Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Kapitel 56: Kapitel 38: Nichts scheint, wie es ist -------------------------------------------------- Tja, liebe Leute - es ist tatsächlich war! Dies ist das vorletzte Kapitel von Amnesia. Das letzte Kapitel wartet geduldig bis nächste Woche aufs Hochladen. Ich entschuldige mich nochmal aufrichtig für die langen Wartezeiten, und kann euch nun endlich sagen - und sogar versprechen: Das Ende ist nah! Ich hoffe sehr, ihr könnt die letzten Kapitel noch genießen; dieses hier ist zugegebenermaßen von etwas gedrückter Stimmung geprägt. Wir sehn uns nächste Woche. Bis dahin, vielen Dank für alle, die noch dabei sind und mit tatsächlich noch kommentieren sollten (ja, ich hab euch wirklich LANGE warten lassen...) - eure Leira __________________________________________ Kapitel 38: Nichts scheint, wie es ist Der nächste Tag brach an wie jeder andere; wie tausende Tage in seinem Leben zuvor. Er begann damit, dass die Sonne aufging. So wie sie es jeden Tag tat. Und doch unterschied sich dieser Morgen von allen ihm vorangegangenen in so vielerlei Hinsicht. Shinichi seufzte leise, nachdem er durch das sanfte Klopfen an seiner Tür aufgewacht war. Kurz war das Gesicht seiner Mutter im Türrahmen erschienen, als sie sich vergewissert hatte, dass er wach war. Er drehte sich auf den Rücken, strich sich müde den Schlaf aus den Augen und genoss das Gefühl, einfach nur dazuliegen und nichts zu tun, nichts zu denken, nur das wohlig warme Gefühl der Decke auf seiner Haut zu spüren, den Duft des frühen Morgens zu riechen und das goldgelbe Muster auf der Decke zu beobachten, das die Morgensonne mit geschickter Hand auf die Zimmerdecke malte. Dann tauchte ihr Gesicht vor seinen Augen auf. Ran. Er seufzte erneut, definitiv lauter, ein Stirnrunzeln durchfurchte seine Stirn. Ihm war klar, dass er sie liebte; auch, dass er mit ihr zusammen sein wollte, wusste er. Trotz allem, was ihm passiert war, was er getan hatte, so war ihm doch klar, dass er egoistisch genug war um einzusehen, dass es ihm mit ihr besser ging. Er brauchte sie, er wünschte sich ein Leben mit ihr. Und gleichzeitig war er sich nicht sicher, ob sie nicht dennoch besser dran war ohne ihn. Zumindest jetzt, nach allem, was passiert war. Fakt war, er musste mit ihr darüber reden; egal wie es mit ihnen weiterging, danach. Sie musste wissen, was passiert war. Es war nicht fair, sie einfach stehen zu lassen ohne eine Erklärung. Ohne ihr die Möglichkeit gegeben zu haben, selbst darüber nachzudenken. Mit ihrer Reaktion würde er dann leben müssen; allerdings fürchtete er sie nicht halb so sehr wie das Gespräch, das zu einer Reaktion ihrerseits führen würde. Er fragte sich, wie sie sich fühlen würde, wenn sie erst wusste, was er getan hatte. Fragte sich, ob er es ertrug, in ihrem Gesicht zu sehen, wie das Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte, und bestimmt ein sehr positives war… zerbrach. Auseinanderfiel in tausend über tausend kleine Scherben. Ich frag mich, wie es für andere ist, mir ins Gesicht zu sehen, wenn es mir selbst so schwer fällt. Wie auch immer; er war zu dem Schluss gekommen, nach der gestrigen Auseinandersetzung mit der Nachricht seines Vaters, dass nie wieder mit ihr zu reden genauso wenig eine Option war wie ein Leben mit ihr zu führen, in dem ihr nicht alle Fakten über ihn bekannt waren. Gleiches Recht für alle, Ran. Er war der Boss dieser Organisation… und ich bin sein Sohn, und ihm in manchen Dingen wohl nicht unähnlich. Kannst du darüber