, konnte nicht verhindern, dass auch ihm langsam eine Träne aus dem Augenwinkel rann. Keiner bekam mit, dass die Tür aufgegangen war. Bis auf sie. Alle anderen saßen da, starrten in die Flammen des Kamins, die züngelnd und tanzend das Holz verschlangen, dabei den ganzen Raum in ein zuckendes, orangerotes Licht tauchten. Ran stand auf, ging an ihnen vorbei, ungeachtet. Kazuha hatte den Kopf schwer auf ihre Hände gestützt, in ihren blicklosen Augen spiegelte sich das Feuer. Ai war eingeschlafen, genauso wie Yukiko. Der Professor war gerade in der Küche, beschäftigte die Kinder mit irgendetwas, sie wusste nicht, was es war. Als sie in die Eingangshalle trat, sah sie ihn, trotz des Dämmerlichts, das dort herrschte, und erschrak. Selbst in dem schwachen Licht konnte sie sehen, in welchem Zustand ihr Freund sich befand. Heiji stand neben ihm, redete leise auf ihn ein, brach ab, als er das Mädchen bemerkte. Shinichi bemerkte sie erst, als sie fast vor ihm stand. Ran schluckte schwer. Shinichi sah entsetzlich aus; Dreck klebte an seiner Haut, im Gesicht und an den Händen. An seiner Wange zog sich ein blutiger Kratzer quer unter dem Auge über den Wangenknochen, in seinen Haaren klebte ebenfalls Blut. Und nicht nur da. Rot und zum Teil schon geronnen hing es an seiner Kleidung, klebte an seinen Händen, verbreitete diesen metallischen Geruch, der für Blut so typisch war. Ran merkte, wie sich ihre Haare im Nacken aufstellten. Aber das war es noch nicht einmal, was es so entsetzlich machte. Was ihr diesen Schauer über den Rücken jagte. Es waren seine Augen. Der Blick. So leer. Leerer, als sie es je gewesen waren, während seiner Amnesie. Nicht mehr verängstigt, verzweifelt, traurig, wütend oder enttäuscht, nein. Geschlagen. Fix und fertig. Er mochte gewonnen haben, aber über seinen Sieg freute er sich nicht. Dann schaute er sie an. Ran holte Luft, wollte etwas sagen, aber er brachte sie mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln zum Schweigen. Hinter ihnen ging die Tür auf, ein orangeroter Lichtstrahl fiel auf den Gang, ihm direkt ins Gesicht, ließ ihn blinzeln. Yukiko Kudô trat heraus, sog scharf die Luft ein, als sie ihren Sohn sah, sagte aber nichts. Starrte ihn an, mit so viel Angst in ihren Augen, vor der Antwort auf ihre unausgesprochene Frage. Er nickte kaum merklich, schluckte schwer, schaute dann weg. Yukiko kniff die Augen zusammen, presste ihre Finger an die Lippen, unterdrückte ein Schluchzen. Dann trat sie näher, fasste ihrem Sohn ins Haar, zog ihn heran, gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist.“ Ihr Wispern war heiser, kaum zu verstehen, aber er hörte es dennoch. Hörte, wie aufgewühlt sie war, hörte auch, wie ernst sie diesen Satz meinte. Und hörte unsägliche Trauer, jetzt schon. „Es tut mir…“ „Schhhhht, Shinichi...“ Sie ließ ihn los, schüttelte den Kopf, strich ihm über die Wange, legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen, brachte ihn zum Verstummen. „Nein, Shinichi.“ Ihre Stimme klang seltsam belegt. Dann drehte sie sich um, stieg die Treppen ins erste Stockwerk hinauf. Shinichi, Heiji und Ran schauten ihr hinterher, bis sie verschwunden war. In ihr war ein ungutes Gefühl aufgekeimt. Die Tatsache, dass er allein hier war, dieser kurze, für Außenstehende kaum nachzuvollziehende Wortwechsel – sagte eigentlich alles. Yusaku Kudô war tot. Shinichi… „Wie ist das…?