Amnesia von Leira (Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Guten Tag, meine lieben Leserinnen und Leser, ein Herzliches Willkommen an jeden, der sich hierher verirrt hat, auf dieses Fleckchen Mexxschen Serverplatz, auf dem ich mich mit meinen Geschichten breitmachen darf ^.~ Hiermit präsentiere ich euch die neueste Detektiv-Conan-Fanfiction aus meiner Feder/Tastatur; ich hoffe, sie wird euch gefallen, euch unterhalten, und auch ein paar spannende Momente vor dem Bildschirm bescheren. Eure Meinung in schriftlicher Form per Kommentar oder ENS ist mir jederzeit sehr willkommen - Lob und Kritik sind beiderlei sehr wertvoll und auf ihre Weise nützlich, und glaubt mir, ich schätze beides. In diesem Sinne beginne ich hier, heute, an diesem Tag, mit dem Prolog, als Weihnachtsgeschenk an euch, sozusagen ^.~ Das nächste Kapitel, also Kapitel eins, folgt nächstes Jahr, nach den Feiertagen; also 5.1.2010, Laderhythmus wie gehabt, jede Woche ein Kapitel, immer Dienstagabend/Mittwochfrüh. Mit diesen Worten verabschiede ich mich fürs erste und wünsche euch Fröhliche Weihnachten und einen sehr, sehr guten Rutsch ins neue Jahr 2010!!! Liebe Grüße, eure Leira _______________________________________________ Prolog Um ihn herum war alles schwarz. Schwarz - pechschwarz, nachtschwarz, so dicht, so undurchdringlich dunkel… alles Licht ausblendend, jedes Geräusch verschluckend, fast greifbar, materiell… Schwarz. Kalt - und schwarz. Bin ich tot? Kein Laut drang an seine Ohren, es war still, fast unwirklich... sie schien wie der Inbegriff von Stille, von Hoffnungslosigkeit, von Leere… diese Licht- und Lautlosigkeit, es war das Nichts in seiner reinsten Form. Es umgab ihn, es war in ihm. Es ließ ihn nicht entkommen, machte ihn sich Untertan. Ist das die Hölle? Er lag nur da und alles, alles was er wahrnahm war… Schwärze. Er hatte die Augen geschlossen, wagte nicht, sie zu öffnen. Er war unfähig sich zu bewegen, auch nur einen Muskel willentlich zu benutzen. Er spürte das Nichts. Es war überall. Es bedrohte ihn. Es war sein Herr. Ein Gefühl von Angst, von Unsicherheit machte sich in ihm breit. Wurde immer stärker. Er atmete ein, und wieder aus - versuchte, sich zu beruhigen, sich wieder unter Kontrolle zu bringen, diese Angst, die einfach aufgetaucht war, ohne Grund, ohne Ursache, zurückzudrängen. Konzentrierte sich einzig und allein auf das Geräusch seines eigenen Atems, auf die Bewegungen, die sein Brustkorb dabei machte… Und langsam strömten Reize auf ihn ein. Er merkte, dass der Boden, auf dem er lag, kalt und rau und feucht war, spürte kleine Steinchen unter seinen Fingerspitzen - er fühlte, dass seine Klamotten klamm und nasskalt an seinem Körper klebten, fühlte wie die Kälte ihn zittern ließ, ein Reflex seines Körpers, um seine Muskeln zu wärmen, ihn vor dem Erfrieren zu bewahren. Das wusste er. Warum ausgerechnet dieser Gedanke, diese Erklärung, in seinem Kopf auftauchte, wusste er nicht. Seine Zähne schlugen aufeinander, er presste seine Kiefer fester zusammen, damit das aufhörte. Er fühlte Tropfen auf seiner Haut auftreffen, merkte, dass er immer nasser wurde, spürte, wie ein kalter Windhauch nach dem anderen ihm ins Gesicht blies. Es regnete. Und er fror erbärmlich. Dann setzte er sich leise stöhnend auf, blinzelte, öffnete die Augen, kurz - und das nächste, was kam, war eine Welle von Schmerzen, die über ihn hinwegrollte. Ein Schrei entfloh seinen Lippen, ein erstickter, aber umso schmerzerfüllterer Laut. Sein Kopf, sein ganzer Körper tat weh, kurz wurde ihm schwindelig, er wurde dazu gezwungen, sich wieder hinzulegen; dann fing er sich wieder, das Schwindelgefühl ebbte ab. Die Schmerzen nicht. Und immer noch strömte der Regen erbarmungslos auf ihn herab. Über ihm hingen die Wolken bleiern, grau und schwer, luden ihre nasse Fracht über ihm ab. Er blinzelte, als ihm die Tropfen auf seine geschlossenen Augenlider fielen, hob einen Arm über das Gesicht, um sich zu schützen. Er fühlte sich elend. Sein Arm wurde seltsam schwer, er ließ ihn gegen seine Stirn sinken, als er das Gewicht nicht mehr halten konnte. Als nächstes kehrten die Geräusche wieder. Er hörte das Prasseln des Regens auf den Boden, der sich anfühlte wie - wie Asphalt, ja. Lag er auf einer Straße? Irgendwo rauschte der Wind in den trockenen Blättern der Bäume, denn es war Herbst, ja, genau… Herbst. Ohne es zu sehen, wusste er, dass es so war. Warum? Es war Herbst. Es war einfach so. Eine ungemütliche Jahreszeit. Und offensichtlich war er nicht tot - und auch nicht in der Hölle. Dass es in der Hölle regnete, wäre ihm neu. Dann versuchte herausfinden, was das für ein Ort war, der so bar jeden Lebens war, öffnete die Augen und sah sich um, setzte sich erneut auf, stemmte sich mühevoll auf den Ellenbogen hoch, drehte nun doch, langsam, ganz langsam, den Kopf. Und langsam löste sich die Schwärze auf, verwandelte sich in ein Gemisch aus Grau, Grün und Braun, dreckige Farben, hässlich… der Regen zog in Schleiern übers Land, wurde immer stärker. Jetzt sah er, wo er lag. Er lag tatsächlich auf einer Straße. Wie zum Teufel kam er hierher? Was machte er hier? Das nächste, was er hörte, war das Brummen eines Automotors. Er wandte den Kopf, sah das Gefährt auf sich zukommen, die Scheinwerfer erhellten die Straße vor ihnen mit hellgelben Lichtkegeln, in denen die Regentropfen wie Diamanten funkelten, ehe sie auf die Straße platschten und zerplatzten. Sein Herz setzte kurz aus, dann sprang er auf, seine Bewegungen waren starr, alles tat weh, so weh… ein Stechen in der Seite brachte ihn aus dem Konzept, er geriet ins Rutschen, wäre fast der Länge nach hingefallen, schaute dem Auto entgegen - hörte quietschende Bremsen, doch nahm es ansonsten nicht weiter wahr. Auch das Auf- und Zuschlagen der Autotür ging an ihm vorbei. Er stand da, keuchte, atmete schwer, hielt sich die Hand an die schmerzende Stelle, hob sie hoch und sah - Blut. Seine Hand war voller Blut. Rot, alles… Er schob seinen Pullover hoch, sah die Wunde und ihm wurde schlecht. Erneut setzte ein Schwindelgefühl ein, doch diesmal war jemand da, der ihn festhielt, bevor er umfiel. „Shinichi?!“ Blut, Blut… rot, alles… Wie kam er zu so einer Wunde… wer hatte ihn so verletzt? „Mein Gott, Shinichi, da bist du ja! Was machst du hier, wie kommst du… was ist passiert? Warum bist du…? Gütiger Himmel - du bist ja verletzt, komm, du musst sofort ins Krankenhaus!“ Erst jetzt merkte er, wie jemand an ihm zog, wandte den Kopf, sah in das Gesicht eines alten Mannes, der ihn mit fassungsloser und sehr besorgter Miene anschaute. „Shinichi, was ist?!“ Shinichi? „Shinichi, was ist? Du blutest, komm, wir haben keine Zeit zu verlieren, du holst dir noch den Tod hier draußen, du bist ja schon ganz kalt…“ Der alte Mann fasste ihm an die Stirn. Und dann kam es wieder, dieses nun schon bekannte Schwindelgefühl - einfach alles drehte sich… und das auch noch unerhört schnell. Er schluckte, wollte etwas sagen, aber brachte kein Wort heraus; merkte, wie seine Beine unter ihm nachgaben, sein Körper zusammensackte, sein Kreislauf nicht mehr mitspielte - und dann versank er in wohlbekannter, alles einhüllender Dunkelheit. Schwarz… Kapitel 1: Teil Eins: Schwarze Tage - Kapitel 1: Der Ausflug ------------------------------------------------------------ Hallo meine lieben Leserinnen und Leser! Zuallererst einmal möchte ich mich sehr für die Kommentare zum Prolog bedanken! Ehrlich, ich danke euch herzlich für euer Feedback! Es freut mich wirklich sehr, dass euer Interesse geweckt zu sein scheint; ich hoffe, der Rest der Geschichte wird euch gefallen - und eins mal vorweg; der Rest der Geschichte wird lang... Jaaa... irgendwie hab ichs verlernt, mich kurz zu fassen, also macht euch auf viele Wörter gefasst. In diesem Sinne... beginnen wir einfach mal von vorne... und schauen mal, wie es zu den Ereignissen im Prolog kam :) Also einmal auf Anfang. Bis nächste Woche :) Liebe Grüße, Viel Vergnüngen beim Lesen! Eure Leira :) ______________________________________________ Teil Eins: Schwarze Tage Kapitel 1: Der Ausflug Er wusste es nicht. Selbst jetzt, bei Licht betrachtet, konnte er es sich immer noch nicht erklären, warum er sich hatte breitschlagen lassen, auf diese Campingtour in die Tottori-Präfektur mitzufahren. Das war doch Kinderkram. Er warf einen Blick zu Ai nach hinten, die ihren Kopf aus dem Fenster des gelben Käfers des Professors gesteckt hatte, wohl in der Hoffnung, dadurch der penetranten Fröhlichkeit ihrer drei kindlichen Mitstreiter ein wenig zu entgehen. Warum sie sich das antat, war ihm ebenfalls ein Rätsel. Allerdings… Conan neigte den Kopf, schaute sie musternd an, in seine Augen trat ein Ausdruck leichten Erstaunens. Ihre Haare wehten ihr wie goldene Spinnweben ins Gesicht, tanzten im Fahrtwind. Ihre Augen hatte sie genießerisch geschlossen, schien sich nur auf das Gefühl des warmen Sonnenlichts und das Streicheln des Windes auf ihrer Haut zu konzentrieren. Sie sah tatsächlich mal zufrieden aus. Ein winziges Lächeln lag auf ihren Lippen, ihre kindlichen Züge verrieten vollkommene Entspannung. Kein Hauch von Genervtheit, Zynismus oder Ironie. Der kleine Junge seufzte, drehte sich wieder um, blickte gelangweilt durch die Windschutzscheibe. In dieser Welt war auf wirklich nichts mehr Verlass, wie es schien. Eigentlich konnte er sich nicht beschweren. Das Wetter war fantastisch - sie hatten Ferien - und zuhause, das hieß, bei den Môris, war auch nichts los. Ran war mit Sonoko nach Izu gefahren, würde dort die nächsten zwei Wochen bleiben - und allein daheim mit Kogorô… Im Vergleich dazu war ein Campingtrip mit den Kindern, Ai und dem Professor das Paradies. Er schaute zum Professor, der gutgelaunt den Wagen lenkte. „Wohin geht’s eigentlich?“ „An die Küste. In Tottori gibt es tolle Sanddünen, und ich dachte mir, das wäre mal eine schöne Abwechslung zum Zelten im Wald… außerdem gibt’s an der Küste keine Höhlen, wo ihr euch verlaufen könnt…“ Er grinste. Conan grinste zurück. „Tja, Professor. Schon mal was von Grotten gehört?“ Agasas Gesichtszüge entgleisten. „Hmpf!“ Hinter ihnen lachte Ayumi fröhlich über einen Witz, den Mitsuhiko ihr erzählt hatte. Conan stöhnte auf. Der Professor schaute ihn fragend, vielleicht auch etwas verstimmt, an. „Du hältst das für Zeitverschwendung, hm?“ Der kleine Junge verschränkte die Arme vor der Brust, ließ sich tiefer in den Autositz sinken, warf ihm aus den Augenwinkeln einen sarkastischen Blick zu. „Nein… das nicht… nicht… zwangsläufig. Sie geben sich ja viel Mühe, vor allem mit mir, dafür… danke ich Ihnen. Warum ich so… mies drauf bin hat andere Gründe.“ Er schaute sich um, vergewisserte sich, dass die drei echten Kinder in diesem Auto laut genug ihr Campinglied trällerten, eher er weitersprach. Er senkte die Stimme, seine Augen starrten blicklos aus dem Fenster. „Wissen Sie… ich… ich will einfach nicht mehr… ich will einfach nicht mehr. Ich halts einfach bald nicht mehr aus, ich hab es satt...“ Er schloss die Augen, ließ sich noch weiter in den Sitz fallen, atmete tief durch. „Was ich meine, Professor, ist… wie viele Wochen sind wir nun schon ohne ein Zeichen von ihnen? Wann bekommen wir endlich mal wieder eine Spur? Dieses Rumsitzen macht mich wahnsinnig. Dieses Nichtstun raubt mir den letzten Nerv. Ich hasse…“ Er senkte die Stimme noch mehr. „… hasse Conan Edogawa. In all seinen Facetten. Ich will mein altes Leben wieder. Ich will wieder ich sein. Dann könnte ich endlich das Leben leben, das ich leben sollte. Das ich leben will. Als Shinichi. Vielleicht mit Ran, gesetzt dem Fall, sie kann mir das alles irgendwann mal verzeihen… die Welt könnte so fabelhaft sein, stattdessen ist sie zu einem Alptraum geworden. Ich will nicht mehr länger träumen, erst Recht nicht schlechte Träume, verstehen Sie…? Aber wie kann ich etwas dagegen tun, etwas an dieser Situation ändern, ohne einen Hinweis…“ Er stöhnte frustriert auf. Ai öffnete ein Auge und warf ihm einen kalkulierenden Blick zu. Ach, Kudô… Auf Agasas Gesicht erschien ein betrübter Ausdruck. Manchmal drohte er zu vergessen, wie Shinichi eigentlich sein sollte - ein neunzehnjähriger Teenager, der sein Leben genoss, der seine Zeit mit Gleichaltrigen verbrachte, schöne Dinge mit seiner Freundin unternahm - er vermisste das, man sah es ihm an. Er vermisste sie. Es fehlte ihm, mit Ran etwas zu machen - mit ihr ins Kino zu gehen (das hieß, nicht in einen Kinderfilm) oder dergleichen, als Freunde - wenn auch nur als das, es würde ihm wahrscheinlich fürs Erste schon reichen. Und es beschäftigte ihn sehr, dass er es nicht geschafft hatte, ihr viel früher zu sagen, was er für sie empfand. Wie viel sie ihm bedeutete. Agasa schaute ihn an. Conan hatte den Kopf zum Fenster gewandt, schaute aus halb geöffneten Augen die Welt hinter der Glasscheibe an. Er war es leid. Er war müde. Er trauerte der Zeit hinterher, die sie nicht als Paar verbracht hatten, weil sie sich gegenseitig im Weg gestanden waren. Er wusste, was sie hätten haben können, und das machte es umso schwerer für ihn. Der Professor schaute wieder nach vorne, auf die Landstraße, ein graubraunes Band, das unter den Rädern seines sonnengelben Käfers verschwand, dahinfloss… Shinichi wollte sie nicht länger im Ungewissen lassen. Nicht mehr länger weinen sehen. Nicht mehr länger leiden sehen. Er litt mit ihr - wegen ihr - weil er ihr das antat – weil er es war, der sie unwillkürlich, ohne es zu wollen, quälte - und er sich dessen voll bewusst war. Er sah es jeden Tag mit an. Er hielt das nicht mehr lange aus, selbst Agasa kam nicht umhin, das zu bemerken. Die leiden zu sehen, die er liebte, und auch noch der Grund für eben dieses Leiden zu sein, war für Shinichi die Höchststrafe überhaupt. Der Professor wusste das. Er kannte Shinichi lange genug, um das zu erkennen. Und… noch dazu kam seine eigene Situation. Shinichi wollte wieder der Alte sein. Der Oberschüler, der Detektiv, Shinichi Kudô sein. Für sich selbst und zu seinem eigenen Wohl. Conan… Shinichi… wollte ernst genommen werden von den Erwachsenen. Okay, er hatte viel erreicht in letzter Zeit - das musste Agasa ihm neidlos zugestehen. Vor allem der Polizei hatte er mit seiner Intelligenz und seinem analytischen Talent sehr imponiert, und wurde von ihnen nun mit deutlich mehr Respekt behandelt, als noch gleich zu Anfang von Conans Existenz. Aber die Erwachsenen, die ihn nicht kannten, behandelten ihn halt einfach wie das, wonach er aussah. Wie ein Kind eben. Wenn man ihn sah, sah man nur einen kleinen Jungen, und er gab sich auch redliche Mühe, wie ein Kind zu wirken - und doch war er keins. Er war weder erwachsen, noch ein Kind. Er hing zwischen zwei Welten - hing in der Luft, strampelte mit den Beinen, aber sie waren zu kurz, um den Boden der Kindheit zu erreichen, streckte sich, aber seine Hände kamen nicht an die Sprossen der Leiter des Erwachsenseins heran. Er hing dazwischen, und es ging weder vorwärts, noch zurück. Weder auf, noch ab. Für sich selber war er erwachsen, für seine Mitmenschen war er ein Kind. Und er hasste es. Er hasste es, im Restaurant den Kinderteller zu kriegen, er hasste es, sich hochheben lassen zu müssen oder sich einen Stuhl zu holen, wenn er an höher gelegene Orte wollte, er hasste es, laufen zu müssen, wo andere einfach nur große Schritte machten, aber ansonsten gemächlich gingen, er hasste es, in die Grundschule gehen zu müssen, von den ‚Großen’ für dumm verkauft zu werden - er hasste es. Er verabscheute es. Aber er konnte es nicht ändern. Ihm waren die Hände gebunden. Agasa warf ihm einen kurzen Blick zu. Wie lange hältst du das noch aus? Die Antwort darauf wusste er nicht. Aber er hoffte, ein wenig Abwechslung… und auch ein bisschen Abstand von Ran könnten ihm guttun. Sie waren gerade angekommen, luden das Auto aus, als Conan merkte, wie sein Handy vibrierte. Er zog es heraus, klappte es auf. Ran ruft an Conan seufzte. Dann schaute er sich um, seine Augen trafen auf Ais - er hob das Handy hoch und sie verstand, nickte. Er setzte die Fliege an, hob ab, und schlug sich so geräuschlos wie möglich etwas in die Büsche, damit ihn die Detective Boys nicht stören konnten. „Kudô?“, meldete er sich pflichtbewusst, obwohl er doch wusste, wer ihn anrief. „Sag mal, wo steckst du eigentlich?!“, schallte ihm Rans aufgebrachte Stimme entgegen. Conan schluckte. Oha. Kein Hallo, kein Guten Tag… Da ist ja mal jemand blendend gelaunt. „Ran…“, fing er an, doch sie unterbrach ihn. „Jaja, ich weiß! Das kannst du mir nicht sagen.“ Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. „Was machst du gerade? Kannst du mir auch nicht sagen, stimmt’s?“ Conan zog die Augenbrauen hoch. Langsam keimte in ihm ein Verdacht. „Wann kommst du wieder? Auch keine Ahnung?!“ Sie holte tief Luft für einen weiteren Wortschwall, ohne ihn überhaupt zu Wort kommen zu lassen. Für ihn war die Sachlage mittlerweile klar. Irgendjemand oder irgendetwas hatte Ran geärgert - und es gab fast nur ein Thema, bei dem Ran empfindlich wurde - ihn. Beziehungsweise seine notorische Abwesenheit. Sie setzte wieder an. „Weißt du, langsam frage ich mich, ob dieser ominöse Fall überhaupt existiert, oder ob du einfach einen draufmachst…“ Conan ließ sich auf einen Baumstumpf sinken. „Ran.“ Seine Stimme klang harscher als beabsichtigt, doch erreichte er sein Ziel. Sie verstummte. „Ran, du weißt, dass das nicht wahr ist.“, fuhr er ein wenig sanfter fort. Er schluckte. „Ich wünschte auch, der Fall wäre schon gelöst, langsam dauert es mir nämlich auch zu lange. Aber wir haben dieses Thema doch schon so oft behandelt, dass es doch langsam erschöpft sein sollte - wenn sich was ändert, bist du die erste, die’s erfährt, versprochen. Und außerdem - ich glaube nicht, dass du nur deswegen angerufen hast. Also, bevor du mir die nächste halbe Stunde mein Ohr mit Vorwürfen und Unterstellungen kaputtbrüllen willst, was ich dadurch verhindern werde, dass ich mein Handy auf Armeslänge von mir weg halte - willst du mir da nicht einfach sagen, was dich so aufregt? Außer einem gewissen gedankenlosen, verantwortungslosen und offensichtlich, weil so lange erfolglosen, auch noch talentlosen, Oberschülerdetektiv, meine ich. Was ist los?“ Er hörte sie tief durchatmen. „Entschuldige.“ „Hör auf, du musst dich nicht entschuldigen. Was ist denn los?“ Ran seufzte frustriert. „Es geht um Sonoko. Wie du weißt, bin ich mit ihr und Makoto auf Izu. Nun, die beiden sind offenbar recht glücklich miteinander.“ Neid schwang in ihrer Stimme. Conan schluckte. Daher lief der Hase. Ran? „Nun, darüber könnte ich noch hinwegsehen, ich freu mich ja für sie, ehrlich. Aber ich muss mir ständig anhören, dass ich mich mit anderen Jungs treffen soll, und das geht mir auf die Nerven, weil ich doch gar nicht… will… weil...“ Sie unterbrach sich, schluckte einmal hörbar, dann setzte sie neu an. „Immer wenn ich ihr sage, dass ich keine Lust habe, dann behauptet sie, dass ich nur nicht will weil… ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll… ich will eigentlich nicht, weil…“ Sie stockte. Er verzog das Gesicht. Bitte nicht dieses Thema… Ran, bitte nicht. „Sie behauptet, dass… also ich… Ich wollte dich fragen, ob… nun, in welcher Beziehung wir eigentlich zueinander stehen…? Ich meine, immer sagen alle, wir wären - und dann sind wir’s doch wieder nicht… jedesmal wieder kann ich mir das anhören und langsam frage ich mich wohl irgendwie auch selber- was ist eigentlich…?“ Sie geriet ins Stottern. „Nun eigentlich musst du mir da keine Antwort drauf geben, ich meine… aber… ich meine… wie… wie denkst du darüber?“ Ihre Stimme kippte. Conan wischte sich über die Stirn, merkte, wie ihm heiß wurde. Eigentlich gab es auf diese Frage nur eine Antwort. Kurz schloss er die Augen, eher er Luft holte und zu seiner Antwort ansetzte. „Na, wir sind befreundet.“ Er biss sich auf die Lippen, hörte, wie Ran am anderen Ende mit sich rang. „Ja, das weiß ich. Ich meine… sind wir nur befreundet… ich… oder…“ Er seufzte, beschloss, ihr einen weiteren Erklärungsversuch zu ersparen. „Schon gut, ich habs kapiert.“ Er hörte sie schlucken. Er wusste, sie umklammerte jetzt das Telefon mit beiden Händen, zitterte vor Anspannung, wartete bange auf seine Antwort. „Und…?“ Ihre Stimme bebte. Nein, sind wir nicht. Ich… ich liebe dich. Wirklich… Schon seit… seit der Mittelschule. Seit Jahren schon. Wenn du lachst, ist meine Welt in Ordnung. Du bist die Einzige, die ich um mich haben will, die Einzige, mit der ich alt werden will und ich wünschte… Er riss sich zusammen. Alles Wunschdenken. „So wie ich das sehe, sind wir… eben befreundet. Wir kennen uns ja schon seit dem Kinderwagen, quasi…“ Er verabscheute sich, biss sich auf die Lippen, kniff die Augen zusammen. Es war die Hölle, aber… Aber er wollte ihr das nicht antun. Er konnte nicht. Er konnte sie doch nicht an sich binden, wo er nicht wusste, wann er wieder kam. Ob er jemals wieder kam. Selbst wenn er ihr jetzt gesagt hätte, wie er wirklich über sie beide dachte - wie ernst würde sie ihn nehmen, wenn er sich weiterhin nie blicken ließ? Was würde sie denn von ihm denken, wenn er ihr so etwas sagte… und doch nicht dazu stand. Sie hatte jemanden verdient, der bei ihr war, wenn sie ihn brauchte. Und offensichtlich war diese Person nicht er. Sie hatte Besseres verdient. Eine Zeitlang herrschte Stille in der Leitung. Er wusste, in ihren Augen sammelten sich Tränen. Sie war enttäuscht, enttäuscht von ihm, und nichts anderes hatte er erwartet. Nichts anderes hatte er verdient. Er wusste, nichts hätte sie sich mehr gewünscht, als von ihm zu hören, dass sie mehr für ihn war, als einfach nur eine Schulfreundin. „Oh. Na… gut.“ Ihre Stimme klang brüchig. „Ich wünsch dir viel Spaß in Izu.“, presste er hervor, dann legte er auf ohne auf ihre Antwort zu warten, hätte das Telefon am liebsten am nächstbesten Baum zerschmettert. Stattdessen stand er auf, hob einen Stein auf, feuerte ihn mit einem Frustschrei an den Stamm einer Ulme. Dann ließ er sich rücklings auf den Waldboden fallen, stöhnte leise auf, schloss die Augen, atmete heftig, grub die Finger in die weiche Erde und wünschte sich ein neues Leben. Oder sein altes zurück. Im Prinzip hatte er ihr gerade den Freifahrtsschein gegeben - und er war darüber todunglücklich. Irgendwann ging er wieder zurück zu den anderen, seine Miene immer noch wie versteinert. Die Sonne malte wie von Zauberhand die schönsten Muster auf den Waldboden, ließ das Laub des Frühherbstes kupferrot leuchten, versah die noch an den Zweigen hängenden Blätter mit leuchtenden Konturen aus hellem Gelb, schien durch sie hindurch wie durch Transparentpapier. Er hatte keinen Blick dafür. Vor seinem inneren Auge sah er eine Ran, die, deprimiert vom Leben, ernüchtert von seiner Reaktion, jemanden suchte, der sie zu schätzen wusste - und dies auch zeigte. Er konnte nur zuschauen. Als er den Campingplatz wieder betrat, stand das Zelt bereits. Ai und der Professor waren gerade dabei, ein Feuer zu machen, und das Essen zuzubereiten - er hätte helfen können, oder sogar sollen - aber er tat es nicht. Missmutig vergrub er seine Hände in seinen Hosentaschen und versuchte, seine Gedanken fürs Erste zu verdrängen. Es gelang ihm nicht. Conan seufzte, warf den anderen dreien, die eine Art Kriegstanz um das Zelt herum aufzuführen schienen, einen milde genervten Blick zu, dann drehte er sich um, wanderte den Weg entlang, der von ihrer Zeltstelle wegführte. Langsam wurde er immer sandiger, wand sich wie eine grau-beige Schlange vor ihm zwischen Felsen und Dünen - dann trat er um die letzte Biegung - und sah es. Das Meer. Ein tiefer Seufzer verließ seine Lippen. Es war wunderschön. Dieses Gefühl von unendlicher Weite war einfach unfassbar. Eine leichte, kühle, salzig schmeckende Brise wehte ihm ins Gesicht, schien seine Sorgen mit sich fort zu tragen, raus zu wehen aufs Meer. Er atmete tief durch, genoss kurz den Augenblick. Dann ging er an die Wasserkante, mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen, schlüpfte aus seinen Sandalen und stieg ins Wasser, ließ das Meer seine Füße küssen, an seinen Zehen lecken - betrachtete völlig in sich versunken das Spiel der Wellen, das Auf und Ab der mit weißem Schaum gekrönten Wasserkämme. Conan schloss die Augen, bohrte seine Zehen in den weichen, feinkörnigen Sand. Und fühlte sich frei. Der Wind zerrte an seiner Kleidung, doch mit den Füßen war er wie mit dem Strand verwurzelt. Nichts existierte mehr, als einfach nur die Elemente auf sich wirklich zu lassen, sich ganz auf den Einfluss zu konzentrieren, den sie auf ihn hatten. Alles war so nichtig im Angesicht dieser unvorstellbaren Weite, dieser gefühlten Schwerelosigkeit. Der Augenblick des Vergessens… Er wusste, irgendwo kam ein Ufer - aber er sah es nicht, also interessierte es ihn nicht. Diese Farce von einem Leben wartete auf ihn, aber noch war er nicht bereit, zurückzukehren. Er stand da, betrachtete das grünblaue Meer und die Wellen, und vergaß die Welt um sich herum. Allerdings nur kurz - das Gebrüll der Kinder, das zu ihm herüber schallte, riss ihn abrupt in die Realität zurück. Er durfte nicht vergessen, man erlaubte es ihm nicht. Auch wenn er es sich manchmal wünschte. Einfach vergessen… wenn er doch all das einmal hinter sich lassen könnte, wenigstens für ein paar Momente. Ran und ihren Kummer, die schwarze Organisation, alle seine Probleme - einfach mal vergessen, ausblenden, nicht daran denken müssen… wenn er sie schon nicht lösen konnte. Eine Auszeit… nur eine kleine… Auszeit, um zur Ruhe zu kommen, nur das… und dann eine Lösung finden… Wie Ai hinter ihn trat, merkte er nicht. Er stand nur da, sein Blick verloren im unendlich tief und rein scheinenden Blau des Wassers, das an der Horizontlinie nahtlos in den Himmel überzugehen schien. Sie schaute ihn an - sah nur seinen Rücken. Und obwohl er nun ja von Haus aus schon klein war - wirkte er gerade eben noch niedergedrückter. Sie konnte die unsichtbare Last auf seinen Schultern, die er Tag für Tag mit sich rumschleppte, und die immer nur schwerer statt leichter wurde, fast sehen. Er war unglücklich. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Mit Ran hatte es in letzter Zeit immer mehr Stress, immer mehr Streit gegeben. Sie wusste warum - wegen Shinichi. Weil er sich nie mehr bei ihr blicken ließ. Sie war es auch gewesen, die angerufen hatte, das wusste sie. Und das Gespräch war anscheinend nicht unbedingt positiv ausgefallen. Langsam tappte sie barfuß durch den Sand, blieb neben ihm stehen. Der Wind kämmte ihr mit seinen zarten, luftigen Fingern sanft durchs Haar. Sie atmete tief ein, dann wieder aus. Er rührte sich nicht. „Willst du darüber reden?“, murmelte sie dann nach einer Weile. Er kniff die Lippen zusammen, schüttelte den Kopf. „Shinichi, wenn du ständig alles in dich hineinfrisst, machst du’s auch nicht besser. Erzähl’s mir doch einfach. Angeblich fühlt man sich hinterher besser.“ „Nein.“ Mehr sagte er nicht - und das war auch nicht nötig. Seine Stimme hatte derart endgültig geklungen, dass Ai nicht mehr nachhakte. Sie sah ihn nur weiterhin an, und überlegte für sich im Stillen, wie lange er es noch aushielt hinter diesem hohen Wall aus Einsamkeit, dessen Mauern er Tag für Tag immer höher und dicker machte. Dann schreckte sie aus ihren Gedanken, als er sich abrupt umdrehte, hektisch den Strand, die Dünen und die Bäume dahinter mit den Augen absuchte. „Shinichi?“, flüsterte sie fragend. Er wandte sich ihr zu. Schaute sie an, mit seinen Augen, blau und geheimnisvoll wie das Meer, unergründlich, zogen sie wie der Ozean selber in die Tiefe- „Ich weiß nicht.“ Er brach den Bann. Sie blinzelte, wandte dann den Kopf. Was war nur los mit ihr?! „Ich dachte, jemand beobachtet uns. Ich kann aber keinen sehen, fällt dir was auf?“ Sie nahm seine Aufforderung, sich umzudrehen und ihren Blick in die entgegen gesetzte Richtung schweifen zu lassen, dankbar an. „Nein.“, sagte sie leise, stand immer noch mit dem Rücken zu ihm. Sie hörte ihn seufzen. „Wahrscheinlich hör ich schon die Flöhe husten.“ Er ging an ihr vorbei. „Ich geh zurück - kommst du auch?“ Sie sah ihn an, ein quälendes Schuldgefühl machte sich in ihr breit. Schuld. Sie war schuld. Er sah sie an, wie ein kleines Kind - weil er aussah, wie ein kleines Kind. Aber er war keins, verdammt noch mal - er war keins! Und wie sehr ihm das momentan zu schaffen machte, dass sich sein Weltgefüge langsam vor seinen Augen auflöste, dass die Liebe seines Lebens ihn verließ, ihm entglitt, langsam- Das war alles ihre Schuld. Und das Gefühl bohrte in ihr, verursachte ihr Bauchschmerzen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, geh du ruhig vor. Ich… ich will mir noch kurz das Meer ansehen…“ Damit wandte sie sich um. Der Wind spielte immer noch mit ihren Haaren, die in der Abendsonne glänzten wie Fäden roter Seide, er fing sich in ihrer Kleidung, zog an ihrem Rock. Sie setzte sich, fühlte unter ihren Fingern, den feinen, warmen Sand, und schaute aufs Meer, das die untergehende Sonne langsam in rotes Licht tauchte. Wie ein Ozean aus Blut… Er warf ihr einen letzten Blick zu, dann ging er. Sie hörte seine Schritte im Sand, als er sich entfernte. Eine kleine Träne quoll ihr aus dem Augenwinkel, rollte ihr über die Wange. Sie hob die Hand, fing das Tröpfchen auf, ließ es vor ihr in den Sand fallen, wo es versickerte, nichts weiter zurückließ als einen dunklen Fleck. Sie war verliebt, ja, langsam gestand sie sich das ein. Unglücklich verliebt in einen unglücklichen Menschen. Sie schätzte ihn, empfand diese Gefühle für ihn… und tat ihm gleichzeitig weh, weil sie schuld war an seinem Dilemma. Sie war die Erfinderin des Giftes, das sein Leben zerstörte. Das Gefühl von leichter Zufriedenheit von vorhin im Auto war bei dem Anblick seines traurigen Gesichts völlig verschwunden. Sie zerstörte sein Leben - aber ihr gab er nicht die Schuld. Er gab sie nur sich selber. Sich allein. Ai kam erst zurück, als die Sonne völlig untergegangen war, die Nacht hereinbrach, und die ersten Sterne freundlich auf sie herab blinzelten. Er hatte gerade aufstehen wollen, um sie zu holen, als sie in den Lichtschein des Feuers trat. Hell glimmende Funken stiegen prasselnd in die Luft, als Conan ein weiteres Holzstück auflegte, um wenigstens nicht umsonst aufgestanden zu sein. Die lodernden Flammen zauberten tanzende Schatten in ihre Gesichter - die Dunkelheit schien zu leben, ihren ganz eigenen Kampf mit dem Licht auszufechten. Er ließ sich wieder auf den Baumstamm zurücksinken, auf dem er gesessen hatte. Ayumi neben ihm schaute ihn verliebt an. Der Professor war damit beschäftigt, das Essen über dem Feuer zu kochen - er hatte einen Gemüseeintopf mit Reis und Fleischklößchen für die Kinder zubereitet. Genta und Mitsuhiko unterhielten sich über die Sternbilder über ihnen, stellten Agasa hin und wieder eine Frage darüber, wenn sie nicht weiterwussten. „Sind sie nicht schön?“ Ayumi neben ihm seufzte, ergriff seine Hand. Ai konnte sehen, wie er innerlich aufstöhnte. Er hatte heute wohl keinen Sinn mehr für Romantik, erst Recht nicht, wenn es um Ayumi ging. Er zog seine Hand aus ihrer, legte noch einen weiteren Holzscheit nach, rieb sich, als er wieder zu seinem Platz ging, demonstrativ die Hände, vergrub sie in seinen Hosentaschen. Taktisch kluges Manöver, dachte Ai bei sich. Eins musste man ihm lassen - er verteilte Körbe, ohne dass es die Betreffende auch nur mitbekam. Sie würde das Entziehen seiner Hand jetzt nicht als Ablehnung werten - dadurch, dass er Holz nachgelegt hatte, seine Hände gerieben und in die Hosentaschen gesteckt hatte, hatte er gezeigt, dass er fror. Oder zumindest vorgegeben, dass dem so war. Er hätte natürlich all das sein lassen können, einfach nur seine Hand aus ihrer ziehen - aber er wollte sie nicht verletzen. Er schaute immer darauf, in seiner Umwelt so wenig Schaden wie möglich anzurichten. „Ja, sie sind tatsächlich sehr schön.“, hörte sie ihn sagen. Das alles hätte sie nicht verwundert, wäre da nicht eine Sache gewesen - er schaute die Sterne gar nicht an. Er hatte den Blick ins Feuer gewandt, das ihn zu hypnotisieren schien. Er sah die Schönheit der funkelnden Himmelskörper über ihnen gar nicht. Seine Augen glänzten gespenstisch, als sich die Flammen in ihnen spiegelten. „Aus was sind Sterne eigentlich gemacht?“ Gentas tiefe Stimme schallte bis zu ihnen herüber. „Gas.“, antwortete Mitsuhiko, der wie immer auf fast alle wissenschaftlichen Fragen eine Antwort parat hatte. „Echt?“ Genta zeigte sich beeindruckt. „Nicht ganz.“, murmelte Conan. „Die meisten bestehen aus heißem Plasma, dessen Strahlungsenergie durch die Kernfusion entsteht.“ Genta starrte ihn an. Mitsuhikos Antwort war um einiges einfacher gewesen. „Und was ist Kernfusion?“ Conan seufzte, strich sich die Haare aus der Stirn. „Kernfusion ist, wenn zwei Atomkerne miteinander verschmelzen. Die Energie, die dabei frei wird, sendet der Stern dann als Strahlungsenergie, als Lichtwellen, in den Raum.“ Mitsuhiko, Ayumi und Genta starrten ihn mit offenem Mund an. „Woher weißt du das?“ „Sowas hab ich in Physik in der Oberschule gelernt-…“ Er blinzelte. „Aus Rans Büchern. Die macht das zurzeit, ich fands voll interessant!“ Er lachte, kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Ein Blick in die Runde zeigte ihm, dass ihm seine Erklärung abgenommen worden war. „Wie viele das wohl sind…?“ Ayumi seufzte entrückt, starrte mit in den Nacken gelegtem Kopf in den Himmel. „Mit bloßem Auge sieht man, je nach Luftverschmutzung, zwischen 2000 und 6000 Sterne. Tatsächlich sind es wohl unzählbar viele…“ Conans Stimme verlor sich. Er kannte noch jemanden, die sich von Sternen so faszinieren ließ. Wie gern hätte er mit ihr einmal… Er schloss die Augen, vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Ist was, Conan?“ Er hörte, dass sie besorgt war - und sah die Sorge in Ayumis Gesicht, als er aufblickte. Conan lächelte freundlich. „Ich bin nur müde, Ayumi, nichts weiter.“ In dem Moment drehte sich der Professor um, hielt eine große Schöpfkelle in der Hand. „Essen ist fertig, Kinder!“ „Da ist der große Bär!“, schrie Mitsuhiko begeistert - und die Blicke aller wanderten von der tropfenden Schöpfkelle in der Hand des Professors nach oben in die unendlichen Weiten des Raums, suchten das Sternbild des ursus maior. Als es schließlich jeder geortet hatte, lenkte sich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf den lecker duftenden Eintopf über dem Feuer. Er wusste nicht, wie spät es war. Conan konnte nicht schlafen. Ein komisches Gefühl hatte ihn beschlichen - ein Gefühl, von dem er nicht sagen konnte, was es war. Woher es stammte. Es war vorhin am Strand aufgetaucht - und hatte ihn seither nicht verlassen. Dann bemerkte er, dass das Benachrichtigungslicht seines Handys blinkte. Es war auf lautlos gestellt, deshalb war der Signalton nicht erklungen. Er zog es zu sich heran, klappte es auf, und guckte aufs Display. Nachricht von Ran Sein Herz sank, schien irgendwo in die Nähe seiner Magengegend zu rutschen. Was war denn nun los? Was… was… Was? Er merkte, wie seine Finger kalt und feucht wurden, als er nervös die Nachricht öffnete. Als er sie las, setzte sein Herzschlag kurz aus. Aber ich seh’s nicht so… glaube ich. Ich fürchte, du... du… bist mehr als nur ein Freund für mich. Ich muss mit dir reden. Bitte- bitte sprich mit mir. Ran Er beeilte sich, aus seinem Schlafsack zu kriechen, trotz seiner Eile so leise wie möglich, fiel vor dem Zelt auf Hände und Knie und japste nach Luft. Sie gibt nicht auf… verdammt, warum gibt sie nicht einfach auf? Sie macht es sich selbst doch nur schwerer… Conan ließ sich auf die Knie zurücksinken, starrte nach oben in den Sternenhimmel, kam sich im Angesicht der unendlichen Weite des Raums noch viel kleiner vor als ohnehin schon. Er schloss die Augen, atmete tief durch, wusste nicht, ob er nun erfreut sein sollte oder verzweifelt - ob er vor Freude oder Trauer weinen sollte. Ran… Ran war ebenfalls wach. Seit einer Stunde hielt sie ihr Handy in ihren zitternden Fingern, stand auf dem Balkon ihres Hotelzimmers, schaute hinaus aufs Meer, auf das der Mond silberne Sterne streute - als ob sie vom Himmel ins Wasser gefallen wären. Gerade hatte sie die Nachricht abgeschickt. Dann blinkte es. Sie schaute aufs Display. Der Sendebericht war da - netterweise hatte ihr Handy eine Zusatzfunktion. Sie konnte sehen, ob der Empfänger ihre Mail auch gelesen hatte. Nachricht gelesen Ran schloss die Augen. Also hatte er sie jetzt gelesen. Sie wartete noch ein paar Minuten. Hoffte, er würde gleich zurück schreiben. Nach einer Viertelstunde war immer noch nichts zurückgekommen. Wie’s aussah, würde er heute nicht mehr darauf antworten. Ran seufzte schwer. Ihre Augen brannten. Was war los mit ihm? Hatte sie ihn jetzt so geschockt? Eigentlich hatte sie ja geglaubt, zwischen ihnen wäre etwas Besonderes - nach seiner Antwort dann war die Ernüchterung gekommen. Er war in letzter Zeit so anders. Einerseits konnte er am Telefon so fürsorglich sein - manchmal dachte sie wirklich, er machte sich ernsthaft Sorgen um sie… und dann - dann war er wieder so sachlich, so kurz angebunden. Das Telefonat heute war ein Paradebeispiel dafür gewesen. Gut, sie war ein wenig angefressen gewesen, als sie ihn angerufen hatte. Allerdings auch nur, weil sie Sonokos Glück so deutlich sah - und sich so etwas auch für sich wünschte. Sie wünschte sich Glück. Glück mit dem, den sie liebte. Mit Shinichi. Ran schluckte. Sie hatte sich vorgestellt, wie es wäre, wenn sie ein Paar wären. Heute. Sie hatte es sich wirklich vorgestellt, in Gedanken ausgemalt… Sowas hatte sie noch nie getan - der Gedanke war einfach tabu gewesen. Sie wollte ihn als Freund nicht verlieren, nie im Leben. Allein die Vorstellung jagte ihr Angst ein. Nein… nichts wollte sie weniger, als das. Aber mittlerweile war ihr klar geworden, dass für sie eine einfache Freundschaft nicht mehr genug war. Sie wollte mehr. Sie wollte eine Beziehung mit ihm. Sie wollte ihn lieben dürfen. Und sie wollte, dass er sie liebte. Und vorhin, als sie allein in ihr Zimmer gekommen war, da hatte sie wieder das Grübeln begonnen. Wenn er nicht den ersten Schritt machte, dann musste eben sie ihn machen. Es konnte doch nicht von ungefähr kommen, dass jeder in ihrer Umgebung behauptete, sie wären ein Paar? Sie musste es versuchen. Und selbst wenn er sie nicht liebte - wenn er sie wirklich gar nicht - wenn er nur eine einfache Freundin in ihr sah, es so meinte, wie er es gesagt hatte - dann konnte sie sich wenigstens nicht vorwerfen, es nicht probiert zu haben. Sie hatte für sich selbst festgestellt, dass sie nicht leben konnte, ohne es ihm gesagt zu haben. Ohne, dass sie ihm gesagt hatte, was sie für ihn empfand. Es war ihr wichtig, dass er es wusste. Und dazu musste sie mit ihm reden… Sie seufzte leise, wischte sich über die Augen, dann ging sie zurück in ihr Zimmer. Und fragte sich einmal mehr, wo er sich wohl gerade befand… und wie es ihm dort ging, wo immer er auch war. Kapitel 2: Neue Bekanntschaften ------------------------------- Hallo meine lieben Leserinnen und Leser! Vielen Dank für eure Kommentare zum letzten Kapitel! Freut mich, wenn es eure Neugier wecken konnte :) Nun; jetzt geht's also weiter mit Agasas lustigem Campingtrip; mit ein paar... bezeichnenden Gesprächen, will ich meinen. Falls den einen oder anderen etwas bekannt vorkommt; ich schließe mich in einigen Dingen dem 5. Kinofilm an... was Ayumis Gefühle betrifft. Ich hoffe, ich fall mit ihr nicht zu sehr aus der Rolle, mir ist klar, dass es ne prekäre Situation ist. Ich wünsche euch dennoch viel Vergnügen beim Lesen! Liebe Grüße und bis zum nächsten Dienstag/Mittwoch, eure Leira :D ___________________________ Kapitel 2: Neue Bekanntschaften Der nächste Morgen versprach mit strahlendem Sonnenschein einen wunderschönen Tag. Herrlichstes Campingwetter. Conan, der als erster vom fast schon penetrant fröhlichen Gezwitscher der Vögel aus einem ohnehin nur sehr leichten Schlaf geweckt worden war, kroch aus dem Zelt und blieb davor einfach liegen. Tautropfen hingen an den Grashalmen vor seiner Nase, glänzten wie Glasperlen im Sonnenlicht. Die Luft roch wie gewaschen, unglaublich rein und klar. Rans Mail ging ihm nicht aus dem Kopf. Er wusste nicht mehr weiter. Seine Vernunft sagte ihm, befahl im regelrecht, ihr einen Korb zu geben. Sie endlich ein für alle Mal unmissverständlich auf den Boden der Tatsachen zu holen. Aber waren das denn wirklich die Tatsachen? Er liebte… er liebte sie doch. Das war ihm klar, und es zu leugnen wäre eine Lüge. Er liebte sie so sehr, dass es nicht nur fast wehtat - sondern wirklich schmerzte, Tag und Nacht, mittlerweile; es quälte ihn, weil er sie im Unklaren lassen musste, weil er ihr doch gern nahe wäre, weil er sie gern glücklich machen würde… er wollte Ran gern lachen sehen. Er würde alles tun für sie. Und nun nahm sie endlich ihren Mut zusammen, wagte es, ihm mehr oder weniger ihre Gefühle zu gestehen, wenn auch nur per Mail, aber immerhin - da konnte er doch nicht… da konnte er ihr doch nicht so eine Abfuhr erteilen oder sie einfach wieder abwürgen? War das denn fair? Er konnte doch nicht… Er konnte sie doch nicht schon wieder so im Unklaren lassen. Oder ihr gar alle Hoffnung rauben. Aber durfte er sie anlügen? Oder sie vor den Kopf stoßen? Sie unglücklich machen? Hatte er dazu das Recht? Er stöhnte auf, schlug mit seinen Fäusten ins Gras. Wassertröpfchen spritzen auf. Was soll ich machen? Warum tust du mir das an? Warum machst du mir und dir das Leben so schwer? Conan seufzte, zückte sein Handy, dann schrieb er ihr eine Mail. Ich ruf dich morgen an. Shinichi Zögernd schickte er sie ab. Er brauchte jetzt einfach Zeit, um nachzudenken. Eine Antwort zu schicken, jetzt; eine klare Aussage zu treffen, sich zu entscheiden, dazu war er momentan nicht in der Lage. Aber sie jetzt bis morgen ohne Nachricht im Unklaren zu lassen, erschien ihm als zu grausam. Also lieber eine kleine Ankündigung, als gar nichts. Dann schwankte Genta aus dem Zelt, stolperte über ihn - und an ein ruhiges Nachdenken war vorerst nicht mehr zu denken. Wenige Minuten später saßen sie alle fröhlich plaudernd um ein kleines Feuer und brieten ihr Frühstück - Spiegeleier und Speck. Nun - nicht alle plauderten fröhlich. Während Ai, Genta, Mitsuhiko und Ayumi sich mit dem Professor unterhielten, der gerade Brot verteilte, nahm Conan seine Scheibe schweigend entgegen - genauso schweigend, wie er den Rest seines Frühstücks verzehrte. Gedankenverloren zog er sein Handy hervor und merkte nicht, wie Ai leise hinter ihn trat, und so auch einen Blick auf die Nachricht werfen konnte, die er gerade wieder las, obwohl er den Text schon seit dem ersten Mal Lesen auswendig konnte. Was sie sah, traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. Aber ich seh’s nicht so… glaube ich. Ich fürchte, du... du… bist mehr als nur ein Freund für mich. Ich muss mit dir reden. Bitte- bitte sprich mit mir. Ran Das rotblonde Mädchen ließ sich neben ihn auf den Boden sinken, starrte ihn nun ebenfalls still von der Seite her an. In seinem Gesicht kämpften Trauer, Frustration und ein selten gekanntes Hochgefühl um die Vorherrschaft. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter - und erst jetzt merkte er, dass er nicht mehr allein war. Er klappte hektisch das Handy zu, schaute sie erschrocken an - und stutzte. Ihre Augen waren voller Mitgefühl. „Was du auch tust, Shinichi… es wird das Richtige sein. Hör auf dein Gefühl.“ Sie wisperte diese Worte, drehte dann den Kopf, starrte in die Ferne, wo die Sonne langsam ihren Weg über die Baumwipfel des Waldes erklomm. Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, vergrub die Finger in den Haaren. „Ich… liebe sie, Ai. Wirklich, ich liebe sie. Ich würde sterben für Ran, auch wenn es abgedroschen klingt, aber es ist so. Und ich will, dass sie glücklich ist. Aber genau da liegt mein Problem - ich weiß, es macht sie glücklich, wenn ich ihr sage, dass ich so empfinde wie sie. Und ich weiß, es macht sie unglücklich, wenn ich das Gegenteil behaupte. Aber genauso gut weiß ich auch, dass es sie unglücklich machen wird, wenn wir ein Paar sind, und ich mich nie bei ihr blicken lasse - ihr nicht nah bin, wo sie sich doch genau das wünschen wird. Nähe, Zuneigung – Liebe, eben. Ich weiß, es würde sie glücklich machen, würde ich es ihr geben - aber ich kann nicht, das weißt du. Das wissen wir beide. Also mach ich sie kurz glücklich - und dann unglücklich? Oder mache ich sie unglücklich - und lasse ihr damit die Möglichkeit, anderweitig glücklich zu werden?“ Ai schob sich ihr letztes Stück Brot in den Mund. „Denk darüber nach, was euch beide glücklich macht, nicht nur sie.“ Damit stand sie auf, und ging zu den Detective Boys, die die Tagesplanung begonnen hatten. Er blieb sitzen, legte den Kopf in den Nacken und starrte in den unverschämt blauen Himmel. Das sagst du so leicht. Wenn das so einfach wäre… Nach dem Frühstück schließlich brachen sie auf. Sie hatten beschlossen, eine Wanderung zu unternehmen - zuerst am Strand entlang, zwischen den Dünen - dann würden sie, gegen Mittag, ein Picknick zwischen den Felsen machen. Nachmittags schließlich wollten sie durch das kleine Wäldchen, in das er sich gestern schon zum Telefonieren verzogen hatte, wieder zurückpilgern, zum Zelt. Und so marschierte die Gruppe los, angeführt von Genta, Ayumi und Mitsuhiko; ihnen folgte dichtauf der Professor, und Ai und Conan bildeten mit einigen Metern Abstand das Schlusslicht. Sie alle waren ausgerüstet mit kleinen Rucksäcken - oder im Falle des Professors, einem großen Rucksack - und Wanderstöcken, die sie aus herumliegenden, vom letzten Sturm von den Bäumen gerissenen Ästen gefertigt hatten. Die drei Kleinen sangen lauthals ein fröhliches Wanderlied - doch während Genta und Mitsuhiko völlig vom Hochgefühl gefangen waren, sich einfach nur freuten, weil Ferien waren, weil sie zelteten - weil in ihren Rucksäcken leckere Sachen zum Picknicken auf sie warteten und das Wetter einfach nur traumhaft war - schaute Ayumi sich auffällig oft um. Sie beobachtete Conan. Er war seit gestern schon so still. Sprach fast nichts, aß nicht viel und sonderte sich ab. Irgendetwas war los mit ihm, er sah so traurig aus. Und nun ging er mit Ai weit hinter ihnen her. In ihr nagte die Eifersucht, auch wenn sie das nicht wirklich registrierte, das Gefühl eigentlich fast noch ein wenig zu groß für sie war. Aber sie machte sich Gedanken um ihn. Und darüber, wen er gern hatte. Sie wusste, zumindest hinsichtlich Ai schien jegliche Sorge unbegründet. Sie wusste zwar nicht, wie gern Ai Conan hatte - aber sie wusste, dass Conan Ai nur einfach so mochte. Etwas anders verhielt es sich vielleicht mit Ran, und Ayumi vermutete stark, dass es genau das war, was ihn so beschäftigte. Mit dieser Erkenntnis stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Vielleicht hatte Ran-neechan ja doch mit ihm geredet, wie sie sie mal gebeten hatte? Ihr musste doch aufgefallen sein, dass er sie anhimmelte? Das war es. Bestimmt hatte sie mit ihm geredet, und nun war deswegen etwas niedergeschlagen. Schließlich passten Ran und Conan ja gar nicht zueinander, der Altersunterschied war doch viel zu groß. Und außerdem hatte Ran ja Shinichi. Das musste es sein, ja, deswegen war er wohl so still. Auf Ayumis Gesicht zeichnete sich ein sanftes Lächeln ab; sie war sich sicher, ihn trösten zu können, und war fest entschlossen, ihn aufzuheitern. Schließlich hatte das Orakel doch gesagt, sie wären füreinander bestimmt! Schwungvoll drehte sich das kleine Mädchen wieder um, sang nun umso lauter und fröhlicher mit ihren beiden Freunden mit. Ai starrte sie an. Ihr war das Wechselbad der Gefühle auf Ayumis kleinem Gesichtchen nicht entgangen. Sie ahnte, was sie noch vorhatte. Und er - er tat ihr jetzt schon Leid. Denn er war ein viel zu guter Mensch, um sie einfach wegzuschicken. Er hatte viel zu viele Skrupel, viel zu viel Angst, ihr weh zu tun. Er würde sich nicht wehren können. Wie geplant verbrachten sie Mittag zwischen den Felsen. Conan hatte einen davon erklommen, es sich darauf gemütlich gemacht - unter anderem aus dem Grund, weil auf dem Felsen nur Platz für einen war. Er wollte seine Ruhe. Ayumi äugte leicht verständnislos nach oben, in ihren Augen stand etwas Sorge. Genta interessierte das alles gar nicht - er verputzte seine zwei Sandwiches, seinen Apfel und seine Karotte in Rekordzeit bis auf den letzten Krümel und schaute sich dann um, ob irgendjemand sein Essen nicht geschafft hatte. Mitsuhiko hingegen beobachtete seine Freundin skeptisch, ließ seine Augen immer wieder zwischen Ayumi und Conan hin und her schweifen. Ai warf ihm einen betrübten Blick zu. Es war klar, was ihn so beschäftigte, aber sein Drang, sich möglichst von allen abzuschotten um ihn Ruhe nachdenken zu können, stieß bei den Detective Boys auf wenig Gegenliebe, wie es schien. Der Professor trat neben sie. „Was hat er?