hinwegsehen? Und kannst du verkraften, dass ich jemanden umgebracht habe? Ausgerechnet ich? Wie gehst du damit um? Gut, du bist die Tochter eines Polizisten, du bist mit dem Thema vertraut… Selbstverteidigung ist dir nicht fremd, aber dennoch. Gibt es irgendetwas auf dieser Welt, das es rechtfertigt, jemandem das Leben zu nehmen? Für dich war ich immer der Ritter in strahlender Rüstung… fehlerlos, makellos, ein Verfechter von Recht und Gerechtigkeit – und genau das wollte ich auch sein. Für dich. Für mich… Es schien so einfach, das Richtige zu tun, denn das Richtige fühlte sich gut an. Manchmal bitter, aber niemals falsch. Oder schlecht. So wie jetzt. Ich wollte wahrhaftig sein. Gerecht. Ein Vertreter der Wahrheit. Derjenige, der immer das Richtige macht, immer die Antwort weiß, der, an den man immer glauben kann, der nie schwankt, der wollte ich sein, und ich war es auch. Aber jetzt… Habe ich das Richtige getan? Was ist dieses dämliche Richtige eigentlich? Gibt es richtig und falsch in solchen Situationen… oder verschmelzen sie miteinander, ist richtig immer gleichzeitig falsch, wenn es… Wenn es um das bloße Leben an sich geht? Wenn es um den nächsten Atemzug geht… um nichts anderes sonst. Ich war der, dem du bedingungslos vertraut hast, weil du glaubtest, mich zu kennen… Glaubst du das immer noch? Glaubst du immer noch, du kennst mich? Vertraust du mir noch? Was ist jetzt? Jetzt, nachdem ich nicht einmal mehr weiß, ob ich mich selbst noch kenne? Er stöhnte leise auf, dann rollte er sich zur Seite und ließ sich aus dem Bett fallen, oder eher rutschen, als er die Decke mit sich zog. Langsam schälte er sich aus der Decke heraus und tappte zum Bad, um sich fertig zu machen. Verdammt, ich denke zu viel. Ich sollte mich erst mal darauf konzentrieren, was heute ist. Heute - war die Beerdigung. Im Nachhinein wusste er nicht mehr, wie er den Tag überstanden hatte; er hatte keinen blassen Schimmer, wie er durch die Bestattungszeremonie durchgekommen war, ohne irgendwo umzukippen. Und zum ersten Mal war er froh darüber, als sein Hirn über seine Gedanken eine Amnesie verhängte, er sich nicht daran erinnerte, wie sie den Sarg zum Krematorium gebracht hatten, und die Urne hierher. Sie stand nun hier auf dem Friedhof, vor dem zuvor sorgsam ausgehobenen kleinen Loch, auf einem kleinen Podest, wo er sie abgestellt hatte, eine Aufgabe, die ihm als Sohn zuteil geworden war – eine der vielen Aufgaben, die man als Sohn bei so einer Zeremonie zu übernehmen hatte, wie er feststellen hatte müssen - in einem sorgsam ausgehobenen, recht kleinen quadratischen Loch im Boden. Und nun er starrte in das Loch, als ob es ein Abgrund wäre, blicklos, in sich hineinhorchend. Der Redeschwall des Priesters schwappte über ihn hinweg wie eine träge Welle, ohne sich wirklich an ihm zu brechen. Für ihn war seit einer Viertelstunde eigentlich der Zenit dessen erreicht, was er heute ertragen konnte, und deshalb machten nun langsam seine Schotten dicht. Nicht einmal Trauer und Schmerz fühlte er noch, aber nicht, weil er abgestumpft wäre; im Gegenteil. Seit heute Morgen bis gerade eben hatte es sich angefühlt, als würde es in ihm brennen, ihn ein Feuer von innen heraus auffressen und nichts weiter übriglassen als ein kleines Häuflein schwarzer Asche… und gleichzeitig fror er so erbärmlich, dass er hätte meinen können, im selben Moment zu Eis erstarren zu müssen. Seit er nun hier stand, fror er nur noch. In ihm pochte es dumpf, erlaubte ihm keinen klaren Gedanken mehr; sein Schmerz war ein Konglomerat