“ „Ran…“ Seine Stimme klang genauso niedergeschlagen, wie alles an ihm war. Sie starrte ihn an. Er schüttelte unwillig den Kopf, hob dann seine Hand, hielt sich die Stirn, als der Kopfschmerz sich zurückmeldete; nun, da sein Adrenalinspiegel langsam wieder bei Normalnull war, meldete sich sein Nervensystem mit aller Macht zurück. „Ich will darüber nicht reden. Und du solltest jetzt auch gehen, Ran.“ Dabei wollte er es eigentlich belassen. Er kniff die Lippen zusammen, wollte sich verziehen, wollte ihn vergessen, diesen Tag, irgendwie. Wollte alles wieder vergessen, sehnte sich zurück in diesen seltsam schwerelosen Zustand seiner Amnesie. Erschöpfung breitete sich aus in seinen Gliedern, er hätte umfallen können, gleich hier. Umfallen und nie wieder aufwachen. Rans Blick haftete auf ihm, fassungslos. „Du musst darüber reden. Irgendetwas ist doch passiert, ich seh das doch…“ Er drehte sich um, sah sie an. In seinen Augen lag ein seltsam starrer Blick, den sie bei ihm noch nie gesehen hatte. „Da irrst du dich, Ran. Ich muss gar nichts.“ Sie sah, wie er schluckte. Ahnte, dass es ihm schwerfiel. „Gar. Nichts. Muss ich. Und ich wiederhole mich ungern; geh nach Hause, Ran.“ Heiji schluckte, schaute stumm der Szene zu, ahnte, was hier vorging. Er wusste, es brachte nichts, sich einzumischen; Shinichi brauchte Ran jetzt wie nie zu vor. Und gleichzeitig wusste er, dass er das nicht einsah. Nicht heute. Shinichi wollte sich wieder umdrehen und sich endlich einsperren in seinem Zimmer. Oder im Bad. Einfach weg von allen, eine Tür zwischen sich und den Rest der Welt bringen. Er fühlte sich nicht gut dabei, sie einfach stehen zu lassen, aber besser das, als ihr sein momentanes Ich anzutun. Ihr je wieder sein Ich anzutun. Sie merkte, wie ihre Augen zu brennen anfingen, wie ihr Herz immer schneller, immer heftiger gegen ihren Brustkorb schlug, und wusste, was es antrieb, war die Angst, ihn zu verlieren. Dann streckte sie die Hand aus, griff seinen Kragen, zog ihn zu sich. Sie ignorierte, dass er zurückwich, sich ihr entziehen wollte; er hatte nach ihren Handgelenken gegriffen, wollte ihre Finger lösen, aber schaffte es nicht. „Lass mich los!“, zischte er, versuchte weiter, ihre Finger auseinander zu biegen, sie von sich wegzudrücken. Sie hielt ihn fest, klammerte sich an ihn, ungeachtet der Tatsache, dass sie damit ihre Kleidung durchnässte. Dann stieß er sie endlich doch von sich, atmete schwer. Ran taumelte zurück, schaute ihn erschrocken an. Er hatte die Augen zusammengepresst, und sie konnte sehen, wie es über ihn hereinbrach. „Lass mich in Frieden! Warum verstehst du das nicht, ich will…!“ All das Elend, all der Schmerz, das Leid, und die Qualen sich seiner bemächtigten. „Du musst…“, begann sie starrsinnig, ihre Aufforderung zu wiederholen; ihre Stimme war laut geworden. „Nein, muss ich nicht. Und ich möchte, dass du gehst, Ran, ich wiederhole mich ungern, und ich diskutiere nicht. Jetzt. Ich will, dass du gehst!“ Ran starrte ihn an. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte ihn aus seiner Reserve locken wollen, sie wollte da sein, wollte nicht, dass er damit allein war. Was auch immer es war. Offenbar wollte er genau das. Und er erlaubte keine Widerrede. „Verschwinde, Ran… ich bitte dich. Es ist nett, dass du gewartet hast, jetzt bin ich hier – du kannst also gehen… und du brauchst auch nicht wieder zu kommen.“ Sein Atem ging heftig, er biss sich die Lippen blutig, schlang seine Hände um seinen Oberkörper, schaute auf den Boden, als er sprach. „Ich muss allein sein, Ran. Ich will jetzt keinen hier haben, erst Recht nicht… dich. Du musst gehen. Ich will - ich will, dass du gehst.“ Seine Stimme klang gefasst. „Aber…“ „Kein aber.“ „Shinichi…!“ „NEIN!“ Er holte Luft, versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen, merkte doch, wie er zitterte, weil die Situation in überforderte, einmal mehr an diesem Abend. „Nein. Ran. Ich will, dass du gehst, dass du verschwindest. Ich werde dich nicht noch einmal bitten. Ich… ich hab viel zu viel erlebt heute, viel zu viel… getan, als dass ich…“ Er brach ab, als die Tür ein weiteres Mal aufging und sich vier kleine Gestalten, gefolgt von einer großen, in die Eingangshallte drängten. Shinichi schluckte, versuchte, sich zusammenzureißen. Die Kinder schauten ihn mit großen Augen an, in Ayumis Gesicht stand deutlich ein Hauch von Angst zu lesen. Ais Gesicht war schwer zu deuten, wie eh und je. Sie starrte ihn mit einem Blick in ihren Augen an, vor dem er sich seltsam nackt fühlte. Und irgendetwas sagte ihm, dass sie als einzige sofort ahnte, was er getan hatte. Wer er nun war. Ein Mörder. „Hi.“ Seine Stimme klang auf einmal unerwartet heiser. Er räusperte sich, warf dem Professor einen unsicheren Blick zu. „Was macht ihr hier?“ Ja. Jetzt war seine Stimme wieder sehr viel gefasster. Gut so, Kudô… „Wir haben nach dir gesucht. Und dann hier gewartet.“ Mitsuhiko hatte als erster seine Sprache wieder gefunden. Kein Wunder, dass sie sprachlos sind. Ich muss verheerend aussehen…wie aus einem Horrorfilm ab 18, nichts für kleine Kids. „Das ist… nett von euch. Nun, ich bin ja… jetzt wieder da. Ihr könnt also beruhigt nach Hause gehen.“ Ran schluckte, starrte ihn an. Seine Gesichtszüge waren gefasst, seine Stimme wackelte kaum, sogar ein kleines Lächeln brachte er zustande. Es war unglaublich, was für eine Kontrolle er über sich selbst hatte. Was für ein exzellenter Schauspieler er war. „Geht es… geht es deinem Papa gut?“, fragte Ayumi leise, und dieser Satz brachte ihn kurz ins Wanken, ließ seinen gesetzten Gesichtsausdruck kurz flackern wie eine Glühbirne mit Wackelkontakt; kurz sah man den Abgrund, der sich hinter der Nebelwand auftat, tückisch und tödlich für den unerfahrenen Wanderer, der seine Hand vor Augen nicht sah. Dann kniete er sich nieder, langsam, bis er auf Augenhöhe mit dem kleinen Mädchen war. Schluckte, schaute kurz zu Boden, ehe er in ihr junges Gesichtchen sah. „Ich fürchte, nein, Ayumi.