“ Er schaute den kleinen Jungen an, der lustlos von seinem Sandwich abbiss und sichtlich nur deswegen kaute, damit er etwas zu tun hatte. Mit seinen Gedanken war er bestimmt nicht beim Essen. Er starrte aufs Meer, schien entweder seine Sorgen darin ertränken zu wollen oder in dessen unergründlichen Tiefen nach Antworten auf seine Fragen zu suchen. „Er ist deprimiert. Und ratlos. Meistens verträgt er diese Phasen ja ganz gut, und sie sind schnell vorbei, aber ich fürchte fast…“ Ai schlüpfte aus ihren Schuhen, vergrub ihre kleinen Zehen im warmen Sand, der zwischen den Gesteinsbrocken lag. „…diesmal wird es so einfach nicht sein, eine Lösung auf sein Problem zu finden. Und deshalb sitzt er jetzt da oben. Er grübelt.“ „Warum?“ „Das wissen Sie doch, Professor. Es gibt nur drei Gründe, die ihn so runterziehen.“ „Die da wären?“ Der Professor schaute sie ein wenig ratlos an. Ai seufzte, schaute ihn aus Halbmondaugen an. „Professor… ehrlich mal, wie lange kennen sie ihn nun schon?“ Der alte Mann zuckte etwas hilflos mit den Schultern. „Na schön. Punkt A wäre ein Fall, ein tragischer Mord, den er nicht verhindern konnte, eine Sache, an die er geglaubt hat, ihn verraten hat - und sich dafür völlig unbegründet die Schuld gibt, weil er meint, alles können zu müssen, schlauer als der Rest der Welt sein zu müssen. Er sieht es viel zu oft als seine Pflicht, alles Böse aufzuhalten und Tragödien zu verhindern, bevor sie passieren, weil er weiß, er ist intellektuell in der Lage dazu. Nur leider schlägt ihm manchmal der Fluss der Zeit ein Schnippchen.“ „Diesen Grund schließe ich aus.“ Agasa blickte zu ihr hinab. „Punkt B?“ „B wäre, wenn er gerade die Spur der Schwarzen Organisation gehabt und wieder verloren hätte.“ „Auch nicht. C?“ „Ran.“ Ai seufzte. „Die Frau bringt ihn noch ins Grab, ob sie will oder nicht.“ „Was ist mit Ran?“ Der Professor wandte sich wieder zu Conan, der gerade sein Sandwich wieder einpackte, bevor ihm noch schlecht wurde. Er konnte nichts essen. „Sie liebt ihn. Und das hat sie ihm per Mail jetzt mitgeteilt, mehr oder weniger eindeutig. Gestern Abend. Haben Sie nicht mitgekriegt, dass er so fluchtartig das Zelt verlassen hat? Ich schon. Da wusste ich noch nicht, warum. Heute hab ich die Mail gelesen, vorhin beim Frühstück. Er weiß nicht, was er tun soll. Er liebt sie doch auch. Aber er kann sie nicht lieben.“ Agasa wandte den Kopf ab, wollte etwas sagen - dann schüttelte er voller Gram den Kopf und ging, packte zusammen. „Und das ist meine Schuld, Shinichi… das tut mir so unendlich Leid, das musst du mir glauben…“ Ihre leise gewisperten Worte verschmolzen mit dem Flüstern des Winds, wehten davon, hinaus aufs Meer, ungehört. Dann zog etwas Ais Aufmerksamkeit auf sich. „Conan?“ Ayumi rief ihn. „Conan? CONAN! Komm doch runter! Was sitzt du so allein da oben rum?“ Ai seufzte. Nun musste sie ihm wohl doch etwas unter die Arme greifen. „Was willst du denn von ihm, Ayumi? Kann ich dir vielleicht helfen?“ Das brünette Mädchen schaute sie an. „Ich wollte, dass er runterkommt. Wir machen doch den Ausflug miteinander, da muss er doch nicht allein-…“ „Lass ihn in Ruhe.“ Ai lächelte sie an. „Er wird nicht ewig da oben bleiben. Komm, lass uns mal nach da drüben gucken - ich glaube, da könnte man Muscheln finden?“ Ayumi blinzelte sie an- dann lächelte sie. „Au ja, Muscheln! Klasse!“, rief sie begeistert auf, ihr Gesicht strahlte vor Freude. „Vielleicht kann ich ja eine für Conan finden?“ Sie rannte los. Das rotblonde Mädchen starrte ihr verdattert hinterher, als sie sich plötzlich beobachtet fühlte. Sie wandte den Blick nach oben, sah, dass er sie anschaute. „Irgendwann wirst du mit ihr reden müssen. Jetzt siehst du es ja selber - du kannst es nicht mehr abstreiten.“ Er schluckte nur, seufzte tief - und wandte dann den Kopf ab. Als ob ich nicht schon genug Probleme hätte… Dann warf er Genta sein Sandwich runter, der es jubelnd auffing und sich umgehend darüber hermachte. Er quittierte es mit einem nachsichtigen Lächeln, und wandte sich dann wieder dem Meer zu. Nach einer weiteren Viertelstunde packten sie schließlich wieder zusammen und setzten ihre Wanderung fort. Diesmal jedoch gesellte sich Ayumi zu Conan und Ai. Ai warf ihm einen mitleidigen, allerdings auch auffordernden Blick zu - dann marschierte sie voran, zog mit dem Professor gleich. Conan versuchte, zwischen sich und Ayumi einigermaßen Distanz zu wahren - allerdings schien sie das nicht richtig zu deuten. Sie streckte ihre Hand aus, griff nach seinen Fingern. Er zog die Hand weg. Ayumi schaute ihn fragend an. „Conan?“ Er hörte ihr helles Stimmchen - hörte einen Hauch von Verletztsein in der Art und Weise, wie sie seinen Namen aussprach. Er wandte sich ihr langsam zu. „Ayumi.“, murmelte er leise. „Findest du nicht, dass wir gute Freunde sind?“ Sie blinzelte, verstand ihn nicht ganz. Nichtsdestotrotz bejahte sie seine Frage. „Ja, das… das denke ich schon.“ „Warum willst du es dann unbedingt ändern?“ Jetzt schimmerte in ihren Augen langsam Erkenntnis. „Du- du… du magst mich doch?“ Sie schluckte, schaute ihn an. „Ja.“ Er seufzte. Warum machten es ihm die Frauen in letzter Zeit so schwer…? „Ja, ich mag dich. Aber nicht mehr. Ich schätze dich als Freundin – wirklich, Ayumi… aber ich denke nicht, dass… dein Orakel da recht hat, wenn es sagt, ich wäre für dich bestimmt.“ Er versuchte ein aufmunterndes Lächeln, schaute ihr dabei in die Augen. Sie tat ihm wirklich Leid, aber es war offensichtlich, dass jetzt ein Punkt erreicht war, wo es nicht mehr weiterging. Wo er ihr klarmachen musste, dass sie sich verrannte, auch wenn er gehofft hatte, soweit würde es nie kommen… und er könnte sie ihren Schwärmereien überlassen. Er hatte sich geirrt; seine Hoffnung war umsonst gewesen. Conan seufzte, vergrub seine Hände in seinen Taschen. „Ayumi, ich verstehe nicht, warum du gern mehr hättest - was wäre es denn, das du haben wollen würdest von mir? Denkst du nicht, du bist noch ein wenig zu jung für solche Gefühle? Liebe? Füreinander bestimmt sein?“, wisperte er leise. Sie schaute ihn verständnislos an. „Aber du bist doch genauso so alt wie ich!“ Allein dieser Satz war wie ein Schlag ins Gesicht für ihn. Nein, bin ich nicht. Ich sehe so aus, ja… aber ich bin es nicht. Ich bin es nicht! „Gut, du hast Recht. Dann bin ich eben auch noch zu jung für so etwas.“ Er starrte zu Boden, presste seine Kiefer aufeinander. Innerlich zerriss es ihn. Er hasste diesen Körper, er hasste diese Umstände, er hasste dieses Gespräch - er hasste die Organisation, die ihm das angetan hatte. „Aber du liebst doch.“ Conans Kopf fuhr hoch, ungläubig schaute er in Ayumis Gesicht. „Was sagst du?“, flüsterte er, versuchte, nicht zu entsetzt zu klingen. Er ahnte Böses. „Du liebst Ran. Das ist es doch, warum du mich nicht liebst. Oder? Aber Ran ist doch zu alt für dich… warum liebst du sie?“ Conan versuchte ein abwehrendes Lachen, schüttelte den Kopf. „Ayumi, du musst da was missverstehen. Ran ist… Ran ist wie… wie eine Schwester… für mich.“ Er atmete langsam aus, erstaunt, dass er die Worte tatsächlich hervorgebracht hatte. „So sieht es nicht aus. Du benimmst dich ihr gegenüber nicht wie ein kleiner Bruder.“ „Woher weißt du, wie sich kleine Brüder benehmen? Du bist ein Einzelkind, genauso wie ich auch.“ Langsam nervte ihn das. „Ich weiß, dass du sie liebst.“ Sie schaute ihn mit ärgerlich funkelnden Augen an. „Ich seh das doch!“ „Nein, das ist etwas anderes. Ich mag sie sehr gern, ich hab sie vielleicht lieb, ja. Aber ich liebe sie nicht.“ Er wusste nicht, warum er es abstritt. Er tat es einfach. Conan liebte Ran nicht. Conan durfte Ran nicht lieben. Das war wohl der Grund. „Tust du doch!“ „Tu ich nicht!“ „Doch!“ Ihre Stimme war immer lauter geworden. „NEIN!“ Er brüllte jetzt. Er wusste, er sollte sich besser im Griff haben, Ayumi konnte ja nichts dafür, aber… „DOCH!“ „NEIN!!!“ Er blieb stehen, starrte sie an, wütend, schwer atmend. Verstand nicht, warum sie nicht locker ließ, er kannte sie so gar nicht. War sie wirklich so enttäuscht darüber, dass aus ihnen beiden nicht das kindliche Traumpaar wurde, dass sie sich ausgemalt hatte oder warum… warum war sie so hartnäckig? „Ran ist eine erwachsene Frau, ich bin ein kleiner Junge! Ich kann sie gar nicht lieben, Ayumi, selbst wenn ich es wollte! Also lass mich in Frieden, meine Gefühle gehen dich nichts an. Alles, was dich interessieren muss…“ Er schluckte, sammelte sich, versuchte sich wieder zu fassen, presste sich seine Hand gegen die Stirn. Das hält man ja im Kopf nicht aus… „Alles was dich interessieren muss, Ayumi… ist, dass ich für dich außer reiner Freundschaft nichts empfinde. Such dir jemanden, der dich, der deine Gefühle mehr zu schätzen weiß als ich. Mit mir wirst du nicht glücklich.“ Alle waren bei dem Geschrei, das durch den Streit entstanden war, stehen geblieben. Allein er ging weiter, schwer atmend, aufgewühlt - und innerlich sein Schicksal immer wieder aufs Neue verfluchend. Ai rannte ihm nach - und damit setzten sich auch alle anderen wieder in Bewegung. Hinter sich hörte er es leise schluchzen. Er wusste, dass es Ayumi war, die weinte. Und es tat ihm leid. Aber er hatte einfach - es war zu viel gewesen. Er wusste nicht, wie er einem kleinen Mädchen sein Dilemma hätte erklären sollen. Also musste er sich klar ausdrücken - auch wenn klar in dem Fall hart hieß. Wie kam sie nur auf… auf die Idee mit Ran…? Ist es… ist es wirklich so offensichtlich? Der Rückweg verlief, bis auf Ayumis leises Weinen, das langsam auch abebbte, eher schweigsam. Conan, der immer noch voranging und dabei weit ausschritt, sagte gar nichts, genauso wie Ai, die neben ihm Schritt zu halten versuchte. Der Professor marschierte gemächlich hinter ihnen, musste er doch nicht so schnell gehen, da seine Schritte gut das Doppelte der Kinder maßen. Auch er verlor die ganze Zeit über kein Wort. Genta und Mitsuhiko hingegen versuchten durch leises Murmeln ihre Freundin zu trösten. Sie waren sauer auf Conan, der Ayumi zum Weinen gebracht hatte - andererseits war insbesondere Mitsuhiko erleichtert, nun zu wissen, wie es um Conan stand - nämlich dass er an Ayumi nicht näher interessiert war. Das klärte zwar immer noch nicht seinen Interessenskonflikt zwischen Ai und Ayumi, aber machte die Sache etwas leichter, weil es seine Chancen erhöhte. Als er sich bei dem Gedanken ertappte, wurde er rot und schalt sich in Gedanken einen schlechten Freund, jetzt so eigennützig zu denken. Dann warf er einen Blick nach vorne, wo Conans zusammengesunkene Gestalt vor ihnen herschlurfte. Er war mit der Zeit langsamer geworden, so als ziehe ihn irgendetwas zurück - als drücke ihn etwas immer mehr nach unten, machte ihm das Gehen immer schwerer. Und zum ersten Mal in seinem Leben fragte sich Mitsuhiko, wer Conan eigentlich war. Sein Verhalten gerade eben - überhaupt, wie er sich manchmal benahm… War er wirklich der, der er vorgab zu sein? Wo kam er eigentlich her? Wer waren seine Eltern? Hatte er noch andere Freunde, da, wo er gewesen war, bevor er zu ihnen gekommen war? Erst jetzt wurde ihm langsam klar, wie wenig sie alle im Prinzip über Conan wussten. Dann kam die Gruppe abrupt zum Stehen. „Na, wer wird denn an so einem schönen Tag Trübsal blasen?!“ Conan schrak hoch, sein Kopf legte sich automatisch in den Nacken um zu erkennen, wer ihn da angesprochen, aus seinen Gedanken gerissen hatte. Sie stand vor ihm, er wäre fast in sie hineingelaufen. Oder war sie bewusst vor ihn getreten? Sie, soviel stand fest, war eine blonde Frau Ende Zwanzig. Fakt war auch, dass sie keinesfalls naturblond war- man sah ganz deutlich das Werk von Chlorwasserstoff vor sich. Blondiert, und noch dazu sehr schlecht. Der Friseur war eindeutig kein Könner gewesen - oder es war das Werk ihrer eigenen, unerfahrenen Hände gewesen, das ihr diese Fülle strohblonden Haares beschert hatten. Des Weiteren erwähnenswert währe noch, dass sie in äußerst knapper Aufmachung unterwegs war- das Hemd mit den zurückgeschlagenen Ärmeln hatte sie unterhalb ihrer Brust zusammengeknotet, was den Blick auf ihren gepiercten Bauchnabel freigab, in dem ein blauer Glasstein funkelte. Dazu trug sie sagenhaft kurze Hotpants und Wanderstiefel- das einzige, was sie neben ihrem Rucksack als Camperin outete. Hinter ihr traten zwei junge Männer und eine weitere junge Frau durchs Gebüsch. „Miyako! Da bist du ja. Wen hast du denn hier gefunden?“ „Hallo!“ Der Professor trat vor ihn und Ai, kratzte sich scheinbar verlegen am Hinterkopf, rettete sie damit aus ihrer Situation. „Entschuldigen Sie, wir sind nur auf dem Heimweg - wir sind heute ein ganz schönes Stück gegangen. Die Kinder sind wohl etwas müde…“ Conan nahm das Stichwort auf und gähnte. Die Frau schaute ihn prüfend an - dann lächelte sie. „Ja, solche Wanderungen können einen schon müde machen, wenn man es nicht gewöhnt ist, nicht wahr? Vor allem kleine Kinder werden wohl schnell erschöpft.“ Sie lachte, warf ihre wasserstoffblonden Haare zurück. „Wobei ich sagen muss, ich werde wohl auch langsam müde. Ich bin das Wandern wohl auch nicht mehr gewöhnt. Wie geht’s euch?“ Miyako wandte sich zu ihren Begleitern um. „Ich gestehe, ich bin auch etwas müde.“, nuschelte der eine von beiden, ein etwas dickerer, untersetzter Mann mit auffälliger Hornbrille. Er hatte eher kurzes, schwarzes Haar, trug eine lange Hose und ein Poloshirt, auf seinem Rücken hing ein Rucksack, an dem er schwer zu schleppen schien - der Schweiß stand ihn in deutlich sichtbaren Perlen auf der Stirn, ganz zu schweigen von gewissen Flecken auf seinem Shirt und auch ein gewisser Geruch war nicht zu leugnen. „Klar, bei deiner Kondition, Manabu, da muss man sich nicht wundern, Dickerchen. Aber wenn ihr wollt, dann suchen wir uns halt ein Fleckchen, wo wir unsere Zelte aufschlagen können.“ Der Mann, der gesprochen hatte, war braungebrannt, schlank und sportlich - er trug Shorts, Wanderschuhe und ein kariertes Hemd. Eine Baseballmütze und ein großer Rucksack, an dem sichtbar ein Zelt befestigt war, rundeten das Gesamtbild ab. Die Vierte im Bunde, eine ausgenommen hübsche, rothaarige Frau sagte gar nichts - sie starrte unverwandt die Kinder an. Conan bemerkte ihren Blick - als er ihn erwiderte, wandte sie sich ab. „Ich wäre dafür, uns vielleicht hier anzuschließen. Denn auch wenn du es nicht zugeben willst, Tomoaki - wir haben uns verlaufen. Sonst wird es dunkel, und wir stehen immer noch mitten im Wald, ohne Plan.“ Sie wandte sich dem Professor zu. „Sie haben doch sicher nichts dagegen, uns ein Stückchen mitzunehmen? Wir alle wären ihnen zutiefst zu Dank verpflichtet, Herr…“ „Professor Agasa!“ Ayumi drängte sich nach vorn. „Er ist ein Professor! Er erfindet ganz tolle Sachen!“ Die Rothaarige kam näher, beugte sich zu ihr runter. „Tatsächlich?“ „Ja!“ Ayumi nickte. Die junge Frau lächelte sie an, dann stand sie auf, lächelte auch auf Conan und Ai herab. Schließlich wandte sie sich um, begann mit Miyako zu reden. Conan starrte sie immer noch an, als sie sich schon längst abgewandt hatte. Irgendetwas an ihr störte ihn, stresste ihn - ließ seine Alarmglocken schrillen. Seine Augen wurden immer größer, sein Atem stockte. Neben ihm stand Ai, und allein die Tatsache, dass sie mit eiskalten Fingern nach seiner Hand tastete, ließ ihn wissen, dass er sich nicht täuschte. Etwas flößte ihr Angst ein, Angst, wie nur… wie nur… ein Mitglied der Organisation es konnte. Ai hatte einen sechsten Sinn dafür, das wusste er. Und ihm ging es langsam genauso. Etwas an ihr ließ ihn schaudern, trieb ihn dazu, weglaufen zu wollen, weckte seinen Fluchtinstinkt… Aber er wusste nicht was. An nichts, was sie gesagt hatte, oder getan hatte- wie sie aussah, sich verhielt - an nichts konnte er festmachen woher dieses Gefühl rühren konnte. Er drückte Ais Hand. Mitsuhiko sah es - und schluckte. Sollte er sich doch getäuscht haben? Er warf einen Blick zu Ayumi, die diese Geste genauso wie er interpretierte - und damit unwissentlich genauso falsch lag. „Natürlich nehmen wir Sie mit.“ Die Stimme des Professors riss Conan aus seinen Gedanken. Er drehte sich um, schaute zu seinem alten Freund auf, der gerade nickte. „Dann geht das also klar - wir schließen uns für heute ihrer Gruppe an? Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Professor! Darf man fragen, wo Sie Ihr Lager aufgeschlagen haben?“ Die Stimme des sportlichen Mannes ließ ihn wieder aufhorchen. „Nicht weit von hier ist eine Lichtung. Sie liegt an einem Weg, der direkt zum Strand führt.“ Damit übernahm er die Führung. Als sie sich nun auf den Weg zum Zelt machten, waren Conan und Ai wieder die letzten, die der Gruppe hinterher liefen. Lange Zeit schwiegen sie sich an - und schon längst hatte Ai seine Hand wieder los gelassen. Als sie dann das Zelt schon sehen konnten, sprach sie schließlich, leise - langsam und zögernd. „Du fühlst es auch?“ Er nickte nur. Nicht ein Wort kam über seine Lippen. „Ran, ich bitte dich - entweder du rufst ihn jetzt an, wenn du nicht bis morgen warten kannst - oder aber du lässt es, und versuchst dich wie jede normale, gut aussehende junge Frau in deinem Alter zu vergnügen.“ Sonokos Stimme konnte sehr penetrant sein. Ran seufzte, riss sich von ihrem Handydisplay los. Er hatte zwar geschrieben, dass er morgen erst anrufen würde - aber sie konnte nicht warten. Es ging nicht. Sie saß den ganzen Tag schon auf Kohlen. Einerseits war es ein gutes Zeichen, dass er sie erst später anrief - allein die Tatsache, dass er nicht sofort geschrieben hatte, dass sie wirklich nur eine Freundin für ihn war, machte ihr Hoffnung. Andererseits konnte es auch sein, dass er schlicht und ergreifend ein wenig Zeit brauchte, um sich zu überlegen, wie er ihr am besten einen Korb gab. Sie seufzte, klappte ihr Handy aber nicht zu. „So wie du, meinst du? Was ist mit dir nur los, Sonoko? Bis gestern wart du und Makoto doch noch total glücklich…?“ „Der Typ ist so ein Hohlkopf.“ Sonoko ließ sich neben sie sinken. „Echt, der checkt gar nichts. Nicht das Geringste. So ein Grobmotoriker, gefühlsmäßig schaltet er wirklich wie ein Nashorn…“ Ran lächelte bitter. „Ich dachte, das wäre deiner Meinung nach nur Shinichi?“ Sonoko verdrehte die Augen. „Also - wenn du’s genau wissen willst, für den fehlen mir momentan total die Worte. Echt mal. Was für ein Mistkerl! Lässt dich da jetzt so auf dem Trockenen sitzen - wobei ich sagen muss, ich fand das sehr mutig von dir, Ran! Wurde Zeit, dass du mal Bewegung in die Sache bringst.“ „Lenk nicht ab. Was hat Makoto denn nun schon wieder angestellt?“ Sonoko verzog ihre Lippen zu einem Schmollmund, zupfte an ihrem Bikinioberteil rum, bis es wieder richtig saß. „Du hast doch abgelenkt. Aber gut… Er hat nicht gemerkt, dass ich gern diese eine Kette gehabt hätte… du weißt schon, die mit den Perlen und Perlmuttblümchen, aus diesem süßen Lädchen an der Ecke. Die würde mir doch total stehen… aber ich kann sie angucken, soviel ich will. Kann ihm hundertmal sagen, wie schön das Perlmutt funkelt. Weißt du, was er mir gekauft hat? Eine ganze Muschel! Eine ganze Perlmuttmuschel!!!“ Sie holte das handtellergroße Souvenir aus ihrer Strandtasche, wedelte vor Rans Gesicht mit ihm herum. Ran nahm es ihr ab, schaute sie an - ließ die Sonnenstrahlen sich in ihrer glänzend schimmernden Oberfläche fangen, sie in allen Farben schillern. „Sie ist wirklich schön…“, wisperte sie. Sonoko öffnete den Mund - dann schloss sie ihn wieder. Seufzte, schaute ihre Freundin nachdenklich an. „Ruf ihn an, Ran. Entweder er liebt dich - oder er tut’s nicht. Er sollte endlich mal Farbe bekennen - er muss dazu doch eine Meinung haben.“ Sie nahm ihr die Schale wieder aus der Hand, drückte ihre Schulter und stand auf. „Ich lass euch mal kurz allein. Viel Glück.“ Damit tappte sie durch den weißen Sand zurück zu ihren Sonnenschirmen. Ran blieb sitzen, vergrub ihre Zehen im Sand und wählte seine Nummer. Ihre Hände zitterten, als sie das Mobiltelefon an ihr Ohr hob und dem Freizeichen lauschte. Sie saßen am Feuer und machten gerade zusammen mit ihren neuen Weggefährten, die sichtlich amüsiert mit den Kindern plauderten, das Essen, als er spürte, wie sein Handy vibrierte. Er zog es heraus, wusste bereits, wer es war, noch ehe er das Telefon aufklappte. Ai tippte ihn an - er schaute auf, nickte nur. Dann stand er auf, entfernte sich von der Gruppe, hob ab. „Was ist?“ Ran schluckte. Langsam keimte in ihr der Verdacht auf, dass es eventuell keine gute Idee gewesen war, ihn anzurufen. „Ich bins.“ Ihre Stimme klang dünn. Er seufzte leise. „Das weiß ich, Ran, dein Name steht auf meinem Display. Warum rufst du an?“ Er wusste eigentlich, dass die Frage überflüssig war. Er bog um die letzte Biegung des Weges, die ihn noch vom Meer trennte. „Ich…“ Ihre Worte verloren sich. „Es ist…“ Sie setzte neu an, aber auch dieser Versuch scheiterte. Ihre Nervosität hatte ihren Kopf fast völlig leer gefegt. Sie konnte kaum mehr klar denken. Er war am Strand angekommen, ließ sich in den Sand sinken. „Ran-...“ Conan schluckte. „Ich sagte doch - beziehungsweise, ich schrieb doch - dass ich dich morgen anrufe. Das ist doch der Grund, warum du jetzt anrufst, nicht?“ „Ich konnte nicht mehr warten…“ Rans Stimme zitterte. „Und was willst du nun… was willst du von mir hören?“ „Shinichi…!“ Sie krallte ihre Hand in den Sand, biss sich auf die Lippen. Verzweiflung machte sich ihn ihr breit. In ihr schien alles Kopf zu stehen. Er seufzte, starrte aufs Meer hinaus. Was sollte er ihr jetzt sagen? Sie hatte ihn auf dem völlig falschen Fuß erwischt. Er hatte doch keine Ahnung, was er ihr sagen sollte. Wie er reagieren sollte. Er war noch nicht soweit. Und er hatte auch keine Ahnung, wann er je soweit wäre. Beziehungsweise… wann Conan jemals soweit wäre… „Sag mir einfach, wie du denkst.“ Sie versuchte, bestimmt zu klingen. Er biss sich auf die Lippen. Wenn das so einfach wäre, Ran… Du ahnst nicht, wie gern ich das tun würde. „Das - das hab ich doch schon, Ran. Gestern.“ Diese Worte zu sprechen, kosteten ihn seinen ganzen Willen. Es brach ihm das Herz, und ihr auch, das wusste er. Sie schloss die Augen, merkte, wie ihre Lippen bebten. „Und war das die… Wahrheit? Ist das… ist das dein letztes Wort…?“ „Warum fragst du mich das…?“ Er flüsterte die Worte fast. „Weil ich… dir nicht glaube. Weil ich irgendwie spüre… dass da noch was ist. Weil ich denke, dass du mir etwas verheimlichst. Und weil ich dich…“ „Sag’s nicht…“ Sie stutzte. Seine Stimme hatte so anders geklungen, gerade eben. Irgendwie… irgendwie gequält. Verzweifelt, fast. „Shinichi?“ Ihre Stimme drang an sein Ohr. Sie klang besorgt. Er schluckte, riss sich zusammen. „Sag es nicht, Ran. Sag es nicht, ich bitte dich. Ich ruf dich morgen an. Du musst mir Zeit zum Nachdenken geben…“ „Aber worüber musst du denn nachdenken? Entweder ich bin mehr für dich als eine Freundin, oder nicht…“ Ran wusste nicht, woher die Worte kamen. Woher der Mut kam, um sie zu äußern. Sie sprudelten aus ihr hervor, als hätten sie lange darauf gewartet, gesprochen zu werden, und nun war anscheinend der Damm gebrochen - es gab kein Halten mehr. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, ihr Mund wurde langsam trocken. Er blinzelte, fuhr sich nervös mit den Fingern durch die Haare. So direkt war sie noch nie geworden. „Das Thema hatten wir doch schon…“ „Aber ich nehm dir deine Antwort nicht ab. Du klingst nicht überzeugt. Ich glaube, du lügst…“ Sie schluckte, merkte, wie es in ihren Augen brannte. Noch nie hatte sie einfach gesagt, was sie dachte. Aber nun hatte sie einen Punkt erreicht, an dem es nicht mehr anders ging. Es war offensichtlich irgendetwas los mit ihm. „Ich weiß nicht, was es ist, aber ich glaube dir nicht. Irgendetwas stimmt doch nicht! Was ist… was ist los mit dir? Warum… wo bist du? Warum redest du mit mir nicht darüber? Warum musst du erst nachdenken, warum brauchst du Aufschub, wenn ich dich frage, wie du… fühlst…“ Sie schluckte schwer. „Ich kann einfach nicht mehr… Shinichi, ich muss Klarheit haben… ich muss dir glauben können, aber du wirkst nicht… nicht glaubhaft für mich… Es ist, als wärst du nicht du selber…“ Er musste an sich halten, um nicht laut los zu lachen. Wie recht sie doch hatte… Aber was sollte er sagen… was sollte er antworten? Sie hatte mit all ihren Fragen recht, aber keine konnte er ihr beantworten. Sie glaubte ihm nicht, weil er sie anlog. Ran durchschaute ihn. Jetzt war wohl der Punkt erreicht, den er so lange schon hatte kommen sehen. Aber er konnte einfach nicht… konnte ihr nicht sagen, was sie so gerne hören wollte, was er ihr so gerne sagen wolle. Er holte Luft. Er wusste, sie wartete auf eine Reaktion seinerseits, und irgendetwas musste er sagen. „Ran, hör zu, ich… ich geb ja zu, du hast nicht ganz Unrecht mit dem, was du sagst, ich… bin wohl wirklich irgendwo in einer etwas… schwierigen Lage. Und deshalb…“ Er versuchte, irgendwie den Schaden zu begrenzen. Sie in der Grauzone zu lassen, wo sie sich die ganze Zeit aufhielten, wenn sie ihm das Schwarz… das hieß, das Nein, nicht abkaufte. Ran schluckte, hörte gar nicht mehr wirklich zu; sie musste es wissen… musste wissen, ob er nun log, oder die Wahrheit sprach, und was es war, das ihn so zaudern ließ. Das ihn, in allem was er sagte, so unüberzeugt wirken ließ, schon seit Wochen. „Liebst du mich…?“ Conan verstummte sofort, saß nur da - den Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet. Als er seine Stimme wieder fand, war sie kaum mehr als ein Krächzen. „Was…?!“ Ran schluckte, riss sich zusammen. Sie war vorgeprescht, jetzt musste sie wohl oder übel auch weiter laufen. „Du hast mich verstanden… Liebst… liebst du mich? Wenn es so ist, warum fällt es dir so schwer, es zuzugeben? Und wenn es nicht so ist, so bitte ich dich, sag es endlich… lass mich nicht so dastehen…“ Ihre Stimme zitterte gewaltig. Conan schluckte, wusste nicht mehr ein, noch aus. „Warum willst du unsere Freundschaft aufs Spiel setzen mit solchen Fragen…?“ Ran schluckte. Genau das hatte sie befürchtet. Sie merkte, wie ihre Hände kalt wurden, wie ihre Finger zu zittern anfingen. Merkte, sie ihr der Atem wegblieb, sich ihr Magen verkrampfte. Diese Ungewissheit, diese Unsicherheit zerriss sie innerlich. Sie wusste nicht, ob sie ihm glauben konnte, wenn er sagte, er war nur ihr Freund. Wusste nicht, woher das Zögern, die Verzweiflung in seiner Stimme kam. Sie wusste nicht, wie nahe sie ihm treten konnte, und hatte doch das Gefühl, gerade eben war sie ihm viel zu nahe gekommen. Und sie hatte Angst. Sie hatte Angst, denn so wie er sich momentan verhielt, so, wie er reagierte, kannte sie ihn nicht. Und andererseits war da noch die Tatsache, dass sie… dass sie in ihn verliebt war. Sie vermisste ihn, vermisste ihn so sehr. So lange hatte sie ihn schon nicht mehr gesehen und sie wünschte sich nichts mehr, als ihn endlich wieder zu treffen - und von ihm zu hören, wovon sie träumte. Sie liebte ihn - liebte ihn so sehr, dass es sie momentan fast um den Verstand brachte; es stimmte wohl, was man sich über unerwiderte Gefühle sagte. Sie wollte, dass er sie liebte, weil sie sich gut fühlte, wenn sie nur seine Stimme hörte. Weil sie sich sicher fühlte, wenn er da war. Er war ihr Halt; ihr Fixstern, in dieser Welt. Aber momentan schien alles zusammenzubrechen. Er entglitt ihr. Weil sie zu voreilig gewesen war? Oder empfand er gar nicht so wie sie, hatte sie sich getäuscht, ihre Freundschaft zerstört, weil sie ihm Dinge gesagt hatte, mit denen er nicht klar kam…? Aber sie konnte so nicht weitermachen. Jedes Mal wenn sie ihn auch nur hörte, verspürte sie dieses Kribbeln… und dieses Glücksgefühl, das sie jedes Mal Lächeln ließ, normalerweise. Der Gedanke, dass eine andere ihn… Sie kniff die Augen zusammen. Hatte sie ihn wirklich so missverstanden? Hatten alle anderen etwas gesehen, das einfach nicht da war? Es fiel ihr schwer, das zu glauben. „Ran?“ Sie schreckte hoch. Sie hatte sich gehen lassen, sich und ihre Gedanken… „Ran, bist du noch dran? Beantwortest du mir meine… meine Frage? Warum… warum tust du das…? Warum stellst mir du solche Fragen…? Sie schluckte, riss sich zusammen. „Weil ich… weil ich… weil ich so nicht mehr weitermachen kann. Ich will dich nicht mehr nur als Freund haben, weil ich in dir nicht mehr nur einen Freund sehe. Ich kann nachts nicht mehr ruhig schlafen. Du fehlst mir. Ganz unglaublich. Ich… schon lange hab ich dieses Gefühl… in deiner Nähe fühle ich mich anders. Du… du bist… du bedeutest mir viel… Wenn du da bist, geht’s mir besser, allein wenn ich deine Stimme höre… Und ich mach mir momentan… so entsetzliche Sorgen um dich… Irgendetwas stimmt doch nicht… bei dir…“ Er schluckte, merkte, wie seine Finger eiskalt wurden. Wie sehr hatte er sich gewünscht, dass sie ihm einmal ein solches Geständnis machen würde. Ihm. Nicht Conan. Und das macht das alles so grausam für ihn. Denn er wusste, was sie das kostete… und dass sie es umsonst tat. Dann riss ihre Stimme sie wieder aus seinen Gedanken. „Shinichi? Ich… weiß, dass du es nicht… nicht hören willst, aber… aber… ich… Ich lie…“ Er fuhr zusammen, streckte das Handy panisch, ruckartig von sich weg, legte es beiseite. „…be dich.“ Ihre Stimme war kaum lauter als ein Wispern. Conan hörte ihre Worte trotzdem. Er atmete heftig. Dieses Gespräch war ein Alptraum. Ran fuhr sich nervös durch die Haare. Sie fürchtete, dass sie zu weit gegangen war. Aber sie wollte es jetzt wissen. Sie wollte Bestimmtheit in seiner Stimme hören, wenn er ja oder nein sagte. Erst dann würde sie sich zufrieden geben. „Shinichi?“ Er reagierte nicht. Schaute nur auf das Handy, aber rührte sich nicht. „Shinichi?!“ Ihre Stimme klang angsterfüllt. Sie fürchtete seine Zurückweisung, das wusste er. Und er hasste sich dafür. Er hasste sich so sehr, dass er dafür sorgte, dass es ihr so schlecht ging. Weil er wusste, er kam nicht aus. Er musste sie zurückweisen. Er konnte nichts anderes tun. Eine Option, die sie beide glücklich machen würde, gab es nicht. Die gab es schon lange nicht mehr. Wer wusste, ob sie je existiert hatte. Und deswegen hasste er sich. Er hasste sich. Hasste sich. Hasste sich… „Shinichi! Shinichi Kudô, bist du noch dran?“ Die Verzweiflung war aus ihrer Stimme deutlich herauszuhören. Er seufzte, fühlte sich schlecht- dann hob er sein Handy wieder ans Ohr. „Ja, ich bin noch dran.“ „Bitte beantworte mir meine Frage… kannst du das…? Verzeih mir, dass ich sie dir stellen muss, aber ich muss es wissen… verstehst du? Du willst doch… auch immer die Wahrheit finden, das Gefühl sollte dir nicht neu sein…“ Sie schluckte. „Ich seh’ ihn dir mehr als nur einen Freund, und wenn du das nicht auch für mich—fühlst, dann müssen wir… oder fühlst du… genauso…? Sag es… bitte… ich kann nicht mehr… “ Er biss sich auf die Lippen. Er konnte sie hören. Die Tränen, die sich in ihren Augen sammelten, glänzende, klare Tropfen aus Salzwasser, bereit, ihrem Kummer Ausdruck zu verleihen. Ihre Stimme war schon wieder brüchig. „Shinichi… liebst du mich?“ Ja! Verdammt noch mal… Er hätte schreien mögen. „Ich ruf dich morgen an. Versprochen. Schlaf gut.“ Er presst die Worte hervor, dann hängte er ein, schaltete das Handy aus. Ihr jetzt das Herz vollkommen zu brechen, hatte er einfach nicht geschafft. Er war ein Feigling… und dafür hasste er sich auch. Ran starrte ihr Handy an. Eine einzelne Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel. Sie war verwirrt- und zutiefst besorgt. „So jung und schon solche Probleme?“ Er fuhr hoch wie von der Tarantel gestochen, drehte sich um und starrte nach oben, in ein bildhübsches Gesicht. Die rothaarige Frau aus der Gruppe, Azusa, wie man sie ihnen vorgestellt hatte. „Haben Sie nicht gehört, dass die Jugend immer frühreifer wird?“ Seine Stimme klang alles andere als fest, als er an ihr vorbei ging, den Weg zurück zum Lager einschlug. Seit wann hatte sie hinter ihm gestanden? Wie viel hatte sie gehört? Das sanfte Rauschen des Meeres hatte ihre Schritte gedämpft, der Sonnenuntergang ihren Schatten in die entgegen gesetzte Richtung geworfen. Deshalb hatte er nicht bemerkt, dass sie gekommen war. Und weil er so aufgewühlt gewesen war. Er war es immer noch. Als er wieder beim Zelt angekommen war, verschwand er schnurstracks in dessen Innerem. Die rothaarige Frau stand noch lange am Saum des Meeres - und selbst als die Nacht schon längst hereingebrochen war, hatte sie sich noch nicht vom Fleck gerührt. Sie liebte die Nacht. Sie liebte die Dunkelheit. Sie liebte schwarz, und diese Farbe war es, in die ihre Umgebung momentan getaucht war - schwarz. Das Himmel und das Meer waren schwarz. Schwarz wie ein Ozean aus Kalligraphietusche. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Was für interessante Bekanntschaften man doch auf Wanderausflügen machen konnte. Kapitel 3: Verschwunden ----------------------- Guten Tag, meine lieben Leserinnen und Leser! An dieser Stelle möchte ich euch gerne wieder meinen herzlichsten Dank für eure Kommentare aussprechen! Ehrlich, ich freu mich unglaublich darüber ^-^ Ihr wisst gar nicht, wie sehr :) Nun… in diesem Kapitel werden viele wohl einige ihrer Vermutungen bestätigt finden; des Weiteren tritt gegen Ende eine weitere, wichtige Figur auf den Plan. Ich bitte alle, die irgendeine Vermutung über ihre Identität hegen, dies nicht per Kommentar zu äußern, um den anderen die Spannung zu lassen. Allerdings kann sich jeder gern an mich per ENS wenden- ich warte gespannt, obs jemand herausfindet, und ich bin mir fast sicher, dass es einigen gelingen kann… was unter anderem an mir liegt *amKopfkratz* Joa. In diesem Sinne, lest selbst, wovon ich hier labere, viel Vergnügen wünsch ich! Bis nächste Woche, eure Leira :D _________________________________________________ Kapitel 3: Verschwunden Der Morgen dämmerte bereits, die Sonne strahlte mit aller Macht, durchleuchtete die Plane ihres Zelts, tauchte damit alles in grünes Licht. Conan lag da, als einziger wach, schon seit Stunden – starrte an die Nylondecke ihrer Unterkunft. Es war schwülwarm, trotz der frühen Stunde. Er hatte nicht wirklich einschlafen können, zu sehr hing ihm das Telefongespräch mit Ran hinterher. Er hatte nicht aufhören können, daran zu denken. An Ran. An das, was sie ihm gesagt hatte. Draußen zwitscherten die ersten Vögel, leise drang ihr Gesang in das Zelt, vermischte sich mit dem lautstarken Schnarchen von Genta und dem Professor, die wohl einen Wettkampf ausfochten, wer im Schlaf die meisten Bäume umsägte. Neben ihm lag Ai, ihr Gesicht getaucht in gespenstisches Grün, ihre Augen geschlossen, ihre Finger ineinander verschlungen fast wie zum Gebet. Sie hatte gesagt, er solle eine Lösung finden, die sie beide glücklich machte. An und für sich ein weiser Rat, ja… Aber… Es gab keine Lösung, die sie beide glücklich machen konnte, das musste ihr doch klar sein? Conan setzte sich langsam auf, starrte sie immer noch an, seine Lippen zusammengekniffen. Er konnte ihr nicht sagen, dass er sie nicht liebte. So viel Mut hatte sie aufgebracht, um ihm ihre Gefühle zu gestehen, ein so großes Risiko war sie eingegangen - er konnte ihr den Lohn für ihr Wagnis nicht vorenthalten. Er konnte ihr das doch nicht antun. Sie hoffte so darauf, sie hatte es verdient, es würde sie so glücklich machen… Es würde ihn so glücklich machen… Er biss sich auf die Lippen, schmeckte Blut, fühlte den Schmerz und war fast froh darüber. Und gleichzeitig - gleichzeitig konnte er sie doch nicht in ihr Unglück stürzen, indem er ihr sagte, dass er sie liebte - so sehr, so unglaublich liebte; und dann nie da war, um ihr diese Liebe auch zu beweisen. Das würde sie noch trauriger machen als sie jetzt schon war; und ihr die Gelegenheit nehmen, sich unbeschwert in jemand anders verlieben zu können - ihr Herz jemand anderem zu schenken. Jemandem, der dieses Geschenkes würdig war. Wie er es drehte und wendete, er kam zu keinem Ergebnis. Es gab keinen Kompromiss. Es gab nur ein entweder - oder. Ein Ja oder ein Nein. Schwarz oder Weiß. Nichts dazwischen. Gar nichts. Und ihm war das Herz schwer. Dann schälte er sich aus seinem Schlafsack, beschloss, aufzustehen. Sollte er eine Münze werfen? Das Schicksal entscheiden lassen, wo sein Herz und sein Verstand gegeneinander kämpften, und keiner die Oberhand zu gewinnen schien? Er seufzte, zog sich leise an, krabbelte nach draußen, ohne irgendjemanden geweckt zu haben. Dann marschierte er den Weg zur See entlang - er wollte dem Meer ein wenig zusehen, das Rauschen hören. Seine Sorgen im salzigen Wasser treiben lassen… wo er sie schon nicht darin ertränken konnte. Sich klein und nichtig vorkommen im Angesicht dieser gewaltigen Weite. Wie ihm jemand folgte, merkte er nicht - zu sehr versunken war er in seine Gedanken. Als er am Strand ankam, blieb er stehen- und fröstelte; eine frische Brise wehte übers Wasser auf das Festland, trug den Geruch des Meeres mit sich. Er atmete tief durch, stapfte langsam noch näher an die Wellen, die mit ihren nassen Fingern an der Sandbank zerrten, mit jedem ihrer Bewegungen Sandkörner hin- und her schoben, etwas freilegten, oder verdeckten, Spuren verwischten. Er vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen, genoss trotz der Kühle den Wind, der mit seinen Haaren spielte, sein Shirt aufblähte und wieder losließ, schloss die Augen. „Hallo Shinichi.“ Conan erstarrte. Atmete langsam aus, drehte sich noch langsamer um, schaute hinauf in das Gesicht dieser Frau. Ihre roten Haare glühten im Licht der Morgensonne, schienen fast in Flammen zu stehen. „Ich heiße Conan. Sie verwechseln mich mit jemandem.“ Wo ihm vorher noch angenehm kühl gewesen war, fror er nun wirklich. Ein Zittern lief unmerklich durch seinen kleinen, kindlichen Körper. Und es lag nicht an den Außentemperaturen oder am Seewind. „Du kannst aufhören, mir etwas vorzumachen, Hosenscheißer. Ich hab gestern mehr von deinem Telefonat mitgehört, als dir lieb sein dürfte.“ Sie lächelte diabolisch. „Es wird sicherlich interessant sein, zu erfahren, was der Boss darüber denkt, dass einer, der bei ihm auf der Gedenktafel seiner Opfer steht, noch lebt…“ Boss?! Er riss die Augen auf. Also hatte er sich nicht getäuscht… gütiger Himmel - sie war wirklich ein Mitglied der Organisation! Was machte sie hier? Wie lange war sie schon hier? Hatte sie sie schon vorgestern beobachtet? War sie allein, oder war sie mit Komplizen unterwegs und… wusste sie etwas von Ai? Seine Gedanken rasten. Er trat rückwärts, langsam, merkte, wie er in den Sand einsank, warf kurz einen Blick nach unten. Nicht unbedingt optimale Bedingungen für eine Flucht. Sie lächelte immer noch teuflisch, nickte zufrieden. „Ich sehe, du erkennst die Gefahr, wenn sie vor dir steht - Shinichi Kudô. Und das ist auch gut so.“ Conan drehte sich um, begann wider besseren Wissens zu rennen. Ihm war klar, es war zwecklos, er hatte keine Chance. Aber er musste etwas tun… irgendetwas musste er tun, er konnte ja nicht einfach stehen bleiben und mit ihr mitgehen. Sicher nicht. Schreien half nichts, das war ebenfalls offensichtlich; die Brandung des Meers, das Rauschen der Wellen war viel zu laut, und sie beide viel zu weit weg von den anderen, als dass seine Rufe die Ohren seiner Freunde erreicht hätten. Und deshalb rannte er, stolperte durch den Sand, in dem er immer wieder versank, der in seine Schuhe rieselte, ihm das Laufen zusätzlich schwer machte. Es kam, wie es kommen musste - nach ein paar Metern hatte sie ihn eingeholt, hielt ihn fest. Conan trat um sich, schlug nach ihr, kämpfte verbissen, versuchte doch zu schreien, eine Verzweiflungstat, das wusste er - doch dann kriegte sie ihn zu fassen, hob ihn hoch, drückte ihm Mund und Nase zu. Er klammerte seine Hände um ihre Finger, versuchte ihren Griff zu lockern, ihn zu brechen - aber seine kleinen Finger waren zu schwach. Wenn er sich nicht wehrte, hielt der Sauerstoff länger, das wusste er. Wenn er sich nicht wehrte, würde sie ihn dann umbringen? Er glaubte ja nicht, dass das ihr Ziel war. Allerdings… was war, wenn er irrte? Panik ergriff ihn. Er kniff die Augen zusammen, als ihn der Atemreflex zu quälen begann, fing nun doch an, zu strampeln, sich zu winden, irgendwie freizukämpfen… Sie hielt ihn zu fest. Sie war zwar nur eine Frau, aber ihm doch kräftemäßig weit überlegen. Er tastete mit seinen Fingern an seine Schuhe – und dann durchfuhr es ihn siedend heiß. Das waren nicht seine Powerkickboots. Es waren Sandalen. Wegen der heißen Temperaturen, und weil sie die einzigen Schuhe gewesen waren, die er auf die Schnelle greifen hatte können, ohne über vier Körper im Zelt zu steigen, hatte er nur die Sandalen angezogen. Seine Uhr und sein Mikroremitter hatte er aus den gleichen Gründen nicht dabei. Er hatte sie vergessen… einfach schlichtweg vergessen. Ich bin nichts weiter als ein Kind…völlig wehrlos…! Wehrlos. Der Gedanke schoss durch seinen Kopf, löste in ihm nun vollends Panik aus, ein Gefühl, das der nicht mochte, und das eigentlich auch nicht zu ihm passte, aber… Von einem Sechsjährigen unterschied ihn nun kräftemäßig nichts mehr. Und damit war sein Schicksal besiegelt. Er riss die Augen auf, griff sich an den Hals, wollte nach Luft zu schnappen - hörte das dumpfe Geräusch der Wellen… sah über sich die Sonne durch die Wolken scheinen, die Strahlen brachen durch die Lücken, die sie ließen, wie durch das Blätterdach eines Waldes, brachen sich auf den Wellen, streuten Sterne auf die Wasseroberfläche, wo sie mit dem Wellengang tanzten und hüpften.… ein wahrhaft märchenhafter Anblick. Wäre es wohl, wenn er nicht gerade mit dem Tod ringen würde. Er streckte eine Hand aus, nach oben. Spürte kühle Luft an seinen Fingerkuppen, an seinem Arm, als vom Meer eine leichte Brise landeinwärts strich. Himmel, das ist grausam… Luft- sie war zum Greifen nah. Allerdings war das nicht nah genug. Luft… ich kann sie fühlen - aber allein das Gefühl bringt mir nichts. Wenn ich sie nicht tatsächlich atmen darf, was hilft es mir, wenn ich sie spüre? Es ist wie mit… wie mit… Liebe - allein das Gefühl bringt mir nicht viel; wenn ich nicht tatsächlich lieben darf… dann ist es nur qualvoll, sie zu spüren… Seine Hand sank zurück, er versuchte wieder, ihre Finger zu lockern. Seine Lungen schrien nach Sauerstoff, es tat weh, begann in seinem Brustkorb zu stechen. Hinter seinen Augen stellte sich ein leises Pochen ein, er wollte atmen, so gerne atmen… bitte… Luft… Er merkte, wie seine Hände immer schlaffer wurden. Schwarze Kreise begannen vor seinen Augen zu tanzen. Er stöhnte auf, schrie unterdrückt, versuchte, sie zu beißen, aber er bekam seine Kiefer nicht auseinander- sie hielt ihn zu fest. Conan versuchte, sich zu entspannen, ihr durch die Erschlaffung seines Körpers anzudeuten, dass er bereits aufgegeben hatte, bewusstlos geworden war- aber die Erkenntnis, die Bewusstlosigkeit so zu faken, kam ihm viel zu spät. Seine Armmuskeln erschlafften, als seine Welt in Dunkelheit versank, ihm die Sinne schwanden. Sie zog ihn hoch, schlug ihm einmal probehalber ins Gesicht. Er wurde dabei gar nicht richtig wach, kippte sofort wieder weg. Er konnte sich nun nicht mehr sträuben. Zu ihrem Auto nahm sie einen Umweg - dort angekommen, fesselte und knebelte sie ihn, legte ihn in den Kofferraum und fuhr los. Es war noch sehr früh am Morgen - mit etwas Glück würde sie wieder zurück sein, bevor noch einer der anderen wach geworden war. Als sie zurückkehrte, musste sie feststellen, dass ihre Hoffnungen nicht erfüllt worden waren. Sie alle waren schon wach. Und sie alle suchten nach dem Zwerg. Miyako, Manabu und Tomoaki rannten auf sie zu. „Azusa! Wo warst du denn? Wir haben nach dir gesucht…! Sag mal- hast du die kleine Brillenschlange irgendwo gesehen?“ Manabu schaute sie fragend an. Sie schüttelte scheinbar bedauernd den Kopf, als sie Blicke in ihrem Rücken spürte. Ein kleines rotblondes Mädchen starrte sie unverwandt an - wandte sich allerdings schnell weg, als sie sie ansah. „Nein, ich hab den Kleinen nicht gesehen.“ Ai schluckte. Irgendetwas sagte ihr, dass diese Frau log - sie seufzte, dann suchte sie den Boden ab. Nachts hatte es geregnet, die Erde war feucht. Sie konnte seine Spuren sehen. Ai drehte den Kopf, schaute, ob sie jemand beobachtete - dem war nicht so. Agasa war mit den Kindern gerade eben im Waldrand verschwunden. Also machte sie sich allein daran, seinen Spuren zu folgen; sie führten, wie sie schon vermutet hatte, zum Strand. Und genau, wie sie vermutet hatte, waren seine Spuren nicht die einzigen. Größere Abdrücke, Abdrücke von Schuhen mit leichtem Absatz, Frauenschuhen, hatten sich zu seinen gesellt. Und sie gingen mit ihm zum Strand. Und dort herrschte das Chaos. Ai hielt die Luft an, kurz wurde ihr schwindelig, schlecht. Sie sah ihn vor ihrem inneren Auge, sah die Szene, die sich hier abgespielt haben musste. Sie sah ihn, wie er rannte - wie sie ihn einholte, ihn zu Boden warf - ihn überwältigte. Große, flache Mulden waren in den Sand gedrückt, da, wo er offensichtlich gelegen hatte. Im Sand konnte sie alles sehen, er sprach eine nur allzu deutliche Sprache. Sie fing an zu zittern. Wo war er jetzt? Sie drehte sich um die eigene Achse, immer wieder, ihre Blicken schweiften unruhig über das Gelände. Seine Fußspuren hatten irgendwann aufgehört. Allein die Spuren der Frau führten weiter. Sie sah sich um, um sich ein weiteres Mal zu vergewissern, dass ihr keiner folgte- dann folgte sie ihrer Fährte. Sie ahnte Schlimmes. Und deshalb zog Ai ihren Microremitter aus ihrer Jackentasche, funkte Mitsuhiko an. Mitsuhiko stutzte, als er Ais stimme aus seiner Hosentasche hörte- dann zog er sein Detektivabzeichen hervor. „Ai? Was ist los? Wo steckst du eigentlich?!“ „Ich bin am Strand. Ihr müsst alle herkommen, aber seid vorsichtig. Diese Leute aus der anderen Reisegruppe dürfen euch nicht sehen, vor allem nicht diese rothaarige Frau. Es gibt hier etwas, das müsst ihr euch unbedingt ansehen…!