aus einer dunklen Masse, die ihn ausfüllte, betäubte. Er wusste keinen Namen mehr für dieses Gefühl, und so ertrug er es einfach nur noch. Irgendwie fühlte es sich fast erlösend an, und dennoch wünschte er sich fast, er könnte einfach schreien. Er versuchte nicht, zu verstehen, was hier eigentlich gerade passierte, und verstand dennoch jedes Detail, und wusste, er würde diesen Tag nie vergessen. Genauso wenig wie dieses namenlose Gefühl, von dem er fürchtete, es nie wieder loszuwerden. Yukiko sah ihn an, schirmte mit ihrer Hand ihre Augen ein wenig gegen die Sonne ab, die gleißend hell auf sie hernieder schien. Besorgnis zeichnete sich auf ihrer Miene ab; sie griff nach seiner Hand, allerdings nicht lange, weil er sie ihr entzog. Sie hatte dennoch gefühlt, wie eiskalt sie war, sie sah auch, wie sehr er die Kiefer zusammenpresste, was seinem Gesicht einen äußerst angespannten Ausdruck verlieh, und erschrak. Kurz trafen sich ihre Blicke. Er versuchte zu lächeln - um sie zu beruhigen, das wusste sie. Es war ein müder Versuch, nichtsdestotrotz. Sie wusste, dass das hier mehr war, als er eigentlich ertragen konnte, im Moment. Und dennoch stand er noch. Und würde stehen bleiben. Sie seufzte lautlos, ließ ihren Blick durch die Menge schweifen, sah Agasa und Shiho, die langsam auf sie zukamen, sah Meguré, der sie mit einem starr wirkenden Kopfnicken grüßte und bemerkte auch Shuichi Akai, dessen Miene wie immer unbewegt schien. Dann sah sie Ran. Und sie fühlte, ohne hinsehen zu müssen, dass auch er sie sah; eine Anspannung und Nervosität ging von seinem Körper aus, die fast greifbar in der Luft lag. „Willst du nicht mit ihr reden?“, flüsterte sie leise. Shinichi schluckte, dann schüttelte er unmerklich den Kopf. „Nein. Nicht… nicht heute.“ Er drehte kurz den Kopf, schaute sie an. „Das ist nicht der richtige Tag dafür.“ Dann wandte er sich um, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Ran rieb sich die Arme. Sie hatte Shinichis reservierten Blick wohl bemerkt und seufzte leise. Sie müsste lügen, würde sie behaupten, es überraschte sie; mit nichts anderem hatte sie gerechnet. Weh tat es dennoch. Ihr Vater trat neben sie, musterte zuerst Shinichi, der sich leise mit Heiji unterhielt, der hinter ihn getreten war, dann seine Tochter, brummte leise. „Ich weiß, du brennst darauf, endlich mit ihm zu reden, aber heute…“ Ran sah ihn an, ihre blauen Augen glänzend. Er wusste, dass sie den Tränen nahe war, allerdings diesmal aus anderen Gründen. „Ich weiß, Paps. Wir beerdigen heute seinen Vater, das ist genug für einen Tag… eigentlich für mehrere.“ Sie schluckte, würgte die Tränen runter. „Das muss eigentlich kaum zu ertragen sein.“ Ein Zittern rann über ihren Rücken, prickelte von ihren Haarwurzeln bis in ihre Zehen und Fingerspitzen. Unwillkürlich griff sie nach der Hand ihres Vaters, drückte sie. Er warf ihr einen leicht verdutzten Blick zu, dann drückte er ihre Hand und küsste sanft ihr Haar, ehe er sich wieder dem Oberschüler widmete, der ihm gegenüberstand. Uns ist es selbst wohl nicht bewusst, weil ihr unser Zentrum seid… unsere Sonne, um die sich unser Kosmos dreht – und falls du das nicht wusstest, so hast du es wohl gelernt, in den letzten Tagen … dass du der Mittelpunkt von Yusakus Universum warst. Aber es ist wohl so, ihr könnt so alt werden, wie ihr wollt, wir werden immer eure Eltern sein. Ein so schrecklich wichtiger Teil in eurem Leben, wie ihr es in unserem seid. Und ihr werdet immer Waisen sein, wenn wir gegangen sind. „Ich hab mich schon gefragt, wo du abgeblieben bist.