“ Shinichi holte Luft. „Er… er ist tot, weißt du. Wir… wurden verfolgt, es wurde geschossen und er hat… hat sich vor mich gestellt. Er ist… er ist gestorben, für mich…“ Und dennoch war es sinnlos, Vater. Du hast es nicht verhindern können… Ran neben ihm wurde eine Spur blasser. Langsam atmete er aus, merkte, wie es langsam viel zu viel wurde, seine Augen brannten, eine Träne ihm über die Wange rollte. Er hob die Hand, wollte sie wegwischen, aber Ayumi kam ihm zuvor, strich sie ihm aus dem Gesicht. Dann beugte sie sich vor, umarmte ihn kurz, zart, es fühlte sich an wie ein Lufthauch, der ihn kurz streifte, dann stand sie wieder vor ihm, in ihren Augen eine Trauer, die er bei so einem kleinen Kind nie für möglich gehalten hätte. Tränen begannen über ihre Wangen zu laufen, ihre Unterlippe bebte. Mein Gott, das ist grausam… Er schüttelte sacht den Kopf. „Nicht doch. Ayumi.“ Shinichi wisperte den Namen nur, strich nun ihr mit dem Daumen vorsichtig die Tränen aus dem Gesicht, hob ihr Kinn ein wenig an, versuchte, sie anzulächeln, mit all der Wärme, die er noch aufbringen konnte. „Nicht weinen, Ayumi… es ist schon gut. Hörst du?“ Sie schluckte schwer, nickte tapfer. Langsam stand er wieder auf. Agasa schaute ihn mit betroffenem Gesichtsausdruck an; in seine Augen schlich sich ein Ausdruck von Trauer und Schmerz. „Yusaku ist… ist… tot...?“ Shinichi nickte nur. Dann schluckte er. „Ich… erzähl Ihnen die Geschichte, wenn Sie sie hören wollen, aber nicht heute. Nicht… ich… kann darüber nicht reden, jetzt. Sie sollten wirklich gehen.“ Der alte Mann starrte ihn nur an, dann nickte auch er, führte die Kinder nach Hause. Er konnte Ais Blick noch lange in seinem Rücken spüren. Erst als die Tür zugefallen war, sprach sie wieder. „Shinichi…“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hab das ernst gemeint. Du solltest auch gehen. Und wie gesagt, am besten kommst du nie mehr wieder. Ich bin fertig, ehrlich. Ich kann nicht mit dir zusammen sein, es tut mir auch leid, aber ich… bin nicht der Richtige für dich und ich… ich will dich…“ Shinichi schluckte, schaute sie verzweifelt an. „Ich will ich nicht noch mehr verletzen, also bitte, bitte geh doch endlich. Verschwinde.“ Seine Stimme wurde drängender. Ran schüttelte vehement den Kopf. „Hör doch auf!“ Sie schrie ihn an, griff nach seinem Arm, krallte ihre Finger in den Stoff. Laut hallte ihre aufgebrachte Stimme durch die Eingangshalle. Shinichi versuchte, ihre Finger zu lösen, und schaffte es nicht – und das machte ihn rasend. Er ertrug ihre Nähe nicht. „Du hast doch keine Ahnung…!!!“ Er schrie sie an, würgte. „Hau endlich ab, zwing mich nicht dazu, dich…“ „Das wagst du nicht!“ Er schloss die Augen, atmete langsam aus. Ran spürte den Lufthauch auf ihrem Gesicht, erschauderte unwillkürlich. Sie starrte ihn an, sog scharf die Luft ein. Sie ahnte, was kommen würde. Es hatte kommen müssen. „Ich bin der Sohn eines Mörders, Ran… und ich… ich…“ Er brach ab. Das geht nicht. Ich kann nicht. Dir das zu sagen, dass… Langsam wandte er sich ihr zu, in seinen Augen eine Hoffnungslosigkeit, die sie bei ihm noch nie gesehen hatte. Seine Züge waren schmerzverzerrt. „Bitte, glaub mir, ich musste heute Dinge über mich erfahren, die ich lieber nie erfahren hätte. Und mir ist… klar geworden, dass ich nicht der Richtige bin für dich. Mit jemandem wie mir sollte so jemand wie du dich nicht abgeben. Ich will…“ „Was meinst du damit, jemand wie du…?