“ „Geht klar, Ai…!“ Mitsuhiko trommelte den Professor, Ayumi und Genta zusammen und machte sich auf den Weg. Ai ließ sich in den Sand sinken, und betrachtete das Meer- ihre Augen blieben haften an der einen Stelle, wo der Abdruck seines Körpers ganz klar im Sand zu sehen war. Kopf, Rücken- die Arme, die Beine… und dann war es zu Ende gewesen. Er hatte sich nicht wehren können, als sie ihn hochhob und wegbrachte. Er war nur ein Kind. Sie schluckte, bohrte ihre kurzen Finger in den Sand, wartete ungeduldig. Sie brauchte die anderen, sie waren geübt ihm Spurensuchen, trainiert, verdächtige Dinge, Personen und Sachverhalte zu erkennen. Er war ein guter Ausbilder gewesen. Er hatte sie viel gelehrt. Dann hörte sie den Professor um die Ecke schnaufen - sie hörte seinen schleppenden Atem, bevor sie den Mann sah. Mit ihm kamen Mitsuhiko, Genta und Ayumi, wie sie angeordnet hatte, leise. Die anderen sollten sie ja nicht bemerken. Ai stand auf, deutete wortlos auf die Mulde im Sand. Und sie alle verstanden, nickten ihr mit ernsten, bleichen Gesichtern zu, schwärmten aus. Suchten nach Spuren- und fanden sie. Folgten ihnen. Sie gingen leise durch den Wald. Die drei Kinder liefen vor ihnen, trauten sich nicht zu rufen, um die andere Reisegruppe nicht auf sie aufmerksam zu machen. Agasa wandte sich ihr zu, schaute mit ernstem Gesicht zu ihr herab. „Du glaubst, eine oder einer von denen war das? Warum sollten sie Interesse daran haben, einen kleinen Jungen verschwinden zu lassen…?“ Ai schaute ihn an. „Haben Sie es nicht gespürt? Es war die rothaarige Frau. Er hat es im selben Moment gewusst wie ich…“ „Was gewusst…?“ Agasa kratzte sich am Hinterkopf. Die Kleine schwieg lange, starrte auf den Boden, beobachtete die Kinder. „Na, dass sie eine von ihnen ist. Und ich fürchte, sie ist ihm auf die Schliche gekommen, irgendwie. Aber warum nur ihm? Warum mir nicht? War sie zufällig hier? Wenn ja, war sie schon länger hier? Warum?“ Der Professor blieb stehen, schaute sie entsetzt an. „Sie ist- sie ist… eine von ihnen?“, unterbrach er ihre Gedankengänge. Ai nickte sacht, kniff die Lippen zusammen. „Ja. Sie ist ein Mitglied der Schwarzen Organisation. Es fragt sich nur, wo sie ihn hingebracht hat. Sie muss ihn entführt haben, als wir alle noch schliefen… er ist wohl aufgestanden, um nachzudenken, er war so… so verwirrt, so beschäftigt von dieser ganzen Sache mit Ran, dass er sich nicht mal seine Powerkickboots angezogen hat… sein Abzeichen hat er auch nicht mitgenommen und die Uhr lag auch noch im Zelt.“ Sie schaute wieder auf den Boden vor ihr. Kniff die Lippen zusammen und schwieg, dachte an ihn. „Er war total unvorbereitet… er hatte einfach den Kopf so voll…“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe, betrachtete die Uhr in ihren Händen, die sie aus dem Zelt mitgenommen hatte. Fragte sich, was sie mit ihm machen würden. Ob er überhaupt noch lebte. Agasa strich sich einen Schweißtropfen von der Schläfe. Das war nicht gut. Shinichi… Ran wachte jäh auf. Sie wandte sich um, drehte hektisch den Kopf. Das Bett raschelte, als sie sich ruckartig aufsetzte, versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Irgendetwas hatte sie erschreckt. Zutiefst verstört. Ihr Herz raste, hektisch fuhr sie sich mit ihren Händen über die Augen, merkte, dass sie nass waren. Ihre Finger waren nass. Dann merkte sie, woher die Feuchtigkeit kam. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Aber nicht nur das. Aus ihrem Augenwinkel perlte eine Träne. Hatte sie geweint? Wann? Im Schlaf? Warum? Angestrengt versuchte sie, ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu kriegen, ihre Gedanken zu ordnen. Was war los…? Sie blinzelte, dann erkannte sie endlich, wo sie war. In ihrem Bett. In dem Hotelzimmer, dass sie sich mit Sonoko teilte. Sie schluckte, ihr Hals war trocken- also griff sie nach dem Wasserglas auf ihrem Nachttisch, leerte es mit einem Zug. Leise konnte sie Sonoko in ihr Kissen murmeln hören, hörte ein leises Schnarchen, dann war wieder Ruhe. Rans Blick fiel auf den Wecker. Es war kurz vor zehn Uhr. Sie hatten ganz schön lange geschlafen. Aber warum war sie so plötzlich aufgewacht? War es ein Geräusch gewesen? Ein Traum? Warum schlug ihr Herz bis zum Hals? Und warum… warum hatte sie Tränen in den Augen…? Sie fand keine Antwort, so sehr sie auch nachdachte. Seufzend strich sie sich schließlich ihre Haare langsam aus der Stirn, strampelte ihre Decke weg. Es war stickig und heiß hier drin. Ran ging zum Fenster, öffnete es, ließ frischen Seewind und die Sonne herein, genoss den Lufthauch, der ihr über das Gesicht streichelte. Das ungute Gefühl jedoch blieb. Und aus irgendeinem Grund befürchtete sie, dass es etwas mit Shinichi zu tun hatte. Nun; er hatte ja versprochen, heute anzurufen. Dann konnte sie ja noch mal versuchen, herauszufinden, was für einen Fall er da immer noch bearbeitete. Bei dem Gedanken daran, mit dem sie sich eigentlich hatte beruhigen wollen, begann sie schlagartig zu frieren. Irgendwie beschlich sie das dumpfe Gefühl, dass er nicht anrufen würde. Dass sein Fall wieder dazwischen gekommen war. Und dass auch er… der Grund war, für ihren Zustand. Für diesen Alptraum, an den sie sich nicht mehr erinnern konnte, aber der sie zutiefst getroffen haben musste. Ran schob den Gedanken ärgerlich beiseite, schlang einen Arm um ihren Oberkörper, machte das Fenster wieder zu und warf Sonoko aus den Federn. Sie hatten lange genug geschlafen. Auf dem Weg zum Bad dachte sie an ihn. Irgendwie wollte sich dieses flaue, mulmige Gefühl nicht verscheuchen lassen. Shinichi? Auch beim Frühstück verließ der Gedanke an ihn sie nicht; ständig musste sie daran denken, wie er sich gestern von ihr verabschiedet hatte. Was er gesagt hatte… und wie. Und der Traum, der sie hatte hochfahren lassen… was hatte sie denn geträumt, das sie derart erschreckt hatte? Das alles beschäftigte Ran, und deshalb hatte sie auch keinen großen Hunger- sie holte sich lediglich etwas Joghurt und Früchte vom reichhaltigen Frühstücksbuffet, aß schweigend und in sich gekehrt. Sonoko starrte sie missmutig an. „Du denkst doch wohl nicht immer noch an diesen Freak?“ Ran seufzte, warf ihr einen bittenden Blick zu, nahm ihre Teetasse in die Hand. Sonoko missachtete ihre unausgesprochene Aufforderung, das Thema auf sich beruhen zu lassen, und fing wieder an. „Echt mal. Ich meine, für mich wär der Kerl erledigt. Wenn er dir nicht sagen kann, dass er dich liebt, dann tut er’s nicht. Aus. Vergeude deine Jugend nicht an so nen hoffnungslosen Fall. Der ist es doch gar nicht wert. Ehrlich, Ran.“ Sie schaute ihre Freundin aufmunternd lächelnd an. Ran trank einen kleinen Schluck grünen Tee. „Sonoko, du weißt nicht, was du redest. Du warst nicht dabei.“ Sonokos Lächeln glitt von ihren Lippen. Die blonde Oberschülerin warf Ran einen ärgerlichen Blick zu. „Du verteidigst ihn immer noch? Nach allem, was er dir angetan hat?!“ „Sonoko, nun mach aber mal halblang. Er hat mir nichts angetan…“ „Und weswegen hast du dann wieder geheult?!“ Ran setzte erschrocken die Tasse ab. „Du…“ Sie schaute ihre Freundin entsetzt an. „Ich habs mitbekommen, ja. Du hast vorhin geweint im Schlaf. Du bist aufgewacht, bevor ich dich wecken konnte, und dann hab ich es vorgezogen, mich schlafend zu stellen, damit du dich nicht… schämst… ich… Du hast seinen Namen genannt, Ran. Und du hast geweint. Ich weiß nicht, was du geträumt hast, aber schön kann es nicht gewesen sein.“ Sonokos Stimme war leise und sanft. Sie bereute es, ihre Freundin gerade noch angefahren zu haben. „Ran, selbst wenn du Recht hast, und da mehr zwischen euch ist… wenn er dich wirklich liebt, und er es dir aus welchen Gründen auch immer noch nicht sagen will… dann lass doch trotzdem die Finger von ihm. Er tut dir nicht gut. Sie dich doch an…“ Sie drückte kurz ihre Finger. „Du bist doch völlig fertig. Such dir jemand Besseren, Ran. Shinichi Kudô richtet dich zu Grunde.“ Ran schluckte. Dann schüttelte sie den Kopf, stand auf und ging, ohne ein weiteres Wort. Sonoko starrte ihr nach, schüttelte betrübt den Kopf. „Männer…“ Irgendwann wachte er auf. Seine Hände waren gefesselt, in seinem Mund steckte ein Knebel. Er fing an zu husten, zu würgen. Sand kratzte ihn überall. Dann erkannte er langsam, wo er war. Er war in einem kleinen Raum, ohne Fenster. Über ihm hing eine Neonröhre - ansonsten besaß der Raum, in dem er lag, nichts, außer einer Tür. Und langsam kam die Erinnerung an die letzten Stunden zurück. Er war am Meer gewesen- und diese Azusa hatte ihn überwältigt und hierher gebracht. Sie wahr hinter das Geheimnis seiner Identität gekommen- und sie war ein Mitglied der schwarzen Organisation gewesen. Wie viel Zeit war seitdem vergangen? Suchten die anderen schon nach ihm? Er stöhnte leise, versuchte, seine Hände aus den Fesseln zu ziehen- und nach einer kleinen Ewigkeit gelang es ihm tatsächlich. Er zog sich den Knebel aus dem Mund, befreite seine Füße, schüttelte und klopfte sich den Sand ab. Dann durchsuchte er seine Taschen- und ganz, wie er befürchtet hatte, hatte man ihm sein Handy, das als einziges in seiner Hosentasche gewesen war, abgenommen. Er seufzte frustriert. Was würde Ran denken, wenn er heute nicht anrief? Er ging zur Tür, versuchte sie aufzumachen, aber sie war erwartungsgemäß verschlossen. So ein Mist… da hast du dir aber wieder was Nettes eingebrockt, Kudô… Ein paar Stockwerke über ihm, im gleichen Gebäude, saß er an seinem großen Schreibtisch aus Mahagoni, zog an seiner Zigarette, stieß den Rauch aus. Eine dunkle Silhouette vor einem Fenster, hinter dem Tokio langsam erwachte. Auch für ihn hatte dieser Tag ziemlich unerfreulich angefangen. Er war nervös, das sah man ihm an. Boss, Sie werden nie erraten, wen ich gefunden habe… Shinichi Kudô! Er saß in seinem Stuhl, die Fingerspitzen aneinander gelegt, seine Stirn lag in Falten. Langsam hob er die Hände an seine Lippen, presste sie aufeinander. Sie werden überrascht sein, wenn Sie erfahren, wie er sich so lange verstecken konnte… Ja, wirklich… wenn er es rekapitulierte, konnte er es sich immer wieder nur bestätigen… Die letzten Stunden waren mit einer höchst unangenehmen Entwicklung einhergegangen. Das Gift hat ihn zum Grundschüler mutieren lassen! Ihn verjüngt… aber es besteht kein Zweifel… Conan Edogawa ist Shinichi Kudô. Er hörte immer noch diesen Stolz in ihrer Stimme. Sah, wie ihre Wangen glühten, vor Begeisterung über ihre Tat. Warum und unter welchen Umständen auch immer; man hatte die Identität von Conan Edogawa herausgefunden. Die wahre Identität… die er ja eigentlich schon lange wusste. Wusste; und billigte - denn es war interessant, ihm zuzusehen, wie er langsam einen Faden fand, einen roten Faden, der ihn hier, ins Zentrum des Spinnennetzes führte. Immer wieder war der Faden gerissen, oder er selbst hatte ihn einfach durchgeschnitten, wenn der kleine Detektiv ihm zu nahe kam; und immer wieder hatte Conan Edogawa alias Shinichi Kudô neu suchen müssen, um wieder anknüpfen zu können, immer wieder mit Erfolg; und es war ihm ein höchst vergnüglicher Zeitvertreib gewesen, die Schritte des kleinen Grundschülers zu verfolgen. Er bewunderte ihn dafür, und deshalb ließ er ihn gewähren, solange er keine wirkliche Gefahr darstellte. Bis dahin war dem nicht so gewesen. Deshalb hatte er sein Geheimnis geteilt. Nun war es offensichtlich aber kein Geheimnis mehr. Irgendwie hatte Beaujolais, die rothaarige Frau, eines der jüngeren Mitgliedern in der Organisation, seine wahre Identität herausgefunden; hatte erkannt, dass Conan Edogawa nur das Alter Ego von Shinichi Kudô war, und dieser damit noch lebte, obwohl er schon lange tot sein sollte. Tot… Schon vor Jahren gestorben, ja… stattdessen lebte er noch, und zwar als kleiner Junge, das wusste ab heute nicht nur er allein. Aber nicht nur das. Man hatte ihn hergebracht, den kleinen Jungen. Momentan war er in einer der Gefängniszellen untergebracht. Gut erzogen, wie die meisten seiner Untertanen waren, hatte Beaujolais ihm seinen Feind ausgeliefert, wie ein Jagdhund seinem Herrn die erlegte Beute brachte. Auch wenn er dessen Auslieferung nie wollte. Noch nicht, zumindest. Denn nun war er zum Handeln gezwungen, ein Standpunkt, der ihm höchst missfiel, aber deutlich machen durfte er das nicht. Genau deswegen hatte er ihn fürs erste einsperren lassen. Bis er wusste, wie er mit ihm zu verfahren gedachte. Er musste sich etwas einfallen lassen. Schnell. Eigentlich… ja, eigentlich gab es nur eine Wahlmöglichkeit; die zweite, immerhin vorhandene Option wollte er erst ziehen, wenn es keinen anderen Weg mehr gab. Liquidierung. Zu diesem Mittel wollte er nicht greifen, eigentlich. Shinichi Kudô alias Conan Edogawa… Der Boss der schwarzen Organisation seufzte, fuhr sich mit seinen Fingern über seinen Bart. Was mach ich mit dir… Kapitel 4: Auftakt ------------------ Seid gegrüßt, meine lieben Leserinnen und Leser! Vielen vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Ehrlich, ich dank euch sooooo sehr!!!!!!!!! Euer Feedback ist mir echt viel wert. Freut mich, dass ihr euch schon Gedanken über den Boss gemacht habt- wie ihr euch wohl denken könnt, hülle ich mich aber noch in Schweigen, wen ich dafür ausgewählt habe ^.~ Nun… wie der Name schon sagt, dies ist ein Auftaktkapitel- es werden Weichen gestellt für den weiteren Verlauf der Geschichte. Ich wünsch euch viel Vergnügen damit- Bis nächsten Dienstag, eure Leira :D ______________________________________________________________________ Kapitel 4: Auftakt Ai saß zusammen mit den Detective boys und dem Professor etwas abseits von der anderen Campergruppe auf einer Decke vor dem Zelt und stierte in den Boden. In ihren Händen hielt sie eine Dose Cola, die sie langsam aber beständig immer mehr zusammendrückte; hin und wieder war das knackende Geräusch sich verformenden Bleches zu vernehmen. Getrunken hatte sie noch keinen Schluck; stattdessen versuchte sie krampfhaft, nicht zu Azusa zu sehen, die gerade einen Schlafsack zusammenrollte, nur ein paar Meter von ihr entfernt. Diese Frau, diese rothaarige Hexe, dessen war sie sich sicher, war für Conans Verschwinden verantwortlich. Ai seufzte, bohrte ihre Zehenspitzen in die Sohlen ihrer Schuhe, nahm nun doch einen Schluck der zuckersüßen, koffeinhaltigen Flüssigkeit, um deren Rezeptur man so ein großes Geheimnis machte. Sie machte sich Sorgen um ihn. Die junge Forscherin zog ihre Augenbrauen kraus. Sie wusste nicht, ob man ihn schon umgebracht hatte, oder noch lebte. Ob man ihn womöglich in diesen Momenten befragte, und er sich weigerte, etwas zu sagen… Bestimmt würde er sich weigern… Und sie wusste genau, wie man mit jenen verfuhr, die sich als wenig gesprächsbereit erwiesen. Mit zitternden Fingern stellte sie die Coladose ab, fuhr sich durch die Haare, immer wieder; es schien, als würde sie versuchen, mit ihren Fingern diese Vorstellungen aus ihren Haaren und damit aus ihrem Kopf zu kämmen. Es gelang ihr nicht. Die Detective Boys, der Professor und sie hatten die letzten paar Stunden Conans anhand der Reifenspuren, auf die sie gestoßen waren, nach ihrer Suche, folgendermaßen rekonstruiert: Conan war als erster aufgewacht, sofern er überhaupt geschlafen hatte, in dieser Nacht… und hatte sich völlig planlos und kopflos auf den Weg zum Meer gemacht, warum auch immer. Für Ai war der Grund absolut klar; er hatte nachdenken müssen, wegen Ran. Wegen Ran. Wie so oft... Er hatte überlegt, was er ihr sagen sollte. Dazu, ihr irgendwas zu sagen, war er wohl nicht mehr gekommen; und würde es vielleicht auch nie... Sie hob ihren Kopf, blickte nun doch zu Azusa. Die Sonne ließ ihr Haar wie Kupfer leuchten. Ai blinzelte, wandte aber den Blick nicht von ihr. Die Spuren am Strand waren offensichtlich, und in ihrer Offensichtlichkeit überwältigend. Ihr war richtig schlecht geworden, bei dem Gedanken, dass Shinichi Kudô, eigentlich ein junger Mann, sportlich, trainiert… aber in seiner momentanen Erscheinungsform einfach nicht in der Lage, sich gegen die Frau zu wehren… einfach so überwältigt werden konnte. Er war so hilflos gewesen. Er war ein Kind. Und als solches hatte er den Kampf gegen jeden Erwachsenen verloren, bevor er angefangen hatte. Sie biss sich auf die Lippen. Sie waren den Spuren gefolgt, bis zu einer Stelle, wo ein Auto geparkt war. Von dem Auto führten frische Spuren weg; und frische kamen an. Ein Indiz dafür, dass der Wagen vor kurzem weggefahren und wieder geparkt worden war. Dieser Wagen hatte ihn an einen Ort gefahren, der ihnen ungekannt war. Sie waren den Spuren bis auf die Straße gefolgt; ab dem Zeitpunkt, wo das Auto auf den Asphalt gerollt war, hatten sie keine Chance mehr gehabt, ihm zu folgen. Sie wussten zwar die Richtung; aber sie hatten keine Ahnung, wie weit gefahren worden war, ob irgendwann einmal abgebogen worden war… und deswegen hatten sie die Suche vorerst abgebrochen. Das hier war ein Fall für die Polizei, soviel war ihnen klar geworden, wenn auch manchen mehr als anderen. Ai stand auf, drehte sich um, blickte wieder in Richtung Meer. Warum hat sie dich erkannt… und nicht mich? Immer wieder kreiste dieser eine Gedanke in ihrem Kopf. Erklärung gab es nur eine; sie war ein neues Mitglied, und wusste nichts von Sherry, oder hatte zumindest noch kein Bild von ihr gesehen, erst recht nicht als Kind. Zusätzlich musste sie aber den Namen Shinichi Kudô gehört haben, und zwar in Zusammenhang mit der Organisation… und sie musste herausgefunden haben, dass Shinichi Kudô Conan Edogawa war. Eine seltsame Faktensammlung. Der Professor schaute seine kleine Mitbewohnerin sorgenvoll an, trat dann zu ihr, nahm sie bei der Hand. Sie schaute auf, dann klammerte sie ihre kleinen Finger um seine großen Hände, biss sich auf die Lippen. Sie strahlte Angst ab wie ein Heizkörper Wärme. Mitsuhiko, Genta und Ayumi hingegen waren entrüstet, vergessen war der Konflikt vom vorangegangen Tag; man hatte Conan entführt, und Conan war ihr Freund. Sie warfen der rothaarigen Frau immer wieder böse Blicke zu. Ai hatte sie soweit eingeweiht, dass wohl die Frau die Täterin sein könnte; allerdings mit der Begründung, dass sie heute erst als Letzte erschienen war, als man schon nach Conan suchte. Den Kindern schien der Grund auf jeden Fall zu genügen. Alles andere, was noch hinter dieser Entführung steckte, die wahre Motivation dieser Frau - das mussten sie nicht wissen. Noch nicht. „Wir müssen die Polizei informieren.“ Mitsuhikos Stimme klang entschlossen und riss sie alle aus ihren Gedanken. Ai schluckte, beobachtete Azusa aus ihrem Augenwinkel. Agasa schaute hinab zu seiner kleinen Mitbewohnerin, runzelte sorgenvoll die Stirn. Das rotblonde Mädchen spürte seinen Blick auf ihr ruhen, schaute auf; sah die unausgesprochene Frage in seinen Augen, ob man Mitsuhikos Vorschlag Folge leisten sollte, und nickte. „Informieren können wir sie ja… wenn wir Glück haben, glauben sie uns. Aber es kann auch sein, dass man unseren Fall erst nach vierundzwanzig Stunden bearbeitet, wie es halt für… Vermisstenmeldungen üblich ist.“ Sie seufzte leise, schaute wieder auf den Boden. Agasa neben ihr zückte sein Handy, und bald darauf hörte man ihn mit einem Beamten diskutieren. Als er aufgelegt hatte, schauten sie ihn alle, bis auf Ai, erwartungsvoll an, auch wenn sie sein Gespräch eben hatten gut mitverfolgen können. „Leider hatte Ai Recht. Meguré kam zwar auf meine Bitte selber ans Telefon, aber er bedauert, uns erst nach vierundzwanzig Stunden helfen zu können; es sei denn, wir können beweisen, dass diese Azusa ihn entführt hat.“ Mitsuhiko seufzte laut und entnervt auf, dann stand er auf, begann hin und her zu laufen. Ayumi und Genta taten es ihm gleich. Der Professor schaute den drei Kindern beim Nachdenken zu, als er merkte, wie Ai mit etwas vor seiner Nase herumwedelte. „Was soll ich mit deinem Handy…?“ „Schauen Sie aufs Display. Das ist Jodies Nummer, sie hat sie mir gegeben, als ich mich entscheiden sollte, ob ich ins Zeugenschutzprogramm will oder nicht…“ „Das FBI wollte dich ins Zeugenschutzprogramm stecken?!“ Agasa schaute seine kleine Mitbewohnerin bestürzt an. Ai warf ihm einen genervten Blick zu. „Ja, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Rufen Sie sie an, sagen Sie ihr, was wir wissen. Wenn Sie dem FBI sagen, dass Conan von der Schwarzen Organisation entführt worden ist, werden die sofort was tun… allerdings… müssen Sie denen wohl… alles erzählen.“ Ihre letzten Worten waren nur mehr gewispert und kaum zu verstehen. Agasa wurde weiß, starrte sie mit aufgerissenen Augen erschrocken an. Langsam beugte er sich zu ihr, versicherte sich mit einem raschen Blick, dass keiner ihm zuhörte. „Alles?“, raunte er. „Auch das mit…? Bist du dir sicher?“ Ai nickte nur. „Ja. Es geht um sein Leben… sie müssen wissen, wie ernst die Sache ist. Sie müssen begreifen, wie sehr er eigentlich in die Sache mit der Organisation verwickelt ist, dass er ein Risiko ist für sie und ihnen die Suppe versalzen kann und sie das auch spätestens jetzt wissen dürfte... und dass sie alles tun wird, um sich gebührend zu rächen.“ Sie schluckte, drehte den Kopf weg. „Das FBI muss begreifen, dass die Schwarze Organisation nicht zögern wird, ihn umzubringen. Dass genau das es ist, was sie schon so lange tun wollen.“ Bedrückt seufzte das kleine Mädchen auf. „Und wenn Sie dem FBI das alles so verklickert haben… dann sollten Sie auch Kogorô anrufen. Und… die Kudôs…“ Der alte Mann schluckte, dann nahm er Ais Handy und wählte die Nummer, trat ein wenig abseits. Das Freizeichen ertönte. Dann… „Jodie Starling? How can I help you?“ Die junge Frau klang nicht so verschlafen, wie er befürchtet hatte. Schließlich musste die Zeitverschiebung ja doch in Rechnung gezogen werden. „Hallo?!“ Agasa merkte, dass er sich in Gedanken treiben hatte lassen und räusperte sich eilig. „Hallo Miss Starling, hier… hier spricht Professor Hiroshi Agasa… vielleicht erinnern Sie sich an mich…“ Er klang nervös. Jodie runzelte die Stirn. „Oh, Professor? Yes, of course, ich erinnere mich! Nice to hear you… but how did you get my number, if I’m allowed to ask…?“ Der alte Mann holte Luft. „Von Ai Haibara. Ich telefoniere mit ihrem Handy. Sie riet mir, sie über den Sachverhalt, in dem wir momentan stecken, zu unterrichten… vielleicht können Sie und ihre Kollegen uns hier weiterhelfen…“ Man konnte fast hören, wie Jodie am anderen Ende der Leitung stutzte; dann fand sie ihre Stimme wieder, leise hörte er ihren Atem an seinem Ohr. „Well then… schießen Sie mal los, Professor. Bei welchem Problem denken Sie denn, dass das FBI Ihnen helfen kann?“ Agasa schluckte, vergewisserte sich, dass ihm außer Ai keiner zuhörte. „Es geht um Conan. Und um die Schwarze Organisation. Wissen Sie, es verhält sich folgendermaßen; er steckt da weit tiefer drin, als Sie vermuten. Und heute wurde er… es besteht starker Grund zur Annahme, dass sie ihn haben. Entführt. Durch einen… dummen Zufall.“ Jodie runzelte die Stirn. Langsam ließ sie sich in den Sessel ihres geräumigen Zimmers sinken. „Welches Interesse hat die Organisation an einem kleinen Jungen? Soweit ich weiß, ist er ihnen noch unbekannt, denke ich? Und welches Interesse hat er eigentlich an ihr, das würde mich mal schon lange interessieren, abgesehen von seinen detektivischen Ambitionen, da ist doch mehr dahinter, isn’t it? Und wie tief kann er denn da drin stecken…?“ Sie wusste, diese Fragen waren mehr oder minder rhetorisch; all diese Fragen hatte sie sich bereits hundertmal gestellt, war nie auf einen grünen Zweig gekommen, und jetzt schien die Situation gekommen, sie doch einmal zu stellen, auch wenn sie fast nicht auf eine Antwort hoffte. Zwar hatte sie versucht sie sich zu klären; aber bis auf die absolut hahnebüchene Theorie, dass Conan einfach kein kleiner Junge mehr sein konnte und sich irgendwie mit dieser Verbrecherorganisation angelegt hatte, war sie nie auf eine plausible Lösung gekommen. Irgendwann hatte sie sich damit abgefunden, dass der Junge einfach einen unglaublichen Gerechtigkeitssinn hatte, und das Unrecht, die Gräueltaten, die diese Organisation verschuldete nicht länger dulden konnte. Was auch immer einen sechsjährigen Grundschüler dazu bewog, sich dieser Verbrecherbande entgegenzustellen; er war fähig, es mit ihnen aufzunehmen, seltsamerweise. Er war schlau, intelligent, er hatte eine famose Beobachtungsgabe und kombinierte und schlussfolgerte schneller und präziser als Sherlock Holmes himself. Allerdings… so es denn eine andere Erklärung, eine andere Antwort auf ihre Fragen gab, so wollte sie sich diese gern anhören. Dann riss das leise Räuspern des Professors sie wieder in die Realität zurück. „Sagt Ihnen der Name Shinichi Kudô etwas, Miss Jodie?“ Langsam fiel ihr ihre Kinnlade nach unten. Das Gesicht eines lachenden Oberschülers trat vor ihre Augen. Der Junge, der Ran damals auf dem Sommerfest überrascht hatte. Could it be really true…? „Go ahead…“, murmelte sie, sagte dann nichts mehr, hörte nur zu, als der alte Mann erzählte, mit sehr gedämpfter Stimme; die Gesichte von Shinichi Kudô alias Conan Edogawa… die Geschichte von Shiho Miyano alias Ai Haibara. Sie hatte den Mann einfach reden lassen, hatte ihn nicht unterbrochen. Aber als ihr der alte Professor fertig erzählt hatte, was es mit Conan und auch mit Ai auf sich hatte, wer die beiden wirklich waren, und wie sie in ihre Situation gekommen waren… wäre ihr fast das Handy aus der Hand gefallen. Am Ende war sie bleich geworden, weiß wie die Wände ihres Appartements, als er fertig erzählt hatte. Conan, das hieß, Shinichi, der eigentlich schon längst tot hätte sein sollen, war erkannt und entführt worden. Von der Schwarzen Organisation. Fakt war… er war wohl so gut wie tot. Sie presste das kleine Mobiltelefon fest gegen ihr Ohr, seit ein paar Minuten herrschte Schweigen in der Leitung. „Und Sie schwören, dass das alles die Wahrheit ist?“, fragte sie. Ihre Stimme zitterte leicht und sie schämte sich dafür. „Every single word is true?” Ihre Worte klangen drängend; fast so, als wollte sie es nicht wahrhaben. „Miss Jodie…“, seufzte Agasa. „Sie kennen doch Vermouth, nicht wahr?“ Dieser Satz traf Jodie wie ein Schlag ins Gesicht und räumte mit einem Mal all ihre Zweifel aus. „Ich informiere Mr. Black und Shuichi Akai.“ Sie schob sich nervös ihre Brille auf die Nase. „Sie haben wirklich Glück, wir sind momentan alle in Japan. Wir kommen unverzüglich zu Ihnen. Wo sind Sie nochmal genau?“ Nachdem er ihr eine genaue Wegbeschreibung geliefert hatte, legte er auf, trat zurück zu Ai und gab ihr ihr Handy wieder. „Haben Sie große Überzeugungsarbeit leisten müssen?“, fragte sie leise. Der Professor schüttelte sein Haupt. „Nein. Der Namen Vermouth reichte aus, um die letzten Zweifel zu beseitigen. Wenigstens etwas.“ Er seufzte tief. „Dann informiere ich mal zuerst noch… Yusaku und Yukiko…“ Er schluckte. Dann zückte er sein eigenes Mobiltelefon und wählte eine Nummer in den Vereinigten Staaten. Es hob keiner ab. Auch nachdem er drei Minuten gewartet hatte, hatte niemand seinen Ruf erhört. Agasa zog verwirrt eine Augenbraue nach oben. „Nanu? Sind sie vielleicht verreist? Davon hat Shinichi ja gar nichts erzählt…“ Er legte auf, wählte dann eine Handynummer an. Hier dauerte es wiederum nicht lange, bis jemand das Gespräch annahm; eine nur allzu bekannte Frauenstimme meldete sich. „Yukiko Kudô?“ „Hallo Yukiko.“ Agasas Stimme krächzte, und er räusperte sich vernehmlich, um seine Stimme wieder zu klären. „Hallo Yukiko.“, begann er erneut. „Ich bins, Hiroshi. Ist… ist Yusaku zufällig in der Nähe? Und wo seid ihr eigentlich gerade?“ „Hallo Hiroshi!“ Die Stimme der ehemaligen Schauspielerin klang freudig erregt. „Schön, von dir zu hören! Nein, Yusaku ist grad nicht hier, er meinte, er müsste kurz etwas erledigen und käme dann wieder, es würde nicht lang dauern. Verlagskram… wir sind ja wegen der Promotour unterwegs, er trifft sich mit einem Promoter. Ist es wichtig? Brauchst du ihn sofort?“ „Äh…“, fing Agasa an, wurde allerdings sofort wieder unterbrochen. „Ach ja, wir sind in Japan. Um deine Frage von gerade eben noch zu beantworten.“ Sie lachte vergnügt. „Wir wollten unseren Sohnemann mal wieder überraschen, sehen, was er so macht… wir sind gerade, das heißt, vor zwei Stunden aus dem Flugzeug in Tokio gestiegen, um ehrlich zu sein räum ich hier gerade auf, während mein lausiger Ehemann mit einem Taxi abgedampft ist. Wo seid ihr denn? Und warum rufst du eigentlich an, nicht dass ich mich nicht über deinen Anruf freuen würde, aber…“ „Shinichi wurde entführt.“ Er hatte es sehr leise gesagt, damit die Kinder den richtigen Namen ihres Freundes nicht mithörten; allerdings war seine Stimme immer noch laut genug gewesen, um der Frau am anderen Ende der Leitung buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Mit zitternden Knien ließ sie sich auf ihrem Koffer nieder, konnte nicht fassen, was sie gerade gehört hatte. Saß da, in ihrem Schlafzimmer und das einzige Geräusch, das sie wahrnahm, war ihr eigener Atem, und das Rauschen des Bluts in ihren Ohren. Sie kniff die Augen zusammen, schüttelte dann langsam den Kopf. Shinichi ist nicht… „Was hast du gesagt, Hiroshi?“, fragte sie mit bebender Stimme. Das ist nicht wahr… „Ich glaube, ich habe dich gerade falsch verstanden… du hast gesagt, Shinichi wäre… wäre entführt worden…“ Ihre Fingerspitzen waren eiskalt geworden. Der Professor schluckte. Er hatte geahnt, dass sie so reagieren würde, aber er hatte sich dazu entschlossen, ihr ohne viel um den heißen Brei herumzureden zu sagen, was Sache war. Dass sich ihr Sohn in akuter Lebensgefahr befand. „Du hast dich nicht verhört.“ Er schluckte. „Yukiko, du musst jetzt… du musst dich zusammennehmen, hörst du? Ruf Yusaku an, er soll kommen, seine Bücher verkaufen sich doch auch ohne Promotion. Dann erzähle ich euch beiden, was passiert ist, auch wenn es nicht viel zu sagen gibt… soweit wir jetzt wissen, wurde Shinichi heute Morgen von einem Mitglied der Schwarzen Organisation entführt.“ „Aber… aber… Hiroshi!“ Sie klang aufgewühlt und den Tränen nahe. „Ruf Yusaku an. Egal was er zu tun hat, nichts kann wichtiger sein als euer Sohn.“ Der alte Mann schluckte. „Geht das?“ Yukiko biss sich auf die Lippen, nickte tapfer. „Es muss wohl.“, murmelte sie, wischte sich entschieden über die Augen. „Habt ihr… die Polizei…?“ „Aber sicher. Und das FBI auch. Du brauchst dir jetzt keine Gedanken zu machen. Wir tun hier alles Mögliche, damit ihr ihn bald wieder habt, damit ihm nichts passiert… Bis dann.“ Er schluckte, dann legte er auf. Und wählte schließlich noch eine letzte Nummer. Die der Detektei Mori. Sein Telefon läutete, als er gerade das Gebäude verließ, in dem er seine Besprechung gehabt hatte; er schaute aufs Display, erkannte die Nummer seines Festnetzanschlusses und wusste sofort, dass sie es war. Seufzend hob er ab. „Yukiko, Schatz. Was gibt’s?“ „Du musst sofort nach Hause kommen!“ Er konnte die Tränen, die in ihrer Stimme deutlich herauszuhören waren, vor seinem inneren Auge über ihre Wangen rollen sehen. Yukiko Kudô lief im Kreis, presste das schnurlose Telefon mit beiden Händen an ihr Ohr. Sie zitterte, ihre Finger klammerten sich um den Hörer, so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. „Sofort!“ Er schluckte, starrte blicklos auf die Straße. Vor ihm raste der Verkehr Tokios vorbei, laut, lärmend, aber er hörte ihn nicht. „Yukiko… Was ist passiert…?“ Er fragte sie behutsam, obwohl die Antwort eigentlich klar war. Es gab nicht viel, was seine Frau so aufregen konnte. Ihre Stimme hatte genau den gleichen Tonfall, zitterte genauso stark wie damals, als sie ihn über Shinichis ‚Unfall‘ unterrichtete. Er war damals nicht zuhause gewesen, als sie von Hiroshi von Conan erfahren hatte, und hatte das bereut, sehr bereut… diese Nachricht hatte ihre Welt ziemlich erschüttert, an jenem Tag. Auch wenn sie sich langsam abgefunden hatte und manchmal sogar vergnüglich fand, an dem Abend war für sie diese Sache schlicht unerträglich gewesen. Ihr Sohn, der jetzt… Er schluckte, dachte den Gedanken nicht weiter, in düsterer Vorahnung dessen, was gleich passieren würde. „Sie…“ „Sie…?“, wiederholte er geduldig, bewegte sich nicht von der Stelle. „Sie…“ Ihre Stimme zitterte. Mittlerweile war sie stehen geblieben. Die Tränen waren versiegt, in ihren Augen spiegelte sich namenloses Entsetzen, als sie sich ausmalte, vor Augen führte, was man in diesen Momenten womöglich gerade mit ihrem Sohn anstellte. „Sie haben ihn, Yusaku.“, wisperte sie leise. So leise, dass er sie eigentlich nicht verstand. Er wusste dennoch, was sie gesagt hatte. „Sie haben ihn, hörst du!“, wiederholte sie, diesmal deutlich hörbar. Sie war außer sich. Ihre Stimme wurde lauter, Verzweiflung mischte sich in ihren erregten Tonfall. „Shinichi wurde entführt! Entführt! Von diesen Kerlen, von… von der Schwarzen Organisation!“ Ihre Stimme klang schrill. Dann fasste sie sich wieder, er hörte, wie sie sich räusperte, wie sie schluckte, versuchte, sich zu fassen. Genauso wie damals. „Geschrumpft, Yusaku! Er könnte tot sein, das Gift hätte ihn töten können! Hätte ihn töten sollen! Er wäre jetzt tot… Mein Gott… Shinichi…“ Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Hiroshi hat gerade angerufen. Man muss wohl… irgendwie herausgefunden haben, dass er… dass Conan Shinichi ist, und dann haben sie ihn geschnappt und weggebracht. Sie können… können der Frau wohl nichts nachweisen, von der sie stark vermuten, dass sie es war, deswegen kann die Polizei da nichts tun. Aber sie haben das FBI schon informiert.“ Yusaku zog die Augenbrauen hoch. Das FBI? „Kommst du…?“ Weinerlich drang ihre Stimme an sein Ohr. „Kommst du nach Hause…? Bitte…?“ „Ich bin schon unterwegs, Yukiko. Ich bin… ich bin schon unterwegs. Beruhig dich. Das wird schon wieder. Er wird das schon… er wird das schon schaffen. Du kennst ihn doch…“ Er schluckte. „Er lässt sich nicht unterkriegen.“ Ihm war sehr wohl bewusst, dass auch die Fähigkeiten und Möglichkeiten seines Sohns begrenzt waren… aber zuerst galt es, Yukiko wieder Mut einzuflößen. „Ist… gut…“ Sie nahm sich zusammen, er konnte es hören. Sie versuchte, tapfer zu sein. „Ich bin gleich da, ja? In einer halben Stunde bin ich daheim.“ „Gut…“ Ihre Stimme war kaum mehr lauter als ein Wispern. Er wusste, wenn er aufgelegt hatte, würde sie wieder in Tränen ausbrechen. Sie liebte ihn. Liebte ihren Sohn mehr als alles andere, mehr als ihr eigenes Leben. Sie würde für Shinichi alles tun. Er war ihr Kind; ihr einziges. Und er wusste, die Sorge, die Angst um sein Leben würden sie ab jetzt nicht mehr loslassen, sie quälen, Tag und Nacht foltern. Und sollte… sollte Shinichi tatsächlich sterben, wusste er nicht, was aus Yukiko werden würde. Er war ratlos. Zum ersten Mal in seinem Leben wirklich ratlos. Er legte auf. Dann hob er die Hand, winkte ein Taxi aus dem Verkehr, stieg ein und ließ sich nach Hause fahren. „Was ist mit dem Nervenzwerg?“ Môri war außer sich. Agasa hielt das Telefon kurz auf Armlänge weg. „Er wurde entführt.“ Er hatte sich entschlossen, Môri noch nicht die ganze Geschichte zu erzählen. Noch nicht. „Warum sollte jemand Conan entführen?“ Kogorô Môri setzte sich in dem Bürostuhl auf, in dem er, wie er es so gerne tat, den Nachmittag verpennt hatte. „Haben Sie Ran schon informiert? Sie wird es wissen wollen. Und weiß die Polizei schon Bescheid? Und sind Sie sich sicher, dass er nicht einfach irgendwelche Entdeckungstouren macht? Sie kennen den Knirps doch. Er erforscht alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Wäre nicht das erste Mal, dass er dabei verschütt geht.“ Er lachte hohl. Seltsamerweise glaubte er selbst nicht an seine Worte. Irgendwie überraschte es ihn auch gar nicht, dass Conan entführt worden war. Irgendetwas war mit diesem Jungen… es war, als hätte er, seit er zum ersten Mal bei ihm aufgetaucht war, eine tickende Zeitbombe mit sich herumgetragen. Offenbar war die nun hochgegangen. „Wir sind uns sicher, dass er entführt wurde. Wir haben auch eine Ahnung, wer es war, aber wir können leider nichts beweisen. Und nein, Ran haben wir noch nicht informiert…“ Er schaute zu Ai, die heftig den Kopf schüttelte und mit ihren Lippen ein lautloses "Nein!" formte. „Wir… hielten es für besser ihr nichts zu sagen, sie auf Izu nicht zu stören, bevor wir nichts Genaues wissen…“ Agasa ließ seine kleine Mitbewohnerin nicht aus den Augen, die ihm zunickte und sich dann abwandte. Kogorô am anderen Ende der Leitung schwieg, dachte wohl nach; dann räusperte sich, ehe er sprach. „Nun gut… vielleicht finden wir ihn ja heute noch, dann brauchen wir sie wohl wirklich nicht zu beunruhigen…“ Er seufzte leise. „Ich mach mich auf den Weg zu Ihnen. Vielleicht kann ich ja… irgendwie bei der Suche helfen.“ "Das wäre sehr nett von Ihnen. Bis... später dann." Der Professor verabschiedete sich und legte auf. Dann drehte er sich um, schaute Ai an, die mit bekümmertem Gesicht in Richtung Meer starrte. „Warum sollen wir es Ran verheimlichen, Ai?“ „Damit sie bleibt, wo sie ist.“ Das kleine Mädchen schaute zu der rothaarigen Frau hinüber. „Solange wir nicht wissen, wo Shinichi ist, und was sie mit ihm vorhaben, sollte sie bleiben, wo sie ist. Dort ist sie sicher.“ Sie schluckte, dann schaute sie auf. „Hören Sie, Professor. Sie wussten, was Shinichi bedrückte. Sie wissen, dass sie seine Achillesverse ist. Und es besteht Grund zu der Annahme, dass diese Frau herausgefunden hat, wer er ist, weil sie ein Telefonat der beiden belauscht hat… und damit also auch weiß, dass es ein Mädchen gibt in seinem Leben, für das er so gut wie alles tun würde. Er ist erpressbar durch sie. Damit also Ran nicht in Gefahr gerät, weil sie sie benutzen wollen, um ihn zu erpressen… sollte sie bleiben, wo sie ist.“ Agasa seufzte, schaute sie an. „Aber wenn…“ „Wenn wir ihn wiederhaben, holen wir sie auch. Aber momentan ist sie dort am sichersten, wo sie weit weg ist von dieser Frau. Ich meine, allein die Tatsache, dass sie jetzt schon wieder hier ist, zeigt, dass das Hauptquartier nicht weit ist…“ Gedankenverloren schaute sie in den Wald. Agasa schluckte, seufzte laut. „Ich hoffe, das FBI ist bald hier.“ Ai nickte. „Ja, das hoffe ich auch. Sie können bestimmt was tun.“ Dann drehte sie den Kopf. „Wer kommt eigentlich, außer Jodie?“ Agasa stutzte. „James Black, den kennst du; und Shuichi Akai, soweit ich Jodie Recht verstanden hab.“ „Akai?“, murmelte Ai leise. „Ja. Shinichi kennt ihn schon ein wenig besser, die beiden haben schon zusammengearbeitet. Muss wohl ein fähiger Agent sein.“ Das rotblonde Mädchen nickte. „Je mehr, desto besser.“ „Ganz Recht.“ „Und was machen wir mit den Kindern?“ Langsam ließ Ai sich zu Boden sinken. „Ich weiß nicht… wir werden sie hier nicht wegkriegen. Und um ehrlich zu sein… wenn er noch in der Nähe ist, will ich auch ungern jetzt nach Tokio zurück.“ Der alte Mann zwirbelte seinen Schnauzbart nervös. „Geht mir ähnlich.“ Sie seufzte, schluckte. „Ich will auch nicht weg. Nicht…“ … bevor wir ihn wiederhaben. Kapitel 5: Fragen ----------------- Guten Abend, meine lieben Leserinnen und Leser! Dieses Kapitel wird geprägt sein von... wieder einigen Gesprächen und einigen Ortswechseln. Ich weiß, das ist vielleicht nicht immer angenehm zu lesen, aber ich hab es leider nicht anders untergebracht in meiner Planung ^.~ Die Personen müssen versammelt werden, bevor es losgehen kann... die Grundsteine müssen gelegt werden. Ich hoffe, es wird euch dennoch gefallen. Des weiteren wird hier in diesem Kapitel etwas bzw. jemand vorgestellt, der Bestandteil meiner Überlegungen zu dieser Geschichte ist und etwas abweicht vom Manga... ich bin gespannt, was ihr sagt. Viel Vergnügen beim Lesen, Liebe Grüße, eure Leira ___________________________________________________________________ Kapitel 5: Fragen Wie viel Zeit vergangen war, wusste er nicht. Er hatte keine Ahnung. Welcher Tag heute war, ob es Morgen, Mittag oder Abend war, wie viele Stunden seit seiner Entführung verronnen waren… er wusste es nicht. Er wusste auch nicht, ob es ihn wirklich interessierte. Er hatte… Durst. Seine Zunge fühlte sich an wie ein ausgetrockneter Schwamm, sein Hals kratzte und war wie ausgedörrt. Zwar piesackte ihn auch ein ganz fieses Hungergefühl, aber der Durst war es, der seine Gedanken beherrschte und ihn tatsächlich wirklich quälte. Conan ließ sich flach auf den Boden sinken, auf dem er bis dahin im Schneidersitz gesessen hatte, seufzte tief, fühlte glatte, kalte Fliesen unter seinen Fingern und starrte an die Decke. Er schätzte mal, ungefähr ein Tag könnte es gewesen sein. Ungefähr ein Tag... war wohl vergangen, seit er entführt worden war. Ein absurdes Gefühl, entführt worden zu sein... nicht nur mal ein paar Stunden eingesperrt in ein Auto, sondern richtig... gefangen. Er lächelte bitter. Er hatte das letzte Mal… am Abend vor seiner Entführung getrunken. Genug vergangene Zeit, um wirklich durstig zu sein, wenn auch noch lange nicht lebensbedrohlich. Ein weiterer lauter Seufzer entfloh seinen Lippen, dann drehte er sich zur Seite, drückte seine heiße Stirn gegen die kalten Fliesen. Pochende Kopfschmerzen hatten sich eingestellt. Er wusste nicht, ob das noch Nachwirkungen des Kampfes mit dieser Frau waren, oder ob das schon Zeichen einer sich anschleichenden Dehydration waren. Eigentlich war es ihm auch egal. Fakt war, dass er eigentlich langsam aber sicher durchdrehen könnte... aber um wirklich auszurasten, dafür hatte er sich wohl zu gut unter Kontrolle. Tatsächlich war nicht nur Durst oder Hunger der Grund dafür, dass er an sich halten musste, um nicht den Verstand zu verlieren; nein… dieses Gefühl ging völlig unter neben dem Gedanken an Ran, an die Kinder und Agasa, all seine Sorgen über sein körperliches Wohlbefinden verblassten zu totaler Bedeutungslosigkeit verglichen mit diesem einen Gefühl. Angst um sie. Und er wusste, keine Angst zu haben, in seiner Situation… wäre töricht. Er hatte wahrlich berechtigten Grund zur Furcht. Das Nächste, was sein Nervenkostüm langsam auseinandernahm und in seine Einzelheiten zerlegte, war auch und vor allem - das Warten. Conan fragte sich, welchen Zweck das alles verfolgen sollte. Warum ließ man ihn so lange allein? Zumindest kam es ihm lang vor, und immerhin quälte ihn der Durst… also ein paar Stunden waren doch sicher schon rum. Wann würde man ihn denn dem Boss vorführen? Würde man ihn ihm überhaupt vorführen oder wartete man nur auf das Okay, um ihn umzubringen? Wer war der Boss überhaupt? Und wie gedachte eben dieser mit ihm zu verfahren, jetzt, wo er ihn in seiner Hand hatte… und wusste, wer er war? Dass er nicht nur ein neunmalkluger kleiner Knirps war, der Grundschüler Conan Edogawa… schlau, aber bis jetzt nicht sonderlich auffallend… sondern Shinichi Kudô, einer der Menschen, von denen er annahm, dass er sie umgebracht hätte? Wann würden sie herausgefunden haben, wie weit er eigentlich schon verwickelt war, in der Sache? Er schluckte, als er an die Sache mit Kogorô dachte, und fragte sich, inwieweit die Organisation langsam durchblickte, was er und was auch das FBI schon alles wussten… Langsam ließ er sich auf den Boden sinken, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, hörte, fühlte, wie sein Magen leise knurrte und verzog kurz das Gesicht, ehe er nachdenklich zur Decke blickte. Wusste der Boss vielleicht gar nicht, was er mit ihm anstellen sollte? Hatte er Skrupel? Oder hielt ihn etwas anderes zurück? Wollten sie ihn mürbe machen? Warum? Was wussten sie… was wussten sie nicht? Er hatte keine Ahnung. Qualm kräuselte sich zur Decke empor, in feinen, blaugrauen Schwaden, der durchdringende Geruch von Tabak lag in der Luft. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, blickte aus dem Fenster, beobachtete seine Mitarbeiter im spiegelnden Glas des Fensters. Durch das Gegenlicht, das die aufgehende Sonne durch das Panoramafenster in den Raum warf, konnte man ihn nicht wirklich sehen; seine ganze Gestalt war eine schwarze Silhouette. Leise räusperte er sich, und die vier Gestalten, die vor ihm standen, zuckten zusammen; die Anspannung war ihren Körperhaltungen deutlich anzusehen. Er lächelte leise, als er sah, was allein diese kleine Geste für eine Wirkung auf seine Untergebenen hatte. Einzig und allein sie stand aufrecht, warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Vermouth. Er wusste genau, was sie darüber dachte, wie er seinen Gefangenen hielt und wie er ihn behandelte. Und er wusste auch, warum sie so dachte. Sie kannte ihn besser hier als alle anderen; kein anderer in der Organisation wusste so gut über ihn Bescheid wie sie. Und das machte sie gefährlich für ihn. Aber gleichzeitig hatte er etwas in der Hand, dass sie ihm gefügig sein ließ. Etwas, mit dem sie genauso verbunden war wie er mit dem Gefangenen unten im Keller. Außerdem war sie ihm nicht grundsätzlich schlecht gesonnen, im Gegensatz zu manchen anderen hier. „Gebt es ihm.“ Mehr sagte er nicht. Aber allein diese drei Worte schlugen ein wie eine Bombe. Vermouths Augenbrauen schnellten nach oben, aber sie hielt sich zurück; Gin jedoch reagierte ungehalten. „Warum? Als kleiner Junge ist er wesentlich ungefährlicher, wenn wir ihn befragen… er ist gehemmt, vielleicht ein wenig verstockt, aber eventuell doch etwas gefügiger, weil er genau weiß, dass er uns unterlegen ist.“ Er lächelte kalt. „Als Conan Edogawa ist er nicht er selbst. Geben wir Shinichi Kudô seine alte Identität wieder, dann wird er es uns wesentlich schwerer machen, etwas aus ihm rauszukriegen, als das ohnehin der Fall sein wird. Er ist dann wieder er… fast erwachsen, viel arroganter als gut für ihn ist, und hoch genug, um uns in die Augen zu sehen… und das macht ihn selbstbewusster. Ich meine, nicht dass das ein Problem sein dürfte… aber dennoch.“ Vodka nickte, zustimmend, während Beaujolais mit einer Locke ihres Haars spielte, sanft lächelte, bevor sie sich äußerte. „Ich gebe Gin Recht. Außerdem… eine Kinderleiche können wir wesentlich ungefährlicher entsorgen, wenn ich das anmerken darf.“ Ihre Stimme klang kalt. „Kleine Kinder fallen oft Unfällen in den Klippen zum Opfer. Sie spielen, rutschen aus und dann…“ Spielerisch schnippte sie mit den Fingern, ein schnalzendes Geräusch durchbrach die Stille. „Nein.“ Die Silhouette bewegte sich nicht. „Wer sagt, dass ich ihn loswerden will, nachdem ich mit ihm geredet habe? Und wer sagt überhaupt, dass ich mit ihm reden will?“ Gin kniff die Augen zusammen, schaute seinen Boss skeptisch an. Vermouth kniff die Lippen zusammen; ihrer ganzen Mimik war anzumerken, wie unzufrieden sie mit der Situation war. „Ich sage es noch einmal, aber ein weiteres Mal wiederhole ich es nicht - gebt ihm das Gegengift.“ Seine Stimme klang endgültig. Er hob die Hand mit der er seine Zigarette hielt, klopfte die Asche, die sich während des Gesprächs an ihrer Spitze gebildet hatte ab, zog an dem glimmenden Stängel, blies den Rauch gegen die Scheibe. Für ihn war die Sache erledigt. Gin warf ihm einen durchdringenden Blick zu; dann verließ er das Büro in Richtung Labor. Vermouth blieb, verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust, wartete, bis die Tür hinter allen anderen ins Schloss gefallen war, ehe sie vortrat, bis sie neben ihm stand, in sein Gesicht sehen konnte. „What the hell are you doing?! Du weißt genau, dass er seine Meinung nicht ändern wird! Was willst du von ihm? Was soll er tun? Do you want him to become like you?!