“ Shinichis Stimme klang erstaunlich sachlich, als er seinen Freund mit einem knappen Nicken begrüßte. Heiji schaute ihn prüfend an, zuckte dann mit den Schultern und grinste schief. „Es sind so viele Leute hier, da bin ich anscheinend mal kurz verschütt gegangen. Wie geht’s dir?“ Shinichi öffnete den Mund, doch ehe er etwas sagen konnte, unterbrach ihn sein Freund noch einmal. „Und ehe du was sagst, überleg’s dir. Ich kauf‘ dir nich‘ alles ab.“ Shinichi warf ihm einen konsternierten Blick zu. „Dann kennst du die Antwort ohnehin.“ Er schluckte, schüttelte den Kopf, zerbiss sich die Unterlippe, wandte den Blick ab. „Ich… danke dir, dass du da bist.“, er brach ab, als seine Stimme zu bröckeln anfing. Er wandte sich um, als es an ihm war, das erste Schäufelchen Erde in das Loch zu schütten, und versuchte krampfhaft, die Fassung zu bewahren. Heiji beobachtete ihn aufmerksam, wich nicht von seiner Seite, als er die Kondolenzbekundungen entgegennahm. Und blieb auch noch, als alle langsam gegangen waren. Shinichi saß im Gras, vor dem kleinen Häuflein Erde, dass das Loch nun füllte, seufzte lautlos. Genoss die Stille, die endlich einkehrte. Er wusste, Heiji stand etwas abseits. Alle anderen waren gegangen; seine Mutter war vom Professor und Shiho heimgefahren worden, auf seine Bitte hin hatten sie ihn zufriedengelassen. Und so saß er nun hier, genoss die Stille, und fragte sich, ob es ihm besser gehen würde, wenn er einfach weinen könnte; Fakt war, er konnte es nicht. Vor den Trauergästen hatte er sich zusammengerissen, allein schon dazubleiben war eine Qual gewesen, aber mit den Tränen hatte er nicht gekämpft, eher mit dem Wunsch, einfach zu schreien, so groß waren Frust, Schmerz und Verzweiflung in ihm, hatten ihn fast zum Platzen gebracht. Nun saß er hier, begriff langsam, was dieser Ort bedeutete, und merkte, wie sich die Trauer ihre Stellung erkämpfte – dennoch, weinen konnte er nicht. Jemand anders konnte durchaus. Heiji drehte sich kurz, als sie neben ihn trat. „Wie geht’s ihm?“ Rans geflüsterte Worte waren so leise, dass sie beinahe unhörbar vom Wind davongetragen wurden. Heiji seufzte, horchte nachdenklich auf das Rauschen der Blätter über ihm. „Schwer zu sagen.“, murmelte er dann, wandte sich ihr zu. Sie sah hübsch aus in ihrem schwarzen Kleid mit dem weißen Kragen; sie wirkte fast wie eine Puppe, so weiß war ihr Teint. Einzig die rotgeweinten Augen störten das Bild, und perfektionierten es auf ihre eigene Weise; sie wirkte unendlich zerbrechlich. Wie eine Porzellanpuppe. „Ich muss es aber wissen, Heiji. Und da er mit mir nicht redet…“ Die Züge des Oberschülers verdunkelten sich kurz. „Er will dir nich wehtun, Ran. Das musst du…“ „Verstehen?“ Unwillen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Sie schüttelte den Kopf, rieb sich ihre Oberarme. „Ich bin seine Freundin, Heiji. Ich kenne ihn seit der Grundschule. Und ich kann nicht verstehen, eben einfach nicht verstehen, dass er mit mir jetzt nicht redet. Wir haben alles geteilt, immer, nur seit er Conan wurde, habe ich das Gefühl…“ Er sah sie an, seufzte laut. „Er wollte dich beschützen. Du weißt… du weißt doch, was er für dich empfindet. Auch wenn er’s dir nich sagt, ich mein… du weißt es doch. Als er Conan war, wollte er seine Probleme von dir weghalten, und die Gefahr, die ihm folgte; und jetzt, da das vorbei is und… das alles passiert is, und es ihm schlecht geht, will er nich, dass es dir auch schlecht geht, wegen ihm.