“ Er unterbrach sie, hörte ihr gar nicht zu. Seine Stimme klang sehr ernst, fast aggressiv. „Ich will, dass du gehst. Und du solltest nicht wieder kommen.“ „Vergiss es.“ Ihre Stimme war kaum mehr als Wispern, aber nicht minder entschlossen, fast schon herausfordernd. „Das kannst du nicht von mir verlangen, und ich werd‘s auch nicht tun. Ich lass nicht zu, dass du dich gehen lässt. Dass du dich diesen falschen Vorstellungen von dir selber hingibst. Du bist kein Mörder. Merk dir das, Shinichi Kudô.“ Die Selbstbeherrschung fiel ihm langsam aus dem Gesicht - sie konnte richtiggehend zusehen, wie diese Fassade langsam abbröckelte. „Das kannst du nicht wissen.“ Seine Stimme klang gespenstisch; nie hatte sie ihn so reden gehört. Ran erstarrte, schaute ihn an, und wusste, dass sie dieses Bild seines Gesichts nie wieder vergessen würde. „Ich bin ein Mensch mit freiem Willen, und mein Wille ist, bei dir zu bleiben, wer auch immer du bist, solange Shinichi Kudô noch da ist. Und das ist er. Versuch nicht, mir was anderes weis zu machen, ich weiß es besser. Du bist immer noch da. Immer noch der, der du warst. Du standest vor Entscheidungen, und hast sie getroffen. Und auch wenn du dich dafür verabscheust, es waren die Richtigen. Du wirst das jetzt Zeit deines Lebens mit dir rumschleppen, es wird dich zeichnen, keine Frage-“ Er schüttelte den Kopf, heftig, versuchte nun doch, ihre Finger aufzubiegen, damit sie ihn endlich losließ. „… aber es macht dich nicht aus.“ Er starrte sie wütend an. „Hör doch auf! Bitte! Ran, du hast doch verdammt nochmal keine Ahnung! Hörst du?! Lass mich endlich in Frieden, und geh. Du weißt nicht, was passiert ist.“ Er schluckte, senkte den Blick. „Dann sag es mir! Wirf mir nicht immer vor, dass ich nichts wüsste, wie soll ich etwas wissen, wenn du es mir immer verschweigst, verdammt!“ Sie starrte ihn an, vorwurfsvoll, biss sich auf die Lippen. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, küsste ihn sacht, kurz und fühlte, wie er zurückwich. Sie schluckte, lächelte traurig. „Ich liebe dich, das weißt du. Ich werde nicht gehen.“ Ran sah, wie er unter ihren Worten zusammenzuckte, sich dazu zwang, nicht aufzuschauen, merkte, wie es in ihm rumorte. Er kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf. „Sag doch so was nicht…“ Shinichi hob die Hand, strich sich über die Stirn, schaute dann auf, sah sie an. Diese Kapitulation, diese Niedergeschlagenheit in seinen Augen machten sie fertig. In ihr schrie alles auf, drängte sie zu ihm, sie wollte ihm helfen, unbedingt, jetzt gleich… Dann hörte sie ihn tief Luft holen, hörte ihn sprechen, leise, seine Stimme kaum lauter als ein Wispern. „Schön, wenn du nicht gehen willst, dann gehe ich.“ Damit ließ er sie stehen, stieg die Treppe hoch. Ran starrte ihm hinterher, in ihren Augen brannten die ersten Tränen. Sie warf Heiji, der an ihr vorbeischritt und seinem besten Freund hinterhereilte, einen fragenden Blick zu. Er schüttelte nur den Kopf, stumm. Er konnte sehen, wie verletzt sie war. Aber er konnte auch Shinichi verstehen, dass er sich jetzt mit ihr nicht auseinandersetzen konnte. Dass er sich zu… schlecht fühlte, zu böse, zu besudelt mit anderer Leute Blut, um mit ihr zusammen zu sein. 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