“ Sie zischte die Worte förmlich, und obgleich es eine eindeutige Frage war, erwartete sie keine Antwort. „Er ist so anders als du… Boss. Du hast ihm lange genug zugesehen, you should have realized by now.“ Brüsk wandte sie sich um und verließ ebenfalls das Zimmer. Als die Tür zuknallte, zuckte er nicht einmal zusammen. Als die Tür sich öffnete, fuhr Conan hoch, und geriet ins Taumeln. Kurz war ihm schwindlig, bis er sich an der Rückwand der Zelle abfing. Allein diese Tatsache machte ihm schon schwer zu schaffen, als er sah, wie ausgeliefert er Gin und Wodka war, die den kleinen Raum betraten. Die Tür war schon fast zugefallen, als sie wieder aufgestoßen wurde und auch Vermouth den Raum betrat. In Conans Augen flackerte ein kurzer Funken des Erkennens auf, ansonsten ließ er sich nicht anmerken, dass er über sie irgendetwas wusste. Gin trat an ihn heran, packte ihn am Kragen, hob ihn hoch, bis der kleine Junge mit ihm auf Augenhöhe war. „Ich weiß zwar nicht, warum…“, setzte er an, „aber aus irgendeinem Grund will der Boss, dass du das Gegengift bekommst. Wenn es nach mir ginge, wärst du jetzt schon Geschichte, Kudô, ich hoffe, das weißt du, ich denke doch… du erinnerst dich an mich. Nun…“ Der blonde Mann grinste säuerlich, als er Conan wieder auf den Boden abstellte. „Da es wahrscheinlich in deinen Klamotten ein wenig eng werden wird… musst du dich erst umziehen. Wodka.“ Der untersetzte Handlanger Gins warf dem kleinen Jungen einen Packen Kleidung entgegen, den Conan gerade noch so auffangen konnte. „Na los.“ Gin verschränkte ungeduldig die Arme vor der Brust. Conan schaute sie an, schwankte leicht. „Was?“ Seine Zunge fühlte sich seltsam träge an in seinem Mund, blieb fast am Gaumen kleben, so zumindest schien es ihm. „Umziehen.“ Gin lächelte kühl. Wodka neben ihm kicherte dümmlich, fing sich von Gin einen warnenden Blick ein und war mit einem Mal wieder still. „Du hast zwei Minuten, wenn du dann nicht fertig bist, dein Pech.“ Gin drehte sich um, öffnete die Tür, trat auf den Gang, gefolgt von Vodka. Vermouth schaute ihn an. „Hurry up.“, meinte sie kühl, fast abgebrüht, um ja keinen Anlass zu irgendwelchen Vermutungen zu geben - dann ging auch sie hinaus, warf die Tür zu. Gin starrte sie an, lächelte schmal. „Ich hoffe, du hast kein Mitleid?“ Seine Stimme klang beißend. Vermouth schaute ihm ruhig in die Augen. „Wenn du keins hast, darling…?“ Er zog die Augenbrauen hoch, zündete sich eine Zigarette an, sagte aber nichts mehr. Sie standen keine Minute draußen, als ein leises Klopfen ihnen ankündigte, dass er wohl fertig war. Vodka stieß die Tür auf, hielt sie offen; Vermouth betrat nach Gin den Raum. Als sie ihn stehen sah, in viel zu großen, schwarzen Klamotten, blieb sie abrupt stehen. Sie merkte, wie sich ihre Eingeweide zu verknoten begannen. Jetzt, so wie er da stand, in diesem Berg schwarzen Stoffs, so klein, so verloren wirkend, merkte sie erst wirklich, erfasste sie in allen Facetten, was hier wirklich passiert war; und was gleich passieren würde. Langsam zog Gin ein Glasröhrchen aus einer Tasche in der Innenseite seines Mantels. Sie sah ihm an, dass ihn das nicht überraschte; er hatte sich anhand der Klamotten wohl seinen Teil schon gedacht. Gin drehte den Verschluss ab, ließ die Kapsel auf seine Handfläche gleiten und ließ sich von Vodka eine kleine Wasserflasche geben, die dieser aus einer seiner Manteltaschen zutage förderte. Beides reichte er dem kleinen Jungen, ohne sich zu bücken, oder gar auf den Boden zu knien. „Du weißt, was du zu tun hast.“ In dem weißen, kahlen Raum wirkte seine Stimme noch viel kälter, als ohnehin schon. Conan war kreideweiß im Gesicht geworden, schaute sie nur an, einen nach dem anderen. „Warum will er das?“, fragte er schließlich. „Das wirst du noch früh genug erfahren. Und jetzt mach endlich, meine Geduld ist nicht unendlich belastbar.“ „Genaugenommen ist sie gar nicht belastbar!“, echote Wodka. „Halt die Klappe.“ Gin zog seine Waffe. Conan schaute den glänzenden Revolver ruhig an. „Ich denke nicht, dass… Sie den verwenden dürfen, wenn er schon will, dass ich...“ Abwartend schaute er dem Blonden ins Gesicht. Ein eisiges Lächeln umspielte dessen Lippen. „Ich muss dich ja nicht töten damit. Und jetzt schluck runter!“ Conan verzog das Gesicht. Er wusste, Widerrede oder Trotz brachte ihn hier nicht weiter. Es behagte ihm zwar gar nicht… sich jetzt gleich vor Gin, Vodka und Vermouth zurück zu verwandeln, aber der Situation, in der er steckte, entkam er diesmal wohl nicht. Unbehaglich schaute er auf die Kapsel in seiner Hand, dann hob er sie zum Mund, legte sie sich auf die Zunge. Er schraubte die Flasche auf, setzte sie an die Lippen, trank einen Schluck, spülte das Gegengift runter. Zuerst spürte er nur große Erleichterung, als das Wasser seine Kehle befeuchtete; dann kam der Schmerz. Und zwar aus heiterem Himmel, unerwartet, plötzlich und heftig. Er riss ihn um, zwang ihn zu Boden, als er ihm den Atem raubte, sein Bewusstsein in dunkle Gefilde verführte. Conan versuchte, nicht zu schreien, starrte angestrengt auf den Boden vor sich, griff sich mit einer Hand an die Brust, mit der anderen stützte er sich ab. Er keuchte, stöhnte leise, japste nach Luft. Er bekam keine. Es war entsetzlich. Schweiß brach ihm aus allen Poren, sein Körper schien förmlich zu verglühen. Er fühlte sein Herz schlagen, schmerzhaft, viel zu schnell, und fragte sich, wie viel Belastung so ein kleines Kinderherz aushalten konnte, bevor es aufgab, fragte sich, ob es diesmal vielleicht zu viel sein würde; vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte, seine Wahrnehmung begann sich zu trüben. Er hörte nichts mehr, in seinen Ohren, seinem ganzen Kopf, schien Watte zu stecken. Und es hörte nicht auf. Conan sackte zusammen, sank auf den Boden, spürte kühle Fliesen an seinen Händen, seiner Wange, presste seinen Kopf dagegen, um mehr Kälte abzubekommen, es tat so gut, aber es schwand so schnell… dieses Gefühl von Erleichterung. Dann schrie er. Er konnte nicht mehr, es tat viel zu weh, es war kaum auszuhalten. Er schrie, gellend, markerschütternd - krallte seine Finger in den Boden, bis seine Knöchel weiß hervortraten - und sein Schrei hallte von den Wänden wieder, drang durch die Tür… … an die Ohren eines Zaungastes, dem es bei diesem Schrei eiskalt den Rücken hinunter lief, den der Ausdruck dieses Schmerzes wie ein Schlag ins Gesicht traf, ihn an die Wand stolpern ließ, wo er stehen blieb, gestützt durch festes Mauerwerk. Seine Hände zitterten, als er wartete, bis es aufhörte. Und es hörte auf. Shinichi lag auf dem Boden, sein Atem ging schwach, flach und stoßweise. Vermouth trat zu ihm hin, kniete sich auf den Boden, griff in seine Haare und drehte seinen Kopf, so dass er sie anschauen musste. Er war müde, wirkte sehr erschöpft; seine Augen waren offen, gerade mal so, aber er schien der Bewusstlosigkeit schon deutlich näher. Er schien es wohl überstanden zu haben, ohne weitere Schäden. Sie kniff die Lippen zusammen, nickte, versuchte zu verbergen, wie Erleichterung sich in ihr breitmachte; dann stand sie auf, winkte die beiden anderen mit einer herrischen Geste nach draußen, bevor sie ihnen folgte, nicht, ohne noch einen letzten Blick auf ihn zu werfen. Sie schloss sorgfältig die Tür ab, wartete, bis Gin und Wodka in die entgegengesetzte Richtung verschwunden waren, ehe sie sich der Gestalt zuwandte, die hinter ihr in einer dunklen Ecke stand und dort an der Wand lehnte, sie beobachtete. „Wie geht es ihm, Vermouth?“ „You’ve heard him. Ich denke, das sollte dir alles sagen.“ Ein Schauer schien durch die Silhouette des Mannes zu gehen. „Ich habe dich nicht gefragt, wie er sich angehört hat, oder wie es war. Ich wollte wissen, wie es ihm geht. Also, ich wiederhole meine Frage: Wie geht es ihm?!“ Seine Stimme war befehlend geworden, herrisch. Sie schaute ihn verächtlich an. „Er lebt, boss. Und ich schätze, ich gehe recht in der Annahme, dass das das einzige ist, was Sie interessiert, im Moment. Sir.“ Sie spuckte ihm die Worte fast ins Gesicht, warf ihm die Schlüssel der Zelle zu, dann drehte sie sich um, stolzierte von dannen, nicht, ohne ihr Haar nach hinten zu werfen, wie sie es immer tat, wenn sie aufgewühlt war. Er stand nur da, horchte, bis das rhythmische Klack-Klack ihre Pumps verhallt war, ehe er sich aus dem Schatten bewegte, kurz vor der Tür zur Zelle seines Gefangenen stehen blieb und mit den Fingern darüberstrich. Dann ging auch er, verschwand in der in der Wand versteckten Geheimtür, durch die er gekommen war, getarnt durch die dunkle Holzvertäfelung, die den ganzen Gang verkleidete, und von der keiner etwas wusste. Sie lag im toten Winkel der Kameras, wie alle Geheimtüren in diesem Gebäude. Das ganze Hauptquartier war im Prinzip durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Das Triumvirat wartete auf ihn. Auf ihn und seine Entscheidung, wie er mit seinem Gefangenen zu verfahren gedachte. Er schluckte, fuhr sich müde über die Augen. Sie warteten auf ihn, und er wusste, ihr Entschluss stand eigentlich schon fest. Langsam ging er die Gänge entlang, bis er vor einer großen Eichenholztür angekommen war, stieß sie auf und kam sich fast vor wie ein Schüler, der zum Direktor zitiert wurde, um sich einen Verweis abzuholen. Eigentlich sollte dem nicht so sein… schließlich war er hier der Boss. Sie waren das Triumvirat. Die zweite Kontrollinstanz der Organisation... denn die Geschichte hatte gezeigt, dass Diktaturen selten dauerhaft erfolgreich waren. Man hatte sich hier einen Staat aufgebaut, und bis jetzt hatte er immer funktioniert... allerdings könnte sich das nun ändern. Sie warteten schon auf ihn, drei Männer mittleren bis etwas späteren Alters, saßen um den Tisch herum und schauten ihn abwartend an, als er den Raum betrat. „Ihr könnt ihn nicht töten.“ Kein Gruß, kein Händedruck. Langsam schob er seine Hände in seine Hosentaschen, atmete aus. Das Spiel konnte beginnen... und er wollte es sein, der gewann. Und gleichzeitig auch der, der die Regeln bestimmte. „Er hat so viel Potential, das ist Ihnen doch klar - sowas kann man nicht ungenutzt lassen...“ Einer von den dreien, ein europäisch aussehender Mann mit blauen, eiskalten Augen und blonden, fast weißen Haaren, schaute ihn spöttisch an. „Das ist schon möglich, mon ami, nein, ich würde sogar sagen, da haben Sie Recht. Aber… So sehr wir von Ihren Fähigkeiten überzeugt sind, so müssen wir doch zugeben, in dieser Sache halten wir Sie für…“, er lächelte schmal, „etwas befangen. Sie wollen ihn uns schmackhaft machen, aber seien wir ehrlich, er ist wie ein Wolf im Schafspelz. Eine tickende Zeitbombe, unkontrollierbar. Es stimmt ja durchaus, das ist indiskutabel - er ist brillant.“ Er räusperte sich. „Aber er ist in gleichem Maße sehr gefährlich. Eben weil sie wissen, wie er ist, was er kann, sollten Sie das wissen... wie oft er uns schon sehr nah wahr, gerade in Anbetracht, dass er dieser kleine Junge war; dass noch nicht mehr passiert ist, liegt an der Fähigkeit unserer Männer, nicht an seinem Unvermögen. Außerdem wissen wir alle… wie unabänderlich er an seinem Glauben, an seinen Prinzipien festhält. Er wird sich nicht ausnutzen lassen. Shinichi Kudô dans l'organisation, c'est impossible, je pense.“ Der Mann links neben ihm, ein Afroamerikaner, nickte. „Er sollte längst tot sein. Er hätte schon vor Jahren sterben sollen. Dass Sie das Gegengift ausprobieren wollten - wir wissen alle hier, warum Sie es getan haben - darüber können wir ja noch hinwegsehen. Aber er wird nicht verschont. Wir werden uns morgen mit ihm beschäftigen, herausfinden, wie viel er weiß, herausfinden, wo Sherry ist… denn dass auch sie geschrumpft wurde, steht nachdem, was wir durch ihn herausgefunden haben, außer Zweifel.“ Seine Stimme war tief, dunkel und geprägt von einem schweren Akzent. „Aber ohne es wenigstens versucht zu haben... jemand wie ihn hier...", versuchte der Boss es erneut, schaute dem Afroamerikaner eindringlich in die Augen. Er wusste um sein Charisma, um seine Überzeugungskraft, und er würde den Teufel tun und sie hier ungenutzt lassen. Shinichi Kudô in der Organisation - das wäre die Lösung all seiner Probleme. Arbeitete er für sie, dann arbeitete er nicht gegen sie - und mit seinem Wissen, seinen Fähigkeiten, könnten sie das FBI im Nu einen Schlag versetzen... Der dritte Mann im Bunde, ein Japaner, stand nun auf, strich sich über sein graumeliertes Haar, was auf ein Alter jenseits der Fünfzig schließen ließ. „Schluss jetzt. Es hat keinen Zweck, zu diskutieren. Er wird morgen befragt und anschließend neutralisiert.“ Der Boss wurde langsam ein wenig unruhig, begann, vor den dreien auf und ab zu laufen wie ein Panther in einem zu kleinen Käfig, überlegte; dann blieb er wieder stehen, vor dem Tisch, an dem die drei saßen, stützte sich mit der Handfläche darauf auf. „Das entscheidet ihr nicht alleine. Ich bin immer noch der Boss, und ich will, dass es zumindest versucht wird. Sie drei sind nur…“ „… das Triumvirat, das gewählt wurde, um aufzupassen, dass Sie keine Dummheiten machen. Sie haben Recht, die Entscheidungen fällen immer noch Sie. Nicht wir, da haben Sie Recht. Aber wir sind die, die ein Veto einlegen können, wenn wir der Ansicht sind, Sie schaden unserer Organisation. Dies ist nun der Fall. Shinichi Kudô wird morgen sterben. Er hat sich ohnehin schon eine unerhörte Gnadenfrist rausgeschlagen. Wenn Sie keinen wirklichen Grund haben, wegen dem wir annehmen können, dass er uns tatsächlich gefügig gemacht werden kann, wird er sterben.“ „Nein!“ Der Japaner zündete sich eine Zigarette an, ging zur Tür. „Doch. Und damit ist diese Diskussion beendet.“ Die anderen beiden standen auf, verließen mit ihm den Raum. Er stand nur da, alleine in dem großen Raum, starrte ihnen hinterher, atmete scharf aus - dann ging auch er, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Auf seinem Gesicht lag ein nachdenklicher Ausdruck, seine Augen, sein Blick schienen unfokussiert, zeugten davon, dass er in Gedanken ganz woanders war. Seines Erachtens war das letzte Wort hier noch nicht gesprochen... derart übergangen zu werden, war etwas, das ihm nicht gefiel. Irgendwann ließ die Erschöpfung nach. Shinichi schluckte, setzte sich leise stöhnend auf, griff nach der Wasserflasche, die man ihm gütigerweise gelassen hatte und trank sie in einem Zug aus. Schwankend erhob er sich, stand auf und sah an sich herunter, strich sich über das schwarze Hemd, seufzte. Er war wohl wirklich wieder er selber. Conan gehörte der Geschichte an. Langsam fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar. Aber was brachte ihm seine neu gewonnene alte Identität? Was hatten sie nun vor mit ihm, wofür er extra wieder er selber sein musste? Warum wollte der Boss ihn, Shinichi Kudô, in Originalgröße? Das Gin damit nicht ganz einverstanden gewesen war, hatte er ja nur zu deutlich sehen können. Warum also irritierte der Boss einen seiner fähigsten Mitarbeiter...? Shinichi seufzte laut, rieb sich über die Augen, zuckte dann zusammen, als die Tür aufging. Herein kamen Vermouth und… Kir. Shinichi starrte sie an, versuchte dann, so zu tun, als wäre nichts weiter. Egal, wie oft Vermouth ihn hätte töten können, und es nicht getan hatte; er wusste nicht, wie loyal sie ihrem Boss war, wenn es darum ging Verräter in den eigenen Reihen zu entlarven. Vermouth schaute ihn an. „Ich weiß, wer sie ist.“ „Tatsächlich?“ Er erwiderte ihren Blick ohne zu Blinzeln; schließlich steckte er seine Hände in die Hosentaschen. „Und was will er denn jetzt von mir?“, wechselte er das Thema. „Wer?“ „Sharon…“ Shinichi merkte zu spät, dass er sie mit dem ‚falschen‘ Vornamen angeredet hatte. Sie hob nur eine Augenbraue, schaute ihn tadelnd an. „Vor jemand anderem braucht dir das nicht passieren. Sie weiß Bescheid… und ich weiß tatsächlich genau, wer sie ist, auch wenn dich das jetzt erstaunt. Das wusste ich schon, bevor du es wusstest, Grünschnabel. Sie ist eine NOC, Hidemi Hondo. Und sie verdankt es mir, genauso wie du übrigens auch, falls du es vergessen haben solltest, dass sie noch lebt.“ Shinichi atmete scharf ein. „Na, das freut mich, dass ihr euch angefreundet habt.“, meinte er dann zynisch. „Aber lenk nicht vom Thema ab, was will er denn nun von mir? Warum bringt er mich nicht einfach um? Man möchte meinen, ihm könnte es nicht schnell genug damit gehen, nachdem ich ja eigentlich schon lange tot sein sollte…“ Vermouth wich seinem Blick aus, und er stutzte. Das war seltsam. Überhaupt alles war hier seltsam. Ihr Auftritt hier, ihre Art, und ihre Begleitung. „Er hat noch kein Interesse daran. That’s all.“ Shinichi kniff die Augen zusammen. „Aha.“ Er ließ sich langsam gegen die Wand sinken. „Was will er dann? Und was wollt ihr hier?“ „Ersteres wirst du wohl bald genug erfahren; und letzteres… kannst du dir das nicht denken?!“ Wut flackerte in ihrer Stimme auf. „You stupid fool! Wie konntest du es zulassen, dass man herausfindet, wer du bist?! Verdammt, weißt du eigentlich, in welcher Lage du jetzt steckst? Das ist alles viel schlimmer und gleichzeitig viel komplizierter, als du es dir in deinen kühnsten Träumen ausmalen kannst…!“ Shinichi schaute sie verwirrt an. „Ich hab mich nicht vor diese rothaarige Hexe hingestellt und ihr meine Geschichte erzählt, falls es das ist, was du mir unterstellen magst, Vermouth…“ Er zog die Augenbrauen unwillig zusammen. „Es war ein blöder Zufall. Sie hat mich bei einem… etwas… aufwühlendem Gespräch mit Ran belauscht. Und ich hab… hab mal das Telefon beiseitegelegt, und währenddessen hat Ran… sie hat mich beim Namen genannt. Beim vollen Namen. Daher wird sie’s wissen.“ „Und warum legst du dann das Telefon zur Seite?!“ „Ich… das geht dich nichts an!“, fauchte er. Dann wandte er den Blick ab, drehte den Kopf zur Seite, als seine Wangen zu glühen begannen. Vermouth nahm es dennoch war und auf ihre Lippen schlich sich ein trauriges Lächeln. Einen Kommentar sparte sie sich. Stattdessen trat sie näher. „Wir müssen dich hier rausbringen. Nach Möglichkeit, bevor man dich umgebracht hat, weil du den Boss oder jemanden anderen ärgerst…“ „…wobei letzteres ja meinen Transport hier raus nicht unerheblich vereinfachen würde, nicht wahr…?“, schob er ein, was sie geflissentlich zu überhören schien. „… und das dauert unter Umständen nicht mehr lange. Er will dich noch nicht töten; und ich habe Grund zur Annahme, dass das auch noch nicht allzu bald der Fall sein wird. Nichtsdestotrotz müssen wir die erste Gelegenheit nutzen, die sich bietet. Sieh dich also vor, sei auf der Hut und aufmerksam. Es hängt alles davon ab, dass wir aufeinander Acht geben. Und um Gottes Willen, Shinichi… provozier hier keinen. Don’t make any more mistakes.“ Sie schaute ihn ernst an. „Du hast hier mehr Feinde, als du ahnst.“ Er schaute sie etwas konsterniert an, nickte dann aber. Dann fiel ihm eine weitere Frage ein. „Warum hast du Grund zur Annahme, dass er mich nicht so schnell umbringen will? Wenn ich dich daran erinnern darf, ich sollte schon längst tot sein… also verstehe ich nicht, warum sich das geändert hat…?“ Shinichi schaute sie forschend an. „Weil…“ Sharon schluckte, schaute ihn an. Die Wahrheit konnte sie ihm nicht sagen. Die Wahrheit würde ihn zerstören. „Weil… weil… nun, ich denke, er ist sich bewusst, dass du ein schlauer, fähiger junger Mann bist. Ein schlauer, fähiger, erpressbarer junger Mann.“ Sie schluckte, blickte in sein Gesicht, versuchte herauszulesen, ob er ihr glaubte. „Du meinst, er wird versuchen, mich auf seine Seite zu ziehen? Warum? Ich denke, es dürfte ihm langsam klar sein, auf welcher Seite ich stehe…“ Sharon schüttelte den Kopf. „Ich sagte doch, schlau, fähig, erpressbar. Beaujolais, diese Plaudertasche, this red-haired bitch, i beg your pardn, hat dem Boss und mir von deinem Telefonat mit Ran erzählt; sie hat den Besitzer der Nummer leicht rausfinden können. Sie ist zwar jetzt zum Schweigen verpflichtet, weil er nicht will, dass andere dich mit diesem Wissen kontrollieren, aber… du weißt, was das heißt, und was man mit diesem Wissen anstellen kann. You of all should know that better than anyone else, Shinichi.“ Sie schluckte, dann wandte sie sich ab, winkte Kir mit sich. „Pass auf dich auf. Geh nicht sofort auf Konfrontationskurs, sei so gut… wir sehen uns.“ Damit öffnete sie die Tür und verließ den Raum. Er hörte den Schlüssel im Schloss knacken, seufzte leise, ließ sich langsam gegen die Wand sinken und mit dem Rücken zu Boden gleiten. Ran… Ja… er hatte wirklich einen guten Grund, Angst zu haben, wie es schien. Angst um sie. Auf dem Gang angekommen, hielt Vermouth Kir auf, indem sie ihr kurzerhand den Weg vertrat. „Sag mal… du warst ja sehr still gerade, Kir…“ Die blonde Frau warf ihrer schwarzhaarigen Gefährtin einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Die Angesprochene schluckte. „Ich war… war wohl tatsächlich sprachlos. Ich habs dir nicht glauben wollen, als du es mir gesagt hast, vor ein paar Minuten. Ich kannte… kenne ihn ja als Conan…“ Sie schluckte, setzte sich langsam wieder in Bewegung, als Vermouth ebenfalls weiterging. „Ich frage mich, ob Eisuke es weiß. Diese Augen, der Blick… die Haare, einfach alles, ich frag mich, wie wir… so lange so blind sein konnten. Wie ich so lange so blind sein konnte, ich hab in den Nachrichten doch oft genug über Shinichi Kudô berichtet. Und dann über Conan Edogawa und Môri, dem schlafenden Meisterdetektiv.“ Sie seufzte leise. „Ich kenne ihn als Conan ziemlich gut. Und ihn jetzt so zu sehen… und zu wissen, dass er all die Zeit dieser kleine Junge war…“ Langsam atmete sie aus. „Aber sag, Vermouth…“ Sie schaute sich um, vergewisserte sich, dass keine Kamera sie erfasste, und auch sonst kein unerwünschter Mithörer in der Nähe war. Sie blieb stehen. „Sag mir, Sharon, wie willst du ihn hier rausholen?! Du weißt, dass seine Überlebenschancen denkbar gering sind! Ich frag mich sowieso, warum der Boss ihn leben lässt… er war ein Fehler von Gin, warum lässt er ihn nicht umbringen?“ „Genau deswegen, darling.“ Die Blondine fischte sich eine Zigarette aus der Brusttasche ihrer Lederjacke, zündete sie sich an, bemerkte, dass ihre Finger leicht zitterten, als sie daran dachte. An jenen Tag vor drei Jahren. Der 13. Januar 1994. Der Tag, an dem Shinichi Kudô hätte sterben sollen. „Weil er eben ein Fehler von Gin war.“ „Ich fürchte, ich versteh nicht…“ Kir schien verwirrt. Vermouth schaute sie an, lächelte, blies die erste Rauchwolke Zentimeter an ihrem Ohr vorbei. „Was weißt du über den Boss, was ich nicht weiß?“ Kirs Augenbrauen wanderte nach unten, forschend schaute sie die Blondine an. „Ich kenne ihn. Und auch wenn ich dich unterstütze; auch wenn ich Cool Guy retten will… ich werde die Identität des Bosses nicht preisgeben. Es würde… zu viele Menschen ins Unglück stürzen. Außerdem ist es nicht meine Sache, wie du deine Arbeit hier machst. Ich bin deinem Verein nicht verpflichtet… ich gehorche nur mir selbst, und ich gebe nur Informationen preis, die ich preisgeben will. You should have learned this by now.“ Sie warf einen Blick zurück, in den Gang, aus dem sie gerade gekommen waren. „Finde dich damit ab, Hidemi.“ Sie seufzte. „Sieh lieber zu, dass Gin, dieser Irre, die Kleine nicht in die Finger bekommt. Er wird schon längst eins und eins zusammengezählt haben, und ich will nicht, dass sie ausgerechnet ihm in die Finger fällt.“ Die schwarzhaarige Frau mit den ausdrucksvollen Augen schaute nachdenklich vor sich hin. „Wahrscheinlich hast du Recht.“ „For sure, I have.“ Damit stolzierte sie von dannen, ließ eine ziemlich ratlose Kir alleine zurück. Jodie saß mit James und Shuichi im Auto; sie saß allein im Fond, während Shuichi den Wagen lenkte. James warf ihr durch den Rückspiegel einen beruhigenden Blick zu. „Mach dir keine Sorgen. Der Junge ist nicht dumm…“ „Ja, eben. Deswegen mache ich mir Sorgen!“ Ihre Stimme klang heftig. „Genau das ist es doch! Weil er ist, wie er ist, ist er doch in dieser Situation! Wenn Conan Shinichi Kudô ist, und die das jetzt wissen… welchen Grund hätten sie, ihn am Leben zu lassen?! Which damned reason would deter them from killing him instantly?! Eigentlich sollte er doch schon tot sein, mittlerweile kennen wir doch die Geschichte…“ „Wenn du so argumentierst, Jodie… dann kannst du eigentlich aufhören, dich aufzuregen, und gleich mal anfangen, zu heulen und mit den Zähnen zu knirschen und um ihn zu trauern, denn dann ist er schon längst tot. Aber du scheinst das ja nicht zu glauben, nicht wahr?“ Shuichis kühle Stimme klang durch den Wagen, übertönte leicht das Radio, obwohl er nicht eben laut sprach. Jodie seufzte. „I know. Ich weiß das doch. You are quite right…“ Jodie seufzte. Sie kam einfach nicht umhin, sich Sorgen zu machen; sie hatte den kleinen Jungen gern gehabt, einen Narren an ihm gefressen; zu wissen, in welcher Situation er jetzt war, in welcher Gefahr er sich unter Umständen befand, behagte ihr nicht. Dann warf sie einen Blick nach vorn. „Dich scheint das alles ja gar nicht zu erstaunten, Shu.“ Sie bedachte ihn mit einem fragenden Blick, und auch James wandte sich ihm jetzt zu. „Allerdings. Du schienst die Nachricht, dass Ai und Conan in Wirklichkeit schon fast erwachsen sind, nicht besonders brisant zu finden. It seemed, that this fact wasn’t new to you at all.“ Shuichis Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ich denke nicht… dass das was zur Sache tut…“ „Doch, das denke ich schon.“ James wandte seinen Blick wieder nach vorne, sein Gesichtsausdruck gesetzt, der Ausdruck in seinen Augen ernst. „Was weißt du über Shiho Miyano? Ihr Name schien dir vorhin nicht neu zu sein, als Jodie ihn erwähnte…“ „Ich…“ Shuichi kniff die Lippen zusammen. „Du kennst sie, nicht wahr?“ James schaute ihn immer noch nicht an. „Du kennst sie aus deiner Zeit bei der Schwarzen Organisation. Als du Rye warst… Dai Moroboshi.“ Shuichi atmete langsam aus. Dann nickte er. Kurz, knapp, eine Bewegung, um keinen Deut ausholender, als sie sein musste. „Wer war sie?“ Shuichi schluckte. „Sherry.“ „Und wer war Sherry? Jetzt lass dir doch nicht alles…“ „Die Chemikerin. Die leitende Forscherin im Projekt APTX. Die Nachfolgerin von Elena und Atsushi Miyano und…“ „Und?“ „Akemis kleine Schwester.“ Jodie und James saßen da, wie vom Donner gerührt. „Akemis Schwester ja. Wegen ihr… wegen ihr hat Gin Akemi erschossen. Benutzt und umgebracht.“ Unterdrückte Wut flackerte in seiner Stimme auf, in seinen Augen blitzte es gefährlich. „Sie hat immer davon gesprochen, Shiho aus der Organisation holen zu wollen. Akemi… Akemi war ja nur ein ganz kleines Licht in ihren Augen. Aber Shiho… Shiho war die Begabte. Sie begriff diesen schweren Stoff, all das Zeug über Gifte und Zellabläufe, all die biochemischen Zusammenhänge, sofort. Und sie war verblendet. Sie wusste am Anfang nicht, was die Organisation war. Und so lernte sie begierig, angetrieben von dem Wunsch, ihren Eltern in ihrer Arbeit nachzufolgen, zu beenden, was sie begonnen hatten.“ Er schluckte, bremste scharf vor einer roten Ampel. „Und dann sah sie es. Erkannte sie es. Sie sah die ersten Leichen… Menschen, gestorben durch ihr Gift. Und sie merkte, was die Organisation wirklich war. Sie wollte weg. Raus. Wie Akemi schon so lange auch. Sie wollten gemeinsam fliehen, aber man ließ sie nicht. Und dann… ohne Shiho etwas zu sagen, machte man Akemi ein Angebot.“ Er kniff die Augen zusammen, presste seine Kiefer aufeinander. „Eine Milliarde Yen für ihre Schwester.“ Black und Jodie schauten ihn an. „Meinst du den eine Milliarde Yen-Bankraub? Hat den Fall… nicht auch Kogorô Môri bearbeitet? Und damit…“ „Ganz recht.“ Akai zog sich eine Zigarette aus seiner Hemdtasche, betätigte den Zigarettenanzünder des Autos. „Akemi hat mich auf dem Laufenden gehalten. Auch, als ich schon draußen war…“ Er drückte den Glimmstängel gegen das heiße Eisen, dann schob er ihn sich zwischen die Lippen, zog tief daran. „Sie hat mir von ihm erzählt. Von Conan. Davon, wie er sie aufhalten wollte. Sie hat mir noch… eine SMS geschrieben, bevor sie zur Übergabe ging. Sie hat den Kontakt nicht abgebrochen… hat mir erzählt, was sie vorhatte.“ Er hat es wohl nicht geschafft… kein Wunder, wie hätte er das auch bewerkstelligen können, in seinem Zustand… wäre er… Er dachte nicht weiter. „Aber was konnte er tun… er war ein kleiner Junge. Sie hat ihn abgehängt, nehme ich an. Ich weiß nicht, ob er bei ihr war, als sie starb…“ Bitterkeit sprach aus seiner Stimme. „Als ich nie wieder von ihr hörte… und auch von Shiho nichts hörte… war mir klar… was passiert war. Irgendwann wird Shiho wohl herausgefunden haben, was geschehen war… dass man ihre Schwester ermordet hatte. Ob sie weiß, warum das passiert ist, weiß ich nicht. Aber das Ergebnis ihrer Überlegungen und Reaktionen läuft jetzt als Ai Haibara herum. Ich nehme an, sie hat sich geweigert, weiter zu arbeiten, wollte sterben… wollte zu ihrer Schwester. Aber auch sie, genau wie er, hat die Zeit betrogen, dem Tod ein Schnippchen geschlagen, unwillentlich…“ Langsam ließ er den Rauch durch seine halbgeöffneten Lippen entweichen. „Er wird bezahlen, für das, was er ihr angetan hat.“ …und ich habe eine gute Ahnung, wer uns da nur zu gern behilflich sein wird… James und Jodie sahen ihn nur an, sagten nichts mehr. In einem anderen Appartement im gleichen Gebäude stand ein blondhaariger, hochgewachsener Mann am Fenster seines Wohnraumes, blies den Rauch seiner Zigarette gegen die Scheibe. Sherry… Ein kleines, grausames Lächeln schlich sich auf Gins Lippen. Der Tag war höchst aufschlussreich gewesen, in der Tat. Jetzt war klar, wie sie damals entkommen konnte. Nachdem er Kudô heute gesehen hatte, war alles klar. Sherry… sie war dieses kleine Mädchen. Das kleine, rotblonde Mädchen, das derzeit wieder in die Grundschule ging… unter dem Namen Ai Haibara. Sehr wahrscheinlich war sie sogar ganz in der Nähe… zum Greifen nah, er brauchte nur die Hand ausstrecken… und dann wäre sie sein. Ihm ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb. Eher wohl Verderb. Aus seinen Mund entwich der Rauch, ohne dass er ihn ausblies, langsam… fast elegant wanden sich die blauen Wolken wie Schlangen gleich nach oben. Dann sog er ihn noch einmal ein, um ihn anschließend kräftig auszustoßen und wandte sich um. Auf dem Monitor auf seinem Schreibtisch flackerte ein digitalisiertes Klassenfoto. Es war leicht gewesen, ihr Gesicht auf den Fotos dieser Schule zu finden… er hatte nicht lange suchen müssen... die Vermutung, dass sie sie die gleiche Schule wie Conan Edogawa besuchte, war nahe gelegen und hatte sich als richtig erwiesen, und eine Grundschülerin mit rotblonden Haaren war in Tokio nicht allzu häufig, und so hatte er gesucht, auf welche Schule der Knirps ging und sich sich einfach die Klassenfotos auf der Internetseite der Tokioter Grundschule angeschaut. Bei der Klasse 1b der Teitan war er fündig geworden. Neben der Schule, die sie besuchte, kannte er nun auch ihren Namen. Ai Haibara. Und bald würde er nicht nur ihr Bild gefunden haben… nein. Sondern Ai Haibara alias Sherry alias Shiho Miyano in natura. Bald… Bald. Kapitel 6: Niederlage --------------------- Hi! Leider bin ich grad sehr im Stress und kann hier nicht viel dazu sagen... ich möchte mich aber dennoch ganz, ganz herzlich bei allen Kommentatoren bedanken!!!!!! Vielen, vielen Dank und viel Spaß beim Lesen! *düsterlach* Eure Leira :D PS: Weil die Frage fiel- bitte beachtet die Prozentzahlen nicht. Ich hab noch nicht viel Plan, wie lange die Geschichte wird- nur lang wird sie, dessen dürft ihr euch gewiss sein. Mit meinen letzten kann sie locker mithalten - brauchbare Prozentangaben bekommt ihr, wenn ich mir mehr Struktur verschafft hab ;P ______________________________________ Kapitel 6: Niederlage Sie war fast allein am Pool; die meisten Hotelgäste waren bei dem traumhaft schönen Wetter an den Strand gegangen, nur eine Familie und ein junges Pärchen hatten am anderen Ende der Terrasse ein paar Liegestühle besetzt, nur ab und an drangen leise Gesprächsfetzen oder Gelächter an ihr Ohr. Über ihr spannte sich der wolkenlose, azurblaue Himmel und eine leichte, lauwarme Brise streichelte zart über ihre Haut. Für all diese Dinge hatte sie allerdings keinen Sinn. Ran schluckte, ließ ihre Beine in den Hotelpool baumeln und starrte aufs Wasser, wo die Sonne sich brach, die seichten Wellen zum Glitzern und Glänzen brachte. Gleißend helle Lichtreflexe blendeten sie, ihre Augen fingen langsam zu tränen an, aber wandte den Blick nicht ab, schaute hin, so lange, bis vor ihren Augen schwarze Flecken tanzten. Schließlich schloss sie doch die Augen, sah deutlich die Nachbilder flimmern, krallte ihre Hände in die Pooleinfassung, atmete langsam und sehr kontrolliert aus. Dann hörte sie, wie sich jemand neben sie setzte; ein lautes Seufzen, eine leises Platschen, als die Person neben ihr ebenfalls ihre glattrasierten Beine in das Wasser hängen ließ, spürte etwas Eiskaltes an ihrem Arm. Sie zuckte zusammen, wandte sich dem Störfaktor zu. Es war Sonoko, die sich neben sie gesetzt hatte, und ihr eine Eistüte an ihren nackten Arm hielt. Mit einem leise gemurmelten Dankeschön nahm Ran das Schokoladeneis an und wickelte es aus, legte das Papier sorgsam neben sich, bevor sie begann, ihr Eis zu essen. Der schokoladige Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, schenkte ihr einen ganz kurzen Moment des Glücks, bevor die Sorge um einen gewissen Menschen wieder ihre Gedanken umwölkte. „Ran…“ Sonoko seufzte leise. Ran warf ihr einen schrägen Blick zu, merkte, dass die Soße ihres Erdbeereises rund um ihre Mundwinkel klebte, sagte aber nichts. „Ran, vergiss ihn…“ „Ich kann nicht.“ Ran ließ ihr Eis sinken, schluckte, starrte wieder aufs Wasser. „Sonoko, ich kann nicht.“ „Aber…“ Das blonde Mädchen schaute sie mitfühlend an. „Ran, du kennst meine Meinung. Ich hab dir immer gesagt, wovon ich überzeugt war; dass du ihn liebst, dass er dich liebt, dass ihr zusammengehört. Du wolltest es so lange nicht glauben.“ Sie seufzte schwer, bemerkte, dass sich ihr Eis verflüssigte und leckte einen Tropfen vom Waffelrand, bevor er auf ihre Waden fiel. „Und jetzt Ran… jetzt bin ich immer noch sicher, er liebt dich. Und ich weiß, genau wie du jetzt begriffen hast, dass du ihn liebst. Aber jetzt… jetzt würde ich mir wünschen, dem wäre nicht so. Wenn ich dich so sehe… so niedergeschlagen, so traurig, verletzt und verzweifelt, würde ich mir wirklich wünschen, du und er, ihr wärt nur Freunde, genau wie ihr es immer behauptet habt.“ Ran schaute überrascht auf. So hatte sie Sonoko noch nie reden gehört. „Aber…“ „Ich denke, dein Herr Detektiv hat sich mächtig in die Scheiße geritten, wenn ichs mal so salopp ausdrücken darf.“ Sonoko schleckte an ihrem Eis. „Offensichtlich… bedeutest du ihm was, sonst würde er sich bei dir nicht melden. Wärst du ihm egal, oder hätte er eine andere, warum sollte er dich anrufen? Wo er doch weiß, wie sehr du klammerst? Nimms mir nicht übel…“ Sonoko warf ihrer entrüstet dreinblickenden Freundin einen kurzen, entschuldigenden Blick zu. „Das tust du. Also. Wärest du nichts weiter als eine gute Schulfreundin, dann würde er dir wohl einfach sagen, dass er länger nicht kommt, und es dann dabei belassen. Hätte er eine andere, dann würde er doch versuchen, den Kontakt einschlafen zu lassen, oder? Aber das tut er nicht. Also… bleibt nur eins. Er liebt dich, denn er kann nicht ohne dich. Er will deine Stimme hören… nur, dass du… diese drei Worte sagst, das will er nicht. Offensichtlich, wenn ich euer Gespräch richtig interpretiere und du mir nichts verschwiegen hast. Also… warum will er das nicht? Man sollte meinen, genau das müsste er sich wünschen…“ Ran saß da, starrte Sonoko an, hatte ihr Eis total vergessen. „Sonoko, du denkst ja richtig analytisch…“ Sonoko schaute sie gleichermaßen verärgert wie stolz an. „Sag mal, was soll das denn heißen?“ Sie räusperte sich. „Nun… wenns ums Liebesleben meiner besten Freundin geht…“ Ein Grinsen huschte ihr übers Gesicht. „Nein, im Ernst. Ich hab nachgedacht, mir mal Gedanken gemacht, ausgehend von den Tatsachen und meinen Vermutungen. Warum will er aus deinem Mund nicht hören, dass du ihn liebst? Warum will er dir nicht sagen, dass er dich liebt, wenn er doch offenbar nichts zu verlieren hat und es ganz risikofrei zugeben könnte, so wie du ihm entgegengekommen bist??“ Sie holte tief Luft, stand auf, schaute Ran von oben herab an; ihr Gesicht lag im Schatten, doch Ran konnte erahnen, dass ihre Züge ernst waren. „Ganz einfach… er muss doch etwas zu verlieren haben. Es ist ihm nicht möglich, bei dir zu sein. Deshalb will er nicht, dass du dich quälst, mit einem Freund, der nie für dich da ist. Das ist… sehr nobel von ihm, wirklich. Und der Grund dafür ist wohl… dass das… sein Fall… derartige Ausmaße angenommen haben muss, dass er nicht absehen kann, wann er beendet ist. Deshalb hält er dich auf Abstand. Um dich vor dir selbst und ihm zu schützen. Er hat etwas zu verlieren… und zwar dich.“ Sonoko atmete tief durch, ein leises Seufzen entfloh ihren Lippen. Ran stand auf, schluckte, schaute ihrer Freundin ins Gesicht, schüttelte langsam den Kopf. „Aber…“ „Ran, mit wem auch immer er sich angelegt hat, er hat Angst, dass man dir was antut, würde sein Gegner erfahren, was du für ihn bist…“ Das blonde Mädchen schluckte, drehte seinen Kopf, schaute in die Sonne. In Sonokos Augen spiegelte sich Sorge, etwas, das Ran selten gesehen hatte. „Und deshalb will ich, was er von dir auch will… warum er dich immer wieder wegstößt… er will, dass du dich fernhältst von ihm. Um deiner Sicherheit Willen, und damit du glücklich wirst. Ran, ich bitte dich… hör auf mich. Wenn er dir schon solche Signale sendet… dann halt dich fern von ihm. Ich will nicht, dass dir was passiert. Und ich will nicht, dass du dich weiter so quälst. Und er… offensichtlich will Kudô das auch nicht.“ Ran starrte sie an, ihre Züge verzerrten sich vor Schmerz. Sonoko hatte ausgesprochen, was sie seit Wochen befürchtete. „Ich kann nicht, Sonoko. Ich kann einfach nicht. Ich… ich liebe ihn, ich will…“ „Ran!“ Sonoko griff sie am Handgelenk. „Wenn du schon nicht auf mich hörst, dann überleg doch mal, warum er…“ Ran riss sich los, starrte ihre Freundin mit einer Mischung aus Trotz und Verzweiflung an. „Sonoko, stell dir vor, dasselbe wäre mit Makoto! Stell dir vor, er wär in so einer Situation… wenn du wüsstest, er ist in Gefahr… wenn du wüsstest, er tut das alles für dich… würdest du ihn fallen lassen?“ Sonoko schüttelte vehement den Kopf. „Und warum verlangst du dann, dass ich Shinichi fallen lasse?“ Sonoko seufzte geschlagen. „Du hast ja Recht…“ Sie stöhnte, griff sich theatralisch an die Stirn. „Was hat sich dieser Freak nur eingebrockt?!“ Ran lächelte müde. „Wenn ich das wüsste, wäre ich erheblich schlauer. Ich hoffe, er ruft heute an…“ Sonoko blickte sie nachdenklich an. „Du glaubst nicht dran, was?“ Ran schluckte, ihre Lippen verzogen sich zu einem missglückten Lächeln, ihre Augen waren dunkel vor Sorge. „Nein…“ Die Tür quietschte leise, als sie aufging. Shinichi hob den Kopf, müde, fuhr hoch, als er erkannte, wer ihn besuchte. Es waren Gin und Vodka. Kurz schoss ihm der Gedanke an Flucht durch den Kopf, verschwand allerdings sofort wieder, als er sah, wie die beiden ihre Waffen zogen. Er bezweifelte zwar, dass man ihn erschießen würde… aber eine Kugel im Bein tat auch verdammt weh. Und vereitelte nachfolgende Fluchtpläne von vorneherein. „Ich sehe, du bist vernünftig.“ Gin lächelte spöttisch. „Mal sehen, wie sich das entwickelt.“ Er winkte ihn mit seiner Pistole nach vorne. Shinichi folgte widerwillig. Als er die beiden Männer erreicht hatte, merkte er, wie sich eine Hand fest um seinen Oberarm schloss. Genervt schaute er auf, sah in Gins kalte Augen. „Glaubst du, das ist nötig?“ Eine Antwort erhielt er darauf nicht; stattdessen stöhnte er schmerzerfüllt auf, als sich die Mündung einer Pistole zwischen seine Rippen zu bohren schien. Dümmliches Gelächter bestätigte seine Annahme, dass es Vodka war, der jetzt hinter ihm stand. „Sagt mal, ernsthaft…“, begann er, brach dann allerdings ab. Es hatte ja sowieso keinen Sinn, zu diskutieren. Shinichi stöhnte unterdrückt auf, als ihn der Lauf der Pistole nach vorne stieß, blieb ansonsten aber still. Innerlich seufzend ließ er sich abführen, fragte sich, immer und immer wieder, welche Dinge da seiner harrten. Und warum er noch am Leben war. Agasa fuhr hoch, als er die zwei Gestalten auf sich zukommen sah. Er hob die Hand, winkte sie zu sich. Jodie und James kamen näher, schauten sich dabei eingehend um. Ai und der Professor saßen allein vor dem Zelt, die Kinder waren ausgeschwärmt, um Spuren zu suchen und um die rothaarige Frau zu beschatten, oder besser gesagt, zu suchen, denn sie war seit heute Morgen wie vom Erdboden verschluckt. James ließ sich schwerfällig auf die Decke, die vor dem Zelt ausgebreitet war, sinken; Jodie vergewisserte sich, dass sie keine unerwünschten Zuhörer hatten, bevor sie dem Beispiel ihres Vorgesetzten folgte. „Shuichi Akai hielt es für angebrachter, sich nicht vor Einbruch der Dunkelheit blicken zu lassen. Er schaut sich in der Gegend um, um Ausschau nach Zeichen und Aktivitäten zu halten.“ Der Professor nickte. „Haben Sie noch was in Erfahrung bringen können? Über momentane Aktivitäten der Organisation?“ „Nein.“ James Black schüttelte den Kopf. „Nachdem mich Jodie gestern anrief, haben wir unsere Fühler natürlich verstärkt ausgestreckt… but they seem very quiet, at the moment. Indeed… too quiet.“ Jodie schluckte – dann bemerkte sie Ai, schaute sie an; und konnte die Augen nicht mehr von ihr wenden. James räusperte sich beunruhigt. „Und bei Ihnen? Auch immer noch keine Neuigkeiten?“ „Nein.“ Agasa seufzte. „Er ist jetzt schon über einen Tag weg, wie Sie ja wissen… die Polizei kommt jetzt dann ebenfalls. Von ihm… haben wir nichts gehört und nichts gesehen… sein Handy wird man ihm abgenommen haben.“ James nickte zustimmend; dann beugte er sich vor, schaute dem alten Mann eindringlich in die Augen. „Ich weiß es zwar jetzt von Jodie… aber ich frage Sie, oder besser gesagt, euch beide noch einmal…“ Seine Augen schweiften zu dem kleinen rotblonden Mädchen. „Stimmt es? Bist du… bist du Shiho Miyano? Und ist er… ist er wirklich Shinichi Kudô? Hat er wirklich einen Mordanschlag der Schwarzen Organisation überlebt?“ Ai schluckte. „Es stimmt jedes Wort.“ James ließ sich zurücksinken. „Dann gibt es für ihn wohl keine Hoffnung mehr. Er sollte schon längst tot sein, offenbar, und sie werden mittlerweile wissen, dass er ihnen ins Handwerk pfuschen will… welchen Sinn hätte es, ihn am Leben zu lassen…? Sie werden wohl versuchen, herauszufinden, was er weiß. Über die Organisation… und vielleicht spannen sie sogar die Brücke, fragen ihn, was er über uns weiß. I guess, they might be clever enough. I don’t presume…“ Er warf diesmal dem Professor einen fragenden Blick zu. „… Mr Holmes is somebody who’s selling his friends?“ Agasa schaute ihn empört an, als er antwortete, seine Stimme lauter als beabsichtigt. „Ganz sicher nicht! Wie kommen sie überhaupt auf-“ James hob entschuldigend die Hand. „I wouldn’t believe it either. Aber bitte entschuldigen Sie mich… ich musste das fragen.” Er seufzte. „Allerdings sind diese Aussichten auch nicht unbedingt… netter. Dann werden sie wohl… versuchen, ihn zu foltern, um an Informationen zu kommen. Und wenn er die nicht geben will… dann wird er nutzlos sein. Then… the’ll kill him at last.“ Sein Blick verlor sich in der Tasse Tee, die Agasa ihm reichte. Jodie schluckte schwer, starrte in den Himmel. Sie traten durch eine letzte Tür, und endlich verschwand der Druck in seiner Seite; beziehungsweise Vodkas Lauf zwischen seinen Rippen. Unwillig rieb er sich kurz über Stelle, ehe er seine Umgebung in Augenschein nahm. Er befand sich wohl in einem Verhörraum. Weiß gekachelte Unendlichkeit, steril und sauber. Er kam sich präsentiert vor. Vorgeführt. Und vor ihm standen sie. Gin, Vodka, die vor ihn getreten waren, als sie hinter ihm die Tür abgeschlossen hatten, und Vermouth sowie Beaujolais, die rothaarige Frau, die ihm das hier eingebrockt hatte. Im Hintergrund saßen drei ältere Herren, die er nicht kannte. Ein Japaner, ein Europäer, er vermutete, dass es ein Engländer oder Franzose war, und ein Afroamerikaner. „Du bist hier, weil der Boss… und das Triumvirat…“, Gin deutete hinter sich auf die drei Männer, „ein paar Fragen an dich haben. Wenn ich vorstellen darf: Absinth, Cachaça, Rum.“ Shinichi warf einen überraschten Blick auf die drei Herren, die ihn ihrerseits mit kühlem Interesse musterten. Seine Gedanken rasten. Ein Triumvirat? Es gibt also noch eine Instanz, außer dem Boss? Ob Ai das weiß? Aber klar, das ist eigentlich logisch… Diktaturen haben sich in der Regel nie als funktionierendes System erwiesen. Kontrolle innerhalb der herrschenden Strukturen ist nur logisch. Aber… wo ist der Boss, wenn er Fragen hat? Diese rothaarige Hexe ist es auf alle Fälle nicht. „Setzen, und Hände auf den Tisch.“ Gins Stimme klang eisig und duldete keinen Widerspruch. Zögernd trat Shinichi an den Tisch, der in der Mitte des Raums stand, setzte sich und hob seine Arme, legte sie auf die Tischplatte. Er versuchte, Sharon keinen allzu auffälligen Blick zuzuwerfen, erhaschte aber einen kurzen Moment des Augenkontakts. In ihrem Blick stand Sorge. Na prima… Einer der drei Männer stand auf, der Japaner; ein außergewöhnlich großer, grauhaariger Mann in einem tadellos sitzenden, dunkelgrauen Nadelstreifenanzug. Anscheinend gilt für die höheren Mitglieder dieses Vereins kein dresscode...? Shinichi fragte sich insgeheim, warum er sich über so banale Dinge wie die Kleiderordnung der Schwarzen Organisation Gedanken machte, merkte dann, dass das nur dem Zweck diente, ihn von sich selbst, seinem eigenen Schicksal und dem, was ihn hier erwartete, abzulenken. Verdammt, benimm dich deinem Alter entsprechend, hör auf damit… auch wenn du es nicht mehr gewohnt bist. Er musste sich dem stellen, was kam, ob er wollte oder nicht, eine Wahl hatte er nicht und etwas anderes kam auch nicht infrage. Also hörte er auf, absurde Schlussfolgerungen zu ziehen und beobachtete den Mann, Absinth, der auf ihn zukam, genau; keine seiner Bewegungen entging ihm, er war wachsam und angespannt, und dem süffisanten Lächeln seines Gegenübers zu entnehmen, sah man ihm das auch an. Der Mann ließ sich elegant in den Stuhl im gegenüber sinken, griff in seine Jackeninnentasche, zog eine Injektionsnadel heraus. Shinichi sog scharf die Luft ein. „Ganz Recht. Wahrheitsserum.“ Die Stimme des Mannes klang sonor und sonderbar angenehm in seinen Ohren. Shinichis Augen hafteten auf der Spritze, dann sah er auf, bemerkte noch aus dem Augenwinkel, wie Absinth die Kappe von der Nadel zog. Ihm wurde schlagartig schlecht. Dann rief er sich zur Vernunft. Auch das hier würde vorbeigehen… es galt nur, es zu ertragen. Es konnte nicht ewig dauern, nichts dauerte ewig… nur durchhalten. Einfach… durchhalten. Was auch immer. Absinths Augen waren braun, wie die der meisten Japaner, aber in ihnen lag eine Unbarmherzigkeit, die zu diesem warmen Farbton so gar nicht passen mochte. Er legte die Spritze vor sich auf den Tisch, verknotete aufgeräumt seine Finger, fast wie zum Gebet, und begann zu sprechen. „Junger Freund, ich nehme an, du fragst dich sicher, was du hier noch zu suchen hast. Nun… wir denken, du könntest noch ein paar Informationen haben, für uns. Deshalb läge uns sehr an einem Gespräch mit dir. Diesbezüglich… wollen wir es erst einmal… durch höfliches Fragen versuchen. Solltest du dich als verstockt erweisen, sehen wir weiter.