“ Ran schnaubte unwillig, schüttelte den Kopf. „Aber das ist es ja. Ich weiß nicht, was passiert ist. Und ich kann ihm aber nicht helfen, wenn ich es nicht weiß.“ Sie sah ihn an. „Und jetzt sitzt er da, und…“ Heiji wandte den Kopf, bemerkte, wie ihr eine Träne über die Wange rollte. Sie schien es nicht zu bemerken, oder es war ihr egal; sie ließ sie einfach laufen. „Er wird mit dir reden, bestimmt. Vielleicht nicht heute, aber irgendwann bestimmt, weil er gar nich anders kann. Bis dahin… setz dich doch einfach neben ihn.“ Ran wandte den Kopf, sah ihn verwundert an. „Ich meins ernst. Du sollst gar nichts sagen. Einfach nur neben ihm setzen, ich denke, das reicht ihm.“ Er schluckte hart. „Ich bin mir sicher, dasser ne Freundin brauchen kann. Ich denk‘, für heute reicht ihm das Gefühl, einfach zu wissen, dasser nich‘ allein is.“ Ein schiefes Grinsen huschte ihm über die Lippen. „Und ich denke, du kannst ihm das besser geben als ich.“ Ran warf ihm einen schrägen Blick zu, wurde dann aber sofort wieder ernst, als sie den Kopf wandte und den Oberschüler beobachtete, der ein paar Schritte weiter im Gras saß. Unsicher strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die ihr der Wind mit luftigen Fingern aus der Frisur gezupft hatte. „Denkst du?“ „Ich bin mir sicher.“ Er legte ihr eine Hand in den Rücken, gab ihr einen leichten Schubs. „Und sag mir nich‘, dass es nich‘ genau das is, was du willst. Du willst doch jetzt an seiner Seite sein.“ Ran bis sich kurz auf die Lippen. Dann nickte sie starr, trat aus dem Schatten des Baumes hinaus auf die Wiese, überbrückte die wenigen Meter mit kleinen, zögernden Schritten. Shinichi sah nicht auf, als sie sich neben ihn sinken ließ; er wusste auch so, dass sie es war. Er erkannte sie am Gang, und er roch ihren Duft, eine Mischung aus Pfirsichschampoo und einem fruchtigen Parfum. Ran. „Stört es dich…?“ Er unterbrach sie mit einem stummen Kopfschütteln. Sie blinzelte hart, als ihr Blick auf das Grab seines Vaters fiel, merkte, wie sich in ihren Augen Tränen sammelten. Sie warf ihm einen Blick zu, bemerkte die Anspannung in seinem Gesicht, den Zug um seine Mundwinkel, die Dunkelheit in seinen Augen. Ein leises Schniefen entfloh ihren Lippen. Shinichi zuckte unmerklich zusammen, als das Geräusch an seine Ohren drang. Fahrig fischte er in seiner Jacketttasche nach einem Taschentuch, fand eins und reichte es ihr. Als sie es entgegennahm und dabei seine Finger berührte, stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Warum kommst du, Ran? Er räusperte sich mühsam. „Hör zu, ich… ich danke dir, dass du da warst, aber du musst nicht…“ Nun war sie es, die den Kopf schüttelte. „Ich weiß. Ich will aber. Du hast heute deinen Vater beerdigt, und ich dachte, du könntest… eine Freundin brauchen.“ Sie schluckte tapfer. „Davon abgesehen mochte ich ihn.“ Etwas verdutzt drehte er den Kopf, sah sie an. Sie war blass, ihre Augen gerötet. Zwar hatte er sie heute schon gesehen, aber nicht aus dieser Nähe; und es erschreckte ihn, sie so zu sehen. Er fühlte, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb schlug, fast schmerzhaft schnell und heftig. Alles in ihm schrie nach ihm, sie in den Arm zu nehmen, aber etwas hielt ihn davon ab. Du weißt es noch nicht. Und heute kann ich es dir nicht sagen. Nicht heute. Er schluckte schwer, wandte dann den Blick wieder ab, als er den Anblick nicht mehr länger ertrug. Ran sah ihn an, stumm, wartete, beobachtete ihn. Ihr war der Kampf den er mit sich ausgefochten hatte, nicht entgangen. Er war ungeheuer blass, seine Augen glasig, seine Lippen blutleer, die Fingerspitzen bläulich. Schließlich räusperte er sich, vermied es aber, sie noch einmal anzusehen. „Danke.