“ Shinichi öffnete den Mund, wollte widersprechen, doch der Mann hob die Hand- und Shinichi schwieg. Die Geste hatte etwas Gebieterisches an sich, die ihn gehorsam machte, ob er es nun wollte oder nicht. Sie ließ keinen Widerspruch zu. Der Japaner räusperte sich. „Ich stelle hier die Fragen, nicht du, auch wenn du es andersrum gewohnt bist, Detektiv. Aber genug der Vorrede. Lass uns anfangen.“ Er zog eine Zigarette aus seiner Jackettasche, ohne sie jedoch anzuzünden, rollte sie zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. „Wo und hinter welcher Identität versteckt sich Sherry? Wir sind uns recht sicher, dass du sie kennst, sie hat sich garantiert an dich gewandt, dem fragwürdigen Todesfall…“, ein süffisantes Lächeln huschte über sein Gesicht, „sie wurde bestimmt auch geschrumpft, wie sonst hätte sie entkommen können? Und wie viel weiß das FBI über uns, du kennst sie doch, nicht wahr? Du warst doch dabei… im Krankenhaus, der kleine Junge, der zu viele Fragen gestellt hat? Was haben sie vor? Wen haben sie eingeschleust? Sind Verräter unter uns?“ Shinichi starrte auf die Tischplatte, zwang sich, nicht aufzusehen. Er schüttelte nur den Kopf, biss sich auf die Lippen. Es lag nicht in seiner Absicht, irgendetwas zu sagen. Erst Recht nicht, Ai zu verraten. Oder… Sharon. Oder Hidemi. „Rede!“ Er reagierte gar nicht. „Glaub mir… du tust dir keinen Gefallen, wenn du schweigst.“ Die Stimme des Mannes klang wie berstendes Eis, klirrend und eiskalt. Shinichi schaute nicht auf, verkrampfte seine Finger. Dann atmete er aus, sah auf, lächelte Absinth höflich an. Kurz kreuzten sich ihre Blicke. „Sie können fragen was Sie wollen, ich fürchte, ich kann ihnen leider nicht weiterhelfen. Ich werde keine Antwort geben. Das ist mein letztes Wort zu der Sache, wenn Sie gestatten. Oder nicht, mir soll es egal sein.“ Er legte seine Finger flach auf den Tisch, versuchte, etwas entspannter zu wirken. „Überaus nobel von dir. Du bist wohl in der Tat eine treue Seele, nicht wahr? Treu seinen Freunden, treu seinen Prinzipien. Ein Zug, den man auch in der Organisation sehr schätzt… unbedingte Loyalität für die Sache. Nur das du… leider zu falschen Sache diese Tugend beweist.“ „Wenn Sie meinen.“ Seine Stimme war leise, und eine Gleichgültigkeit schwang in ihr mit, die seine Augen Lügen strafte. In ihnen glänzte die Angst, vor dem, was da kam, aber er ließ sich nicht von ihr beherrschen. Gin starrte ihn an, kam nicht umhin, in gewisser Weise ein wenig Achtung für seinen Feind zu empfinden. Er war ein würdiger Gegner, immerhin. Genauso wie Akai einer gewesen war… Feinde, die man nicht unterschätzte, nichtsdestoweniger trotzdem tötete. Letztendlich waren sie alle unterlegen… aber schwach waren sie nicht. Ein kühles Lächeln schlich sich auf die Lippen, als er die Szene weiter beobachtete. Absinth klopfte mit seinen Fingern auf die Tischplatte, ein monotones Trommeln, das einen wahnsinnig machen konnte. „Ich fürchte, du weißt nicht, auf was du dich einlässt, junger Freund.“ „Kann sein, aber ich weiß, dass ich nicht Ihr Freund bin. Sie vergeuden Ihre Zeit mit all diesen Drohungen und Ihrem Imponiergehabe…“ Shinichis Stimme klang bissig. Langsam hatte er die Schnauze voll, seine Nerven lagen blank. Wenn er schon sterben musste… dann sollte es doch auch endlich mal soweit sein. Und wenn sie ihn vorher noch foltern wollten… fein, aus der Affäre kam er wohl nicht ungeschoren raus. Aber dann sollten sie endlich damit anfangen, damit es auch mal wieder ein Ende hatte. „Da Sie sich wohl alle immer furchtbar gern reden hören, wie es aussieht, ziehe ich vor, für meinen Teil dann eben die Klappe zu halten. Ich ändere meine Meinung nicht. Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Das ist mein letztes Wort.“ Er senkte den Blick. Absinths Mundwinkel verzogen sich zu einer Grimasse, von der man nicht sagen konnte, ob sie missvergnügt oder amüsiert war. „Nun gut. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt…“ „Sag ich n-“ Shinichi fuhr hoch, als er merkte, wie jemand sein Handgelenk umklammerte, schnappte nach Luft. Er sah gerade noch, wie es metallisch aufblitzte, spürte den Pieks an seinem Arm - dann stürzte er in eine Realität, die mit der gerade erlebten nichts mehr gemein hatte. Er öffnete den Mund, aber nicht ein Laut entwich ihm, ehe er sich zusammenkrümmte und in seinen Stuhl sank, um irgendwie zu ertragen, was gerade passierte. Er zuckte zusammen in seinem Sessel, als er auf den Bildschirm starrte, der ihm die Überwachungsvideoaufnahmen aus dem Verhörraum zeigte. Er wollte die Augen schließen, aber es gelang ihm nicht. Eine unsichtbare Macht schien ihn zu zwingen, sich anzusehen, was in dem Raum passierte. Eigentlich war daran gar nichts Schlimmes. Es war… absolut ruhig. Man hörte so gut wie nichts. Alles, was zu sehen war, war die zusammengesunkene Gestalt des jungen Mannes, der die Arme um seinen Leib geschlungen hatte, als hätte er schlimme Bauchschmerzen, und auf der anderen Seite des Tisches den grauhaarigen Japaner, mit vor der Brust verschränkten Armen und einem gespannten Blick auf seinem Gesicht. Obwohl die Kamera auch Ton übertrug, war nichts weiter zu hören als manchmal ein lautes Atemgeräusch oder das Rascheln von Kleidung, wenn sich einer der Anwesenden bewegte. Nach ein paar Minuten entspannte sich die Gestalt wieder; das Leben schien in sie zurückzukehren, mühsam richtete sie sich auf, blickte ihrem Peiniger ins Gesicht. Und der grauhaarige Mann wiederholte seine Fragen. Wo ist Sherry? Was weiß das FBI? Haben wir einen Verräter unter uns? Der junge Mann im Verhörraum schüttelte nur wieder wortlos den Kopf, und dann begann das Spiel von neuem. Absolut ruhig. Er versuchte gar nicht, seinen Arm wegzuziehen. Er hatte ohnehin keine Chance. Und so ging es weiter. Wo ist Sherry? Was weiß das FBI? Haben wir einen Verräter unter uns? Wo ist Sherry? Was weiß das FBI? Haben wir einen Verräter unter uns? Wo ist Sherry? Was weiß das FBI? Haben wir einen Verräter unter uns? Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Gedanken an ein Gespräch mit dem Triumvirat, das dem, bei dem der Tod ihres Gefangenen beschlossen worden war, vorangegangen war. „Warum haben Sie uns verschwiegen, dass er noch lebt?!“ Wut. Blanke Wut auf ihren Gesichtern. Er konnte es ihnen nicht verübeln, dass sie so zornig waren, jetzt, nachdem herausgekommen war, dass er gewusst hatte, das Shinichi Kudô nicht tot war… nicht gestorben war, damals. „SIE wussten es! Sie können uns nicht weißmachen, Sie hätten davon nichts gewusst…“ Er sah den Geifer fast aus ihren Mundwinkeln triefen, diese Mörder, diese Folterknechte, diese… „Er war keine Gefahr. Ich hatte die Situation im Griff, wie Sie sehen.“ Er hatte versucht, Ruhe zu bewahren, wirklich. „Sie können nicht das Gegenteil behaupten. Ich habe die Organisation mit meinen Aktionen nicht gefährdet. Er kam uns nie nahe genug. Einen kleinen Jungen zu ermorden, der derart viel Aufsehen, erregt, der bei der Bevölkerung so beliebt ist, wäre wesentlich offensichtlicher gewesen, als ihn selber wie eine Marionette tanzen zu lassen. Ich hatte alles unter Kontrolle - bis Beaujolais kam.“ Damit hatte er sie einigermaßen überzeugen können. Sie davon abbringen können, etwas zu tun, was er fürchtete… ihn zu bestrafen, indem sie ihm nahmen, was ihm lieb und wichtig war. Und jetzt… jetzt war die Situation eine Ähnliche. Er tauchte aus seinen Gedanken wieder auf, starrte auf den Bildschirm. Der grauhaarige Mann wurde zunehmend wütend. Zornig warf er die Ampulle, die er nun geleert hatte, in einen Papierkorb neben den Tisch, beugte sich nach vorn, zu seinem gefolterten Gefangenen. Shinichi saß vornübergebeugt, öffnete wiederum den Mund zu einem Schrei, aber auch diesmal kam kein Laut kam über seine Lippen. Die Blöße wollte er sich nicht geben, aber… Langsam war es zu viel. Viel zu viel. Alles in ihm war übersensibilisiert, jede Bewegung tat weh. Unerträglich. Er umklammerte mit seinen Händen die Tischkante, stöhnte auf, alles in ihm brannte wie Feuer. Seine Stirn sank auf die Tischplatte, er kniff die Augen zusammen, unterdrückte den Wunsch, einfach nur zu schreien, seiner Agonie Ausdruck zu verleihen, wenn auch das wohl kaum Linderung bringen würde. Und so hing er in seinem Stuhl, halb auf dem Tisch liegend, spürte den Schmerz durch seinen Körper rasen, mit jeder Vene, jeder Arterie, in die das Gift kroch, ein Stückchen mehr. Er konnte kaum atmen, weil er reflexartig die Luft anhielt, um sie sich selbst zum Schreien zu nehmen; dann hielt er sich den Mund zu, als er nicht mehr konnte, schmerzerfüllt aufstöhnte. Sharon stand da, starrte ihn an, merkte, wie Gin neben ihm interessiert zusah. An der Tatsache, dass dieses selbstgefällige Lächeln, das er immer an den Tag legte, verschwunden war, erkannte sie, dass auch er die Selbstbeherrschung ihres Gefangenen bewunderte, etwas, das bei Gin höchst selten vorkam. Irgendwann hörte die Wirkung auf. Sie wusste, die Schmerzen waren kurz, aber heftig. Man gab das Serum, damit die Folter mehr Erfolg hatte; derartige körperliche Schmerzen konnte keine andere Methode auslösen. Für gewöhnlich reichte eine Injektion, und dann gestanden die Gefolterten unter Tränen. Deshalb der eher… ironische Name. Wahrheitsserum. Jeder der ihm einmal ausgesetzt war, sprach hinterher nur allzu gern die Wahrheit… sang wie ein Vögelchen, nur um nie wieder diese Schmerzen ertragen zu müssen. Er war nicht der erste, bei dem sie diese Folter sah. Aber er war der erste, bei dem sie nutzlos war. Bei ihm war es jetzt die vierte Injektion und man sah ihm an, dass er mit den Kräften doch langsam am Ende war. Er würde nicht reden, er würde durchhalten, bis er elendig zugrunde ging an diesem Gift, bis sein Körper diesen Schmerz nicht mehr ertrug, sein Herz seinen Dienst aufgab, weil es den Anforderungen nicht mehr gewachsen war, seine Sinne schwanden, weil seine Lungen mit der Sauerstoffversorgung nicht hinterherkam… das war nun allen in diesem Raum klar geworden. Er lag auf dem Tisch, entspannte sich langsam, sein Brustkorb hob und senkte sich heftig, als er sich das Atmen wieder erlaubte. Langsam schob er sich zurück auf den Stuhl, in seinen Augen ein Ausdruck von Trotz, der ihr imponierte. Sie wusste, er würde auch diesmal nicht antworten. Allerdings würde auch keine weitere Frage mehr kommen. Und die Ampulle war jetzt leer. Er hatte es geschafft. Er hatte nicht gesungen. Nicht einen Ton. Und jetzt würde er sterben. Er war nutzlos, ein Störfaktor, eine Gefahr. Er musste beseitigt werden, und man würde dafür keine Sekunde mehr zögern. Der Gedanke brachte sie an die Grenzen ihres Verstandes. „Nun gut.“ Das Triumviratsmitglied verzog sein Gesicht missvergnügt. „Ich nehme an, dir mit dem Tod zu drohen wird dich auch nicht gesprächiger machen. Dann müssen wir unsere Antworten selber suchen, ich denke, das wird nur unwesentlich länger dauern. Also… bringen wir‘s hinter uns. Gin, wenn du so liebenswürdig wärst…“ Shinichi warf Sharon einen geschlagenen Blick zu, ließ sich hochziehen und gegen die Wand drücken. In ihren Augen war ein gewisser Hauch von Verzweiflung zu sehen. Sie beide wussten, sie war machtlos, in dieser Situation. Sie wussten beide, was jetzt kam. Du warst zu langsam, Sharon. Ran stand am Pool, als das Gefühl sie überkam. Sie war die ganze Zeit, seit… einer Stunde ungefähr schon so schrecklich unruhig, konnte nicht sitzen, nicht stehen, sich auf nichts konzentrieren… und nun war es gänzlich um sie geschehen. Sie fühlte einen Druck in ihrer Brust, ein Gefühl, das ihr die Luft zum Atmen nahm, ihr Herz fast am Schlagen zu hindern schien. Sonoko trat neben sie, als sie von ihrer Sonnenliege aus bemerkt hatte, dass mit Ran etwas nicht stimmte. „Ran… Süße, was ist…?“ Ran griff sich an die Brust, setzte sich. Ihre Beine hatten einfach nachgegeben, und irgendetwas schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte nicht sprechen. Sie wollte auch nicht. Ihre Gedanken waren woanders, nicht mehr am Pool eines Hotels in Izu, sondern weit, weit weg… Ein Gefühl unbändiger Verzweiflung übermannte sie. Und Angst. Unglaubliche, unfassbare, nie gekannte Angst. Es ging um sein Leben, soviel war ihr klar. Er war in Lebensgefahr. In diesem Moment. Und sie konnte nichts tun. Nicht helfen. Nur hier sitzen und warten. Die Angst fraß sie innerlich auf. Shinichi! „Ran?“ Sonokos Stimme klang fast panisch. Ran… Er stand an die Wand gedrückt, die Arme auf den Rücken gebogen, unfähig, sich zu bewegen. Es widerstrebte ihm, so machtlos zu sein, er konnte nicht glauben, dass es das nun gewesen war… er einfach keine Chance hatte, doch noch etwas zu ändern… Aber es war so. Er hatte verloren. Er spürte die Mündung der Waffe an seiner Schläfe, fühlte die Kälte der weißen Fliesen an seiner Wange, stöhnte leise auf, als man ihm die Arme noch mehr verdrehte. Er würde sie nie wieder sehen. Jetzt war es aus, jetzt würde er sterben, ohne ihr gesagt zu haben, wie viel sie ihm bedeutete… im Gegenteil, er hatte ja sogar noch versucht, ihr das Gegenteil glauben zu machen… Ran… bitte verzeih mir… Ich hoffe wirklich, du erfährst nie, wie es hierzu kam… Shinichi schauderte bei dem Gedanken, wie Ran reagieren könnte, würde man ihr sagen, dass sie ihn… streng genommen verraten hatte. Hoffentlich erfuhr sie das nie. Dann atmete er aus, hob den Blick, schaute geradewegs in das Auge einer Kamera, die in der Ecke hing und deren blinkendes rotes Licht ihre Betriebsamkeit signalisierte. „Sag Lebewohl, Kudô.“, flüsterte Gin. Sein heißer, nach kaltem Rauch stinkender Atem verursachte ihm eine Gänsehaut. Er hörte das sanfte Klacken, als die Waffe entsichert wurde und hielt unwillkürlich die Luft an. „Ich muss sagen, du warst ein würdiger Gegner, sehr intelligent, sehr willensstark… aber nun musst du einsehen, wir waren stärker. Du hast dich mit uns übernommen, Detektiv.“ Shinichi schluckte, versuchte, sich nicht ansehen zu lassen, was er fühlte. Es war schrecklich, dieses Gefühl, diese Angst, er wollte nicht sterben, nein… Er wollte sich aus dem Griff winden, aber Gin und Wodka waren ihm kräftemäßig überlegen, ganz davon abgesehen, dass er von der Wirkung des Serums geschwächt war, und er ohnehin diesen Raum nicht lebend verlassen hätte… er wäre tot, bevor er an der Tür angekommen wäre, mal ganz davon abgesehen, dass die immer noch verschlossen war. Eine ganz und gar aussichtslose Situation. Cachaça und Rum erhoben sich, starrten ihn an. Shinichi schluckte, fragte sich, was an ihm so interessant war, dass man ihn derart anglotzen musste, mal abgesehen davon, dass ihm gleich eine Kugel… Nein, den Gedanken wollte er jetzt nicht zu Ende denken. Absinth trat vor ihn, schaute ihm in die blauen Augen, griff sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. „Was bist du ihm ähnlich.“, flüsterte er leise lachend. „Wirklich wahr. Ganz außerordentlich ähnlich. Ich denke, wahrlich… es ist eine Gnade für dich, dass du unwissend sterben darfst.“ Shinichi atmete stockend aus. Wem war er ähnlich? Und welches Unwissen war denn gnadenvoll? Der Mann ließ ihn los, trat zurück, das Lächeln auf seinen Lippen wurde immer breiter. Die Blicke der anderen beiden waren fast schon sensationslüstern. Im Raum herrschte Stille, man hätte eine Stecknadel fallen gehört; alle warteten auf das Kommando, blickten auf Absinth, der sich eine dramatische Kunstpause genommen zu haben schien, in der er einfach nur triumphierend seinen Delinquenten anschaute, seine beiden Gefährten links und rechts hinter ihm, einen ähnlichen Ausdruck auf dem Gesicht. Shinichi schluckte, starrte gerade aus, versuchte, Sharon nicht anzusehen, sie sollte nicht sehen, wenn… „Töte ihn.“ Shinichi schloss die Augen. Dann zerriss der Klingelton eines Handys die Stille. Es war das Handy von Absinth. Er hob die Hand, sichtbar genervt, und Gin lockerte seinen Griff unmerklich. Shinichi öffnete die Augen wieder, atmete stockend aus. Nie hatten seine Nerven blanker gelegen als gerade jetzt. „Was wollen Sie, Cognac…?“ Er lauschte in sein Handy, sein Gesicht verzerrte sich von Sekunde zu Sekunde mehr vor Wut. „Sie wissen genau…“ Anscheinend wurde er unterbrochen, denn er fuhr nicht fort. „Nur weil Sie… das können Sie nicht machen! Er muss sterben, er ist eine Gefahr für uns, Sie kriegen ihn nie umgekrempelt!“ Spätestens jetzt starrten alle auf den aufgebrachten Japaner, der sämtliche Fassung verloren hatte. „Glauben Sie nicht, wir wissen nicht, warum Sie das tun!? Ich hoffe, Ihnen ist klar, was… auch für Sie auf dem Spiel steht.“ Seine Lippen umspielte ein grausames Lächeln. Er seufzte ins Telefon, starrte in den Monitor vor ihm auf den Tisch. Sah sein Gesicht, gepresst an die Wand des Verhörraums, sein Gesichtsausdruck ein Beispiel an stoischer Gelassenheit, in seinen Augen Schmerz und Angst. Es war genug jetzt. Er hatte genug gesehen. Er musste handeln. Das… das konnte er nicht zulassen. „Das weiß ich, ja. Glauben Sie mir, ich vergesse das nicht… aber Ihr wisst… genauso gut wie ich, was er für Potential hat! Ihr konntet euch nun ja hinreichend überzeugen… von seiner Stärke. Wenn wir ihn für uns…“ Er verdrehte entnervt die Augen, als er das Ratsmitglied wieder lospulvern hörte. Dann räusperte er sich, in sein Gesicht trat ein Ausdruck von Entschlossenheit. „Erstens bin ich immer noch der Boss hier. Und nein, das stimmt nicht. Wir haben sehr wohl ein Argument, das ihn uns gefügig macht. Sie sagten, wenn ich Ihnen eins präsentiere, dann bekomme ich ihn. Bitte, ich habe eins. Wir kennen…“ Er biss sich auf die Lippen. Er hatte sie raushalten wollen. Hatte extra nichts von dem Telefongespräch gesagt… das Beaujolais ihm und Vermouth berichtet hatte. Er hatte sie raushalten wollen. Das ging jetzt nicht mehr. Im Grunde genommen hatte sie ihn reingeritten… jetzt musste sie ihm helfen. Verzeih mir… „Wir kennen seine Achillesferse. Wir wissen… für wen er alles tun würde. Für wen er sein Leben riskieren würde. Ich weiß es sicher… er liebt… ein Mädchen. Drohen wir ihm damit, ihr etwas anzutun, wird er Wachs sein in unseren Händen. Nichts ist ihm wichtiger als sie, er würde alles für sie tun… sie ist sein Schwachpunkt. Glauben Sie mir. Keiner… keiner kennt ihn besser als ich. Ich hatte viel Zeit, ihn zu studieren, wie Ihnen bekannt sein dürfte. Versuchen Sie es. Sie müssen nicht mal ihren Namen nennen, aber er wird gehorchen. Das muss er auch. Sagen Sie ihm, ihre Identität ist mir bekannt - ich denke, er wird das nicht bezweifeln. Sie werden es gleich sehen.“ Der grauhaarige Mann lächelte auf einmal. Ein maliziöses, furchteinflößendes Lächeln. In Shinichis Kopf erschien das Bild einer zähnefletschenden Bestie. Was auch immer jetzt besprochen worden war, es war nichts Gutes für ihn, und er fragte sich, ob ein schnelles Ende jetzt und hier nicht eventuell doch die bessere Alternative gewesen wäre. Mein Gott, warum erschießt ihr mich nicht? Nicht mehr viel, ihr habt es gleich geschafft… nur noch den Finger krümmen, das kann doch nicht so schwer sein… „Schön. Versuchen wir es. Aber wenn das Experiment scheitert… dann muss er sterben. Ich denke, wir verstehen uns.“ Damit legte er auf. „Gin.“ Der blonde Hühne starrte ihn an. „Lass ihn los. Er soll sich setzen.“ Wortlos gehorchte der hochgewachsene Mann, stieß ihn zu seinem Stuhl. Shinichi sank auf die Sitzfläche, seine Nerven zum Zerreißen gespannt. „Das gerade war der Boss.“ „Wär ich ihm Leben nicht drauf gekommen…“ Absinth lächelte höflich. Rum und Cachaça traten näher, stellten sich neben ihn. „Du bist immer noch ganz schön vorlaut, mein Lieber. Und du scheinst deinen Humor noch nicht verloren zu haben. Sehen wir mal, ob wir dem nicht abhelfen können…“ Shinichi atmete aus, verdrehte die Augen. Die Schmerzen hatten immer noch nicht ganz nachgelassen, vernebelten sein Denken. „Nun, der Boss… hat eine sehr interessante Idee. Er will dir einen Vorschlag machen. Im Prinzip wohl…“ Er grinste noch breiter, zeigte einmal mehr seine makellos weißen Zähne. „Im Prinzip ist es ein Angebot, dass du nicht ablehnen kannst.“ Das fängt ja gut an… der Pate lässt grüßen. Ein leicht ironisches Lächeln schlich sich auf seine Lippen, das ihm buchstäblich aus dem Gesicht fiel, als er Absinths nächste Worte vernahm. „Er möchte gerne, dass du bei unserem Verein Mitglied wirst.“ Shinichis Kinnlade fiel nach unten, ein leises Ächzen verließ seine Lippen. „Das kann er nicht im Ernst meinen!“ „Oh doch.“ Der Japaner lächelte. Seine beiden Amtsgenossen hatten sich interessiert nach vorne gebeugt. Sharons Augenbrauen wanderten nach oben. „Doch, das ist sein voller Ernst. Er will, dass du ordentliches Mitglied wirst. Er schätzt deine Fähigkeiten, deine Brillanz, deine Stärke, und hält sie für verschwendet, wenn man sie einfach so mit einer kleinen Kugel zwischen den Ohren zunichtemacht. Er will, dass du einsteigst. Es ist keine Bitte. Es ist ein Befehl. Und du hast keine Wahl.“ Shinichi schüttelte den Kopf. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Er war hellwach – und angespannt bis aufs Äußerste. Er schaute das Gesicht auf dem Bildschirm vor sich an. Beobachtete ihn genau. Sah das Entsetzen – und gleichermaßen den Willen, sich nicht kaufen zu lassen. Nicht klein beizugeben. Und wusste doch, dass er genau das tun würde. Er würde zustimmen, würde sich beugen. Würde sich fügen und mit sich machen lassen, was sie wollten. Und zwar innerhalb der nächsten fünf Minuten. Er würde ihn brechen. „Doch, natürlich hab ich die. Ich kann nein sagen. Und ich werde auch…“ „Halt… bevor du etwas tust, was du bereuen könntest.“ Der Mann hob die Hand, brachte ihn zum Schweigen damit, baute sich vor ihm auf, lächelte ihn überheblich an. „Ich meine, hör dir den ganzen Deal an und versuch das einmal rational zu sehen, Detektiv. Du bist doch ein schlauer Junge. Du wirst hier einsteigen. Oder…“ „Oder?“ „Oder deine Freundin wird sterben. Dem Boss ist ihre Identität bekannt.“ Der Mann machte eine Pause, kostete den Moment sichtlich aus. Jedes Wort war wie ein Schlag ins Gesicht. Ran! Nein, nicht… nicht… Ran… „Ja… sicher…“ „Mein Lieber… mach nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen.“ Absinth lächelte immer noch. Shinichi schluckte, kurz, ganz kurz nur flackerte sein Blick zu Sharon; und wusste es. Sie hatte die Wahrheit gesprochen, als sie ihn mit Kir besucht hatte. Man hatte herausgefunden, mit wem er telefoniert hatte. Und Beaujolais hatte auch gehört, welchen Inhalt dieses Gespräch gehabt hatte. Sie wussten Bescheid über Ran. Alles andere wäre ihm egal gewesen, er ertrug jede Folter, akzeptierte, wenn er sterben musste… sein Leben war ihm im Vergleich zu ihrem nichts wert… Und nun stellte man ihn vor die Wahl… Entweder trat er ein und wurde ein Mörder… Bei dem Gedanken daran drehte sich ihm fast der Magen um. …oder er unterzeichnete ihr Todesurteil. Das durfte er nicht. Dazu hatte er kein Recht. Er wollte sie doch beschützen, wollte, dass sie lebte, dass sie glücklich war… Nicht Ran… Er verwirkte seine Seele, wenn er hier unterschrieb… das war ein Pakt mit dem Teufel, bei dem er nur verlieren konnte… Aber wenn er sich weigerte… hatte er ihren Tod auf dem Gewissen! Dann war er nicht weniger ein Mörder… Der Mann vor ihm räusperte sich, riss Shinichi aus seiner Lethargie. „Du auch, ganz davon abgesehen. Du wirst natürlich dann auch sterben. Der Boss hat unmissverständliche Anweisung gegeben.“ Shinichi starrte ihn an, aus seinem Gesicht war sämtliche Farbe gewichten. Er atmete hörbar aus, keuchte. Sein Mund war leicht geöffnet, seine Augen starr. Langsam hob er den Blick, schaute dem Mann ins Gesicht. „Warum…?“ „Warum er das tut, willst du wissen?“ Die Miene des Triumviratsmitglieds wurde ernst. „Das tut nichts zur Sache. Wahrscheinlich erfährst du es früher, als dir lieb ist.“ Shinichi schluckte. Egal, wer der Boss war… dieser Mann kannte ihn offenbar. Besser… besser, als er je geahnt hatte. Besser, als ihm lieb sein konnte. „Aber…“ „Was aber? Denkst du, er meint das nicht ernst?“ Nun war Rum es, das amerikanische Mitglied des Triumvirats, des Rats der Drei, der sich eingeschaltet hatte, schaute ihm kalt lächelnd in die Augen. Seine Stimme war unglaublich tief und klang sehr sonor, passte zu seinem Aussehen, seinen breiten Schultern, der dunklen Haut, den dichten, schwarzen Haaren. „Er kennt dein Potential, er kennt deine Schwäche, und er ist bereit, beides auszunutzen, egal ob zu deinem Vor- oder Nachteil, genauso wie wir. Also, wenn dir was daran liegt, dass deine Freundin noch etwas älter wird als zarte achtzehn Lenze, dann solltest du eigentlich nicht lange nachdenken müssen. Es sei denn, du willst sie mit dir in den Tod reißen.“ Shinichi sah aus, als hätte man ihm mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. Er war bleich geworden, kreidebleich, seine Augen weit aufgerissen, sein Mund leicht geöffnet. „Nein!“ Er schluckte, merkte, dass sein Hals wie ausgetrocknet war. „Nun denn… dann hast du dich nun entschieden, Kudô? Beziehungsweise- hast du nun erkannt, dass du keine Wahl hast…?“ In Shinichis Gesicht stand Verzweiflung. Ihm war nicht angenehm, bei dem Gedanken, dass sie alle ihn jetzt so schwach sahen, aber er fühlte sich so hilflos in diesem Moment. „Warum bringt er mich nicht einfach um? Wenn er mich doch ach so genau kennt, dann wird er doch wissen, dass ich keinen Menschen töten kann! Ich bin nicht zum Killer gemacht…“ Er starrte auf den Boden, seine Stimme war immer leiser geworden. „Bringt mich doch einfach um und lasst Ran aus dem Spiel…“ Seine Worte verloren sich. „Er will deinen Tod aber nicht. Nur wenn es nicht anders geht, mon chèr.“ Cachaça schaute ihn nicht an, als er sprach. Er verschränkte seine Arme vor der Brust, schaute nachdenklich auf die Tischplatte. Gin räusperte sich, starrte ihren Gefangenen nachdenklich an. Er will vermeiden, ihm oder ihr etwas anzutun, und er will um jeden Preis, dass er hier einsteigt. Warum? Kudôs Einwand ist da… so ungern ich ihm Recht gebe… nicht von der Hand zu weisen. Er ist kein Mörder. Er hat uns all die Jahre zum Narren gehalten, unsere Pläne gestört, wenn er konnte, er ist Detektiv... Warum will er ihn als Mitglied, wo er wohl keinen anderen mehr finden wird, der sich ihm mit mehr Entschlossenheit entgegenstellt, nach Akais Tod… Er schwieg, denn er wusste, seine Meinung war nicht gefragt… allerdings konnte ihm das auch prinzipiell egal sein. Er würde beobachten, und handeln, wenn es ihm für angebracht schien. Cachaça fuhr sich durch seine blonden Locken, räusperte sich vernehmlich, dann wandte er sich Shinichi zu. „Ich warne dich. Nur weil der Boss etwas nicht will, heißt das nicht, dass er es nicht tut, wenn es nötig ist. Er tut, was er tun muss, stets. Toujours, mon fils.“ Jedes seiner Worte traf ins Schwarze. Er tut, was er tun muss, stets. Shinichi fing unwillkürlich an zu zittern. Er wollte sich dieses Zeichen von Schwäche nicht anmerken lassen, biss die Zähne zusammen, krallte seine Finger um die Sitzfläche des Stuhls, auf dem er saß. Absinth räusperte sich ungeduldig. „Also entweder sagst du jetzt ja, und ich richte im aus, dass er sich einen neuen Namen für dich ausdenken muss, oder ich sage ihm, dass dein Mädchen so gut wie tot ist, weil ich höchstpersönlich dafür sorge, dass sie vor dir das Zeitliche segnet. Also…?“ Seine Stimme klang ungeduldig; er begann, mit seinen Fingern auf seinen Arm zu klopfen. Shinichi schluckte, kalter Schweiß brach ihm aus allen Poren. „Aber ich bin kein Mörder!“ „Doch, das bist du. Egal, was du tust… denn wenn du bei einem Nein bleibst, dann bist du ihrer… ihr todbringender Engel. Ich denke, zu der Erkenntnis bist du aber selber auch schon gelangt.“ Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. Shinichi beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn, vergrub seine Finger in seinen Haaren, sagte nichts, presste die Lippen aufeinander. „Du weißt jetzt, was passiert, wenn deine Antwort zu seinem Missfallen ausfällt, Detektiv…“ Shinichi starrte auf die Tischplatte, weißer Kunststoff, makellos. „Eigentlich solltest du nicht mehr überlegen müssen. Das Töten kann man lernen, weißt du… aber jemanden von den Toten auferwecken war noch nie erfolgreich…“ Beaujolais schaute ihn süßlich lächelnd an, streckte die Hand aus, strich mit einem Finger an seiner Schläfe seine Wange entlang. Als er seinen Kopf unwillig abwandte, griff sie nach seinem Kinn, ließ ihn allerdings wieder los, als sie Absinths warnenden Blick bemerkte. Der knallte seine Hand auf die Tischplatte, zog damit die Aufmerksamkeit seines Gesprächspartners wieder auf sich. „Wirst du nun ein Mitglied- oder willst du dein Leben und das deiner Freundin auf ewig verwirken?“ Er stöhnte auf. „Ich…“ „Ja...?“ „Ja…“ Er klang unendlich müde. In ihm ging in diesem Moment etwas kaputt. Er wusste, er wollte nicht. Und er hoffte, er konnte ihnen etwas vorspielen. Aber ihm war klar, dass man ihn nicht allein lassen würde - und ihm graute vor den Dingen, zu denen sie ihn eventuell zwingen würden. Er wusste nicht, ob er ihnen diesmal entkam. Aber er musste es tun. Für Ran. Auch wenn er damit sein Leben und seine Seele irreparabel zerstören könnte. Auf den Lippen Absinths breitete sich ein Lächeln aus, als er in die Kamera blickte. Langsam lehnte er sich in seinen Sessel zurück, starrte auf den Monitor, atmete stockend aus - sah zu, wie sie ihn wieder abführten. Er würde nun nicht mehr in seine Zelle gebracht werden, sondern in ein Zimmer. Einsperren würde man ihn nichtsdestotrotz, ihm war noch nicht zu trauen. Er sah sie an, die Gestalt dieses jungen Mannes… ein Bild eines gebrochenen Menschen. Die Hoffnungslosigkeit in Person. Es tut mir Leid. Kapitel 7: Ahnungen und Wahrheiten ---------------------------------- Hallo, meine lieben Leserinnen und Leser! Freut mich, dass das letzte Kapitel so regen... Zuspruch gefunden hat, wobei ich doch noch erwähnt haben möchte, dass ich eigentlich ein Pazifist und Gegner von Gewalt bin, und generell meine Charaktere auch nicht gern quäle; sonst sähen meine Fics doch ein wenig anders aus :P Aber ich dachte einfach... ganz ohne kommt Shinichi aus der Sache nicht raus. In diesem Sinne... dieses Mal hat er ein wenig mehr Ruhe ;D Ich danke euch nochmal sehr für die Kommentare! Viel Spaß beim Lesen! Viele Grüße, Eure Leira :D ____________________________________________________________________ Kapitel 7: Ahnungen und Wahrheiten Ran seufzte, wusste nicht, was sie tun sollte. Sie starrte auf ihr Handy, wartete darauf, dass es zu klingeln begann, aber es schwieg beharrlich. Er war jetzt schon seit einem Tag überfällig. Er hätte schon längst anrufen sollen, und zwar gestern. Es waren viel zu viele Zeichen, dass etwas schief lief. Der Alptraum. Und die Sache am Pool... das ungute Gefühl, dass sie am Nachmittag beschlichen hatte, war zwar etwas gewichen; aber wohl fühlte sie sich immer noch nicht. Sie hatte Angst. Sie hatte fast panische Angst um Shinichi. Ihr Herz schien immer noch zu rasen, ihre Hände waren immer noch eiskalt, zitterten leicht. Irgendetwas war passiert. Etwas, dass ihn daran hinderte, sie anzurufen. Nein, ihr war ganz und gar nicht wohl. Zwar war sie sich zwar ziemlich sicher, dass er noch lebte… dass das, was es auch immer heute Nachmittag gewesen war, das sein Leben bedroht hatte, ihn noch einmal verschont hatte. Aber sie hatte Angst. Ganz entsetzliche Angst, und noch schlimmer war das Gefühl dieser unglaublichen Hilflosigkeit, das sie verspürte. Er war so weit weg von ihr… noch schlimmer, sie wusste nicht einmal, wo er war. Dann fuhr sie hoch, als sich die Zimmertür öffnete. Sonoko steckte ihren Kopf herein. „Ran? Kann ich reinkommen?“ Die Angesprochene drehte sich leicht, wandte sich ihrer Freundin zu, nickte. „Aber Sonoko… solltest du nicht bei Makoto sein? Ich verderb euch den Urlaub…“, murmelte sie bedrückt, schaute auf ihre Finger, verknotete sie, immer und immer wieder. Sonoko schloss sachte die Tür, kam näher. „Ach was. Der macht einen Tauchkurs mit, das ist total sein Ding. Hat er immer noch nicht angerufen?“ Sie setzte sich neben ihre Freundin, schwieg lange. „Nein.“ Rans Stimme klang bedrückt. Sonoko streichelte ihr über den Rücken, immer und immer wieder, versuchte, ihre beste Freundin zu beruhigen. „Was hat er angestellt…?“, flüsterte sie dann leise. „Ich weiß es nicht.“ „Hat er dir nie… auch nur ein kleines Detail…?“ Ran schüttelte den Kopf. „Nein. Gar nichts. Ich weiß nicht, wo er ist, was das für ein Fall ist, wen er verfolgt, wer ihn bedroht, ich weiß nichts. Rein gar nichts!“ Die letzten drei Worte hatte sie fast geschrien, schaute nun an die Decke, versuchte sich wieder zu beruhigen, schnappte nach Luft. Sonoko atmete leise aus. „Dann scheint es wirklich ernst zu sein.“ Sie schaute ihre Freundin bedrückt an, die ihrerseits jetzt auf den Boden des Hotelzimmers starrte, sich immer wieder die Haare aus der Stirn strich. Nachdem Sonoko vorhin am Pool nicht locker gelassen hatte, hatte Ran ihr von ihrem Gefühl erzählt. Und was sie… ihm für eine Bedeutung zuschrieb. Sonoko hatte sie sehr ernst genommen und nicht gelacht, und das rechnete Ran ihr sehr hoch an. Sie war dann anschließend auf ihr Zimmer gegangen, um ein wenig zu schlafen; oder es zumindest zu versuchen. Schlaf hatte sie keinen gefunden. Auch keine Ruhe. Ihre Gedanken waren weiterhin rastlos nur um eine Person gekreist. Eine Träne verließ ihren Augenwinkel. „Hast du’s schon mal bei ihm probiert?“ „Ja. Es geht keiner ran, das Handy ist aus. Er hat es sonst nie aus! Lautlos, er geht nicht immer ran, ja, aber er hat es nicht aus!“ Sie wandte den Kopf, schaute Sonoko an. Verzweiflung stand nur allzu deutlich in ihrem Gesicht geschrieben. „Es ist fast immer so, dass er nicht rangeht… das ist bei ihm eigentlich die Regel. Aber aus hat er es wirklich nie. Irgendetwas ist nicht in Ordnung…“ „Hast du den Professor angerufen?“ Ran wunderte sich kurz, dass Sonoko an den Professor dachte; dann nickte sie aber. „Ja.“ „Und?“ „Tja. Das gleiche wie immer. Shinichi steckt in einem Fall, braucht seine Ruhe, meldet sich bestimmt bald.“ Sie seufzte frustriert und legte die Stirn in Falten. Irgendwie war ihr bei dem Gespräch vorhin der Eindruck entstanden, dass der alte Mann sie anlog. Aber warum? Sonoko seufzte, strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht hinters Ohr. „Dir bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, Ran. Das wird schon wieder, da bin ich mir sicher. Und wenn du ihn dann mal wieder an der Strippe hast, dann gibst du mir das Telefon. Damit ich ihm mal gehörig den Kopf waschen kann, was ihm einfällt, verdammt noch mal…!“ In die Züge der Blondine trat ein kämpferischer Ausdruck. „Dann kann er was erleben!!!!“ Sie schlug ihre Faust in ihre Handfläche, um ihrem Willen Nachdruck zu verleihen. „Echt mal!“ Ran lächelte leicht. „Du bist eine wirklich gute Freundin, weißt du das?“, seufzte sie leise. „Natürlich.“ Sonoko ließ sich aufs Bett sinken, lächelte selbstbewusst. „Aber nur für Leute, die’s verdient haben, meine Liebe.“ Sie seufzte, dann zog sie eine Tafel Schokolade aus ihrer Umhängetasche. „Na komm. Ich denke, die können wir gebrauchen.“ Ran atmete aus. Ihr war zwar nicht nach Schokolade… aber sie wollte Sonoko nicht enttäuschen. Und gegen ein wenig Ablenkung war wohl nichts einzuwenden. Langsam ließ sie sich ebenfalls aufs Bett sinken, schob sich das erste Stück Vollmilchschokolade mit Erdbeercremefüllung in den Mund. Sag, Shinichi… wo bist du nur…? Was machst du nur… Als die Tür an die Wand krachte, um gleich darauf mindestens genauso lautstark wieder zugeschmettert zu werden, stand er vor seinem Panoramafenster, rauchte eine Zigarette und bewegte sich nicht. Er wusste genau, wer gerade in sein Büro geplatzt war. Und warum. „Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen?!?! You goddammned idiot, you…“ Sie spuckte wahrhaft Gift und Galle, und er konnte es ihr nicht einmal verübeln. „Du kommst spät, Vermouth.“ Er bemühte sich, gelassen zu bleiben. Langsam atmete er aus, blies den blaugrauen Rauch gegen die Glasscheibe, von wo er kreisförmig auseinanderwirbelte. Dann erst drehte er sich um, schaute seine Mitarbeiterin schwermütig an. „Ich dachte, du kämst schon viel früher um mir den Kopf zu waschen, bedenkt man, was passiert ist. Wo warst du? Hast du überlegt, wie du mit ihm türmen kannst? Wie du ihn retten kannst?“ Er lachte bitter. „Es gibt keine Rettung mehr für ihn, genauso wenig wie für dich oder mich.“ Langsam ging er zu seinem Sessel, ließ sich formvollendet hinein sinken, schlug ein Bein über das andere und stieß eine weitere blaue Rauchwolke in die Luft. „Das solltest du mittlerweile wissen, Sharon.“ Er bedeutete ihr, sich ihm gegenüber zu setzen, und sie folgte seiner Bitte, wenn auch widerwillig. Missvergnügt biss sie sich auf die Unterlippe, starrte ihn an. „Was… zum Henker… hast du dir dabei gedacht…?“, wiederholte sie ihre Frage langsam. „Ich wollte ihn retten. Ist das nicht offensichtlich?“ „Indem du ihm das Leben bescherst, das er nie haben wollte? Glaubst du, er ist für die Organisation gemacht? Zum Töten und Morden…?! Zum Erpressen und Entführen? Und warum, um Himmels Willen, musstest du Angel da mit reinziehen?!“ Sie schrie jetzt, ihr sonst so schönes Gesicht war vor Wut und Angst verzerrt. „Weil man ihn mit etwas oder jemand anderem nicht so unter Druck setzen hätte können. Außerdem… ist sie mit ihrem Telefonat gewissermaßen Schuld, dass es soweit kam. Hätte sie ihn nicht unter Druck gesetzt, dieses Gespräch nicht geführt, hätte Beaujolais nie herausgefunden…“ Er versuchte ruhig zu sein „Du elender Mistkerl! Das ist Haarspalterei, das weißt du genauso wie ich! Sie liebt ihn, verdammt! Sie macht sich Sorgen! Dieses Gespräch kann man ihr nicht zum Vorwurf machen! Im Grunde genommen ist ja er der Grund, warum es überhaupt stattgefunden hat, did you think about that?! By the way- do you think at all, these days?!“ „Jetzt reg dich wieder ab!“ Er war aufgestanden, schaute sie wütend an. „Hätte ich ihn sterben lassen sollen, verdammt?! Was hätte ich denn deiner Meinung nach besser machen können, Vermouth? Sags mir, wenn du eine bessere Lösung hattest. Du warst drin, du hast ihn gesehen. Du hast das Triumvirat gesehen. Die hätten ihn heute erschossen. Erschossen! Hörst du! Verdammt, hast du das schon wieder vergessen?!“ „No.“ Ihre Stimme war leise. Bedrückt schaute sie weg, seufzte tief. „But Angel…“ „Ich hab nicht vor, ihr etwas anzutun. Die einzigen, die ihren Namen wissen, sind ich und du... vielleicht noch Kir, aber sie steht ja auf… unserer Seite, nicht wahr? Beaujolais, ja, sie kennt ihn auch, leider. Aber sie wird nichts sagen, sie wird es nicht wagen, sich mir zu widersetzen.“ Er schluckte, setzte sich wieder. „Das heißt… solange wir nichts sagen, wird Ran auch in Sicherheit sein. Er muss nicht wissen, dass wir ihr gar nichts tun wollen… ich ihr nichts tun könnte, selbst wenn ich wollte. Und ich hoffe, du hältst dicht… er darf nicht erfahren, was hier für ein Spiel gespielt wird. Keiner darf das. Sonst…“ Sie sank in ihren Stuhl, gegen die Lehne, nickte erschöpft. „Keiner wird von mir was erfahren, you know that. But I can tell you one thing… this will end up badly.” Langsam stieß er eine weitere Rauchwolke aus, sah aus dem Fenster, sagte nichts mehr. Conans Verschwinden war jetzt über einen Tag her- Grund genug für die Polizei, sich unverzüglich mit der Sache zu befassen. Und Conans Verschwinden war auch der Grund, warum Meguré nun im Wohnzimmer der Kudôs stand, zusammen mit Takagi und Sato und fragte sich, was er hier eigentlich zu tun hatte. Es war immerhin schon spät am Abend, die Sonne hatte sich bereits zum Schlafen hinter den Horizont verkrochen, aber anstatt den Fall durchzugehen, stand er nun eben hier… im Wohnzimmer seines guten Freunds Yusaku Kudô, auf dessen Bitte er hier war – und wunderte sich. Okay, die beiden waren wohl über ein paar Ecken verwandt mit Conan, aber war das ein Grund, sie hierher zu bitten? Sie, das Kriminal- und Morddezernat, hatten eigentlich mit seinem Verschwinden auch gar nichts zu tun, auch wenn es ihnen naheging, auch wenn sie mit ermittelten, denn sie alle mochten Conan - es handelte sich immer noch um eine Vermisstenanzeige, die eine ganz andere Abteilung der Polizei bearbeitete… solange, bis man dieser Frau nachweisen konnte, dass sie ihn entführt hatte. Leider konnte man das nicht - ihr Auto schien fast klinisch rein, und dementsprechend hatte man sie laufen lassen, sie und ihre Freunde. Nichtsdestotrotz standen sie jetzt hier, nebeneinander aufgereiht auf dem schönen Teppich des feudalen Salons und fragten sich, jeder für sich, was sie hier zu suchen hatten. Meguré warf der Herrin des Hauses einen nachdenklichen Blick zu. Yukiko lief, seit sie sie begrüßt hatte, unruhig auf und ab. Yusaku seufzte, griff sie dann am Handgelenk und zog sie mit sich auf die Couch, deutete dann auf ein paar Sessel. „Danke, dass ihr gekommen seid, Jûzô. Ihr fragt euch sicher, und auch berechtigt, warum; das erfahrt ihr gleich. Aber dafür… solltet ihr euch besser setzen.“ Takagi warf seinem Vorgesetzten einen fragenden Blick zu; als der nickte, ließen er und Sato sich in jeweils einen Sessel sinken; Meguré tat es ihnen gleich, setzte sich dem Hausherrn gegenüber. „Nun, dann las hören, Yusaku.“ Der Angesprochene fuhr sich kurz über die Haare, dann durch seinen Schnurrbart, holte Luft. „Nun. Die letzten… Entwicklungen bezüglich Conan… machen es wohl nötig, euch aufzuklären, nach wem ihr eigentlich sucht. Und warum das hier bei weitem keine banale Vermisstenanzeige mehr ist, sondern durchaus ein Fall für die Kriminalpolizei, Jûzô…“ Er räusperte sich, als er merkte, dass seine Stimme rau und etwas heiser klang. „Ich fürchte, ich verstehe dich nicht ganz, Yusaku. Auch wenn er entführt wurde, was… ja leider noch nicht zu beweisen ist… Wir suchen doch nach einem Grundschüler, nach Conan, oder nicht? Was also habt ihr damit zu tun… soweit ich weiß, wart ihr doch mit ihm nicht so eng…“ „Oder nicht, du sagst es.“ Megurés Augenbrauen wanderten nach oben, als er unterbrochen wurde. Yusaku atmete tief durch, versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er und der Professor hatten telefoniert, vor einer Stunde erst, und waren zu der Erkenntnis gekommen, dass es sinnvoll wäre, der Polizei, die seit heute Morgen auch im Einsatz war, genauso wie dem FBI reinen Wein einzuschenken. Es ging um das Leben von Shinichi. „Oder nicht?“, wiederholte Meguré langsam. „Was meinst du damit, oder nicht? Wir suchen doch nach einem Grundschüler…“ Der Kommissar hielt abermals inne, als er sah, wie der Schriftsteller seinen Kopf schüttelte, langsam, und schwer, als würde die Gedankenlast in seinem Inneren Tonnen wiegen. „Ihr sucht eventuell auch nach einem Oberschüler, Jûzô. Nach meinem Sohn. Nach Shinichi.“ Shinichi tigerte unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Ab und an warf er einen Blick auf das Tablett mit Essen und Getränken, das man ihm gebracht hatte; Beaujolais, die schöne rothaarige Hexe, hatte es sich nicht nehmen lassen, es persönlich vorbeizubringen, so schien es. Sie war in sein Zimmer stolziert auf ihren hohen Pumps, während Gin an der Tür gewartet und aufgepasst hatte, dass sich ihr neuestes Mitglied nicht verdünnisierte. Ihm war der Gedanke an Flucht zwar gekommen, aber er hatte ihn nicht weiterverfolgt. Er konnte, durfte nicht fliehen. Nicht, wenn er Ran nicht gefährden wollte. Man hatte sie mit keinem Wort namentlich erwähnt, aber er war sich klar, nachdem, was Vermouth erzählt hatte, dass der Boss wusste, wie seine Achillesferse hieß, wie sie aussah und wo sie wohnte. Der Boss wurde ihr solange nichts tun, wie er brav und artig war; also blieb ihm nichts anderes übrig, als brav und artig zu sein. Beaujolais auf alle Fälle hatte ihn nur hämisch (oder war es verführerisch? Oder beides? Er konnte es nicht sagen) angelächelt, und hatte sich dann beeilt, aus dem Zimmer zu stöckeln, als Gin sie angefahren hatte, was da so lange dauerte. Ihn selbst hatte er mit einem Blick bedacht, der ihn sofort umgelegt hätte, würden Blicke nur töten können. Shinichi hatte das relativ wenig ausgemacht, es war ihm sogar reichlich egal. Ihn beschäftigte ein ganz anderer Gedanke. Warum war der Boss so scharf drauf, ihn hier im Verein zu haben? Es gab doch mit Sicherheit auch brillante Geister mit wesentlich mehr krimineller Energie, die sogar freiwillig hier reinkämen - womöglich sogar dafür bezahlen würden. Shinichi grinste säuerlich. Bestimmt gab es die. Warum… warum also ihn? Warum ließ er Gin nicht einfach endlich seinen kleinen Fehler beheben und ihn umbringen? Offensichtlich hatte er durch die Kamera zugesehen… er hatte genau gewusst, wann er anrufen musste, der Zeitpunkt konnte kaum zufällig sein. Und offensichtlich, zumindest dem nach zu urteilen, was er aus dem Telefongespräch hatte hören können, war das Triumvirat eigentlich eher dafür gewesen, ihn zu verhören und dann zu töten. Sie schienen von der Idee, ihn als Mitglied zu rekrutieren, nicht so wirklich begeistert gewesen zu sein. Es hatte fast den Anschein gehabt, als sei dieses Thema vorher schon einmal diskutiert worden… mit dem Ausgang, dass sich der Boss nicht hatte durchsetzen können. Weshalb dann jetzt? Wegen… wegen Ran? War sie ein Trumpf gewesen, den auszuspielen er gezögert hatte? Warum? Woher wusste er von ihr… Kannte sie unter Umständen so gut, dass er sie nicht gefährden wollte… und… Warum wollte er um alles in der Welt, dass er in die Organisation kam? Nicht getötet wurde? Nicht getötet… Wollte er… wollte er sein Leben retten…? Das würde Sharons These unterstützen. Er hat kein Interesse an deinem Tod… er will dich nicht umbringen… Das hatte auch das Triumvirat gesagt. Lag dem Boss etwa was an ihm? Und was bedeutete diese Bemerkung von Absinth… dass sein Unwissen eine Gnade wäre…? Kannte er selbst den Boss, ohne um seine Identität zu wissen? Halt, Kudô, du verrennst dich. Er schluckte, rieb sich über die Augen. Wir reden hier vom Boss der Schwarzen Organisation! Kein Mensch, den du kennst, wäre dazu in der Lage… so ein Unternehmen zu führen, so viele Morde zu begehen… ob direkt oder indirekt… Er holte Luft, fuhr sich durch die Haare. Keiner… und kein Mensch, der mich kennt, der auch nur ansatzweise begriffen hat, wie ich bin, würde mich hierzu zwingen… oder? Oder doch…? Wenn ja… Warum…? Um mich zu retten? Aber nein. Nein. Keine Person, die ich kenne, ist dazu in der Lage… Ich müsste mich in meiner Menschenkenntnis schon gewaltig getäuscht haben, wenn doch… Er räusperte sich, bemerkte, dass sein Mund trocken war. Seine Gedanken wanderten gefährliche Wege, drifteten in Gefilde, die ihm gar nicht passten, auch wenn… wenn die Schlussfolgerungen, die er zog, nicht ganz von der Hand zu weisen waren. Dann merkte er, wie sein Magen knurrte. Er sollte was essen, ja. Auch wenn er eigentlich das hier alles nicht wollte… aber verhungern brachte auch nichts. Er musste hier raus… hier bleiben war keine Option, er musst irgendwie entkommen, und zwar ohne Ran zu gefährden, der Plan musste lückenlos und absolut sicher sein. Dazu musste er nachdenken. Und das konnte er nicht mit leerem Magen. Er verzog das Gesicht, als sein Bauch ein leises Knurren von sich gab, strich mit einer Hand darüber, seufzte. Dann stand Shinichi auf, ging zu dem Tisch, der in seinem Zimmer stand, schnappte sich das Tablett mit Fisch und Reis und setzte sich damit aufs Bett. Meine Güte, in was bin ich hier bloß reingeraten. Mit diesem Gedanken griff er nach den Stäbchen und schob sich die erste Portion Reis in den Mund. Doch auch während dem Essen ließen ihn die Worte von Absinth nicht allein. Es ist eine Gnade für dich, dass du unwissend sterben darfst. Du bist ihm wirklich außerordentlich ähnlich. Shinichi hielt inne. Der Satz ging ihm nicht aus dem Kopf. Vorhin hatte er ihm nicht viel Bedeutung beigemessen, viel zu sehr war er beschäftigt gewesen mit der Frage Leben oder Sterben… Organisation oder nicht Organisation… Aber jetzt. Jetzt… Er war ihm ähnlich? Wem ähnlich? Dem Boss? Niemals… oder? Und… Auf welche Art und Weise ähnlich…? „Nach Shinichi?“ Meguré beugte sich erstaunt nach vorn. „Ist er auch verschwunden?“ Yusaku seufzte, versuchte, nicht aus der Haut zu fahren. Mussten sie es ihm auch so schwer machen? „Nein, du verstehst nicht. Er ist es, nach dem ihr sucht. Shinichi… hat sich mit einer Organisation angelegt, einem Verbrechersyndikat, vor… fast drei Jahren jetzt. Er hat sie beobachtet, bei einem krummen Geschäft, und war leider etwas unvorsichtig. Man hat ihn bemerkt und wollte ihn als lästigen Zeugen, der er war, aus dem Weg räumen. Da vom vorangegangen Fall – ich nehme an, du weißt, von welchem ich rede; es war der Fall mit der Perlenkette auf dem Rummelplatz - noch viele von euren Leuten unterwegs waren, kamen sie zu der Erkenntnis, dass man ihn nicht erschießen könnte. Das Risiko, geschnappt zu werden, wäre zu groß.“ Meguré schnappte nach Luft, während Sato und Takagi auf einen Schlag etwas bleicher geworden waren. Das war allerdings nichts im Vergleich zu der Reaktion, die nach den nächsten Worten des Hausherrn eintreten würde. „Deshalb… deshalb haben sie… ihm ein Gift verabreicht, von dem sie glaubten, es brächte ihn um, haben ihn zurückgelassen und sind abgehauen.“ Yusaku griff nach dem Glas Wasser auf dem Tisch vor sich, das Yukiko ihnen gleich nachdem sie sie hereingebeten hatte, bereitgestellt hatte, trank einen Schluck. „Ein Gift?“, fragte Sato ernst. „Welches?“ „Ein nicht bekanntes; eine Erfindung der Organisation mit Namen Apoptoxin 4869. Nun. Es hat ihn nicht umgebracht…“ Erneut brach er ab. Er wusste, wie unglaubwürdig das klang, was er ihnen gleich versuchen würde, weiszumachen. „Es hat ihn verjüngt. Um zehn Jahre zurückgeworfen in seiner körperlichen Entwicklung. Der Oberschüler wurde zum Grundschüler… aus Shinichi Kudô wurde…“ „Conan Edogawa.“ Sato starrte ihn an. „Er war immer viel zu schlau für einen Grundschüler, aber ich hätte nie im Leben geglaubt…“ Weiter kam sie nicht, denn der Kommissar stand auf, starrte seinen langjährigen Freund an. Während seine Mitarbeiterin anscheinend durchaus willens war, diese Erklärung als Antwort für all ihre unausgesprochenen Fragen zu akzeptieren, fiel Megurés Reaktion etwas anders aus. „Also, wenn du Witze machen willst, Yusaku, dann ist das jetzt kein guter Zeitpunkt! Conan ist verschwunden, und wir…“ Seine Stimme klang ungehalten. „Aber er ist es!“ Yukiko war aufgesprungen, blickte Meguré verzweifelt in die Augen. Eine Träne perlte aus ihrem Augenwinkel. „Bitte, so glaub es doch, Jûzô, er ist es. Wir wollten es zuerst auch nicht glauben, aber es stimmt. Es ist die Wahrheit… so unglaublich sie auch ist. Und jetzt… jetzt haben sie anscheinend herausgefunden, wer er ist, dass er noch lebt, und sie werden… werden…“ Jûzô Meguré ließ sich langsam wieder in den Sessel sinken, aus dem er in seiner Entrüstung aufgestanden war. Wenn Yukiko so reagierte, konnte das kein Scherz sein. Wieso sollte sie ihn belügen wollen… wieso sollte sie sich sonst so aufregen, wenn es nicht stimmte…? Wieso sollten ihn die Kudôs überhaupt anlügen… Kraftlos sanken seine Hände auf seine Knie. Dann schaute er auf. „Aber das ist unmöglich…“ „Nichts ist unmöglich, wie es scheint.“, murmelte Yusaku. „Ist dir nie aufgefallen, dass er, wie Sato es sagte, viel zu schlau ist? Viel zu viel weiß, viel zu viel bemerkt, viel zu viel schlussfolgern kann? Er ist zu intelligent und zu abgebrüht für einen Grundschüler, manchmal denke ich auch, für einen Oberschüler kann er zu viel zu leicht wegstecken… er sieht die Leichen und zuckt nicht einmal zurück. Alles was ihn noch interessiert, ist ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem er ihre Mörder findet und stellt. Wie und ob es ihn bewegt lässt er sich selten anmerken. Er ist für sein Alter zu erwachsen. Nicht nur als Grundschüler.“ Er strich sich müde durch die Haare. „Aber die Verbrecher, die er da ausgegraben hat, sind wohl doch eine Nummer zu groß für ihn. Er wollte sich ja nichts sagen lassen. Hat seine Rolle fast perfekt gespielt, alle in dem Glauben gelassen, ein kleines Kind zu sein, hat sich herabsetzen lassen auf die Stufe eines Kindes… das nicht ernst genommen wird, das man um acht ins Bett steckt, für das man die Klamotten kauft und im Restaurant bestellt, das in die Grundschule geht, all das… all das, um möglichst wenige darauf aufmerksam zu machen, dass Shinichi Kudô noch lebt, um damit die zu schützen, die ihm wichtig sind. Es ist ihm gut gelungen, auch wenn er Opfer bringen musste dafür… auch wenn er es gehasst hat, Conan zu sein. Er verabscheut das Lügen, du kennst ihn… “ Yusaku schluckte, schaute Meguré nachdenklich an. „Ich weiß nicht, wie sie jetzt herausfinden konnten, wer er ist. Fakt ist aber, sie haben ihn. Und viele Gründe, ihn nicht umzubringen haben sie nicht… bedenkt man, dass er ihnen lästig ist, weil er ihnen hinterher spioniert und eigentlich ohnehin längst Geschichte sein sollte. Nun wisst ihr es. Wenn ihr also nun weitersucht… dann tut das mit dem Wissen, dass ihr nach Shinichi Kudô sucht, der in einem Fall steckt, der für ihn unter Umständen eine Nummer zu groß war…“ Er stand auf, ging zum Fenster, schaute hinaus. Takagi warf Sato einen unsicheren Blick zu. „Das erklärt einiges.“, murmelte er leise vor sich hin. „Hm?“ Yukiko, deren Augen immer noch leicht gerötet waren, sowie Sato und Meguré schauten ihn an. „Die Bombe im Tokiotower. Ich war mir sicher, irgendetwas stimmt nicht mit ihm, aber ich dachte nie… dachte nie, dass es sich so verhält.“ Er seufzte. „Er kam mir viel zu erwachsen vor, viel zu abgeklärt zu vernünftig; so benahm sich doch kein Kind, das weiß, dass es gleich sterben muss… Ich meine, ich selber hatte die Hosen voll, verdammt!“ Er war rot geworden, schlug sich mit einer Faust in die Hand. „Ich hatte Angst, wirklich! Klar war ich mir sicher, dass wir bleiben mussten. Dass wir die Nachricht abwarten mussten. Aber so tough wie er… schon als er da oben lag und die Bombe entschärft hat, bitte, das kann kein Kind! Warum bin ich nicht viel stutziger geworden? Warum hab ich nicht auf eine Antwort bestanden, als ich ihn gefragt hab, wer er ist…? Er meinte, er würde es mir im Jenseits sagen. Vielleicht… vielleicht bleibt er mir jetzt die Antwort noch etwas länger… schuldig.“ Wataru Takagi schluckte, fuhr sich über die Augen. „Nicht auszudenken…“ Stille trat ein, in der nichts als die leisen Atemzüge der Anwesenden zu vernehmen waren. Dann stand Meguré auf, trat neben seinen langjährigen Freund. „Yusaku…“ Der Schriftsteller schaute aus dem Fenster. „Ich hätte ihn dazu überreden sollen, dass er die Finger davon lässt. Ich hätte ihm nicht erlauben dürfen, das allein zu machen. Egal wie alt er aussieht, er ist immer noch ein Teenager… keinen Tag älter. Mein Gott… er hätte sterben können. Er hätte tot sein können. Wenn das Gift so gewirkt hätte, wie es hätte wirken sollen… und jetzt das…“ Er schluckte, war aschfahl geworden. „Ich hätte ihn da raushalten sollen. Ich bin sein Vater. Ich…“ „Yusaku… wie hättest du etwas tun können? Du kanntest doch die Ausmaße dieser Organisation, mit der er sich da angelegt hat, wohl nicht mehr als er selbst zu dem Zeitpunkt… gar nicht…“ Yusaku biss sich auf die Lippen, dann nickte er nur, lächelte bitter. „Wir werden ihn suchen, Yusaku.“ Meguré klopfte ihm auf die Schulter. „Wir werden ihn finden. Verlass dich auf uns.“ Damit drehte er sich um, gestikulierte seine beiden Mitarbeiter zur Tür, nickte Yukiko zu, die ihn dankbar anlächelte. Takagi und Sato standen fast synchron auf, verließen stumm das Wohnzimmer. Weder Yukiko noch Yusaku Kudô machten sich die Mühe, ihnen den Weg nach draußen zu weisen. Die drei Polizisten vom Morddezernat fanden auch alleine hinaus. Wo sie anfangen mussten, wussten sie; aber wie es weitergehen sollte… war ihnen nicht ganz klar. Allerdings hatten sie ohnehin keine Wahl, als sich mit dem Fall zu befassen, denn erstens ließ sie alle der Verbleib von Conan Edogawa alias Shinichi Kudô nicht in Ruhe, und zweitens… konnte es durchaus sein, dass man Beamte vom Morddezernat allzu bald brauchen würde. Also hatten sie ordnungsgemäß den Fall übernommen, was zwar für ein wenig Verblüffung gesorgt hatte, aber dank Megurés Einfluss kein allzu großes Problem gewesen war. Azusa, die rothaarige Frau, wie auch der Rest der Campergruppe wurde beschattet, auch wenn man keine stichhaltigen Beweise hatte. Es war klar, dass sie ihn entführt haben musste, glaubte man dem, was sie von den Kudôs nun wussten, und was die Kinder und Agasa laut der Protokolle ausgesagt hatten. Sie hatten keine Beweise… noch nicht. Aber sie würden jeden ihrer Schritte überwachen. Das zumindest war der Plan. Yukiko tigerte durchs Wohnzimmer. Nachdem die Polizei gegangen war, hatte ihre innere Unruhe sie wieder vollständig im Griff. Sie sorgte sich um ihren Sohn, es machte sie fertig, nicht zu wissen, wie es ihm ging, ob er noch am Leben war, das sah man ihr an. Yusaku starrte sie an, beobachtete sie, wie sie nervös ihre Kreise zog. Sie bot wirklich ein Bild des Jammers. Ihre Augen waren vom Weinen verquollen und gerötet; gerade eben weinte sie nicht, aber nichtsdestotrotz stand in ihrem Gesicht ein Ausdruck von Sorge und Angst, den er bei ihr noch nie gesehen hatte. Noch nie. Er wünschte, er könnte ihr helfen. „Yukiko…“, murmelte er leise. Sie blieb stehen, drehte sich zu ihm um. Er saß in seinem Sessel, schaute sie durch seine Brillengläser ernst an. „Yukiko, du machst dich wahnsinnig. Du musst dich etwas beruhigen…“ Sie atmete hörbar aus. „Ich? Mich beruhigen?!“ Ihre Stimme war laut und aufgebracht. Sie trat näher. „Ich frag mich, wie du so ruhig sitzen bleiben kannst, verdammt, Yusaku, du weißt, wer ihn hat, wie gefährlich die sind! Er ist dein Sohn, aber das scheint dich nicht zu kümmern!“ Er stand auf, packte sie bei den Schultern. Sie starrte ihn erschrocken an. „Sag. Sowas. Nie. Wieder.“ Seine Stimme klang leise, und sehr, sehr ernst. Sie schluckte, eine Träne perlte ihr aus dem Augenwinkel. Langsam ließ er sie wieder los. „Nur weil ich nicht herumrenne wie ein aufgescheuchtes Huhn heißt das nicht, dass ich mir keine Sorgen mache! Verdammt, ja! Ich weiß, wer die sind! Und ich weiß, wie du, welche Gründe die haben, um ihn umzubringen!“ Er atmete heftig. „Und genauso bewusst ist mir, dass wir nichts tun können, Yukiko… wir können nichts tun.“ Er wandte sich ab, verließ das Zimmer. Minuten später hörte sie die Haustür zufallen. Sie schluckte hart, dann ließ sie sich langsam in einen Sessel sinken, zog sich ein Kissen heran und vergrub ihre Finger im weichen Polster. Lautlos begannen ihr, die Tränen über die Wangen zu rollen, immer und immer mehr. Sie ließ sie laufen – und wartete, starrte hinaus in die Nacht. „Akai, verdammt, wo warst du die ganze Zeit über? Du hättest schon längst kommen können, es ist doch schon seit fast einer Stunde dunkel…“ Jodie stand auf, genervt, als sie seine Gestalt näher kommen sah. Ai, die in der Suppe rührte, drehte sich um, um diesen Akai auch einmal kennen zu lernen, und erstarrte. Die Schöpfkelle fiel ihr aus der Hand, schlug auf dem Boden auf, als ihre Augen groß und größer wurden, ein Ausdruck tiefen Unglaubens auf dem Gesicht. „Dai? Dai… Moroboshi?“ Und dann konnte man sehen, wie sie eins und eins zusammenzählte. Wut flackerte in ihrer Stimme auf. „Du warst… du hast… du bist vom FBI…?“ Ein Schrei der Frustration verließ ihre Lippen, als die Erkenntnis sie traf. „Du verdammter Scheißkerl! Du warst undercover! Du hast sie nur ausgenutzt! Du…!“ „Nein!“ Das Wort war lauter als beabsichtigt über seine Lippen gekommen. Die Detectiveboys, die gerade Kartoffeln geschält hatten, starrten sie perplex an. Agasa ging zu ihr, hielt ihr kurz den Mund zu. „Ai…!“, flüsterte er eindringlich. Er merkte, wie ihr kleiner Körper bebte, fühlte, wie sie scharf einatmete. Dann nickte sie. Sie hatte sich wieder im Griff, wenn auch reichlich spät. Agasa ließ sie los, und sie strich sich mit einer gezwungenen Geste die Haare aus dem Gesicht. Shuichi schluckte, schaute das kleine Mädchen ernst an, versuchte die neugierigen wie geschockten Gesichter der Kinder zu ignorieren. „Ich kann es erklären. Und ich will es auch erklären. Aber ich fürchte, du wirst bis morgen warten müssen, heute ist ein Ausflug in unbekanntes Terrain wohl nicht mehr ratsam.“ Mehr sagte er nicht. Ai warf ihm einen skeptischen Blick zu, drehte sich dann um und ging ins Zelt. Akai sah ihr nach, seine Züge unbewegt. Er wusste, sie verlangte Antworten. Kapitel 8: Armagnac ------------------- Hallo an euch, meine lieben Leserinnen und Leser, die ihr gerade vorm PC/Mac sitzt und immer noch wissen wollt, wie diese Geschichte weitergeht ^.~ Einen schönen guten Abend wünsch ich euch! Ein herzliches Dankeschön für die Kommentare zum letzten Kapitel und entschuldigt meine Kurzangebundenheit letzte Woche, aber ich bin momentan nicht das, was man unterbeschäftigt nennt ^.~ Ich wünsch euch frohes Lesen, mit den freundlichsten Grüßen, eure Leira ^_________~ _____________________________________________________________________ Kapitel 8: Armagnac Kogorô Môri, seines Zeichens Meisterdetektiv, ja, MEISTERDETEKTIV, saß in seinem Auto und fluchte, wobei er Wörter benutzte, von denen ihm sehr lieb war, dass Ran nie erfuhr, dass er sie kannte. Der Grund für dieses hemmungslose vor sich Hinbrüllen dieser eigentlich so unsäglichen Ausdrücke, war, dass er zu spät dran war. Eigentlich hatte er ja gestern schon hier sein wollen… allerdings hatte er erstens seine Streckenkarte vergessen, zweitens ein Auto ohne Navigationsgerät gemietet, sich drittens, total verfahren, was damit geendet hatte, mitten in der Prärie gestrandet zu sein, und dann hatte viertens: das Auto einen Motorschaden erlitten. Davor hatte ihn auch sein ach so schöner Ruf nicht bewahren können; dem Auto war es offensichtlich egal gewesen, wen es transportierte. Deswegen also hatte er sich in ein kleines Örtchen abschleppen lassen müssen, von einem passierenden Auto; der einzig glückliche Zufall an diesem so pechschwarzen Tag. Dort hatte er dann wohl oder übel die Nacht verbringen müssen, weil sein Auto erst repariert werden musste, wofür gütigerweise die nicht eben begeisterte Agentur aufkam; allerdings hatte er diesem alten Professor nicht Bescheid sagen können, weil er dessen Handynummer nicht hatte. Der würde sich wohl auch fragen, wo er abblieb. Verfluchter Mist. Und so kam es, dass er erst jetzt mit lautem Knirschen auf dem gekiesten Parkplatz vor dem Waldgebiet, in dem die Zelte aufgeschlagen werden durften, den Wagen hielt. Erleichtert atmete er auf, als er Agasas gelben Käfer erblickte. Sie waren also noch da; jetzt musste er sie nur noch finden. Hoffentlich hatte man den Nervenzwerg auch schon gefunden. Dann würde er ihm mal zünftig die Leviten lesen, was ihm einfiel, einfach so zu verschwinden. Genau, das würde er. Gedankenverloren zog er sich eine Packung Zigaretten aus dem Sakko, zündete sich eine Kippe an und marschierte los. Auf jeden Fall. Einen so in Unruhe zu versetzen, nur weil man seine Nase nicht aus anderer Leute Sachen raushalten kann… Ja, vielleicht war der Knirps ja mittlerweile wieder aufgetaucht. So recht daran glauben wollte er aber nicht. Er stieß die Tür auf. Sharon hob nicht den Kopf, sondern steckte den Pinsel ihres purpurroten Nagellacks in das Fläschchen, um ihn wieder mit der Farbe zu tränken, zog ihn wieder heraus und malte in aller Seelenruhe ihre Fingernägel weiter an. „Armagnac.“ „How charming.“ Ungehalten atmete er aus. „Sharon, ich hab keine Zeit für Spielchen. Ich möchte, dass du ihn davon in Kenntnis setzt, wie er jetzt heißt, innerhalb der Organisation. Armagnac.“ „Ich nehme an, die Verwandtschaft zu deinem Nick ist nicht von ungefähr, Darling?“ Sie stand auf, schraubte das Glas zu, wedelte mit den Fingern und pustete auf ihre Nägel, um den Lack zu trocknen. „My dearest Cognac.“ Sie sprach den Namen gedehnt aus, hauchte ihm mit gespitzten Lippen einen Kuss zu. „Ich nehme an, er wird begeistert sein. So schnell seinen eigenen Codenamen zu bekommen, what an honor.“ Er fuhr sich mit den Fingern über die Augen. „Bitte, hör auf damit. Das hatten wir doch alles schon. Es geht nicht anders.“ „Of course. Making him a murderer is the only way to save his life- destroying it while saving it doesn’t matter, does it?“ Sie sandte ihm einen wütenden Blick zu. Sie war genervt und wütend, das merkte er. Eigentlich hätte er geglaubt, das Gespräch in seinem Büro hätte die Fronten geklärt, aber dem war wohl nicht so. Er kniff die Lippen zusammen. „Es geht nicht anders, und ich wiederhole mich ungern. Er muss einer von uns werden, oder er wird sterben. Deshalb wird er auch übermorgen mit Gin und dir mitgehen. Ihr müsst ihn anlernen.“ Sharon hatte ein zweites Glas mit Nagellack aufgemacht und malte sich geistesabwesend mit einem hauchfeinem Pinsel schwarze Muster auf ihren kleinen Fingernagel der linken Hand. „Yeah, sure, why not… what?!“ Die blonde Diva fuhr hoch, wobei ein schwarzer Lacktropfen auf ihren Finger fiel. Sie bemerkte es nicht. „Ich denke, du hast mich verstanden.“ „Das geht nicht.“ Cognac verdrehte die Augen. „Warum nicht? So lernt er am schnellsten, und du hast ihn im Auge, ich denke, das ist in deine Sinne?“ „Gin wird ihn umbringen.“ Sie starrte ihn an. „Wird er nicht. Er darf nicht.“ Langsam lehnte er sich an die Tür. „Darling, dont’t tease me. Du weißt genau, was ich meine, wenn ich sage, er wird ihn umbringen. Dieser narzisstische und für meinen Geschmack viel zu intelligente Profikiller wird nichts unversucht lassen, ihn unter die Erde zu bringen, da, wo er für seinen Geschmack schon längst weilen sollte. Wie gutgläubig bist du eigentlich? Du weißt, wie er ist, der Mann arbeitet für dich, did you forget…? Er wird’s drauf ankommen lassen, dass Shinichi, oh sorry, Armagnac, etwas tut, was ihn in Ungnade fallen lassen könnte… er wird ihn einen Fehler treiben, vor Entscheidungen stellen, die er nicht treffen kann oder will, wird ihm Befehle geben, die er nicht ausführen kann, er wird dafür sorgen, dass das Triumvirat deine Entscheidung revidiert und dann…“ „Ich weiß…“ Er wandte den Blick ab. „Das weiß ich doch. Dass Gin mitgeht… glaubst du, das war mein Wunsch? Sharon, denk nach. Das war nicht meine Entscheidung. Ich wurde vom Triumvirat überstimmt, was das Team betrifft, mit dem er mitgehen muss; ich konnte mich nur bei dir durchsetzen. Sie waren für Gin. Du musst aufpassen, dass er nichts Blödes macht, Sharon. Sonst…“ Die blonde Frau seufzte leise. „Yeah, I know…“ Sie bemerkte den Fleck auf ihrem Finger. „Fuck.“ Eilig fischte sie ein Kosmetiktuch aus der Box, tränkte es mit Nagellackentferner und beseitigte den Tropfen, der schon am Eintrocknen war. Dann stellte sie auch den schwarzen Lack beiseite, schaute auf und lächelte dann. Hinterlistig, kühl, berechnend. „By the way - does Gin-chan already know of this extraordinary honor?“ Er steckte den Schlüssel in die Fahrertür seines heißgeliebten Porsches, drehte ihn nach links. Gehorsam öffnete sich der Riegel, ließ seinem Herrn Einlass. Gin öffnete die Tür seines schwarzen Gefährts, ließ sich auf den Fahrersitz sinken, lächelte selbstzufrieden. Der Geruch von Leder und kaltem Rauch umgab ihn, ein familiärer Duft; das Leder knirschte leise, als er sich bequem hinsetzte. Endlich kam er raus hier, es dauerte schon viel zu lange. Endlich war es soweit… endlich konnte er auf die Jagd gehen. Auf die Jagd nach ihr. Sherry. Den ganzen Tag, oder genauer gesagt, seit er es wusste, seit dieser Grundschüler bei ihnen abgeliefert worden war… wartete er auf die Gelegenheit, endlich loszuziehen. Aus irgendeinem Grund hatte man ihn bis gerade eben beschäftigt; er hatte keine Zeit gehabt, nach ihr zu suchen. Sherry würde nicht entkommen. Und genau deshalb war er anwesend gewesen bei seiner Folter; allein schon wegen der Aussicht, erstens, seinen neuen Erzfeind leiden zu sehen, und zweitens, und weitaus reizvoller als ihn nur leiden zu sehen - man hatte ihm von Vorneherein klar gemacht, dass er seinem Leben ein Ende setzen dürfte, danach. Und das war ein Argument gewesen, das ihn hatte bleiben lassen… man hatte ihn nicht lange bitten müssen. Dann war allerdings alles anders gekommen. Ein leises Knurren verließ seine Kehle, als er den Schlüssel ins Zündschloss steckte und den Motor mit einer kleinen Handbewegung zum Leben erweckte. Brüllend sprang die Maschine an, bereit, die Befehle ihres Fahrers auszuführen. Der zog allerdings zuerst eine Packung Zigaretten aus seinem Mantel, stieß eine heraus, und zündete sie am Zigarettenanzünder seines Wagens an. Für den Augenblick bist du entkommen… aber ich krieg dich noch, Kudô. Nun war Shinichi Kudô Mitglied der Organisation. Wie fehl am Platze er hier war, wusste wohl kaum einer besser als er selbst. Aber das alles interessierte Gin im Moment nicht. Genüsslich zog er an seiner Zigarette, tief, tief inhalierte er den Rauch, bis sich dieses familiäre Brennen in seiner Brust einstellte. Ironisch lächelnd betrachtete er die Schrift auf der Packung. Rauchen kann Lungenkrebs verursachen. „Wen interessiert’s.“, brummte er zynisch, immer noch lächelnd. Er würde sich jetzt erst einmal um jemand anderen kümmern, mit voller Erlaubnis des Triumvirats; der Boss war heute noch nicht zu sprechen gewesen. Er würde jetzt Sherry suchen. Und sie töten. Das vollenden, was auf dem Dach des Haido-City-Hotels angefangen hatte… Gerade, als er Vollgas geben wollte um mit rauchenden und quietschenden Reifen aus der Parkgarage der Organisation zu rasen, klingelte sein Handy. Ein unwilliges, kehliges Knurren tat seinen Unmut kund. Was denn jetzt noch…? „Du warst also undercover in der Organisation. Als Dai Moroboshi, Deckname Rye.“ Ihre Stimme klang bitter, zynisch, wütend und war voller Anklage. Er wunderte sich, wie sie so viele Gefühlsregungen gleichzeitig in einen einzigen Aussagesatz quetschen konnte. Sie saßen am Meer, allerdings nicht an der Stelle, an der man Kudô aufgegriffen hatte; sie waren daran vorbeigegangen, und Ai hatte auf die Stelle gedeutet, wortlos, die jetzt, nachdem Ebbe und Flut das Ihrige getan hatte, kaum mehr Spuren dieses ungleichen Kampfes zeigte. Sie waren weitergewandert, um eine Biegung, und saßen nun auf den Klippen, geschützt durch ein paar dichte Sträucher in ihrem Rücken. „Ja.“ „Und du hast etwas mit meiner Schwester angefangen, um…“ Ihre Stimme stockte. Er wandte seinen Blick ab vom Meer, das er bis dahin betrachtet hatte, und starrte auf den sandigen Untergrund zu seinen Füßen. „Um an Informationen zu kommen. Ja. Anfangs. Mit der Zeit… hab ich sie… wirklich geliebt. Shiho.“ Er schaute auf, schaute das kleine Mädchen neben sich an, erinnerte sich an die junge Frau, als die er sie kennengelernt hatte. „Ich hab ihr erzählt, eines Tages, wer ich war, weshalb ich hier war und warum ich mich mit ihr beschäftigt hatte… und sie hat mich nur angelächelt.“ Er atmete langsam aus. „Sie hatte eine Geduld, eine Liebeswürdigkeit, eine Herzlichkeit und Freundlichkeit an sich… sie verzauberte durch ihre Wärme, durch ihr Licht. Ich hab sie wirklich geliebt… auch wenn es anfangs nicht intendiert war, das streite ich nicht ab. Der Plan war wirklich, sie zu benutzen.“ Er brach ab, schaute aufs Meer, sah, wie die Wellen sich aufbäumten und weiße Gischt in die Luft spuckten. „Wir… blieben auch nach meiner Zeit bei der Organisation in Kontakt. Ich konnte… glücklicherweise so aussteigen, dass man sie nicht verdächtigte, etwas zu wissen. Sie wollte, wenn das alles vorüber wäre… sie wollte gern ein ‚echtes‘ Paar sein. Sie hat mich das per SMS gefragt. Ich hab die Nachricht immer noch.“ Langsam zog er sein Mobiltelefon aus seiner Jackentasche, wählte eine Nachricht aus, hielt es Ai hin, damit sie sie lesen konnte. Sie schluckte, starrte dann weg, merkte, wie ihre Augen glasig wurden. „Und das soll ich dir glauben? Die… die Nachricht könnte von jedem sein.“ „Könnte sie nicht. Du kennst die Nummer doch auswendig, Shiho…“ Sie biss sich auf die Lippen, schaute weg. Was er sagte, entsprach der Wahrheit. „Jemand könnte ihr Handy geklaut… oder geliehen haben.“ „Glaubst du das?“ Er lächelte bitter. Sie schwieg, wandte den Kopf von ihm ab, strich sich über die Augen, eine unwillige Geste. Er tat so, als sähe er es nicht. „Sie wollte gern, dass wir ein echtes Paar würden. Eins ohne irgendwelchen Hintergrund. Ich habs ihr nie gesagt, aber ich wollte das auch… ich wollte das auch. Und als ich von ihrem Tod hörte, hat mir das den Boden unter den Füßen weggezogen.“ Er klappte das Handy wieder zu, steckte es weg. Bevor er sprach, atmete er tief ein. „Hör zu, ich verlange nicht, dass du mir verzeihst. Nur… dass du verstehst. Ich bin nicht dein Feind, und ich war nicht ihrer. Ich bin hier, um dich zu beschützen… weil sie dich beschützen wollte. Nur deswegen.“ Er seufzte. „Mich hielten seit damals genau zwei Gründe am Leben, bis heute… jetzt sind es drei…“ Tief holte er Luft, blickte das kleine Mädchen unverwandt an. Sie schluckte, wandte sich ihm langsam zu, bemerkte erst jetzt, wie müde er aussah. Die Ringe unter seinen Augen, bläuliche Schatten auf totenblasser Haut. Was für ein Leben führst du, Dai Moroboshi… oder sollte ich sagen, Shuichi Akai…? Dann riss seine ernste Stimme sie aus ihren Gedanken. „Der erste ist, zu vollenden, was sie begonnen hat - nämlich dich aus der Organisation zu holen. Nichts hat sie sich mehr gewünscht, als ihre kleine Schwester glücklich und in Sicherheit zu wissen. Diesen… diesen Wunsch will ich ihr erfüllen.“ Ai vergrub ihre Finger im Sand, bohrte sie regelrecht in den Boden, als suche sie krampfhaft nach Halt. „Der zweite Grund?“ „Rache für Akemi. Gin und die Organisation müssen… müssen dafür bezahlen, was sie ihr angetan haben.“ „Der dritte…?“ Ihre Stimme war kaum lauter als ein Wispern. „Sein Leben retten. Kudô ist definitiv zu jung zum sterben, auch wenn er ein wenig gemogelt hat, was sein Alter betrifft.“ Er schaute weg, ein zynisches Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Er ist brillant, ohne Frage. Was er drauf hat, ist unglaublich. Als ich mit ihm zusammengearbeitet habe, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus…“ Ein amüsiertes Glitzern trat in seine Augen. „Wir können von Glück sagen, dass er zu den Guten gehört. Nicht auszudenken, was ein Mann mit seinen geistigen Fähigkeiten zu tun im Stande wäre, für die falsche Seite…“ Ai nickte, wischte sich unwillig über die Augen. „Ja, so ist das wohl. Aber was machst du, wenn du diese drei Dinge erfüllt hast?“ „Du meinst, wenn ich dann immer noch lebe? Mir einen neuen Grund zum Leben suchen, nehme ich an.“ Er klang gelassen, und sie fragte sich, ob er das wirklich war. Schaute ihm zu, wie er in seiner Tasche kramte, eine Packung Zigaretten heraus zog, sich eine Kippe anzündete, tief inhalierte, seinen Blick wieder hob und das Spiel der Wellen betrachtete, versunken in seinen Gedanken. „Er wollte sie aufhalten, nicht wahr?“ Sie nickte schwer. „Ja. Aber er konnte nicht. Ich denke, wir wissen beide, wer ihm im Weg stand.“ Conan Edogawa… Shuichi schaute sie an, stieß den Rauch in kleinen Wolken aus. „Weißt du… weißt du rein zufällig… ob… ob er…“ Sie drehte den Kopf, schaute ihn überrascht an. Sie hatte ihn nie so stocken gehört. „Ob er bei ihr war, als sie starb? Ich weiß nicht… ich… hab ihn nie gefragt. Warum… warum hab ich ihn nie gefragt... eigentlich? Ich weiß, er wollte verhindern, dass sie zur Übergabe ging… aber ich glaube, ich habe nie gefragt… ich weiß nicht, warum…“ Akai schluckte. „Aus Höflichkeit, nehme ich an.“ Das kleine Mädchen neben ihm strich sich die Haare aus der Stirn. „Woher weißt du eigentlich, dass er ihr gefolgt ist?“ „Eine SMS von Akemi. Über einen Jungen, einen… gewissen Conan, der ihr bei ihren Ermittlungen untergekommen war. Sie sagte nicht, welche Ermittlungen, welcher Auftrag… ich konnte es mir dann erschließen, als ich von dem Fall in der Zeitung las.“ Er schluckte. „Wie gesagt… wir hatten noch Kontakt… am Tag ihres Todes riss er ab.“ Ai biss sich auf die Lippen, seufzte dann leise. „Ich hab… hab sein Leben total ruiniert. Wenn er jetzt stirbt, ist das meine Schuld. Für alles, was sie ihm antun, bin ich verantwortlich. Hätte ich die Forschung nicht weitergetrieben…“ „...wäre er schon tot, denn dann hätten sie ihn erschossen, erstochen, erwürgt oder ihn gefesselt und in den Teimuzu geworfen. Dann wäre er seit zwei Jahren schon Geschichte.“ Er schaute sie von der Seite her an, in seinem Blick lag ein Ausdruck von Verärgerung, gepaart mit der Entschlossenheit, ihr endlich die Augen zu öffnen und sie von ihren Schuldgefühlen zu befreien. „Wenn sie ihn töten, ist das nicht deine Schuld. Dann ist es die Schuld der Organisation… und vielleicht noch seine, den er hat sich mit ihnen angelegt.“ „Aber mein Gift…!“ Sie brauste auf, starrte ihn an, strich sich dann aufgebracht mit einer fahrigen Handbewegung ihre rotblonden Haare aus dem Gesicht, als sie ihr der Wind in die Augen pustete, sie an ihren Lippen kleben blieben. Sie hielt sich die Haare zurück, blinzelte, starrte ihn an, ihre Augen glänzend in der Abendsonne und verräterisch feucht. Kurz währte dieser Moment, in dem Shiho neben ihm saß, nicht Ai; dann wandte sie brüsk den Kopf ab, schaute stur auf ihre Zehen, schluckte, versuchte, zu verhindern, dass ihre Lippen zu beben begannen. „Ich könnte nicht ertragen, wenn er stirbt…“ Der Wind riss ihr die geflüsterten Worte förmlich von den zarten Lippen. Akai starrte sie nur an, seufzte schwer. Und sagte nichts. Alles, was er hätte sagen können, wären Lügen gewesen… und Lügen, das wusste er, brachten niemandem etwas. Ganz besonders nicht diesem kleinen Mädchen; dieser jungen Frau. Sie schaute auf, in den Sonnenuntergang; einer der rotgoldenen Strahlen brach sich in einer einsamen Träne auf ihrer Wange. „Ich will, dass er glücklich ist… er hat so sehr verdient, glücklich zu sein… die letzten zwei Jahre waren die Hölle für ihn, ich weiß es. Und was er jetzt durchmachen muss, so er denn noch lebt, wird ihn für immer verändern… wird dem Begriff Hölle nochmal eine ganz neue Bedeutung verleihen…“ Er erwiderte nichts. Er kannte, wie sie, die Methoden der Organisation; was sie sagte, war die Wahrheit. Daran war nichts schön zu reden. Dann fuhren sie beide herum, als sie hinter ihnen aufgeregtes Schnaufen und Rascheln vernahmen. Jodie stand im Busch, hielt sich schwer atmend die Seite, schaute die beiden aufgeregt an. „There you are! Ich hab euch über eine viertel Stunde lang gesucht. Ihr werdet nicht raten, wer gerade angekommen ist, wegen dir, Darling…“ Sie warf Ai einen warmen Blick zu. Shuichi stand auf, zog die Kleine am Hemdkragen auf die Füße, wofür er sich einen giftigen Blick einfing. „Wer denn, Jodie?“, seufzte Shuichi. „Kir!“ „Was?“, entwich es Ai, Akai hingegen schwieg, nickte nur. „Sie ist hier?“ Erstaunen stand in ihren Zügen geschrieben. „Hat sie Neuigkeiten?“, fragte er geschäftsmäßig. Ai fuhr herum, merkte, wie sich Anspannung in ihr breitmachte. Neuigkeiten... „Ja, hat sie.“ „Über Shinichi? Hat sie schon was gesagt?“, schaltete sich nun auch das kleine Mädchen in die Unterhaltung mit ein, ihre Stimme überschlug sich fast, als sie neben den beiden Erwachsenen den Weg zurücklief. „Hat sie… weiß sie was über… Shinichi?“ Sie hauchte die Worte nur. Ihre Unsicherheit war ihr anzumerken. „Ja. Aber sie will erst reden, wenn alle da sind. Diese Geschichte sollte nicht zu oft erzählt werden. Je mehr Wiederholungen, desto höher die Gefahr, doch noch belauscht zu werden.“ Shuichi nickte; Ai biss sich auf die Lippen, rannte voran ins Lager, konnte kaum erwarten, zu hören, was die Agentin zu sagen hatte. Allerdings kam es erst einmal ganz anders. Als sie das Lager erreichten, waren alle dabei, zusammenzupacken. Ai schaute nur kurz auf, als Kir neben sie trat. "Du wirkst nicht überrascht... also hat er es dir gesagt?" Sie neigte den Kopf, schaute das kleine Mädchen fragend an, seufzte dann, als sie keine Antwort erhielt. Offensichtlich hatte der kleine Detektiv zumindest seiner Leidensgenossin erzählt, was Sache war, und irgendwie schien das auch losgisch; aber immerhin schien er seinen anderen Freunden gegenüber dicht gehalten zu haben, was ihm anzurechnen war. Dann folgte sie dem Blick des Mädchens, das immer noch auf das geschäftige Treiben auf dem Campingplatz gerichtet war. „Falls du dich fragst, was dieser abrupte Aufbruch soll - das dient zu deiner Sicherheit. Ihr müsst hier weg. Nachdem sie ja nun wissen, wer Kudô ist… konnten sie natürlich auch nachvollziehen, was mit dir geschehen war. Du solltest aus dieser Gegend so schnell wie möglich verschwinden. Gin ist ganz versessen darauf, dich zu kriegen, aber das dürfte dir nicht neu sein, oder?“ Die schwarzhaarige Frau hatte sich zu ihr heruntergebeugt. „Es wäre besser, du und der Professor lasst euch von mir oder dem FBI verstecken…“ Das kleine Mädchen starrte sie an. „Nein! Und weshalb sollten Sie mich verstecken können?“ Kir blinzelte, dann seufzte sie geschlagen. „CIA, Schätzchen. Auch wir können ein bisschen was ausrichten, aber das dachte ich mir, dass du ablehnst, irgendwie. Weißt du, aber Gin ist schon auf deiner Spur, es ist gefährlich, auch für den Professor…“ „Der Professor...“, murmelte Ai langsam, biss sich auf die Lippen. Ihre Gedanken schweiften ab. Der Professor, die Kinder, natürlich… sie war ja nicht allein auf dieser Welt. Nicht mehr. Ein fast bitteres Lächeln huschte über ihre Lippen. Wie viel einfacher wäre es, wäre dem so... wäre sie allein. Gut, die Kinder konnte man heimschicken… da wären sie leidlich außer Gefahr. Aber der Professor…? Allerdings würde der alte Mann auch nicht gehen wollen, ohne zu wissen, was aus Shinichi geworden war… sie mussten ihn retten… Die Agentin schien ihre Gedanken in ihren Augen lesen zu können, schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich fürchte, du kannst ihm nicht helfen. Ich weiß nicht mal, ob wir das können, aber wir tun unser bestes.“ „Also lebt er noch?“ In Ai glomm ein Funke Hoffnung auf. „Ja. Aber die Geschichte erzähle ich, wenn wir ein Dach über dem Kopf haben und die Kinder weg sind.“ Damit stand sie auf, ging zu den drei Beamten vom FBI und ließ das kleine Mädchen allein zurück. Ai atmete langsam aus; stockend entwich die Luft ihren Lungen, bevor sie wieder tief einatmete, kurz die Augen schloss. Erleichterung durchströmte sie wie eine warme Welle. Er lebt noch… Die Erleichterung hielt allerdings nicht lange vor. Sie hatte Angst. Jetzt mehr, als je zuvor, denn dass er noch am Leben war, bedeutete, dass sie mit ihm noch etwas vor hatten… und was immer es auch war, es würde nichts Gutes sein, soviel stand zumindest schon mal fest. Dann fuhren sie wieder alle herum, als ein Wagen knirschend neben dem Zelt Halt machte und drei Personen ausstiegen. Takagi, Sato und Meguré waren angekommen. Agasa, die Kinder und das FBI wollten die Polizisten gerade willkommen heißen, was so viel hieß, sie zu fragen, wie man es geschafft hatte, die Mordkommission in diesen Fall zu involvieren, wo man doch immer noch keine Beweise hatte, auch wenn sie sich freuten, dass Meguré, Sato und Takagi nach Conan suchten - als ein erneutes, lautes Knacken im Unterholz sie alle herumfahren ließ. Die Agenten vom FBI als auch die Polizisten und die CIA-Agentin Hidemi Hondo zogen wie auf ein stilles Kommando fast synchron ihre Waffen, richteten sie auf die Quelle der Geräusche. Jemand näherte sich, nicht eben leise. Anspannung lag in der Luft. Agasa wollte gerade die Kinder in Deckung ziehen, als der Eindringling aus dem Dickicht brach. Vor ihnen stand Kogorô Môri, über und über mit Laub und Zweigen bedeckt, starrte etwas verwirrt in die Mündungen der auf ihn gerichteten Pistolen. Langsam hob er die Hände über den Kopf- „Ent… schuldigen Sie die Verspätung?“ Ein paar Sekunden lang war es still auf der Lichtung, einzig und allein ein Specht klopfte in der Ferne einen Baum auf der Suche nach Käfern ab; dann… „Môri!“, knurrte Meguré, steckte als erster seine Waffe zurück in den Holster. „Was schleichen Sie sich an wie ein Schwerverbrecher?“ „Aber Chef, er ist doch gar nicht…“, begann Takagi, besann sich aber eines Besseren, als er sich einen wütenden Blick von Meguré einfing, dem die Schweißperlen auf der Stirn standen. Agasa seufzte vernehmlich. „Ich sehe schon… das wird eine lange Unterhaltung werden…“ „Ich denke, sie wird kürzer, als Sie glauben, Professor.“, murrte Meguré. „Wir wissen Bescheid. Yusaku hat uns eingeweiht, was Conans kleines Geheimnis betrifft… ich denke, wir haben nur noch einen Unwissenden unter uns, wenn ich so in die Runde blicke… ausgenommen euch drei vielleicht.“ Sein leicht angenervter Blick ruhte auf den drei kleinen Kindern, die sich vorgedrängelt hatten. „Conans Geheimnis? Welches Geheimnis…?!?“, verlangte Mitsuhiko zu wissen. In seinem Blick stand Entschlossenheit. „Wenn uns das hilft, ihn zu finden, dann sollten Sie uns das auch sagen!“ „Später vielleicht…“, versuchte Takagi die Kinder zu beschwichtigen. „Später ganz bestimmt. Aber jetzt ist keine Zeit, wir müssen wir erstmal hier weg. Die Schurken sind nämlich ganz in der Nähe. Helft ihr abbauen?“ „Diese Verbrecher sind hier irgendwo?! Dann sollten wir dableiben…!“, versuchte Genta einzuwenden, doch Takagi schnitt ihm das Wort ab. „Zu gefährlich. Wir fahren jetzt erst mal ins Hauptquartier, was haltet ihr davon?“! Damit schob er die drei kleinen Detektive in Richtung Zelt. Sato gesellte sich an seine Seite, nickte bekräftigend. „Und da gründen wir dann eine Sonderkommission und planen eine große Fahndung, was haltet ihr davon?“ Sie lächelte die Kinder enthusiastisch an. „Warum müssen wir eigentlich weg…?“ „Damit ihr nicht auch noch verschwindet.“ Inspektor Sato hatte sich vor die drei gekniet. „Na kommt, ich helf auch abbauen. Und später reden wir dann darüber, wie ihr uns bei der Suche behilflich sein könnt… die Soko Conan, was haltet ihr davon?“ Die drei nickten; die schöne Polizistin hatte sie überzeugen können. Meguré schaute ihnen hinterher, als sie sich, seine junge Mitarbeiterin an der Spitze des kleinen Zuges, wieder zum Zelt begaben und sich damit zu schaffen machten. „Na los, Takagi, machen Sie sich auch mal nützlich!“, schnauzte Meguré seinen jungen Mitarbeiter an, der gedankenverloren ins Unterholz gestarrt hatte. Der zuckte zusammen, wurde rot, hob die Hand. „Ja, sofort, Chef!“ Damit eilte er Miwako hinterher und begann, das Feuer zu löschen. Der Kommissar seufzte tief. Seine Augen blieben auf Môri haften, der ihn ernst anschaute. „Denken Sie nicht, es wäre dann jetzt an der Zeit, mich mal einzuweihen… in Conans kleines Geheimnis, was auch immer das ist?“ Black nickte zustimmend. „Ich denke auch, Sie sollten es wissen. Sie und Ihre Tochter sind davon wohl ebenso betroffen… Sie sollten wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Wer Conan entführt hat, in welcher Gefahr Sie deshalb schweben könnten… und nicht zuletzt, wer Conan ist. Ich denke, Kommissar, Sie sind dafür wohl geeigneter als ich; Sie beide kennen sich ja schon länger?“ Meguré nickte; dann nahm er Môri zur Seite. Kurz darauf sah man den dicklichen, kleinen Mann leise auf den hochgewachsenen Detektiv einreden. Black drehte sich um. „Wir sollten keine Zeit verlieren und hier verschwinden. Jodie, Shuichi… Hidemi…“ Die Angesprochenen schauten ihn aufmerksam an. „Ich denke, wir werden in Kürze alle auf den neuesten Stand der Dinge gebracht, von Ihnen, Hidemi, allerdings nicht hier. Dieser Ort ist zu gefährlich, viel zu nahe bei ihnen… Wir müssen weg. Ich denke, wir tun gut daran, hier auch Hand an zu legen. Damit ihr nichts passiert.“ James Black wandte den Kopf, beobachtete das kleine Mädchen, dessen rotblonde Haare im Wind flogen. Sie stand nur da, hatte sich unbemerkt von der Gruppe abgesondert, die Hände hinter ihrem Rücken verschlungen, schaute in den Himmel, in die Sonne. Sie musste sie blenden, aber es schien ihr nichts auszumachen. Erst nach einer Weile wandte sie den Kopf, schaute auf den Boden. Sie schien in Gedanken ganz woanders zu sein. Jodie folgte seinem Blick. Akai hingegen drehte sich um, griff nach einer Zeltstange, die Mitsuhiko fast umriss und half ihm, sie auseinander zu nehmen. Hidemi Hondo zog ihr Mobiltelefon aus ihrer Jackentasche, das leise zu bimmeln begonnen hatte. Sie warf einen raschen Blick aufs Display. „Es ist Vermouth. Vielleicht hat sie…“ „Worauf warten Sie noch? Answer the call!“ Black warf ihr einen drängenden Blick zu, nickte. Sie erwiderte sein Nicken, entfernte sich ein paar Meter, um ungestört den Anruf entgegennehmen zu können. Jodie seufzte, betrachtete immer noch Ai, die sich mittlerweile ins Gras gesetzt hatte. Dann wandte sie den Kopf und erblickte Inspektor Sato, die gerade die Zeltplane zusammengerollt hatte und im Beutel verstaute; ihre Augen hingen ebenfalls an dem kleinen Mädchen. Die blonde Agentin seufzte, dann schritt sie zu der dunkelhaarigen Polizistin, half ihr mit dem Zelt. Miwako Sato schaute auf, blickte in die blauen Augen der Frau vom FBI; dann räusperte sie sich, als sie es gemeinsam geschafft hatten, den Reißverschluss zuzuziehen und das Zelt endlich wieder handlich verpackt hatten. „Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“ Jodie Starling lächelte. „But of course.“ Die Polizistin kniff die Lippen zusammen, nickte in Richtung Ai, die sich auf den Boden hatte sinken lassen und Löcher in die Luft zu starren schien. „Sie auch?“ Jodie verstand sofort. „Ja.“ Sato atmete scharf ein. „Aber wie kann sowas gehen? Was ist das für ein Gift?“ „Das fragen Sie sie am Besten selber. Sie hat es mitentwickelt. Und sie…“ Sie drehte sich ebenfalls um, bedachte das Mädchen, das sich gerade möglichst unauffällig über die Augen wischte. „… sie bezahlt die Rechnung dafür, das dürfen Sie glauben. Sie wollte ihm helfen, nachdem sie sein Leben so zerrüttet hatte. Eigentlich trifft sie nicht viel Schuld, sie hat das Gift zwar entwickelt, aber ihm nicht verabreicht. Sie ist ein Opfer dieser Organisation wie er auch. Ihrer Schwester und ihre Eltern wurden von diesen Leuten ermordet…“ Sie hörten es leise knacken, als Takagi mit einer großen Reisetasche und einem Rucksack bepackt neben sie trat. „Hört sich nicht wirklich nach einer besonders schönen Kindheit an.“ Seine Miene war bedrückt, als das Gewicht des Rucksacks auf seiner Schulter verlagerte. „Wie alt ist sie?“ „18 oder 19. Auch ein sehr schlauer, junger Mensch, genauso wie er.“ Jodie schluckte. „Wir haben viel gemeinsam, sie und ich…“ Damit drehte sie sich um, näherte sich dem Mädchen, ließ Takagi und Sato allein zurück. „Also, hören Sie, Môri…“ Meguré zog sich unwillkürlich den Hut ein wenig weiter ins Gesicht, knetete nervös die Hände. Er wusste, dass Kogorô Môris Einstellung zu Shinichi Kudô nicht unbedingt die beste war; was wohl zum Großteil daher rührte, das Shinichi mittlerweile so gut wie erwachsen war und Kogorô seine Tochter nicht an diesen Detektiven abgeben wollte. Er wollte Ran überhaupt nicht hergeben. Außer vielleicht an einen Arzt. Oder Juristen. Oder irgendwas in der Preisklasse. Meguré seufzte. Grundsätzlich hegte Môri wohl die Ängste jedes Vaters um seine Tochter. Aber nun… ging es ja nicht nur um Ran. Es ging um… „…Conan? Meguré, nun sagen sie schon, was ist mit Conan?“ Môri hörte sich genervt an, und doch schwang deutlich ein Hauch von Besorgnis in seiner Stimme. „Ach ja…“ Meguré lachte verlegen. „Conan. Hätte ich jetzt fast vergessen.“ Der schlafende Meisterdetektiv zog skeptisch seine Augenbrauen hoch, verschränkte die Arme vor der Brust. Der Kommissar seufzte. „Nun gut. Bringen wir’s hinter uns.“ „Ich bitte darum.“ „Kurz und schmerzlos.“ „Gern.“ „Conan Edogawa ist in Wirklichkeit der geschrumpfte Oberschüler Shinichi Kudô. Er war es die ganze Zeit, hat vermutlich auch einen Großteil ihrer Fälle gelöst und…“ „Ach so… wenn’s sonst nichts… WAS?!?“ Kogorô Môris Reaktion auf die wahre Identität seines Untermieters fiel genauso aus, wie man es erwartet hatte. Jodie, die neben Ai stehen geblieben war, wandte den Kopf. Das kleine Mädchen folgte ihrem Blick. „Sieht nach Ärger aus.“ „Quite so.“ Sie seufzte, folgte der Kleinen, die zu den beiden Männern ging. „Er war… er war… wer?! Dieser Knirps war in Wirklichkeit dieser Möchtegerndetektiv?! Und der soll meine Fälle gelöst haben?!!“ Kogorô Môri atmete schwer. „NIE! Niemals. Sie belieben wohl zu scherzen, Herr Kommissar.“ Er lachte hohl. Meguré seinerseits schüttelte schwerfällig sein Haupt. „Nein. Ganz und gar nicht. Yusaku hat es uns heute erst erzählt. Shinichi… muss da wohl an dem Tag, an dem er mit Ran in diesem Vergnügungspark war… am 13. Januar 1994, vor fast drei Jahren also, war das… einer Organisation auf die Spur gekommen sein. Einem Verbrechersyndikat. Er hat zwei von ihnen damals ausgemacht, ist einem von ihnen, als er sie später am Abend nochmal gesehen hat, hinterhergelaufen… und hat ihn bei einem krummen Geschäft beobachtet. Dabei hat er den zweiten wohl nicht bemerkt, der ihn aber dann sehr wohl bemerkt hat. Nun.“ Meguré fing an zu schwitzen. Er blickte auf, sah, wie Môris Gesicht von rot zu weiß wechselte, und wusste nicht, ob nun Wut in Entsetzen umschlug oder sich diese Wut einfach nur potenzierte. „… da meine Leute ja noch da waren, wollten sie ihn möglichst geräuschlos umbringen, deshalb haben sie ihn vergiftet… nur leider hat das Gift, ein völlig neuartiges Toxin, ihn nicht wie erwartet umgebracht. Es hat ihn verjüngt. Um nun nicht aufzufallen, und der Illusion seines Todes keinen Abbruch zu tun, denn sonst, das wusste er, wären sie hinter ihm her wie der Teufel hinter der armen Seele, hat er sich eine neue Identität beschafft. Conan.“ Môris Kinnlade klappte nach unten. „Nach allem, was wir bisher wissen, ist er eben dann bei Ihnen eingezogen. Wie und wann wissen Sie selber. Wir vermuten zudem, dass auf Sie gerade deshalb die Wahl fiel, weil Sie eine Detektei führen. Wie käme er schneller an Informationen über diese Bande als so… in einer Detektei, in die laufend neue Fälle eingehen? Und dass…“ Der Kommissar schluckte, seufzte leise. „Dass er ihre Fälle gelöst hat, ist ebenfalls Spekulation, aber… seien wir ehrlich, Shinichi Kudô… der Junge ist brillant. Und dann ihre Blackouts… die Tatsache, dass Sie sich an die Fallauflösung so gut wie nie erinnern konnten… das alles spricht meines Erachtens dafür.