“ Kontrolliert atmete er ein und aus, versuchte ein Lächeln. „Aber du musst nicht…“ „Halt die Klappe, Shinichi.“ Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Er schloss die Augen, als er ihren Atem an seiner Wange spürte, fühlte ihren Blick auf sich ruhen, schauderte kurz. Stattdessen verschränkte sie ihre Beine, stützte sich mit einer Hand im Gras ab, als sie sich etwas nach hinten lehnte. Kurz zögerte sie; dann griff sie mit ihrer anderen Hand nach seiner. Er warf ihr einen Blick aus den Augenwinkeln zu, rührte sich ansonsten nicht; weder entzog er ihr seine Hand, noch erwiderte er ihren Griff. Stattdessen fühlte er sich auf einmal entsetzlich müde und leer und wünschte sich einmal mehr, und so sehnsüchtig wie nie zuvor an diesem entsetzlichen Tag, er könnte sich einfach fallen lassen. Dass er das nicht konnte, wusste Shinichi allerdings. Er merkte, wie Heiji sich ebenfalls neben ihn setzte, wandte aber nicht den Kopf. Er starrte geradeaus, ohne zu blinzeln, auch nicht, als seine Sicht verschwamm, weil ihn die untergehende Sonne blendete. Während der Fahrt vom Friedhof hierher hatte keiner der Insassen des kleinen, gelben VW Käfers auch nur ein Wort gesprochen. Agasa hatte seiner hübschen Beifahrerin nur ab und an einen besorgten Blick geschenkt; Yukiko Kudô hatte sich während der Fahrt kaum bewegt. Sie sah aus wie eine dieser schönen Wachsfiguren bei Madame Toussauds, die man ansah und sich fragte, ob sie echt seien oder doch nur künstlich, bis man vor ihnen stand und sich endlich gewiss war, dass es sich wirklich nur um kunstvoll geformtes Wachs handelte. Allerdings, diese Figur hier neben ihm war menschlich. Shiho im Fond hatte die wachsende Beunruhigung ihres väterlichen Freundes sehr wohl mitbekommen. Und nun fuhr er vor, hielt seinen Käfer direkt vor der Gartentür an. Ehe jedoch Yukiko Anstalten machen konnte, auszusteigen, berührte er sie am Oberarm, sachte. „Yukiko… kommst du klar? Wenn du….“ Die Schauspielerin, die gerade nach dem Türöffner hatte greifen wollen, ließ sich in die Polster zurücksinken, atmete aus. Dann drehte sie ihm ihren Kopf zu. „Ich weiß es nicht, Hiroshi.“ Ihre Stimme klang ehrlich, und er zweifelte keine Sekunde daran, dass sie meinte, was sie sagte. Shiho rutschte nach vorn, beugte sich vor. Yukiko biss sich kurz auf die Lippen. „Du weißt, wie lange ich ihn kenne…“, sie hielt inne, räusperte sich, „… kannte. Er hat mir den Hof gemacht, er war so… stur, so leidenschaftlich und doch so… ernsthaft in seinem Anliegen. Ich erinnere mich an den Tag, als er mir den Antrag machte, oben im Restaurant, wie als ob es gestern erst gewesen wäre.“ Shiho zuckte zusammen, ihre Augen wurden groß. „Beika-Restaurant?“, murmelte sie fragend. Yukiko wandte sich ihr zu, nickte. „Ja. Wieso?“ Die rotblonde Forscherin schüttelte den Kopf, versuchte, das leise piekende Schuldgefühl zu verdrängen. Agasa warf ihr einen kurzen Blick zu; sie wusste sehr wohl, woran sie dachte. Oder besser – an wen. Aber vorbei, Shiho. Er muss ohnehin einen ganz neuen Weg finden… auch für sein Leben mit ihr. Yukiko indessen redete weiter. „Wir waren doch noch so jung! Erst… neunzehn, als er mir den Antrag machte. Kaum fertig mit der Schule, und ich hatte doch… gerade erst angefangen mit der Schauspielerei. Aber die Art und Weise, wie er mich ansah… wie er mich behandelte, mich zum Lachen brachte, ich wusste einfach… dass er es ist. War.