“ Meguré drückte ihm mitfühlend die Schulter. „Ich kann verstehen, wie das für Sie ist…“ „Ich glaube nicht, dass Sie das können.“ Môris Stimme klang leise, bitter und unverhohlen wütend. „Aber vielen Dank für die Information, Herr Kommissar. Dann werde ich jetzt gehen, wenn’s Recht ist.“, presste er zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor. Er wollte sich umdrehen, gehen, als der Kommissar ihn zurückhielt. „Aber… Môri!? Wir müssen ihn doch suchen, es sieht ganz danach aus, als hätte diese Organisation ihn entführt, die werden ihn umbringen…! Wir müssen ihn finden, wir können doch nicht tatenlos mitansehen… Wir könnten wirklich jeden Mann gebrachen… sie können ihn doch nicht…“ Seine Stimme klang entsetzt, verständnislos. „Im Stich lassen?!“ Môri fuhr herum. „Warum nicht?! Er hat mich angelogen und ausgenutzt, mich und meine Tochter! Noch dazu hat er uns in Gefahr gebracht! Er hat sich diesen Schlamassel selber eingebrockt, soll er mal alleine zusehen, dieser neunmalkluge Schlaumeier, wie er seinen Kopf aus dieser Schlinge wieder ziehen kann. Ich werd ihm nicht helfen. Ich seh nicht ein, warum ich Kopf und Kragen riskieren soll, wegen…“ Ein Schweißtropfen rann ihm über die Stirn, versickerte in seinem Kragen. Er war wütend, ohne Frage. Wütend. Und er hatte Angst, aus irgendeinem ihm so schwer erklärbaren Grund hatte er Angst, Angst um diesen kleinen Jungen, der nun seit fast drei Jahren bei ihnen gelebt hatte, den er fast liebte, wie einen Sohn, an dem Ran so hing… Ran… Sie hing auch an Shinichi, das wusste er. Leider, wie er zugeben musste. Aber sie liebte ihn. Er hatte sie weinen gehört, ab und an, seinen Namen schluchzen, wenn sie sich sorgte und ihrem Kummer freien Lauf ließ, immer dann, wenn sie dachte, keiner würde sie hören… Immer dann, wenn die Sorge um ihn viel zu groß wurde, sie aufzufressen drohte, wenn sie sich fragte, wo er war, dieser Bastard… Ein leises Knurren verließ seine Kehle. Unwillig starrte er auf den Boden, ballte die Hand zur Faust, so fest, dass sein ganzer Arm vor Anstrengung zitterte. Er hatte ihn ausgenutzt. Ihn angelogen, ihn und Ran. „Warum?“ Meguré stutzte. „Was, warum? Warum Sie ihm helfen müssen? Oder was?“ „Das auch. Ich will wissen, warum er mir und Ran…“ er atmete sehr beherrscht ein, „drei volle Jahre lang Theater vorgespielt hat.“ „Um Sie beide zu schützen.“ Es war nicht Megurés Stimme, die nun zu ihnen heraufklang. Als sie beide nach unten schauten, blickten sie geradewegs in die wasserblauen, leicht feucht glänzenden Augen von Ai Haibara, hinter ihr stand Jodie Starling, betrachtete die beiden schweigend. „Er hat gelogen um Sie zu schützen. Ihm war verdammt klar, dass wenn man herausfand, wer er war, nicht nur sein Leben nichts mehr wert sein würde, sondern auch die Leben all jener, die er liebt. Ganz oben auf der Liste steht ihre Tochter, Herr Môri. Shinichi liebt ihre Tochter… Ran. Er würde sterben für sie. Ich meine das ernst.“ Ein Windstoß fuhr in die kleine Gruppe, brachte die Haare des Mädchens zum Fliegen, Sonnenstrahlen fingen sich in ihnen, ließen sie glänzen wie gesponnenes Gold. Für einen kurzen Moment wirkte das kleine Mädchen fast wie nicht von dieser Welt, fast wie eines dieser Waldwesen, in ihrem hellgelben Kleid und dieser weißen Haut. Dann verschwand dieser Moment, verflogt mit der Brise, die ihn gebracht hatte und zurück blieb Ai Haibara, die die Erwachsenen über ihr mit viel zu ernsten Augen anstarrte. „Er wollte ihr nicht mal sagen, dass er sie liebt, obwohl er es tut, Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr, und wie sehr ihn diese Situation deswegen gequält hat. Er wollte sie nicht an sich binden, mit diesen großen Worten… damit sie ihn loslässt. Er wollte es auch von ihr nicht hören, er wusste ja nicht, ob er je wiederkommen würde, und was sonst sollte er machen, in diesem Körper, als Conan… er würde nie über die Rolle des kleinen Bruders hinauskommen, er würde nie da sein können für sie, er wollte nicht, dass sie sich für irgendwas schämen musste, das sie ihm sagte… weil er sie dann abweisen müsste… Er wollte nicht, dass sie sich dumm vorkam, weil er ihr einen Korb geben würde… Und er wollte doch, dass sie glücklich ist… wenn es denn sein müsste, auch ohne ihn. Es war die Hölle, für ihn, verstehen Sie?! Die letzten drei Jahre… waren wie ein Gefängnis für ihn… eingesperrt in einen Körper, der lange nicht mehr seiner war, in eine Identität, die nie die seine war, und auch nie werden würde… und dann dieser Druck, von Ihnen die Gefahr abzuschirmen, selber sein Leben wieder in den Griff zu kriegen, diese permanente Angst, man würde es doch noch herausfinden… und nun ist es soweit… sein Alptraum ist wahr geworden…“ Sie schluckte, wischte sich unwillig über die Augen. „Deshalb müssen Sie ihm helfen. Deshalb… und weil Ran und Sie in Gefahr sind, jetzt, wo sie ihn haben, denn sie wissen, was sie tun müssen, damit er Wachs in ihren Händen ist… er würde für Ran alles tun… sie wissen das doch… sie kannten doch Conan! Sie kannten Shinichi…“ Môri wurde kreidebleich. „Aber…“, versuchte er einen letzten, aussichtslosen Widerspruch. „Er wollte Ihnen nicht eine Identität bescheren, die sie nicht aufrechterhalten können. Er wollte Sie nicht ausnutzen, wirklich nicht…“ Ai schluckte schwer. „Er wollte nicht lügen, betrügen, das wollte er nie, wenn Sie das glauben, dann kannten Sie ihn nicht. Und es tat ihm leid, Ihnen das antun zu müssen… ich denke, das hätte er Ihnen auch selber gesagt. Wird er Ihnen sagen, wenn er die Gelegenheit noch einmal bekommt.“ Kogorô seufzte schwer, schien sich wie unter Qualen zu winden, als er sich schließlich geschlagen gab. In seinem Kopf tauchte ein Bild auf, eins von jenen Abenden, als er vor der Tür seiner Tochter gestanden hatte, und sie weinen hörte… Nur stand vor der Tür nicht nur er. Conan hatte am Boden gesessen, der Tür gegenüber, sie angestarrt, als könne er mit seinen Blicken Löcher in das Holz bohren, und doch war in seinem jungen Gesicht ein Ausdruck zu sehen gewesen, von dem Môri nie hatte sagen können, was es genau gewesen war… Melancholie, Wut, Trauer, Schmerz, eine prekäre Mischung… kein Ausdruck, der auf dem Gesicht eines Grundschülers etwas zu suchen hatte. Er strich sich mit klammen Fingern über die Augen. „Schön. Schön! Ich komme und helfe suchen. Aber nicht wegen ihm! Ja?! Wegen Ran… sie wird es nicht ertragen, wenn er stirbt, fürchte ich. Außerdem sind wir nicht in Sicherheit, solange diese Leute noch da draußen ihr Unwesen treiben. Ich nehme ohnehin an, wir sollen ihr nichts sagen? Sie wird…“ Er schluckte, als er an seine Tochter dachte, diesen wild entschlossenen Blick in ihren Augen, wenn sie sich etwas vorgenommen hatte… und sie würde sich vornehmen, ihn zu retten, dessen war er sich sicher. „… helfen wollen, und sich unter Umständen in Gefahr bringen. Das kann ich als ihr Vater nicht zulassen.“ „Und genau das wollen wir auch nicht, Môri.“, stimmte Meguré erleichtert zu. „Wir wollten sie auf Izu lassen, da ist sie solange sicher. Danke für ihre Hilfe…“ Kogorô schüttelte den Kopf. „Danken Sie mir nicht. Wenn wir ihn gefunden haben, wird er sich wünschen, er wäre noch bei diesen Verbrechern, dieser kleine Bastard! Wenn ich mit ihm fertig bin…“ Er knurrte seinen Satz murrend zu Ende, während er mit den anderen zu den Autos marschierte. Es ging zum Professor… um Kir berichten zu lassen. Hinter ihnen blieb ein großer, leerer Platz zurück, der kaum mehr Zeugnis über die fröhliche Gesellschaft gab, die hier vor zwei Tagen noch gutgelaunt gezeltet hatte… Es hatte noch zwei Stunden gedauert, aber dann war endlich alles verladen gewesen, und bis auf die quadratische Stelle niedergedrückten Grases, dort, wo das Zelt gestanden hatte, zeugte nichts mehr von der Anwesenheit der kleinen Campergruppe. _______________________________________________ Dankeschön, an Diracdet für den Hinweis; ich war mir echt überhaupt nicht mehr sicher ^.~ Kapitel 9: Schwarz ------------------ Hallo, ihr Lieben! Vielen, vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Ehrlich, ich danke euch sehr für euer Feedback und danke für gewisse Hinweise ^.~ Leider fehlt mir gerade ein wenig die Zeit, um hier ein wenig zu plaudern ^.~ Aber ich denke, viel wichtiger ist ja ohnehin das Kapitel an sich, nicht mein Geschwafel XD Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen! MfG, eure Leira ;D _____________________________________________________________ Kapitel 9: Schwarz Irgendwo im Zimmer tickte die Uhr. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich genau umzusehen, wie sein neues Domizil eingerichtet war; da aber an der Wand keine große Uhr hing, schätzte er, dass hier irgendwo ein Wecker rumstand und seinen Dienst versah – und artig die Sekunden zählte, die vergingen. Ihm war das relativ egal, er hing mit seinen Gedanken in ganz anderen Sphären fest. Was werden die von mir verlangen…? Was muss ich tun, um Rans Leben zu beschützen…? Macht es denen Spaß, jemanden so zu quälen? Shinichi seufzte, lächelte bitter. Ja, natürlich tut es das. Blöde Frage. Die erste Nacht war kurz gewesen. Der erste Tag als Mitglied der Schwarzen Organisation in seinem Zimmer, allein, umso länger. Gedankenverloren schaute er auf den leeren Teller. Eigentlich hatte er ja nicht essen wollen. Aber… erstens hatte er wirklich Hunger gehabt, und er war noch Mensch genug, um nur schwer den Willen aufzubringen, gegen seine Grundbedürfnisse anzukämpfen. Zweitens, und wohl auch einer der Hauptgründe, war, dass er hier durchhalten musste, wollte er auch nur den allerkleinsten, schwächsten Funken Hoffnung bewahren, doch noch irgendwie hier raus zu kommen. Und drittens… wusste er nicht, wie man mit Ran verfahren würde, würde er sich allzu renitent verhalten. Langsam stand er auf, streckte sich. Er war diese Größe nicht mehr gewohnt, und das erschreckte ihn fast. Kurz wurde ihm schwindlig, die Behandlung mit dem berühmt-berüchtigten Wahrheitsserum hatte ihn mit einigen Nachwirkungen bedacht, was seinen Kreislauf und seine Schmerzempfindlichkeit betraf. Er schnappte nach Luft, setzte sich wieder, starrte den Boden an. Du siehst ihm wirklich außerordentlich ähnlich. Wer war ‚ihm‘? Also ‚er‘, dem er angeblich so unglaublich ähnlich sah…? Wen meinte Absinth…? Den Boss? Etwa… wirklich der Boss? Er biss sich auf die Lippen, kurz, dann fuhr er sich mit seinen Fingern durch die Haare. Meinte er den Boss, oder jemand anderen, den Absinth kannte? Aber dann… wenn er nur irgendwem ähnlich war, dann war es doch egal, ob er unwissend war oder nicht. Nein. Es musste eine Person sein, der er nicht ähnlich sein wollte. In keinerlei Hinsicht. Und da gab es eigentlich nur einen… den Boss. Aber auf welche Art und Weise konnte er ihm denn dann ähnlich sein? Gerade als er fortfuhr, diese Frage gedanklich zu erörtern und sich aufzählte, wie und auf welche Weise zwei Menschen einander ähneln könnten, hörte er das Klacken in der Tür, als sich der Schlüssel im Schloss drehte; kurz darauf schwang sie auf. Herein trat Sharon, schön und divenhaft wie eh und je. Er seufzte, starrte sie an. „Na, wie nett. Du lässt dich also auch mal wieder blicken…“ „Du steckst in der Klemme.“, stellte sie ohne Umschweife fest, schaute ihn mit blauen Augen unergründlich an. Shinichi zog seinerseits eine Augenbraue hoch. „Erzähl mir was Neues.“ Langsam ließ er sich rücklings aufs Bett sinken, starrte an die Decke. „Etwas, das ich noch nicht weiß. Wer der Boss ist, zum Beispiel.“ Aus den Augenwinkel warf er ihr einen Blick zu, sah, wie Sharon die Tür schloss und nähertrat, zog sich einen Stuhl an das Bett und setzte sich, schlug elegant ein Bein über das andere. Offensichtlich zog sie es vor, auf diese Frage immer noch nicht zu antworten. Er holte Luft, stellte dann eine andere Frage, die ihn jedoch nicht minder beschäftigte. „Er weiß also, wer Ran ist?“ „Ja.“ Langsam atmete er aus. Er hatte es geahnt, aber es aus ihrem Mund bestätigt zu bekommen machte es noch schlimmer. „Dann hab ich wirklich keine Wahl…? Was mach ich hier? Ich kann keinen töten… das muss denen doch klar sein. Was mach ich, wenn man das von mir verlangt? Ich…“ „Wenn du ihr Leben retten willst, tust du, was man dir sagt, egal was es ist und wie der Befehl lautet.“ Ihre Stimme klang seltsam kalt. Er richtete sich wieder auf, stützte sein Kinn auf seine Handflächen, zog seine Beine an. „Dann siehst du ähnlich viele Chancen wie ich, hier rauszukommen, ohne dass eine Katastrophe passiert…?“ „Null.“ „Exakt…“ Er seufzte schwer. Sie warf ihm einen mitfühlenden Blick zu, sah die dunklen Wolken, die seinen Blick umwölkten, der momentan in endlose Leere ging, sah, wie er sein Hirn zermarterte, nur um auf immer wieder die gleiche Antwort zu kommen… er war verloren. Egal was er tat, er konnte nur verlieren. Diese Ungewissheit, der Kampf mit sich selbst, diese Verzweiflung, die ihn zu übermannen drohte, wenn er daran dachte, was man von ihm verlangen würde. Man sah es ihm an. „Versuch, es nicht an dich heranzulassen. Das Verbrechen, den Tod…“ „Ha.“ Er lachte freudlos. „Wie soll ich das anstellen? Ich bin nicht wie du… ich kann niemanden töten. Aber wenn ich es nicht tu, wenn man es verlangt, dann stirbt Ran, womöglich! Das kann ich nicht verantworten. Seien wir ehrlich, sehen wir der Wahrheit ins Gesicht- ich werde diesen Bau hier lebend nie wieder verlassen, und das Letzte, was ich Idiot ihr jemals gesagt haben werde, ist, dass ich sie nicht liebe…“ Sie schluckte. „Das Telefongespräch…?“ Er nickte nur. „Sie hat mir gesagt, dass sie mich liebt… dass sie diese Ungewissheit nicht mehr aushält, wollte wissen, wie ich fühle, und ich hab sie angelogen.“ Er schaute auf, sah in ihre meerblauen Augen, in denen so viel Schmerz lag. Verlust, Verzweiflung und unbändiger Zorn. „Ich wollte sie nicht festnageln auf einen Typen, von dem nicht sicher ist, ob sie ihn jemals wieder zu Gesicht bekommt… und sie einfach so angelogen. Ich dachte, das wäre das Beste… für sie.“ „Das war nobel von dir.“ „Ja, sehr nobel.“ Seine Stimme klang voller Sarkasmus, als er sich abwandte, es vorzog, die Wand anzustarren, anstatt ihr ins Gesicht zu blicken. „Sie hat geweint, Sharon. Sie war fix und fertig, hat sich geschämt, bestimmt… mir das alles zu sagen, mir zu beichten, was sie für mich empfindet, und ich komm dann mit lauter Ausflüchten und Lügen und Ausreden und trete ihre Gefühle mit Füßen, wenn man so will. Ja, wirklich, das war das Nobelste, das ich je getan hab.“ „Es war das Richtige.“ „Na super.“ Er stöhnte auf, schaute sie kurz aus den Augenwinkeln an, in seinem Blick pure Frustration. „Wenn das Richtige solche Konsequenzen hat, dann sollt ichs vielleicht mal mit dem Falschen versuchen.“ Gedankenverloren fuhr er sich mit seinen Händen übers Gesicht und durch die Haare. „Aber was verschafft mir jetzt eigentlich die Ehre, Sharon? Ich denke, du bist nicht nur für ein kleines Schwätzchen hier… und offensichtlich auch nicht zum Fluchtplanschmieden.“ „Nein.“ Vermouth stand auf, schaute ihn von oben herab an, Bitterkeit stand in ihren Zügen. Wenn sie daran dachte, wem er dieses Leben zu verdanken hatte, wurde ihr fast schlecht. Wenn sie daran dachte, was sie ihm gleich mitteilen würde… nämlich seinen Namen und was sie morgen zu tun hatten… nein, allzu genau wollte sie darüber gar nicht nachdenken. Es musste ja dennoch gesagt und getan werden, und sie würde es kurz machen. Sie war ein Profi, immerhin. Sie warf ihm das Bündel entgegen, das sie bisher in ihrer Armen gehalten hatte; er faltete es auseinander, erstarrte, als er erkannte, was es war. Ein schwarzer Mantel. Langsam hob er den Kopf, schaute sie an. Zweifelsohne hatte er damit gerechnet, aber das machte es wohl auch nicht erträglicher für ihn. Er tat ihr Leid. Sie wollte ihm das nicht antun, nicht sagen, aber sie beherrschte sich. Sie war Schauspielerin, Oskarpreisträgerin, und sie hatte sich im Griff. Sharon Vineyard fiel nicht aus der Rolle. „Ich bin hier, um dir deinen neuen Namen mitzuteilen. Und dir zu sagen, dass ab morgen deine Lehrzeit beginnt. Mit Gin. Und mir.“ Shinichi schluckte. Ich schätze, er wird nicht begeistert sein, davon… Der Gedanke an das, was ihn erwartete, behagte ihm ganz und gar nicht. Das hier ging schneller, als er erwartet hatte, und es war ihm nicht Recht. Er öffnete den Mund erneut, aber sie hob die Hand, hinderte ihn daran, etwas zu sagen. „Nein. Hör mir zu, ich bin noch nicht fertig. Bitte.“ Er atmete stockend ein, hielt die Luft hörbar an. Eigentlich fehlt jetzt nur noch eins… „Dein… neuer Name ist Armagnac. Keep it in your mind.“ „Armagnac…?“ Der Name. „Ja. Tu nicht so, du hörst ganz gut.“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht.“ Er stand auf, langsam, sah sie etwas verwirrt an. „So will er mich nennen, Armagnac? Sharon, ich bin kein Kenner, aber - sag, ist das nicht… eine Art Weinbrand? Wie Cognac? Sind die nicht sogar… irgendwie verwandt? Und… heißt der Boss nicht so? Absinth hat ihn am Telefon so genannt…“ Sie starrte ihn an, ihre Miene versteinerte sich zusehends. Denk nicht weiter. Tu dir den Gefallen, denk nicht weiter... „Warum gibt er mir einen Namen, der seinem so ähnlich ist?“ „He had no big choice, I suppose. Wir haben fast alle Sorten durch.” Sie versuchte, gelassen zu klingen, versuchte, ihr Pokerface nicht zu verlieren. Shinichi zog die Augenbrauen hoch, lehnte sich nach vorn. Irgendetwas stimmte hier doch nicht… irgendetwas war seltsam mit ihr. Mit der ganzen Situation. „Warum glaub ich dir das nicht?“ Unwillig verschränkte er die Arme vor der Brust. „Denkst du nicht, du solltest mal rausrücken mit der Sprache? Wer zur Hölle ist er? Warum hab ich ihn noch nicht gesehen, wo er doch aber so erpicht drauf ist, mich in seinem Verein zu haben? Und was meinte Absinth damit, ich wär ‚ihm‘ ähnlich? Meinte er den Boss damit?“ Sharon starrte ihn an. Er war aufgeregt, aufgewühlt, man sah es ihm an. Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell, seine Augen glänzten fast ein wenig fiebrig, seine Hände zitterten, auch wenn er sie zu Fäusten ballte. „Du wirst übermorgen einen Drogenschmuggel begleiten, mit mir und Gin. Ich hoffe, du benimmst dich, tust was man dir sagt, sonst bist du tot, und Angel auch, ich denke, das muss ich dir nicht sagen.“ Ob er sie hörte, konnte sie nicht sagen. Sein Blick war immer noch starr auf sie geheftet, ernst, unnachgiebig. „Sharon, wer ist er?“ Why don’t you stop it?! Sie holte tief Luft, stellte sich gerade hin, schaute ihn, wie sie hoffte, beispielhaft gelassen und kühl an. „Das muss dich nicht interessieren. Es ist für dich ohne Belang, du wirst ihn nicht kennenlernen. Die wenigsten lernen den Boss kennen, selbst Gin weiß nicht, wer er ist. Das weißt du doch, dass er ein Geheimnis aus sich macht. Sherry kannte ihn doch auch nicht.“ „Aber du kennst ihn. Und du verheimlichst es mir bewusst! Kenne ich ihn? Ist es jemand, der-“ „Can you stop it, please!?“ Sie schrie ihn an. Er zuckte zurück, starrte sie an, wusste, dass er den Nerv getroffen hatte. Er war kurz davor, die Antwort auf alle seine Fragen zu bekommen. Ganz kurz davor. „Sag’s mir.“ Er klang fordernd, schaute sie stur an. Nicht der Trotz eines Kindes glomm in seinen Augen, nein. Die stumme Forderung eines jungen Mannes, der die Wahrheit wissen wollte. Egal, ob sie gut für ihn war oder nicht. Sharon kniff die Lippen zusammen, schüttelte ihr Haupt. „Do me a favour and just shut up.“ Ihre Stimme war kaum lauter als ein Wispern. Sie stierte auf den Boden, ihre Augen leer, fast tot; stoßweise atmete sie aus. Er war viel zu nah dran. „We’ll see us tomorrow. Versuch zu schlafen.“ Damit drehte sie sich um, verließ fast fluchtartig den Raum. Er stand auf, eilte ihr nach, prallte fast gegen die Tür, die sie ihm vor der Nase zuschlug. „Sharon!“ Er klopfte gegen die Tür. „Sharon!“ Keine Reaktion. Allein das sanfte Klicken im Schloss signalisierte, dass wieder abgeschlossen war. „Verdammt!“ Er schlug mit der Faust gegen die Kunststofftür, die seinen Weg nach draußen versperrte, starrte auf das weiße Plastik, als hätte es die Antworten zu seinen Fragen. Das hier war merkwürdig. Sehr merkwürdig. Irgendwie wurde er das dumpfe Gefühl nicht los, dass das hier weit größere Dimensionen erreichte, als er es je geahnt hatte. Alles hier schrie förmlich danach, dass er ihn kannte, den Anführer der Schwarzen Organisation. Sharons Verhalten, ihre Kommentare, Absinths Worte… und die Tatsache, dass er noch lebte, und der Boss offensichtlich viel von ihm wusste… und von Ran. Es war offensichtlich, dass es stimmen musste, dass er Recht hatte, mit seiner Vermtung - dass es jemand war, den er kannte. Der Boss der Schwarzen Organisation… war jemand aus seinem Umfeld. Fast ohnmächtig sank er aufs Bett, vergrub sein Gesicht in seinen Händen, stöhnte leise auf. Nur das machte Sinn, eigentlich. Aber wer? Wer? Mein Gott… Wer? Sie eilte den Gang entlang, als sie auf ihn traf. Sein Gesichtsausdruck war alles andere als glücklich; seiner missvergnügten Miene konnte sie entnehmen, dass irgendetwas nicht nach seinen Wünschen gelaufen war. Und sie ahnte auch schon, was. „Ich nehme an, du weißt, dass wir den Neuen ausbilden dürfen.“ In seiner Stimme klang beißender Zynismus. „So ist es. I was instructed to tell him so. And to give him his new name. Armagnac, that’s the name he chose.“ Sie versuchte, gelangweilt zu klingen. „Im übrigen… Wo warst du eigentlich?“ „Geht dich das was an…?“ Seine Stimme klang gereizt. Sie wickelte kokett eine Strähne ihres blonden Haares um ihren Finger. Langsam bekam sie wieder Boden unter den Füßen, nachdem ihn ihr Shinichi mit seinen Vermutungen so brutal weggerissen hatte. „Ah… let me have a guess. Du wolltest auf die Jagd gehen nach ihr. You were on your private vendetta…” Gins Lippen verzogen sich zu einem hässlichen Lächeln. „Wie ich schon sagte, Vermouth. Es geht dich nichts an.“ „Does the boss know?“ Sie lächelte süß, ihre blutrot geschminkten Lippen perfekt geschwungen, ihre weißen Zähne makellos. „Ich sagte dir, es geht dich nichts an.“, knurrte Gin gereizt. „Fine.“ Vermouth spitzte ihre Lippen, lehnte sich an die Wand. „Dann lass uns mal beim Boss antanzen und unsere Instruktionen abholen.“ Sie stieß sich wieder ab von der Mauer, stolzierte ihm voran, die Gänge entlang bis zu seinem Büro. Drehte sich nicht um. An seinen Lippen, dem verächtlichen Lächeln, das er ihr noch zugeworfen hatte, war abzulesen gewesen, wie er sich für seine verpasste Chance zu entlohnen gedachte. Sie musste verhindern, dass er ihm was antat… oder jemand anderem Gründe gab, ihm etwas anzutun. Weit weg von diesem Ort, an dem alles als Urlaub begann und als Katastrophe zu enden drohte, saßen die Polizei, Môri, das FBI und Hidemi Hondo, wie auch die Kinder, die sich geweigert hatten, heim zu gehen, bei Professor Agasa im Wohnzimmer. Rund um den rechteckigen Tisch gruppiert, starrten sich an und schwiegen, warteten darauf, dass der Professor mit dem Tee, den zu kochen er in die Küche verschwunden war, zurückkam. Einzig und allein die Kinder tuschelten aufgeregt vor sich hin, mit Ausnahme eines Mädchens, das ja genau genommen gar kein Kind mehr war. Ai Haibara saß stumm auf dem weißen Sofa, ihre kleinen Hände in ihrem Schoß gefaltet und schwieg, schaute auf die blankpolierte Tischplatte und beschränkte ihre Aktionen ansonsten darauf, einfach ein- und auszuatmen. Ihr gegenüber saß Kogorô Môri, dessen erhitztes Gemüt sich langsam wieder abgekühlt hatte und ihm dementsprechend auch wieder sehr viel klareres Denken ermöglichte. Lange beobachtete er sie, schwieg, schaute sie nur an. Sie, das zweite Kind neben Conan, das ihm immer wieder Rätsel aufgab. Sie schien genauso wenig ein Kind, wie er. Er war immer ein wenig anders gewesen - entweder einen Tick zu kindlich, oder aber viel zu erwachsen; er hatte es zwar geschafft, auf irgendeine Weise, sich diese Merkmale zu eigen zu machen, sie einfach Teil seines Charakters sein lassen und hatte damit allen anderen trotzdem glaubhaft das Kind verkauft, aber jetzt, wo er wusste, wer Conan wirklich gewesen war, dann fragte er sich, wie er jemals auf ihn hereinfallen hatte können. Und er fragte sich, ob dieses Mädchen sie nicht genauso täuschte. Ihre Art, ihr Benehmen, wie sie redete und vor allem… was sie vorhin über Shinichi gesagt hatte, ließen eigentlich nur einen Schluss zu. Ai schluckte, schaute auf, als sie merkte, dass sie beobachtet wurde. Blickte geradewegs in die ernsten Augen von Kogorô Môri, der sie eingehend zu mustern schien. Sie seufzte leise, dann nickte sie. Er fuhr hoch, hatte augenscheinlich ihr Nicken richtig gedeutet. Sie warf den Kindern neben sich auf der Couch einen prüfenden Blick zu; sie schienen alle mit sich selbst beschäftigt genug zu sein, sie würde wohl nicht fehlen. Langsam, bedächtig rutschte sie vom Sofa, umrundete den Tisch und setzte sich neben Môri auf das zweite Sofa. „Sie denken ganz richtig.“, murmelte sie leise. Erst dann wagte sie, aufzusehen, blickte ihm geradewegs ins Gesicht. „Ich auch.“ Kogorô schluckte, während Ai den Kopf wieder abwandte, auf ihre Füße starrte, die fünfzehn Zentimeter über dem Boden baumelten. „Sonst noch wer…?“, fragte er scheinbar beiläufig, gelassen, aber seine verkrampften Hände sprachen einen ganz andere Sprache. Ai schüttelte den Kopf. „Nein. Soweit ich weiß, sind ich und Shinichi die einzigen.“ Kogorô nickte starr. „Und… und warum du?“ „Weil ich es erfunden habe, als ich für die schwarze Organisation arbeitete, und mich weigerte, daran weiter zu forschen, als man meine Schwester ermordet hatte. Allerdings hat man es mir nicht gegeben, ich nahm es freiwillig.“ „Du wolltest dich aus freien Stücken schrumpfen?“ „Nein. Ich wollte sterben.“ Sie schaute wieder auf. Môri schrak zurück, als er diese Leere, diesen grenzenlosen Kummer in diesen kindlichen Augen sah. „Ganz Recht.“ Sie nickte scheinbar sich selber zu. „Ich wollte sterben.“ Stille entstand. „Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben. Sie töteten Akemi, meine Schwester, und ich wollte nicht mehr weitermachen. Sie kannten sie sogar. Sie gab sich als Masami Hirota aus.“ Kogorô fuhr zusammen. „Das… das Mädchen mit der Uhr?“ „Ganz genau. So hat sie auch Conan beschrieben. Sie kam, weil sie angeblich ihren Vater suchte. Sie hatte den einen Milliarde Yen Raub begangen, um mich freizukaufen, aber die Organisation hatte sie reingelegt. Sie wollte nur das Geld, mich laufen lassen wollten sie nie, ich war zu wichtig. Ich wusste zu viel von dem Gift, man brauchte mich im Labor.“ Sie schluckte, merkte, wie Bitterkeit in ihr hochstieg. „Als sie also tot war, wollte ich auch nicht mehr leben. Ich wollte ihr folgen, stattdessen aber schrumpfte ich, suchte Shinichi und fand ihn auch. Und nun versuche ich, ihm zu helfen, wieder er selbst zu werden. Oder auch nicht.“ Das kleine Mädchen lächelte bitter. „Wer weiß, ob er da, wo er jetzt ist, jemals wieder lebend rauskommt.“ Môri seufzte. „Es ist wohl sehr wahrscheinlich, dass man ihn umbringt?“ Ai nickte langsam. „Ja. Er weiß… er weiß viel zu viel. Ich weiß nicht, warum sie ihn noch nicht umgebracht haben.“ „Er lebt also noch?“ „So viel sagte Kir zumindest.“ Sie nickte in Hidemis Richtung, die neben Black saß und leise mit ihm zu reden begonnen hatte. „Aber…!“, entfuhr es dem Meisterdetektiv laut, der anscheinend jetzt erst die Ähnlichkeit der Agentin mit einer ihm sehr bekannten Fernsehmoderatorin erkannt hatte. „Ist das nicht Rena Mitsunashi?!“ Seine Augen wurden groß. Stille kehrte ein, als alle Augen in die Richtung der Undercoveragentin wanderten. Diese seufzte leise, dann nickte sie. „Es hat wohl keinen Zweck, das zu leugnen. Ja, Rena Mitsunashi ist eine meiner Identitäten… eigentlich heiße ich Hidemi Hondô und ja-…“, sie nickte dem Detektiven zu, „ich bin Eisukes Schwester. Außerdem bin ich als Undercoveragentin der CIA bei der Organisation untergebracht. Mein Codename dort ist Kir, wie die meisten hier ja jetzt wissen.“ Sie seufzte, schaute scheinbar interessiert ihre Finger an, als sie darüber nachdachte, was sie ihnen wohl gleich berichten würde. Bevor jedoch Môri zu einer weiteren Frage ansetzen konnte, kehrte Agasa mit dem Tee zurück. Jeder nahm sich eine Tasse, gefüllt mit der dampfenden Flüssigkeit, und für ein paar Minuten erfüllte leises, kollektives Schlürfen den Raum. Bis… „Erfahren wir nun endlich Conans Geheimnis?!“ Genta hatte seinen Tee in Rekordzeit ausgetrunken, wobei er sich die Zunge verbrannt hatte, allerdings hinderte es ihn nicht daran, endlich seiner scheinbar grenzenlosen Ungeduld Ausdruck zu verleihen. „Sie haben gesagt, Sie würden es uns sagen, wenn wir vom Zeltplatz verschwunden wären. Nun sind wir weg. Also?!“ Er griff auf die Platte mit Keksen, die der Professor dazugestellt hatte, stopfte sich eine Handvoll in seinen Mund, kaute knirschend. Mitsuhiko und Ayumi neben ihm nickten bestätigend. „Genau! Das hatten Sie gesagt!“ Sie warfen den beiden Polizisten, Sato und Takagi, vorwurfsvolle Blicke zu. Meguré warf ihnen auch Blicke zu, allerdings keinesfalls vorwurfsvoll, sondern vielmehr angesäuert. Bevor er allerdings ansetzen konnte, um den Kindern, die sich offensichtlich wirklich nicht abwimmeln ließen, die Geschichte zu erzählen, schaltete sich Ai ein. „Conan ist in Schwierigkeiten. Er… er kannte die Frau, die ihn entführt hat. Vor… vor einiger Zeit hat er sich mit einer gewissen… Organisation angelegt, und nun… ihr wisst ja wie das ist. Es ist im Grunde genommen wie die Mafia oder die Yakuza.“ Ai räusperte sich. „Sie haben ihn ausfindig gemacht, entführt, und werden ihn wohl umbringen. Mit Betonklötzen an den Füßen im Teimuzu versenken.“ Ihre Stimme war erstaunlich sachlich, während ihr die erwachsenen Anwesenden bewundernde Blicke zuwarfen. Mit wenigen Worten hatte sie geschafft, den Kindern die wesentlichen Aspekte zu erklären, ihre Neugier zu befriedigen, ohne Shinichis Identität auch nur anzudeuten. Ohne ihnen die ganze Wahrheit zu sagen. Eine Wahrheit, für die die Kinder wohl eher noch nicht gemacht zu sein schienen. Die Detective Boys starrten sie mit offenem Mund an. „A… aber… warum hat er uns das nicht gesagt?“ „Um euch nicht zu gefährden.“ Das war sogar die Wahrheit; und Ai war fast stolz auf sich, die Geschichte so nahe an der Wirklichkeit erzählen zu können. Sie blickte kurz zu Jodie, die ihren Blick richtig deutete. „Und nun - ist es wohl Zeit, dass wir euch nach Hause bringen.“ Sie stand da, lächelte die Kinder an. „Wenn sich etwas tut, dann geben wir euch Bescheid…“ „Aber!“ Ayumi sprang hoch, baute ihre knapp ein Meter dreißig vor der FBI-Agentin auf. „Aber Conan ist unser Freund! Wir müssen ihn suchen!“ „Aber es wird doch schon dunkel, darling…“ Jodies Stimme klang sanft, dann beugte sie sich herunter, drehte Ayumis Köpfchen mit beiden Händen sacht in Richtung Fenster. „Ihr könnt uns morgen bei der Suche weiterhelfen. Heute ist, glaube ich, da gar nichts mehr zu machen…“ Sie seufzte, zuckte bedauernd mit den Achseln. Ayumi, Genta und Mitsuhiko blickten sie prüfend an. Dann schienen sie wohl zu glauben, die Frau spreche die Wahrheit, und nickten. „Gut. Aber Sie holen uns ab, wenn Sie ihn suchen?“ „Of course!“ Die blonde Agentin nickte heftig mit dem Kopf, um ihr Einverständnis zu unterstreichen. „Auf jeden Fall, was wäre eine Suche ohne die Detective Boys!“ Die drei Kinder nickten mit vor Stolz geschwellter Brust. „Genau!“ Jodie warf ihrem Vorgesetzen einen Blick zu. Der nickte nur kurz, und sie schnappte sich den Schlüssel zum Wagen, um die kleinen Detektive heimzufahren. Kir lehnte sich langsam zurück. „Ich nehme an, wir warten…?“ Black und Meguré nickten synchron. Agasa hingegen stand auf. „Ich denke, ich sollte Heiji anrufen. Er ist sein bester Freund, ihn wird… interessieren, was vorgefallen ist. Er wird auch kommen wollen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf und ging in den Flur hinaus. Meguré seufzte. „Weiß Heiji das mit Conan eigentlich?“ Ai nickte. „Ja. Er hats selbst herausgefunden und Shinichi dann, soweit mir das berichtet wurde, vor vollendete Tatsachen gestellt, mit der Drohung, ihn zu verraten an Sie…“, sie schaute Môri kurz an, „und Ran, wenn er weiter abstreitet. Er gabs daraufhin zu, und seitdem sind sie wohl befreundet.“ „Eine komische Basis für eine Freundschaft.“, murrte Kogorô. Ein kurzes Lächeln huschte über Ais Lippen. Aber wohl nicht die schlechteste. „Hattori?“ Heiji seufzte leise, wartete auf eine Antwort. „Ha… Hallo Heiji. Hiroshi Agasa am Apparat…“ Heiji stutzte- mit allem hatte er gerechnet, als er von seinem Zimmer aus die Treppe fast herunter gefallen war, um noch rechtzeitig ans Telefon zu kommen, weil außer ihm keiner im Haus war und er das zu spät registriert hatte - aber nicht mit Agasa. Allerdings war klar, warum der alte Professor anrief. Wenn er ihn kontaktierte, konnte es eigentlich nur einen Grund geben- Shinichi. Heiji griff sich das Telefon und setzte sich auf die Treppe. „Guten Abend, Professor. Was hat Shinichi denn diesmal ausgefressen…?“ Ein leises Grinsen hatte sich auf seine Lippen geschlichen. Bestimmt schob der Kleine wieder Panik wegen irgendwelchen schwarz gewandeten Gestalten. Dann riss ihn Agasas Stimme wieder aus seinen Gedanken. Das erste, was ihm auffiel, war die Besorgnis in der Stimme des alten Mannes. „Hör zu, Heiji. Conan… Shinichi… wurde während eines Ausflugs mit mir und den Kindern als Shinichi erkannt, von einem Mitglied der schwarzen Organisation- er…“ „WAS?!“ Heiji war aufgesprungen, das leicht süffisante Lächeln war ihm schlagartig von den Lippen gefallen. „Was?! Professor, dann müssense ihn sofort in Sicherheit bringen! Und diese Leute vom FBI anrufen!...“ Er hielt inne, als er ein leises Räuspern am anderen Ende der Leitung vernahm. „Das kommt zu spät, Heiji. Er wurde entführt. Shinichi ist weg… ich wollte es dir sagen, weil du sein bester Freund bist. Wenn du… Zeit hast, kannst du kommen, und bei der Suche helfen…“ Langsam sank Heiji wieder auf die Treppenstufe zurück, merkte, wie seine Finger immer kälter wurden, ihm das Telefon fast zu entgleiten drohte. „Entführt.“ „Ja.“ „Weiß man schon… was? Ich meine…“ „Das FBI ist an der Sache dran. Black, Miss Jodie und Shuichi Akai sind schon hier und die Undercoveragentin von der CIA, mit der sie in Kontakt stehen, ebenfalls. Wir wissen immerhin, dass er noch lebt. Alles Weitere wird sie uns gleich erzählen, ich wollte dich nur informieren, also wenn du…“ „Ich nehm den nächsten Flieger, Professor.“ Heiji stand langsam auf. „Ich ruf an, wenn ich in Tokio bin. Rechnen Sie morgen Abend mit mir.“ Damit legte er auf. Professor Agasa stand im Flur, das schweigende Telefon in seiner Hand. Dann legte er es langsam wieder auf die Gabel zurück, und kam gerade noch rechtzeitig, um Jodie Starling, die die Kinder heimgebracht hatte, wieder ins Haus zu lassen. Wenige Minuten später saßen sie dann endlich alle vereint auf der Sitzgruppe in Professor Agasas Wohnzimmer und starrten Kir alias Rena Mitsunashi alias Hidemi Hondô angespannt an. Als Black ihr schließlich zunickte, ihr damit das Zeichen gab, mit ihrer Berichterstattung zu beginnen, räusperte sie sich vernehmlich, bevor sie mit klarer Stimme zu reden begann. „In Anbetracht der besonderen Umstände dieses Treffens ist es wohl angebracht, mich nocheinmal vorzustellen, auch wenn das meiner Eigenschaft als NOC nicht zuträglich sein dürfte.“ Sie seufzte. „Nur, damit keine Missverständnisse auftreten. Die meisten von Ihnen kennen mich wohl unter dem Namen Rena Mitsunashi, aus dem Fernsehen…“, hier nickte vor allem Kogorô heftig mit dem Kopf, „…diese Tätigkeit und diesen Namen habe ich angenommen, um mir eine zweite Identität aufzubauen; eigentlich heiße ich Hidemi Hondô, arbeite für die CIA und bin momentan im Einsatz als Undercoveragentin in der Schwarzen Organisation. Mein Deckname dort lautet Kir.“ Sie machte eine Pause, ließ diese Eröffnung auf die im Raum Anwesenden einwirken. „Soweit… zu mir. Ich denke, ansonsten… sollten wir jetzt von vorne beginnen.“ James Black nickte. „Ja, das wäre sicherlich für uns alle am einfachsten. Fahr bitte fort.“ Sie nickte bedächtig, nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. „Gut. Also… Conan Edogawa, oder Shinichi Kudô, sollte man wohl besser sagen, kam vor nunmehr gut zwei Tagen in das Hauptquartier; er wurde von einer Agentin der Organisation namens Beaujolais aufgegriffen, am Strand in der Nähe des Campingplatzes, von dem wir vorhin aufgebrochen sind… sie hatte seine wahre Identität aus einem Telefongespräch erschlossen, das er wohl mit seiner Freundin geführt hatte, mit Ran. Sie nannte ihn dabei beim Namen, und er verwendete seine Fliege, um seine Stimme zu verstellen. Damit war der Fall für Beaujolais klar.“ Die Anwesenden nickten. „Nachdem man ihn eingesperrt hatte, ließ man ihn fürs erste in Ruhe; nach ungefähr einem halben Tag gab man ihm das Gegengift für APTX 4896.“ Nun schnappte Ai nach Luft; und auch Jodie und Shuichi bewegten sich, schauten Kir angespannt an. „Ja, er ist wieder Shinichi Kudô. War, soweit mir bekannt ist, nicht ungefährlich für ihn, aber er lebt noch. Das Gift wurde am Menschen noch nicht getestet, er war der erste, dem man es gab; seltsamerweise schien der Boss geradezu darauf zu bestehen, dass er es bekommt. Es war zwar schon recht sicher, aber ein Restrisiko bleibt doch immer…“ Sie warf Ai einen schrägen Blick zu. „Gerade, wenn man bedenkt, was ihr beide wohl schon getestet habt. Ich weiß zwar nichts genaues, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr zwei hier rumgesessen und Däumchen gedreht habt.“ Ai wurde blass, wich den Blicken, die ihr nun von allen Seiten her zugeworfen wurden, fast scheu aus. Kir trank einen Schluck Tee aus ihrer Tasse, räusperte sich. Im Raum herrschte angespanntes Schweigen. „Aber weiter… Ich denke, das war wohl noch der angenehmere Teil für ihn. Nach einem weiteren Tag Einzelhaft brachte man ihn nämlich vor das Triumvirat, also heute. Damit wäre heute der Tag, an dem er hätte sterben sollen.“ Sie schaute in eine Runde voll fragender Gesichter. „An dieser Stelle sollte ich vielleicht erläutern, was das Triumvirat ist.“, seufzte sie. Black und Meguré nickten synchron. Dem Kommissar ging so langsam auf, mit welcher Verbrecherbande sich sein junger Freund da eingelassen hatte, und seine Meinung bestätigte sich mit jedem Wort aus Kirs Mund mehr. „Das Triumvirat besteht, wie der Name schon sagt, aus drei Männern. Sie behalten ihr Amt auf Lebenszeit, wie auch der Boss, und bilden seinen Gegenpol. Sie haben allein keine Entscheidungsmacht, aber sie können gegen seine Beschlüsse ein Veto einlegen. Insofern… sind auch sie nicht völlig machtlos. Insbesondere Absinth, man kann ihn wohl als Anführer der Drei betrachten, nimmt sich gern immer mehr Rechte heraus, als ihm zustehen. So soll… noch irgendwie Demokratie herrschen in den Strukturen der Organisation. Ihr Niedergang verhindert werden, wenn der Boss größenwahnsinnig würde oder dergleichen… zu viel riskiert, zu unvorsichtig würde… also…“ Sie holte Luft, beugte sich leicht nach vorn, schaute keinen an, als sie sprach. „Da der Boss sich nie blicken lässt, keiner weiß, wer er ist, bis auf… Vermouth und das Triumvirat… übernahm das Triumvirat also auch sein Verhör. Die Drei müssen sich mit dem Boss, mit Cognac, das ist sein Codename, ohnehin ziemlich in der Wolle gehabt haben, was Kudô betraf; es war wohl so, als wollten sie ihn ohne Umschweife töten, der Boss wollte das nicht. Aber zuerst sollte er verhört werden, darin waren sie sich wohl noch alle einig.“ Ai stöhnte auf, ließ sich mit geschlossenen Augen in die Kissen sinken. Ihr Verhalten erntete einige fragende Blicke seitens der Polizei. Ihnen schwante nichts Gutes. „Lass mich raten… man wollte vorher noch wissen, was er weiß?“ Kir nickte. „Ja. Unter anderem wollten sie unbedingt wissen… wo du bist. Immer wieder die gleichen Fragen… wo Sherry ist, und was das FBI weiß, wollten sie wissen. Die Organisation weiß generell gut über euch Bescheid, aber alles wohl doch noch nicht.“ Sie warf einen schnellen Blick in die Runde. „Und genau deswegen bin ich hier. Die sind hinter dir her, wie der Teufel hinter der armen Seele, und der einzige Grund, warum sie ihn nicht sofort erschossen haben, war, weil sie von ihm wissen wollten, wo du bist. Sie sind sich sicher, dass ihr euch kennt.“ Ai nickte nur sacht. „Also haben sie ihn verhört…?“, hakte Black ein. „Nun.“ Zum ersten Mal schien Kir nun nervös zu werden. „Ich fürchte fast… Verhör ist untertrieben…“ Sie schluckte hart. „Das was die mit ihm abgezogen haben, war laut meiner Quelle, also laut Vermouth, Chris, als die ich sie kennenlernte, beziehungsweise Sharon Vineyard, als die sie sich mir dann vorgestern vorstellte, und die trotz gegenteiliger Gerüchte tatsächlich noch lebt, eher kein normales Verhör. Ich denke, über Sharons Jugend muss ich mich nicht auslassen... das kann sich nach den neuesten Erkenntnissen wohl jeder hier erklären." Sie seufzte. "Nun, ich lernte sie als Chris kennen, aber sie korrigierte ihre... Identität, bevor wir zu Shinichi gingen, nachdem man ihm das Antiserum verabreicht hatte, aber noch vor seiner Befragung, denn der... wusste auch, wer sie ist. Ich stehe mit ihr in Kontakt und...", sie blickte kurz um sich, "... und sie ist wohl… auf unserer Seite, warum auch immer. Nun, sie war dabei, bei seinem Verhör und sie berichtet, das Ganze... hätte sie eher an die Methoden der Inquisition erinnert. Befragung unter Folter wäre der passendere Begriff, fürchte ich.“ Meguré zuckte zusammen, Takagi begann, seine Hände zu kneten. „Folter, inwiefern…?“, fragte der Kommissar dann vorsichtig. Er war sich nicht sicher, ob er hören wollte, was sie Shinichi angetan hatten, aber fragen musste er. Kir griff nach ihrer Teetasse, blickte nachdenklich lange hinein, ehe sie einen kleinen Schluck trank. Ai merkte, wie ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken rann. Sie kannte die Wahrheitsfindungsmethoden der Organisation zu genüge, aber sie hatte gehofft, so sehr gehofft, wenigstens das bliebe ihm erspart. Shuichi Akai wollte gerade seinen Mund öffnen, um eine Frage zu stellen, aber das rotblonde Mädchen kam ihm zuvor. „Wahrheitsserum?“ Sie hauchte das Wort fast. „Ja.“ Die schwarzgelockte Agentin nickte schwer. „Sagt Sharon, und ihr ist da zu trauen, denke ich. Sie war dabei, als man ihn verhörte. Und sie hörte sich am Telefon sehr aufgebracht an.“ Ai öffnete die Augen. „Wie viel… wie viel haben sie ihm verabreicht?“ Die Frage kam ihr fast nicht über die Lippen. Die schwarzhaarige Frau schluckte schwer. „Eine ganze Ampulle. Zwar auf Etappen, wie es üblich ist, aber…“ Sie brach ab, als sie merkte, wie weiß das kleine Mädchen wurde. Ihr Atem ging stoßweiße, ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell. Môri neben ihr sah sie nur an, dann griff er nach ihrer Teetasse, drückte sie ihr in die Hand, sah zu, dass sie ein wenig davon hinunterwürgte, und wie er hoffte, half es ein wenig. Ihre Gesichtsfarbe kehrte zurück, langsam bekam sie sich wieder in den Griff. Akai zog langsam die Augenbrauen hoch. „Das Triumvirat gab sich selbst die Ehre? Normalerweise lassen die die anderen ihren Dreck machen und stellen nur die Fragen.“ Kir nickte. „Offenbar, ja. Ich weiß auch nicht, was Absinth getrieben hat, es selbst zu tun. Irgendetwas ist besonders, anders, an Shinichi Kudô. Ihm das anzutun muss für ihn einen besonderen Reiz gehabt haben, anders kann ich mir das nicht erklären.“ Black räusperte sich leise. Akai warf ihm einen kurzen Blick zu, dann verschränkte er seine Arme vor der Brust, beobachtete die Dampfwolken, die aus seiner Tasse aufstiegen. „Ich nehme an, er hat nichts gesagt…?“ „Kein Wort.“ Kir lehnte sich zurück. „Nicht ein Wort. Keine Antwort auf auch nur eine Frage, er hat sie rasend gemacht. Aber Sharon sagte… es war so grauenvoll. Er hat nicht mal geschrien, die Blöße wollte er sich offenbar nicht geben, seine Selbstbeherrschung ist wirklich außerordentlich - aber du kennst es - du weißt, was das Serum mit einem Menschen anrichtet…“ Ai, die immer noch sehr blass um die Nasenspitze war, nickte. „Und weiter?“, hakte Black nun nach. „Soweit du durchsickern hast lassen, lebt er noch?“ „Ja.“ „Warum?“ Kir lachte leise. „Das wüsste ich auch gern. Sharon weiß es, aber in der Beziehung schweigt sie wie ein Grab. Es muss so gelaufen sein, dass Absinth, den Befehl zur Hinrichtung gab. Gin hatte bereits grünes Licht, die Mündung seiner Baretta schon an seiner Schläfe - aber zum Abzug kam er nicht. Der Boss persönlich rief an. Cognac. Verlangte, dass man ihm ein Angebot machte… ein Angebot, das Shinichi Kudô unmöglich ablehnen konnte.“ Kogorô seufzte. „Macht er jetzt Karriere beim organisierten Verbrechen?“, fragte er genervt. „Dann seh ich aber nicht ein, warum wir…“ „Seinen freien Willen, sein Leben, sein ganzes Dasein… gegen das Leben ihrer Tochter.“ Die Agentin starrte ihn an. „Das war der Deal. Der Boss kennt ihre Tochter, Herr Môri. Und er hat ihm damit gedroht, neben ihm auch sie zu töten, wenn er nicht einsteigt. Er musste zusagen… ihm blieb keine Wahl. Er war… hinterher wohl wirklich fertig, aber anders konnte er nicht handeln. Sie spielen ein Spiel, das er nur verlieren kann. Wer weiß, wie lange es noch dauert.“ Sie schluckte. Alle anderen saßen da, wie vom Donner gerührt, unfähig, irgendetwas zu sagen. Kir nahm ein weiteres Schlückchen Tee, seufzte leise. „Sharon hat es mir erzählt, vorhin am Telefon, ich war da nicht anwesend, wie gesagt. Ich war ja hier, um dich in Sicherheit zu bringen. Auch ohne dass Shinichi etwas gesagt hätte, hat Gin mittlerweile deine Spur gefunden. Ich denke, Sie sind hier nicht mehr allzulange sicher.“ Sie warf dem Professor einen besorgten Blick zu. „Und er - er ist nun Mitglied der Organisation, wird tun und lassen, was man von ihm verlangt, nur um ihre Tochter zu schützen, Herr Môri… er wollte ja, dass sie ihn einfach umbringen und damit die Sache vergessen. Aber aus irgendeinem Grund liegt dem Boss etwas an seinem Leben… das er ihm wohlweislich zur Hölle macht, wenn er ihn zum Mörder macht.“ „In der Tat.“, murmelte Shuichi. „Ich nehme an, um sein Leben und das von Ran Môri zu schützen, ist es besser, ihm nicht in die Quere zu kommen, bis wir wissen, wie wir ihn da rausholen?“ Hidemi nickte. „Ja, das halte ich für vernünftig. Man kann nur hoffen, dass es nicht zu bald zum Äußersten kommt. Ich weiß nicht, ob er dazu in der Lage wäre…“ „Eigentlich nicht.“ Kogorô seufzte. „Ran würde sich nie jemanden aussuchen, der potentiell einem anderen Menschen das Leben nehmen könnte. Ob er Ran so sehr liebt, dass er für sie morden könnte, ich weiß nicht… nur wenn… dann wär sein Leben hinterher gelaufen, denke ich.“ Meguré nickte beifällig. Ai schluckte, starrte auf ihre Hände. Würde er jemals jemanden töten… dann wäre Shinichi Kudô im selben Augenblick, mit dem er das Leben seines Opfers nimmt, ebenfalls gestorben. Es gäbe kein Zurück für ihn… Kir seufzte, räusperte sich dann kurz, um die Aufmerksamkeit aller wieder auf sich zu lenken. „Noch etwas gibt es, was ich Ihnen allen mitteilen soll. Es… steht auch schon fest, wann er seinen ersten Auftrag zu erledigen hat. Übermorgen mit Gin und Sharon im Viertel Shibuya. Eine Drogensache.