“ Eine Träne bahnte sich ihren Weg über ihre Wange. Agasa schluckte schwer. „Für ihn hab ich alles aufgegeben. Ich weiß nicht, ob er damals schon… ob er damals schon…“ „Wahrscheinlich nicht.“ Shiho schluckte. „Er hätte Ihnen nie den Antrag gemacht, hätte er solche Probleme gehabt. Er hätte versucht, Sie von sich zu stoßen, wie Shinichi das mit Ran versuchte. Glauben Sie mir. Ich denke, die Probleme kamen wohl rund um Shinichis Geburt. Er konnte Sie nicht verlassen, schließlich waren Sie und Shinichi seine Familie, und er war aber dadurch sofort angreifbar für die Organisation. Es ist wesentlich logischer, dass Sie ihn als jungen Vater geschnappt haben, für ihre Sache.“ Sie strich sich über die Augen. „Das machen die gerne, wissen Sie. Familien zerstören, Menschen mit ihren Liebsten erpressen, gefügig machen, um sie dann dennoch über die Klinge springen zu lassen. So wie sie es mit meinen Eltern taten. Mit meiner Schwester. So wie sie es mit mir vorhatten.“ Yukiko fuhr herum. „Du meinst nicht…“ Die junge Frau sah auf. „Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Kudô, ich mache weder Ihnen, noch Ihrem Mann oder Shinichi Vorwürfe. Auch wenn ich das gerne tun würde. Darüber… hab ich mit ihm schon gesprochen. Wir… waren alle Spielfiguren in einem Spiel, in dem wir von Anfang an nur verlieren konnten. Ich genauso wie Sie… und Shinichi. Aber das ist nicht die Frage, die der Professor Ihnen stellte.“ Sie hob den Kopf, schaute die Frau aus blaugrünen Augen durchdringend an. „Werden Sie klarkommen?“ Die hübsche Schauspielerin seufzte laut. „Er hätte es nicht anders gewollt, fürchte ich. Also werde ich es müssen… auch wenn es schwer sein wird. Aber was bleibt mir übrig…? Ich hoffe nur…“ „Shinichi?“ Agasa schaute die beiden Frauen in seinem Auto fragend an. „Erzählt mir jetzt mal jemand, was da eigentlich noch gelaufen ist?“ Shiho seufzte, ließ sich zurücksinken, verschränkte die Arme. Yukiko sah ihn mit unsicherem Blick an, dann schüttelte sie den Kopf. „Wahrscheinlich weiß es ohnehin bald jeder.“ Sie strich sich eine Locke hinters Ohr, holte Luft. „Shinichi hat in Notwehr einen Mann erschossen. Absinth.“ Der Professor atmete langsam ein, und aus, wandte sich ab, schaute durch die Windschutzscheibe nach draußen. Erinnerte sich an den jungen Mann, dem er seine Geschichte im Krankenzimmer erzählt hatte, und an dessen Entsetzen, als er die Möglichkeit erkannt hatte, etwas Schreckliches getan zu haben, ohne dass er sich daran erinnern konnte. Jetzt hast du so etwas tun müssen… und ich wette, du erinnerst dich an jede Sekunde. Und wirst sie nie vergessen können. Er räusperte sich. „Wie schrecklich… für ihn.“ Seine Stimme klang belegt. „Aber das erklärt…“ Yukiko nickte nur. „Seit gestern Abend sieht er aber ein wenig besser aus. Ich weiß nicht, warum, oder woher… aber ich hoffe, dass es langsam bergauf geht mit ihm. Und ich… wünsche mir so sehr, dass er endlich glücklich wird. Dass er und… Ran… glücklich werden.“ Sie strich sich über die Augen; Agasa neben ihr nickte zustimmend. Dann hörten sie eine Autotür zuschlagen. Shiho war ausgestiegen, schlenderte langsam in Richtung des Hauses des Professors. Dort stand, und keiner wusste, wie er hatte schneller sein können als sie, Shuichi Akai. Shiho blieb ungefähr einen Meter vor ihm stehen. „Du bist ja immer noch hier.“ Er lächelte – kühl, reserviert, wie immer. „Ich bin ein freier Mann.“ Lässig zündete er sich eine Zigarette an, nahm einen Zug, ehe er sie sich in den Mundwinkel steckte. „Abgesehen davon kann ich dich beruhigen. Ich habe nicht vor, meinen Aufenthalt hier noch wesentlich zu verlängern. Mein Flug in die Staaten geht morgen.“ Akai beobachtete sie, versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, was sie dachte. Shiho versuchte, möglichst gelangweilt zu wirken; tatsächlich merkte sie, dass sie aufgewühlt war. Das ist er, Akemi. Der Mann, den du liebtest. Aber welche Beziehung verbindet mich mit ihm? Wie hattest du dir das vorgestellt? „Ich nehme an, dich hält nichts mehr… deine Liste hast du ja abgearbeitet.“ Sie hob die Hand, drei ihrer Finger ausgestreckt. Er musterte sie aufmerksam. „Eins: Mich aus den Fängen der Organisation retten. Meine Freiheit habe ich zwar im Wesentlichen Kudô zu verdanken, aber wir wollen mal nicht kleinlich sein.“ Shiho lächelte schief; ein bitteres Lächeln, das nicht bis in ihre Augen reichte. Langsam bog sie einen Finger um. „Zwei: Akemi rächen. Nun, wie wir wissen, Gin’s Tod ist Yusaku Kudô anzurechnen, und Absinth… tja…“ Sie brach ab, bog nachdenklich den zweiten Finger um. „Drei: Shinichi retten.“ Shiho machte eine Faust, schaute in ernst an. „Reden wir nicht drüber. Alles in allem…“ Akai lächelte schmal, vollendete ihren Satz. „…hat meine Liste wohl jemand anders abgearbeitet. Nun, dennoch… ich bin hier, um mich in Akemis Namen zu vergewissern, dass es dir gut geht. Deshalb frage ich dich: geht es dir gut? Was hast du nun vor?“ Er musterte sie aufmerksam. Sie wich seinem Blick aus, ließ sich gegen die Hausmauer sinken und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Ich werde hier bleiben.“ Sie schluckte, dann hob sie den Kopf, sah ihn entschlossen an. „Ich hab darüber mit dem Professor schon gesprochen, gestern Abend. Wie du weißt, hab ich hier Freunde gefunden. Ich kann an die Universität gehen. In die Medizin, oder in die Biochemie. Und irgendjemand muss auf diesen Spinner Kudô aufpassen… auch wenn er denkt, er kann das allein.“ Er lächelte, als er den Trotz in ihrem Blick bemerkte. „Na, dann ist es ja gut.“, meinte er gelassen, zog an seiner Zigarette, lehnte sich ebenfalls an die Hausmauer. „Allerdings.“ Shiho warf dem Professor, dessen Blick sie gerade eingefangen hatte, ein kleines Lächeln zu, hob kurz die Hand um ihm klarzumachen, dass bei ihr alles in Ordnung war. Yukiko riss sich von dem ungleichen Paar los, dass in scheinbar perfekter Eintracht im Eingangsbereich des futuristisch anmutenden Hauses des Professors lehnte, und warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. „Sie wird Shinichi nie sagen, was sie für ihn empfindet, nicht wahr?“ Der Professor lächelte traurig. „Nein. Obwohl ich mir denken könnte, dass er es weiß, auch wenn er auf dem Auge bekanntermaßen blind ist; aber immerhin hast du ihn ja mal darauf aufmerksam gemacht, soweit ich das mitbekommen habe. Aber davon abgesehen… will, mit Ausnahme von dir, wahrscheinlich keiner so sehr, dass er nun endlich glücklich wird, nach allem, was er opfern und aushalten musste, wie sie. Weil er der beste Freund ist, den sie hat. Und weil er das immer bleiben wird. Und das…“ Agasa seufzte leise. „Ist ein großes Wunder. Und sollte uns doch etwas lehren.“ Er wand sich in seinem Sitz, bis er beide Arme frei hatte, drückte sie kurz an sich. „Wenn du etwas brauchst, Yukiko… ich war nicht nur Yusakus Freund. Ich bin auch deiner. Und Shinichis ohnehin.“ Sie lächelte ihn an, merkte, wie ein warmes Gefühl sich in ihr breitmachte, und gab ihm einen kurzen Kuss auf die Wange. „Danke, Hiroshi.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)