“ „Also müssen wir uns da übermorgen fernhalten?“ Megurè zog eine Augenbraue fragend hoch. „Wäre zu empfehlen.“ Schweigen breitete sich aus. Drückend, schwer, fast bleiern lastete es auf den Anwesenden, die alle in sich versunken mit leerem Blick in den Polstermöbeln saßen und nach einem Ausweg aus dieser Situation suchten. Meguré schluckte, immer wieder, hatte seinen Hut abgenommen und drehte in ihn seinen Händen. Sato und Takagi bemerkten es, warfen sich einen besorgen Blick zu. „Hat… hat er schon einen Namen?“ Ais Stimme war kaum lauter als ein Wispern. Kir nickte. „Armagnac.“ Kapitel 10: Vorbereitungen -------------------------- Hi folks! Vielen, vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Ehrlich, vielen, vielen, vielen Dank! An dieser Stelle muss ich euch eine... unangenehme Ankündigung machen, fürchte ich. Da ich aufgrund persönlicher, sehr dringender und wichtiger Umstände momentan sehr beschäftigt bin (meiner einer studiert) und wenig Zeit habe, kann es sein, dass diese Geschichte nicht mehr ganz regelmäßig erscheinen kann; das passiert mir zum ersten Mal, ich hätte gedacht, ich kriegs hin, aber ich hab mich wohl geirrt. Ich werde versuchen, keine allzulange Pause entstehen zu lassen, aber es kann sein, dass ab jetzt mal ab und an eine Woche ausfällt. Ehrlich Leute, das tut mir sehr Leid, das könnt ihr mir glauben... Ich möchte betonen, ich breche nicht ab, auf gar keinen Fall, und die FF wird auch weiterlaufen... nur kann es sein, dass sich die Erscheinung eines Kaps mal verzögert. Ich hoffe, ich kann eure Geduld mit einer umso besseren Geschichte belohnen. Ich wünsche euch viel Vergnügen mit diesem Kapitel und verbleibe bis dahin eure Leira _______________________________________________________________________ Kapitel 10: Vorbereitungen „Kogorô, ich hatte heute einen harten Tag vor Gericht, ich bin müde, und deshalb wirklich nicht in der Stimmung für Scherze.“ Ihre Stimme klang ganz eindeutig genervt; und genervt war auch ihr Blick, den sie ihm nun über den Rand ihrer Brille hinweg zuwarf. Sie sah streng aus, wenn sie das tat, und ungeduldig. Wie eine energische und Disziplin fordernde Lehrerin wirkte sie, vielleicht hatte sie deshalb so viel Erfolg in ihrem Beruf; bestimmt schüchterte sie so die ganzen jungen Staatsanwälte ein. Bei ihm funktionierte es immerhin fast; er fühlte sich beinah wie ein ungezogener Schüler, wenn sie ihn so ansah. Allerdings auch nur beinahe, und außerdem - der ungezogene Schüler war jemand anders gewesen. Er hatte Eri von der Kanzlei abgeholt, war mit ihr hierher gefahren, und nun stand er im Flur ihrer Wohnung und hatte ihr gerade erzählt, was es mit Conan Edogawa auf sich gehabt hatte. Die Rechtsanwältin trat entschlossen durch die Küchentür ihres Appartements, schaltete die Kaffeemaschine ein und warf die Jacke ihres Kostüms mit einer lockeren Geste über die Rückenlehne eines Stuhls; ihr Noch-Ehemann folgte ihr zögernd. Die Stunde der Wahrheit war gekommen; Zeit, seiner unangenehmen Aufgabe, ihr die Wahrheit über einen gewissen Westentaschendetektiv zu sagen, nachzukommen. Und er hatte es ihr tapfer berichtet. Alles. Jede Einzelheit, die er wusste. „Es ist kein Scherz. Ich weiß, es ist unglaublich, aber es ist kein Scherz. Er war wirklich Shinichi Kudô… ich meine, gerade du müsstest dich doch um eine Erklärung, wie haarsträubend auch immer sie sein mag, für meinen plötzlich vorhandenen detektivischen Spürsinn freuen. Dir war das doch immer suspekt. Nun, er hat sie gelöst, die Fälle. So gut wie alle. Und wie gut er ist, weiß ganz Tokio…“ Er grinste säuerlich, wurde aber gleich wieder ernst. „Fakt ist, er rennt jetzt in Originalgröße mit diesen Verbrechern rum, gewährt ihnen, mit ihm zu tun und zu lassen, was sie wollen, damit sie Ran in Ruhe lassen. Eri. Ich erfinde solche Geschichte doch nicht einfach! Ich konnts ja selber kaum glauben… Aber wenn man so nachdenkt, dann musst du doch zugeben, Conan war alles, aber kein gewöhnlicher Grundschüler, und er ist Shinichi erstaunlich ähnlich, wenn du dich mal erinnern magst, wie er in dem Alter war.“ Eri schaute ihn an, zog eine Augenbraue hoch. Fakt war, ja, es klang alles sehr plausibel, und sie fand es selber seltsam, aber… sie war geneigt, ihm das zu glauben, was er ihr erzählte, es schien wirklich eine gute Erklärung zu sein, für all die Dinge, die auch ihr an dem kleinen Jungen schon manchmal aufgefallen waren. Und außerdem - sie warf Kogorô einen forschenden Blick aus dem Augenwinkel zu - ihr Mann wirkte nicht, als ob er lügen würde, und sie würde es erkennen, würde er sie belügen. Sie seufzte, strich sich kurz über die Stirn. Kogorô Mori murrte leise unverständliches Zeug vor sich hin, zog eine Zigarette aus seiner Jackentasche und zündete sie an, inhalierte tief, ehe er den Rauch wieder ausstieß. Eri streifte kurz eine Falte aus ihrem Ärmel, ehe sie sich ihrem Mann wieder zuwandte. „Was sagt Ran zu der Geschichte?“ „Sie weiß es nicht. Sie ist mit Sonoko auf Izu und so soll es bleiben, weil wir alle befürchten, wenn sie erfährt, wie es um diesen Holmesverschnitt steht, wird sie nichts unversucht lassen, um ihn zu retten, und sich dabei selbst gefährden. Ich denke, dir ist bekannt…“ „Dass Ran ihn liebt.“ Er seufzte, fuhr sich mit der Hand fahrig über sein Gesicht. Eri sah ihn an; ein ganz kleines Lächeln huschte ihr kurz über die Lippen, dann wurde sie wieder ernst. „Ja. Das ist mir bekannt… es… ist nicht zu übersehen. Aber Kogorô, ernsthaft…“ „Frag Meguré. Frag Professor Agasa. Oder frag Yusaku und Yukiko selber! Und sieh dir nur mal… dieses Mädchen an. Ai Haibara.“ „Sie auch?“ Die Königin des Gerichtssaals blickte auf. „Gut, du hast schon Recht, die beiden kamen mir wirklich nie wie kleine Kinder vor, aber…“ „Weil sie es nicht sind, Eri!“ Kogorôs Stimme klang eindringlich. „Weil sie es nicht sind.“ Er seufzte, zog ein weiteres Mal an seiner Zigarette, blies den Rauch in kleinen Wolken aus. „Das ist die Wahrheit… mach damit, was du willst. Aber du darfst es niemandem sagen, hörst du! Und wenn du ihn siehst… dann geh ihm aus dem Weg, Eri.“ Damit drehte er sich um, wollte ihr Appartement verlassen, als sie ihn zurückhielt. „Nenn mir einen Fall, in dem diese ominöse Organisation ihre Finger hatte. Damit ich etwas in den Fingern habe, Kogorô.“ Ihr Mann schloss kurz die Augen. „Der Eine-Millarde-Yen Raub von vor zwei Jahren. Ais Schwester, Akemi Miyano, wie sie wohl hieß, war daran beteiligt und wurde hinterher von Gin erschossen, das weiß ich von der Kleinen. Shinichi, oder besser gesagt, Conan war bei mir, als wir in dem Fall ermittelten; sie besuchte mich als Masami Hirota, angeblich auf der Suche nach ihrem Vater, tatsächlich auf der Suche nach ihren Komplizen.“ Eri nickte. „Damit kann ich was anfangen.“ „Und was?“ „Ich will prüfen, ob es sie gibt… wenn sie existieren, dann müssen sie Spuren hinterlassen, Kogorô.“ „Aber ist diese Spur nicht schon lange kalt?“ „Das werd ich ja dann sehen.“ Sie drückte auf einen Knopf an der Kaffeemaschine, woraufhin sie surrend zum Leben erwachte und sich die braune Flüssigkeit aus einer Düse in eine Tasse goss. „Ich will sie ja nicht finden, diese Organsiation… der Illusion geb ich mich nicht hin, dass ich das schaffe. Ich will nur wissen, ob es sie gibt. Ein Foto, eine Zeugenaussage. Das würde mir reichen.“ „Tu, was du nicht lassen kannst.“ Damit drehte er sich endgültig um, öffnete die Wohnungstür, trat hinaus auf den Gang und ließ sie hinter sich wieder zufallen. Eri starrte ihm hinterher, nahm dann die Tasse Kaffee, die sie sich gerade gekocht hatte und nippte daran. Dann trat sie an ihren Laptop, klappte ihn auf, fuhr ihn hoch. Nippte an ihrem Kaffee, ließ sich in den Bürostuhl vor ihrem Schreibtisch sinken und startete ein Suchprogramm. Eine Millarde Yen-Raub Als er am Tag nach seiner 'Taufe' aufgewacht war, hatte er zuerst nicht gewusst, wo er sich genau befand. Dann war er aufgestanden, hatte sich umgesehen, und sich gefragt, wie er es nur hatte vergessen können. Die erste Nacht als 'echtes' Mitglied der schwarzen Organisation war ausgesprochen kurz und schlaflos gewesen, und so fühlte er sich auch wie gerädert, als er am Morgen von Sharon zum Frühstück abgeholt worden war. Viel gegessen hatte er nicht, genauso wie sie - es hatte sie nicht überrascht. Er wirkte in sich gekehrt, versunken, geistesabwesend, schien tief beschäftigt mit seinen Gedanken und sie ahnte, über was er sich seinen Kopf zerbrach. Sharon starrte Shinichi an, der jetzt neben ihr herlief wie ein Hündchen neben seinem Frauchen, immer noch scheinbar weit weg in seinen Gedanken. In dem schwarzen Mantel sah er so ungewohnt aus. Wirkte noch blasser, als ohnehin schon – allerdings konnte diese Blässe auch daher rühren, dass er angespannt war, und nervös. Ihm war seine Position in diesem Spiel mehr als klar, und er wusste, wie wackelig die Konstruktion gebaut war, auf der sie ruhte. Ihr war die überaus verantwortungsvolle Aufgabe zugekommen, den Nachwuchs, wie man die Neueinsteiger nannte, herumzuführen. Offensichtlich hatte man beschlossen, ihn jetzt genug gebrochen zu haben, war wohl der Meinung, dass er nicht mehr versuchen würde, abzuhauen. Womit sie wohl Recht hatten. Er würde nicht fliehen. Wegen Ran. Er schaute stur auf den Boden, fühlte sich in seiner Haut nicht wohl, man sah es ihm an. „Morgen, also?“, wisperte er dann. Sie nickte, drückte eine Tür auf, um ihm das Informationszentrum zu zeigen; überall standen Rechner und Monitore auf den Tischen, die Luft schien statisch aufgeladen, und über allem lag das leise Summen der Ventilatoren in den Rechnereinheiten. Langsam führte sie ihn durch die Reihen - was hier getan wurde, brauchte sie ihm nicht erklären. Hier wurde Geschichte geschrieben - die Geschichte der Organisation. Hier schrieb man Erpressermails, Geschichten und Gerüchte über Mitglieder, um ihre Identität in der Öffentlichkeit zu tarnen; man produzierte Spionageprogramme, um sie in die Hardware berühmter Firmen einzuschleusen, die man zu benutzen gedachte, hier fanden Daten- und Geldtransfers statt, wurde Information über Menschen, über Erfindungen, Ereignisse und nicht zuletzt über ihre eigenen Projekte gesammelt, gespeichert, verteilt und archiviert. Dies hier war das Gedächtnis der Organisation. Ein Teil seines Hirns befand sich hier. Der andere Teil saß im Büro des Bosses und rauchte wohl eine Zigarette, so zumindest dachte Shinichi. Er schaute sich um, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Für ihn ging gerade ein Alptraum in Erfüllung. Sharon schritt vor ihm her, achtete nicht auf die fragenden Blicke der Organisationsmitglieder, die kurz von ihrer Arbeit aufsahen, um festzustellen, wer sie störte. Am anderen Ende des Raums trat sie durch die Tür, wartete, bis er neben ihr im Gang stand, schaute ihn nachdenklich an. „Shinichi, ich weiß, es ist nicht leicht für dich, aber du musst dich damit abfinden…“ Der Angesprochene vergrub seine Finger in seinen Manteltaschen, biss sich die Lippe blutig. Dann schaute er auf, in seinen Augen beißender Spott und eine Bitterkeit, die sie bei ihm noch nie gesehen hatte. „Ach ja?! Kannst du mir dann bitte auch verraten, wie ich das anstellen soll? Mich damit abfinden, dass ich hier zum Mörder werden muss, um Ran zu beschützen? Ich liebe sie…“ Seine Stimme wurde leise. „Sharon, zweifellos, ich… ich liebe sie. Aber ich… ich weiß wirklich nicht, ob ich das kann. Jemanden töten. Ich weiß nicht, ob ich das kann… ich…“ Er begann, seinen Kopf zu schütteln. Wortlos packte sie ihn an der Schulter, fest gruben sich ihre Fingernägel wie Krallen durch den Stoff in seine Haut; sie drehte ihn ruckartig herum, schaute ihn scharf an; ihr Blick verfehlte ihre Wirkung nicht. Er zuckte kaum merklich zusammen, wandte dann den Blick ab. Sie griff ihm mit der Hand am Kinn, zwang ihn zum Blickkontakt. „Wenn du willst, dass sie lebt, dann wirst du es tun. I know… this is not the life you wanted to live… but it’s about living at all, isn’t it? Just living… see the sun rise tomorrow…” Sie ließ ihn los, ihr Blick verlor sich. Shinichi lachte bitter. „Ganz ehrlich, Sharon? Mir wär im Moment lieber, Gin hätte mich erschossen, als er die Gelegenheit hatte. Ich weiß nicht, ob ich die Sonne nochmal aufgehen sehen will, wenn Blut an meinen Händen klebt.“ Er schaute weg, starrte konzentriert auf die Fliesen auf dem Boden. „Ich will nicht Richter spielen, ich will nicht Henker sein. Ich will nicht entscheiden müssen, ob ich lieber Rans Leben retten will oder ein anderes… Natürlich will ich nicht, dass Ran stirbt…!“ Shinichi wandte den Kopf ruckartig, blickte in Sharons nachdenkliches Gesicht. „Aber ich weiß nicht, ob ich jemanden für sie töten kann.“ Lange musterte sie sein Gesicht, dann seufzte sie. „Du wirst es herausfinden, wenn es soweit ist.“ Damit setzte sie sich wieder in Bewegung. Auch im Hause Professor Agasas war mittlerweile zuverlässig, als ob nichts geschehen wäre, der nächste Morgen angebrochen, allerdings nach einer überaus unruhigen Nacht. Nach Kirs Bericht hatte sich die Runde erst einmal aufgelöst; zutiefst betroffen waren die Polizisten aufs Revier gefahren um die nötigen Schritte zu tun, um den Deal, über den man ja nun Bescheid wusste, im Revier unentdeckt zu lassen, was ihnen einiges abfordern würde… und sie ihren Job kosten könnte, wenn jemals entdeckt würde, dass sie verhindert hatten, ein potentielles Verbrechen zu entdecken und zu verhindern. Kir hatte sich nach dem Bericht zügig verabschiedet; wenn sie zu lange fernblieb, fiel das auf, und so hatte sie sich auf den Rückweg in die Organisation gemacht. James Black, Shuichi Akai und Jodie Starling waren noch lange beim Professor geblieben, bis auch sie sich in ihr Hotel begeben hatten, nicht allerdings, ohne für den nächsten Tag ein Treffen vereinbart zu haben. Man wollte zumindest den Nachmittag nutzen, um in den Wäldern rund um den Campingplatz nach ihm zu suchen… vielleicht geschah ja das Wunder und es gelang ihm die Flucht. Abends dann wollten sie alle wieder in Tokio sein, um die Entwicklungen, so es welche geben würde, zu besprechen. Der Professor selber hatte am Abend noch einer völlig aufgelösten Yukiko und einen hochnervösen Yusaku einen Besuch abgestattet, um sie persönlich auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. Während Yusaku die Tatsache, dass man aus seinem Sohn einen Mörder machen wollte, mit einem grimmigen Nicken zur Kenntnis genommen hatte, ansonsten aber recht wortkarg war, war Yukiko von einem Extrem ins andere Gefallen; zuerst noch vor Glück weinend, als sie erfuhr, dass ihr Sohn noch am Leben war, im nächsten Moment am Boden zerstört, als der alte Mann ihr erzählt hatte, was man von ihm verlangte. Was er zu tun bereit war, um die, die er liebte, zu schützen. Irgendwann war Hiroshi Agasa dann gegangen, hatte die beiden wieder sich selbst überlassen, hoffte, dass Yusaku es schaffte, seine Frau ein wenig zu beruhigen. Yukiko war ein nervliches Wrack, die Sorge um ihren Sohn fraß sie innerlich auf, verzehrte sie in einem Maß, das der alte Professor nicht für möglich gehalten hatte. Jetzt fragte er sich, warum es ihn wunderte; sie war seine Mutter. In diesen Minuten, als draußen die Sonne gerade aufgefangen war, saß Professor Agasa nun also am Küchentisch, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, seine Kopf mit einer Hand abstützend, und versuchte eine morgendliche Tasse Kaffee hinunterzuspülen und Ai, die ihm gegenüber saß und sehr lustlos die Haferflocken in ihrem Müsli mit dem Löffel im Teller herumschob, sah wohl genauso aus, wie er sich fühlte. Elend. Sie hatte offensichtlich keinen Appetit, in der Nacht genauso wenig ein Auge zugebracht wie er, was bei ihr aufgrund ihres Kindseins noch einmal in ganz anderen Formen Ausdruck fand; sie war müde, schlapp, konnte sich nicht konzentrieren, war nervös, besorgt und dementsprechend war sie heute auch aufgelegt. Missmutig, leicht reizbar und in sich gekehrt. „Ai, du musst was essen…“ Sie starrte in die Schüssel, legte den Löffel beiseite. Agasa seufzte, vergrub seine Finger in seinen grauen Locken. So kam er offensichtlich nicht weiter. „Ai… nun hör mal…“ Dann hörte er es. Leises Schniefen – und dann sah er sie, eine einzelne Träne, die ihre Nase herablief und in ihr Müsli tropfte. In dem Moment gab Agasa es auf. Der alte Professor stand auf, holte die Schlüssel seines Wagens. „Fahren wir nach Tottori… und danach zum Bahnhof. Das sollte zeitlich gut mit Heijis Ankunft passen, er hat sich vorhin gemeldet, mir mitgeteilt, wann er ankommt.“ Mehr brauchte er nicht sagen. Ai rutschte wortlos vom Stuhl, ging voraus in die Garage. Ihr Leben war ihr nicht wichtig, soviel war ihm klar geworden, in diesen Minuten. Im Moment zählte für sie nur ein einziger Mensch auf dieser Welt – Shinichi Kudô. Er stand in der Tür, wollte keinen Schritt mehr weitergehen, wie’s schien. Vor ihm lag das Labor. Sharon war bereits eingetreten, schaute ihn an, seufzte entnervt. „Na komm schon; worauf wartest du? Wir müssen hier nur kurz etwas abholen, bevor ich mich mit Gin unten am Haupttor treffe, um den morgigen Abend zu besprechen. And I can tell you one thing-“ „Gin wartet nicht gern. Hab ich schon mal wo gehört.“ Er seufzte leise, konnte sich aber dennoch nicht helfen. Er wusste, Ai… beziehungsweise Shiho war hier nie gewesen - sie kannte den Boss nicht und hatte nie einen Fuß ins Hauptquartier gesetzt, aber dennoch… das Labor, in dem sie gearbeitet hatte, musste diesem hier ganz ähnlich gewesen sein. „Kannst du die Drogen nicht selber holen? Was auch immer es ist… Kokain? Heroin?“ Sharon lachte bitter. „Weder noch. Eine Designerdroge aus der Organisation – die Einnahme beschert einem die glücklichsten Momente im Leben, der Entzug die schrecklichsten; hohe Suchtgefahr, fast aussichtslose Abhängigkeit und kein Konkurrenzprodukt weit und breit. Für in Pillen gepresstes Glück zahlen die Menschen Unsummen.“ Sie seufzte. „Such fools, they are… such damned fools…“ „Bringt es sie um?“ „Nein. Die Organisation wäre nicht sehr intelligent, die eigenen Kunden zu töten… damit würde doch die Geldquelle versiegen. Nein. Weder die Substanz selbst noch der Entzug kann töten. Er suggeriert auch keine zum Suizid führenden Wahnvorstellungen, falls du das meinst. Die Droge macht einfach nur glücklich… und wenn das Gefühl verflogen ist, wirst du alles dafür tun wollen, um es wieder zu kriegen. Pass also auf, von wem du hier was zu Essen annimmst.“ Shinichi riss die Augen auf, starrte sie an. „Just a joke, little one.“ Sie lächelte amüsiert, spöttisch, zeigte ihre makellos weißen Zähne. „Just a little, little joke. To cheer you up a bit.” „Haha.“ Shinichi verschränkte die Arme vor der Brust, schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Wirklich witzig. Aber woher willst du wissen, dass man das nicht versucht? Mir sowas unterzujubeln?“ „Weil… der Boss will, dass du bei Verstand bleibst. That’s all.“ Shinichi schnaubte. „Wer ist er, Sharon? Wer ist der Boss? Ich denke, es ist wer, den ich kenne, der mich kennt - was ist nun schon dabei, wo ich so weit schon allein gekommen bin, mir den Rest auch noch zu sagen?“ Sharon schaute ihn stumm an. Dann trat sie auf ihn zu, ganz nah, beugte sich zu ihm, bis er ihren Atem auf dem Gesicht spüren konnte. „Shinichi… ich sag dir das nur einmal, und ich meine das ernst, hörst du! Todernst...“ Shinichi schaute in ihre Augen, versuchte in ihnen zu ergründen, was sie so aus der Fassung brachte. „Für dich selbst… für dein eigenes Wohl… frag nicht weiter. Denk nicht weiter nach. Du willst die Wahrheit nicht wissen. Du bist weit gekommen, und dafür gebührt dir Respekt. Nun lass gut sein und forsche nicht weiter.“ Sie trat wieder zurück. Er blickte sie verwirrt an, schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Das weißt du.“ „Yeah. Cause you’re the biggest fool of all of them. Du brauchst keinen, der dich zu Grunde richtet, du machst es selber.” Sie schaute ihn böse an, ihre Stimme klang bissig. „Du weißt einfach nicht, was gut für dich ist. Das wisst ihr Moralapostel alle nicht. Und nun sie dich an! Schau dir an, in welche Lage du dich gebracht hast… und Angel.“ Shinichi drehte ruckartig den Kopf, schaute sie prüfend an. „Ich wollte nicht, dass man Ran…“ „Ja, du wolltest das natürlich nicht, das glaub ich dir sogar. Aber vielleicht wird dir jetzt mal endlich klar, du ewiger Besserwisser, dass du mal die Konsequenzen deines Handels überdenken solltest, bevor du dich Hals über Kopf in dein eigenes Verderben stürzt! Und jetzt stehst du hier und jammerst, weil du ein Mitglied werden musst und keinen Menschen töten kannst…“ Sie atmete heftig. „Und alles, was du dann noch tun kannst, ist in deine eigenen Hölle noch zusätzlich Brandbeschleuniger zu gießen, weil du unbedingt die Identität des Bosses ergründen willst! For heaven’s sake, stop it! Lass das endlich!“ Sharon zischte ihn wütend an. „Merkst du’s denn nicht, was du tust? Du bist doch sonst so intelligent, siehst du nicht, wohin dich dein ewiges Detektivspiel führt? Du zerstörst dir dein Leben, du wirst deine Mutter, deine Freunde, deine Ran… nie mehr wiedersehen, weil du vergessen kannst, dass man dich hier so schnell rauslässt – und selbst wenn du irgendwann mal Freigang haben solltest, dann tust du besser daran, dich von ihnen allen fernzuhalten, denn ab jetzt bist du eine Gefahr für sie! Das hast du davon, von deiner Wahrheitssuche… damned fool, you are! Du verdienst dein Leben nicht, verdammt!“ Shinichi schaute weg, beobachtete scheinbar ein paar Luftblasen in einer grünen Flüssigkeit, die in einem bauchigen Gefäß in einer Versuchsapparatur aufstiegen. Als er sprach, erkannte sie seine Stimme fast nicht wieder. Gebrochen. Das war es, was er war. Gebrochen. Und so hörte er sich jetzt auch an. „Du hast ja Recht. Aber wenn ich schon… soweit bin, dass ich eigentlich gar nicht wirklich leben kann… mein Leben nie mehr wieder bekomme… dann, Sharon-…“ Er schaute auf, warf ihr einen erschöpften Blick zu, ehe er seinen Kopf abwandte und angestrengt einen Punkt an der Decke fixierte. „…dann verrat mir, Vermouth, was noch schlimmer sein kann. Der Tod? Vor dem hab ich keine Angst mehr. Ich… werde Ran nie wieder sehen. Ich kann mich nie entschuldigen. Ihr nie sagen, wie viel… wie unendlich viel… sie mir bedeutet. Sie würde es so gern hören, sie hätte es so sehr verdient, ich würde ihr den Gefallen so gern tun, es würde ihr so gut tun, das zu hören, aber ich… ich habs verbockt. Auf dieses Gefühl, richtig gelegen zu haben bei mir, auf all das, was ich ihr geben wollte, muss sie verzichten, wie ich auf alles verzichten muss, was sie mir angeboten hat. Nur treffe ich meine Entscheidung selber, sie nicht. Das… das ist schrecklich unfair, und es tut mir… es tut mir so leid für sie… Nun sag mir, warum soll ich den Tod oder sonstwas fürchten, wenn mein Leben doch ohnehin schon vorbei ist... alles, was es lebenswert machte, auf immer verloren ist.“ Ein lautes Räuspern verließ seine Kehle, er schluckte ein paar Mal hart, wobei sie seinen Kehlkopf bei der Auf- und Abbewegung beobachten konnte. Sie schwieg. Er war erst zwanzig Jahre alt und am Ende seines Daseins angekommen. Und er war sich dessen bewusst. Ihr war ein wenig mehr Zeit vergönnt gewesen. Ihr war ein echtes Leben vergönnt gewesen… Das würde er nicht mehr bekommen. Ein Leben mit Ran… er würde sie nicht lieben dürfen. Der Gedanke stimmte sie traurig - trauriger, als sie geahnt hatte. Dann riss ihn seine Stimme wieder aus ihrer Versenkung. „Schlimmer als es jetzt ist, kann es nicht werden. Nicht mal, wenn der Boss mein eigener Vater wär.“ Sharon holte scharf Luft. Er wandte ruckartig den Kopf, warf ihr einen forschenden, bohrenden Blick zu, verwundert zwar, aber analysierend – sein Herz hämmerte gegen seine Brust, seine Finger wurden mit einem Schlag eiskalt. Adrenalin strömte durch seine Adern, sein Körper war aufs Äußerste angespannt. Dann sah er, was sie wohl so aufgeschreckt hatte, merkte, wie sein Kreislauf wieder absackte, seufzte leise. Ihr Gespräch wäre beinahe mitgehört worden, das war es wohl gewesen, das sie kurz erschrocken hatte, als sie ihn bemerkte. Eine Gestalt eilte auf sie zu, der Mann war keine fünfzehn Schritte mehr entfernt. Shinichi wich unwillkürlich zurück. Dem viel zu interessierten Blick, diesem lüsternen Funkeln in seinen Augen konnte Shinichi entnehmen, dass er diesem Herrn seine momentane Erscheinungsform zu verdanken hatte. Hinter sich hörte er Sharon schnauben. Sie hatte ihre Gedanken wieder geordnet und soweit im Griff, sich ihrem Besucher widmen zu können. „Was willst du!?“, fauchte sie hitzig. Erneut atmete sie heftig aus, holte Luft, bevor sich der Mann, ein schmächtiger Kerl in seinen Dreißigern mit riesiger Hornbrille auf der Nase, auch nur äußern konnte. „Du hast mit ihm nichts mehr zu schaffen! He’s not your business, he never was!“ „Nun lass mir doch den Spaß, Vermouth!” Seine Stimme klang weich, fast ein wenig weiblich, und irgendwie schmierig. Absolut unsympathisch. Der Mann trat näher. Shinichi zwang sich dazu, nicht zurückzuweichen, warf ihm nur einen abschätzigen Blick zu. Der Wissenschaftler betrachtete ihn, leckte sich mit seiner Zunge nervös über die Lippen, in seinen Augen eine seltsame Gier. Er sah aus, als stünde er unter Drogen, und Shinichi war sich nicht sicher, ob dem nicht tatsächlich so war. „Scotch, wir holen nur den Stoff. Sei so gut und bring ihn einfach. Eigentlich sollte Brandy ihn mir geben. Da er offensichtlich anderweitig beschäftigt ist-“ Sharon war ungeduldig, man hörte es ihr deutlich an. „Nun lass mich doch zuerst mal einen Blick auf mein Meisterwerk werfen…“ Mit zitternden Fingern strich er sich eine fettige Haarsträhne aus seinem Gesicht, wollte dann nach Shinichi greifen, der seine Hand allerdings unwirsch beiseite schlug. „Pfoten weg!“, zischte er angewidert. Scotch lächelte nur hämisch. „Wer wird denn gleich so aggressiv sein? Ich will doch nur…“ „Es interessiert keinen, was du willst.“ Ihre Stimme klang kühl und bestimmt, und genauso entschlossen war auch der Schritt, mit dem sie zwischen den Wissenschaftler und sein Experiment trat, die Hände in die Hüften gestemmt, in ihren Augen Ungeduld. „Go, get the stuff! Hurry!“, blaffte sie ihn ungehalten an. Der Forscher zog eine Schmolllippe und trollte sich von dannen, kehrte bald darauf mit einem Päckchen zurück. „Ich mag dich nicht, Vermouth.“, wisperte er mit zusammengekniffenen Augen. „Nein wirklich nicht. Ich denke, ich kann dich nicht leiden.“ „Fine. Das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Wir gehen, Armagnac.“ Sie griff Shinichi am Ärmel, zerrte ihn herum, zog ihn mit sich. „Wir zwei Hübschen laufen uns ja bestimmt noch über den Weg, irgendwann!“, flötete Scotch ihnen hinterher. Shinichi verzog angesäuert das Gesicht. Hoffentlich nicht. „Ekliger Kerl.“ „Du sagst es. But brilliant, whatever he does in his subject. Klassische Inselbegabung. In unserer Welt ist er praktisch nicht lebensfähig, aber in seiner kleinen Sphäre voller Reagenzgläser ist er ein Star.” Ruckartig fuhr sie hoch, ihr eigener Schrei hallte gellend in ihren Ohren nach. Neben ihr schreckte Sonoko aus ihrem Nickerchen, aber das bekam sie gar nicht mit. Sie lagen am Meer, in einer kleinen einsamen Bucht, hatten sich einen schönen Nachmittag machen wollen, mit Decken und Picknick, da Makoto seine Tauchschule besuchte… und waren irgendwann, eingelullt von sanften, ruhigen Rauschen der Wellen, im Schatten der großen Felsen eingeschlafen. Mit der Ruhe war es nun allerdings vorbei. Ihr Herz schlug hart gegen ihre Brust, ihr Atem ging schnell und flach, auf ihrer Stirn stand kalter Schweiß und sie zitterte am ganzen Körper. Und das alles aus einem Grund. Ran hatte geträumt. Von Shinichi. Sie konnte sich nicht mehr an alle Details erinnern, aber die Kernaussage und das eindringlichste Bild waren in ihrem Gedächtnis haften geblieben, und auch jetzt, in wachem Zustand, sah sie es noch so deutlich vor sich, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie fing an zu schluchzen, konnte es nicht kontrollieren, japste nach Luft, presste ihre Hand gegen ihr Herz, spürte einen Schmerz, den sie nie gekannt hatte. „Ran!“ Sonokos Stimme drang besorgt, aber irgendwie von weit weg, an ihr Ohr. Dann fuhr sie herum, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. „Ran, Ran, was ist los?“ Sonoko schaute sie erschrocken an, strich ihr die Haare aus dem Gesicht. „Ran!“ Sonoko griff nach ihrem Kopf, hielt ihn fest, zwang sie so, sie anzusehen. „Ran, Ran, was ist denn?!“ Leise Panik schlich sich in ihre Stimme. „Shinichi…“ Ran flüsterte den Namen nur, erlangte langsam wieder die Kontrolle über ihre Atmung, holte tief Luft. Sonoko verdrehte kurz die Augen, seufzte laut auf, fing dann an, ihr über die Haare zu streichen, immer wieder, setzte sich dann neben sie auf die Decke, zog sie an sich. Ran starrte auf das Meer, ihre Gedanken fanden keine Ruhe, überschlugen sich. „Schlecht geträumt, nehme ich an?“, murmelte Sonoko schließlich leise. Über ihren Köpfen schoss eine Möwe auf der Jagd hinweg, um im Sturzflug ins Wasser zu tauchen, ihr heiserer Schrei durchschnitt die Luft. „Ja.“ „Solltest du nicht schöne Träume von ihm haben?“, versuchte das blonde Mädchen ihre Freundin zu necken und erntete ein schwaches Lächeln, das kaum bis in die tränennassen Augen Rans reichte. „Wahrscheinlich. Aber leider war der Traum nicht schön… ich träum nie schön von ihm, wie es scheint. Letztes Mal konnte ich mich ja nicht dran erinnern, aber dieses Mal…“ „Ja?“, ermunterte Sonoko sie, weiterzusprechen. „Dieses Mal…?“ Ran schluckte hart, grub ihre Zehen in den Sand, krallte ihre Finger in die Wolldecke. „Ich will darüber nicht reden… sonst wird es wahr…“ Rans Blick wurde starr, als sie wieder auf das Meer hinausschaute. Bis zum Sonnenuntergang waren es noch ungefähr zwei Stunden; dann würde das Licht der langsam versinkende Sonne das Meer in blutrote Strahlen tauchen, das Wasser färben, durch und durch. Sonoko atmete scharf ein, dann schüttelte sie einmal heftig den Kopf, starrte Ran entschlossen an. „Ran, du musst herausfinden, was mit ihm ist. Ich denke, du drehst sonst noch durch.“ „Da kannst du Recht haben.“ Ran seufzte leise, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die der kühle, salzige Seewind ihr in die Augen tanzen ließ. „Ich weiß ja… ich weiß es ja! Ich werds heut noch mal bei allen versuchen, die ich kenne… ob ich herausfinden kann, wo er steckt, wenn ich ihn schon nicht an die Strippe kriegen kann. Ich mach mir solche Sorgen…“ Abrupt drehte sie sich um. „Himmel Sonoko, was ist, wenn mir diese Träume was sagen sollen? Wenn er nicht nur in Schwierigkeiten steckt, wie wir ja vermuten… Ich muss was tun… verdammt, es muss doch etwas geben, das ich tun kann…“ Sonoko schaute sie nur an, biss sich auf die Lippen. „Nimm mein Handy, ich hab den billigeren Tarif. Wir kriegen jetzt raus, wo er ist.“ Mit diesen Worten reichte sie ihrer besten Freundin ihr Mobiltelefon. Ran warf ihr einen dankbaren Blick zu; dann begann sie zu wählen. Der Professor war gerade auf den Bahnhofsparkplatz gefahren, um auf Heiji zu warten, der vor einer Stunde angerufen hatte, um ihm mitzuteilen, wann sein Zug ankommen würde, als sein Handy erneut zu klingeln anfing. Als er hörte, wer anrief, verfinsterte sich seine Miene vor Kummer, ehe er sprach. „Hallo Ran, was kann ich für dich tun?“ Ai horchte auf, drehte sich zu ihm, schaute ihn aufmerksam an. Agasa warf ihr einen unbehaglichen Blick zu, seufzte. Ran schluckte, merkte, wie ihre Finger eiskalt wurden, als sie sie weiter um den Hörer krallte. „Professor Agasa… ich kann ihn immer noch nicht erreichen… er wollte mich schon vor Tagen anrufen, ich mach mir echt Sorgen, ich…“ „Ach Ran…“ Professor Agasa schluckte, versuchte, seiner Stimme einen väterlichen, beruhigenden Ton zu verleihen. Er konnte ihr anhören, welche Sorgen sie sich wirklich machte, und noch schlimmer war… sie machte sie sich zu Recht. Aber sagen konnte er ihr das nicht. „Shinichi?“, hakte er fragend ein, obwohl im klar war, dass sie nur ihn meinen konnte. „Ja.“ Ihre Stimme klang weinerlich. „Ran, der steckt bis zum Hals in seinem Fall. Er…“ „Haben Sie etwas von ihm gehört? Wie kann ich ihn erreichen? Sein Handy ist immer noch aus…“ „Nun, er…“ „Ja?!“ Sie atmete schnell, griff das Handy mit beiden Händen, presste es fest gegen ihr Ohr. „Hör zu. Ich hab… mit ihm telefoniert. Gestern. Sein… Handyakku ist kaputt. Er kam noch nicht dazu, sich einen neuen zu kaufen, aber du bist die erste, die er anruft, wenn das Ding wieder funktioniert.“ Ai sog scharf die Luft ein. Nie hatte sie den Professor derart lügen gehört. Ran seufzte, beruhigte sich langsam - bis… „Aber wie haben Sie mit ihm telefoniert?“ Agasa musste an sich halten, um nicht laut zu fluchen. „Ich… äh… er hat mich von einer Telefonzelle aus angerufen.“ Langsam atmete er aus. „Wollte nur wissen, ob was für ihn in der Post war. Du kennst ihn doch, denkt nur immer praktisch… deine Handynummer konnte er wohl nicht auswendig… ich soll dir schöne Grüße ausrichten, im Übrigen.“ Er schluckte, hörte Ran am anderen Ende seufzen. „Es geht ihm also gut, ja? Und er meldet sich bald?“ „Ja, Ran. Du hörst sicher bald von ihm. Mach dir nicht zu viele Sorgen.“ „Ist… ist gut.“ „Genieß deinen Urlaub, Ran.“ Er versuchte, überzeugt zu klingen, wollte nicht daran denken, was Shinichi tatsächlich gerade durchmachte, was er ihr verschwieg… „Danke, Professor.“ Sie klang niedergeschlagen. Zwar nicht mehr ganz so besorgt, aber niedergeschlagen… was kein Wunder war, bedachte man, was neben diesem ganzen Mist, den Shinichi momentan am Hals hatte, noch im Raum stand… die Antwort auf Rans Frage. Eine Frage, die Ran wohl langsam wahnsinnig machen musste. Er wünschte, er könnte ihr sagen, wie sehr Shinichi sie liebte… aber er wusste, dass genau das nicht seine Aufgabe war… und ihr damit wahrscheinlich nicht geholfen wäre, während er gleichzeitig dem einzigen, der das Recht dazu hatte, in den Rücken gefallen wäre… Shinichi selbst. „Bis bald, Professor.“ „Ja, bis bald, Ran. Mach’s gut!“ Langsam legte er auf. Ai starrte ihn an, dann hob sie zögernd die Hand, legte sie ihm auf den Arm. „Sie haben das Richtige getan.“ „Ich weiß. Aber warum… warum fühl ich mich dann jetzt so schlecht…?“ Bedrückt schaute er aus der Windschutzscheibe, wischte sich mit zitternden Fingern den Schweiß von der Stirn. Ai seufzte. Dann bemerkte sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel. „Heiji ist da.“, murmelte sie leise, deutete mit ihrem kurzen Kinderarm auf die hochgewachsene, schlanke Gestalt, die auf ihren Wagen zueilte. Kapitel 11: Armagnacs erster Auftritt ------------------------------------- Hallöchen, meine lieben Leser und Leserinnen! Hiermit kann ich euch diese Woche wieder mit einem Kapitelchen bedienen- nächste Woche sieht wieder eher schlecht aus... ihr wisst ja, wie ich sagte... bei mir siehts zeitlich arg eng aus. Ich danke sehr herzlich für alle Kommentare zum letzten Kapitel und wünsche euch viel Spaß beim lesen! Liebe Grüße, danke für eure Geduld mit mir, Eure Leira _____________________________________________________________________________ Kapitel 11: Armagnacs erster Auftritt Ran starrte konsterniert auf ihr Handy und fragte sich, was eben mit ihr losgewesen war. Sonoko saß neben ihr, schaute sie an, und fragte sich offenbar dasselbe. Entnervt atmete sie aus. „Warum hast du dich abwimmeln lassen? Welche Ausrede gabs denn heute?“ Ran zuckte zusammen, biss sich auf die Lippen. „Kaputter Handyakku.“ Sie seufzte, strich sich eine Haare aus ihrem Gesicht, die ihr der Wind in die Augen blies, verfolgte das Spiel der Möwen mit ihren Augen, sah, wie sie durch die Luft schossen wie weiße Pfeile, einander jagten, voneinander abließen um ins Wasser zu tauchen, nur die Oberfläche ankratzten, manchmal, und sich mit kräftigen Flügelschlägen und einem Fisch im Schnabel wieder in die Höhe katapultierten. „Ich weiß auch nicht, was gerade los war mit mir. Ich wollte eigentlich nicht nachgeben diesmal, aber er hatte so schnell auf alles eine Antwort und ich mach mir solche Sorgen, ich hab… hab Angst, ich denke… das hat mich gerade etwas…“ „Das hat deine Courage und deine Eloquenz ein wenig beschränkt, meinst du.“ Sonoko zupfte einen ihrer Bikiniträger zu Recht. Ran blickte sie nachdenklich an, nickte beschämt. „Da kannst du Recht haben. Aber Sonoko… Warum lügen die mich alle an…? Nicht nur Shinichi… alle?“ Ran zog die Beine an, schlang ihre Arme um ihre Knie – dann entfuhr ihr ein hohles Lachen. „Klar, kaputter Handyakku! Das hat er sich doch selber nicht geglaubt, der liebe Professor!“ Wut kochte in ihr hoch, die abrupt in Bekümmertheit mündete. „Warum lügt mich der Professor jetzt auf einmal an… er hat doch nie…“, wisperte sie leise. Sonoko ließ sich nach hinten auf die Decke kippen, verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf. „Glaubst du das nach der ganzen Geschichte immer noch? Ich denke, der Prof weiß wesentlich mehr als du und das schon wesentlich länger. Er deckt ihn. Shinichi ist Holmes, er sein Watson, was denkst du- hätte Watson Holmes je verraten?“ Sie warf ihrer Freundin einen schrägen Blick zu. „Neeeiin.“, beantwortete sie sich ihre Frage dann selber, blickte mit angenervtem Gesichtsausdruck in die Ferne. „Hätte er nicht. Daraus folgt: sie lügen dich beide an. Jetzt zieh deine Schlüsse, Ran.“ Ran ließ sich ebenfalls nach hinten auf die Decke sinken, legte sich auf die Seite, stützte ihren Kopf mit einem Arm, schaute Sonokos Profil an. „Na gut. Aber was machen wir? Heimfahren?“ Sonoko schüttelte den Kopf. „Nein.“ Ran seufzte. „Denn genau das ist es, was sie nicht wollen, nicht wahr? Uns in ihrer Nähe haben.“ „Dich in der Nähe haben. Ich denke, meine Wenigkeit ist ihnen leidlich egal, Ran.“ „Also bleiben wir.“ Ein leises Stöhnen entfuhr ihr, sie schloss kurz die Augen. „Jap.“ „Damit sie machen können, was sie für nötig halten, ohne dass wir sie stören oder in Gefahr geraten können?“ „Exakt, Tochter eines Detektivs.“ Sonoko nickte der Sonne zu, die über ihnen ihre Strahlen auf die Erde warf. „Das fühlt sich aber nicht gut an.“ Rans Wispern verlor sich fast im Seewind. „Anscheinend verlangt es aber ihr Plan, Ran. Willst du sein Leben noch mehr gefährden, als es offenbar schon ist- gut, dann buch ich uns den nächsten Flieger. Aber ich denke, es hat einen Grund, warum dich alle so sorgfältig anlügen.“ Die Schwerreichentochter wandte sich nun ihrer Freundin zu. „Ran, deine Zeit ihm zu helfen wird kommen. Wir… warten. Und wir terrorisieren sie mit Anrufen, vielleicht kriegen wir doch noch was Genaueres heraus aus unserem lieben, alten Kurzschlussmechaniker, dem guten Professorchen.“ Sie grinste frech, tippte Ran an die Schulter. Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Wir bleiben am Ball.“ „Und wie wir das werden!“ Sie hob ihre Hand, und Ran schlug ein. Zur gleichen Zeit, aber an einem ganz anderen Ort, saßen zwei Personen, ein Mann und eine Frau, sich gegenüber, an einem Tisch- aber es war kein romantisches Essen, keine Plauderei bei einer Tasse Kaffee oder gar ein Rendezvous, das sie zusammengeführt hatte. Nein. Ihr tête à tête war ganz anderer Natur. Sharon lachte hohl, lehnte sich zurück in dem weichen, ausladenden schwarzen Ledersessel, schlug ein Bein über das andere, verschränkte ihre Arme vor der Brust- das Musterbeispiel für die personifizierte Ablehnung. Ein Bild wie aus einem psychologischen Lehrbuch. „Ja klar. Sonst geht’s dir aber noch gut, ja?“ Der Mann ihr gegenüber warf ihr einen missvergnütgen Blick zu. „Das war nicht meine Idee, Vermouth. Das Triumvirat hat mich überstimmt, die sind sowieso momentan gegen alles, was ich sage, das macht so eine Kolaboration richtig schwer.“ „Ahhhhh…“, entfuhr es ihr, sie zog ein künstlich mitleidiges Gesicht. „Armer Boss. Nun, ich schätze, du bist selbst schuld. But I can tell you- I am not amused. Ich will diesen Deal nicht heute Nacht schon machen.” Cognac, der ihre Show ohne mit der Wimper zu zucken über sich ergehen hatte lassen, seufzte leise, zog sich die Brille von der Nase. „Und warum nicht, Madame? Ihr habt den Stoff, Gin weiß Bescheid, du musst es nur noch…“ „… ihm sagen, dass seine Verbrecherkarriere einen Tag früher beginnt… He’ll be delighted.“ Sharons Stimme troff vor Sarkasmus. „Absolutely delirious with joy. Thrilled. Just completely beside himself, I think…“ “Ich habs kapiert.” Langsam klappte er die Bügel der Brille zusammen, legte die Sehhilfe vor sich auf den Tisch, sehr kontrolliert, vorsichtig. Sie biss sich auf die Lippen. „Aber ich kann’s nicht ändern.“ „Yeah.“, murmelte sie leise. „Ich frag mich nur, was überhaupt noch in deiner Macht steht, hier… Cognac. King without kingdom, that’s what you’ve become.“ Damit stand sie auf, verließ das Zimmer. Nach ein paar Minuten ging er ebenfalls. „Nun erzähl‘n Se mal, Professor!“ Heiji saß mittlerweile bei Professor Agasa auf der großen, weißen Wohnzimmercouch, vor sich eine Tasse Kaffee, und schaute den alten Mann, der sich ihm gegenüber gesetzt hatte, ungeduldig an. Vor dem Fenster tauchte die untergehende Sonne gerade ganz Tokio in blutrotes Licht; nicht mehr lange, ein paar Minuten noch... dann würde die Nacht über die Stadt ihr schwarzes Tuch werfen, sie zudecken, einhüllen - bis morgen früh die Dämmerung sie wieder weckte. „Wie konnt’s kommen, dass diese Leute Shinichi entführen konnt’n?“ Er griff nach der Tasse, nahm einen Schluck. „Nun.“ Der alte Mann seufzte. „Dazu muss ich wohl ein wenig ausholen. Also… wir waren auf einem Campingausflug, ich, die Kinder… Ai und Shinichi.“ Heiji nickte, eine hektische Bewegung. Ai betrat das Zimmer, unbemerkt, wurde erst wahrgenommen, als sie sich in einen weißen Sessel fallen ließ. Der junge Detektiv warf ihr nur einen kurzen Blick zu. Sie sah immer noch genauso erschöpft und abgespannt aus, wie gerade im Auto. „Ran hat ihn gefragt, ob er sie liebt.“, murmelte sie leise. Der junge Mann zog irrtiert die Augenbrauen hoch. „Okay… der Sprung war mir jetzt zu groß…“ „Während dem Campingausflug. Sie rief ihn an, fragte ihn, was er empfindet, für sie. Er hat… hat sie wieder hingehalten, so wie immer. Dann aber hat sie ihm eine SMS geschrieben, in der sie ihm klar gemacht hat, was… wie… sie fühlt. Das hat ihn ein wenig aus der Bahn geworfen, fürchte ich…“ Heiji schluckte, verschlang seine Finger ineinander. „Was hat er…?“ „Nichts. Er wusste nicht… wusste nicht, was er tun soll. Und dann… dann rief sie noch einmal an.“ Eine kurze Pause entstand. „Um was gings… in dem Telefonat?“, wisperte der Detektiv schließlich fragend. „Sie hat ihm gesagt, dass sie ihn liebt.“ Agasa fuhr zusammen, starrte Ai an. „Was sehen Sie mich so überrascht an?“ Das Mädchen verzog ihre Augen zu Schlitzen. „Ich hab ihn gefragt, als er kam. Er sah ja mitgenommen genug aus, auch wenn ers gut überspielt hat. Sie hats ihm gesagt. Und er… er konnts ihr nicht sagen.“ Ihre Stimme verlor sich. „Er sagte, er hätte… er hätte diese Azusa nochmal getroffen, sie hätte auf einmal hinter ihm gestanden, müsste wohl etwas vom Telefonat mitgekriegt haben… und dass sie es war, die am nächsten Morgen neben ihm fehlte, beweist eigentlich schon ziemlich eindeutig, dass sie ihn am Abend enttarnt und am Morgen entführt hat. Ich meine, Heiji…“ Sie schaute ihn an, lächelte müde. „Du weißt doch, wie sich solche Teenageranrufe anhören. Man kann sich doch vorstellen, wie verzweifelt er gewesen sein muss, was er wohl gesagt hat, und noch dazu durch den Stimmenverzerrer. Das alles passt nicht zu einem kleinen Kind. Und wie wehrlos er ihr gegenüber gewesen sein muss, ohne Narkosechronometer und Powerkickboots, das können wir uns alle denken.“ Sie ließ ihre Füßchen baumeln. „Nun, der Stand, den wir jetzt wissen, ist folgender…“, wollte Professor Agasa ansetzen, als ihn das Klingeln des Telefons unterbrach. Agasa stand auf, ging nach draußen; Heiji und Ai hörten ihn abheben, hörten kurz seine Stimme, als er sich meldete, leise, und dann hörten sie lange Zeit nichts. Als er zurückkam, seufzte er. „Wir bekommen gleich Besuch. Anscheinend gibt es was Wichtiges, Jodie hatte es am Telefon sehr eilig, sie dürften bald da sein.“ Heiji runzelte die Stirn, Besorgnis breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Sagen Sie, was geht hier eigentlich noch so ab? Und was wurde eigentlich getan, um ihn da rauszuholen, ich meine, sonderlich angenehm kann das doch nicht sein…“ Ai hob den Kopf, lächelte ironisch. „Getan? Bis jetzt?“ Er nickte. „Nichts.“ Er war wirklich nicht begeistert gewesen, aber er fügte sich, er wusste ja, was daran hing. Shinichi hatte sie nur angesehen, war aufgestanden, hatte seine Jacke genommen und war ihr gefolgt, wortlos. Ihre Miene war wie versteinert, das perfekte Pokerface, es verriet nichts, über das, was sie dachte, als sie eine weitere Tür öffnete und zügig ausschritt. Sie riskierte einen Blick zur Seite, sah, dass er es ihr gleichtat. Auch auf seinem Gesicht ein stoischer Ausdruck, der nichts darüber verriet, was er dachte. Damit eilte sie weiter, führte ihn durch Gänge und Treppenhäuser, nach unten. Immer weiter nach unten. Ihre Gedanken blieben jedoch bei ihm hängen. Sie wusste, was in ihm vorging, egal was er sagte oder nicht, oder ob man es ihm ansah, oder nicht. Eines strafte sein Gesicht, seine Wortkargheit Lügen. Es war die Art, wie er ging. Mit jedem Schritt, den er tat, schien der Widerstand, gegen den er lief, größer zu werden. Er wollte das nicht. Und dieser Unwille schien fast materiell zu sein. Die Angst, die Abscheu. Der Ekel und die Wut auf sich, auf den, der ihm das eingebrockt hatte, auf die Welt… die Kraft, die ihn trieb, war einzig und allein die Sorge um Ran. Nur deshalb ging er überhaupt. Nur deshalb war er nicht schon längst stehen geblieben… Für sie. Bevor sie die Tür zur Tiefgarage des Hauptquartiers der schwarzen Organisation öffnete, blieb sie stehen, wandte sich dann langsam ihm zu. Er war kreidebleich, aber sein Gesichtsausdruck war gefasst. Sie seufzte, räusperte sich. „Bist du bereit… Armagnac?“ Er hob den Blick, seine blauen Augen fesselten sie. Und das war der Moment, in dem ihr restlos klar wurde, was sie hier taten. Was sie mit ihm machten, indem sie ihn zwangen, ein Verbrecher zu werden. Sie raubten ihm das, was ihn ausmachte, und in dem sie das taten, wurde Shinichi Kudô Geschichte, nichts weiter mehr als ein Name… er verschwand, während Armagnac an seine Stelle trat. Man musste ihn nicht umbringen, um ihm das Leben zu nehmen. Es ging auch anders, und ihnen beiden war das klar, sie las es in seinen Augen. Er war bereit, sich aufzugeben. Und das war ein grausamer, schmerzhafter Prozess. Und sie fragte sich ernsthaft, ob der Boss das bedacht hatte, als er ihm so heroisch sein Leben hatte retten wollen. Egal wie und auf welche Weise… innerhalb der Organisation war Shinichi Kudô tot. Dann riss er sie aus ihren Gedanken. „Nein.“, wisperte er, schüttelte den Kopf. „Aber die Wahl hab ich nicht.“ Er blinzelte, schaute weg, brach den Bann, der sie gefesselt hielt. „Also bin ich wohl so bereit, wie man es sein kann, unter diesen Umständen.“ Sie nickte nur, drückte die Klinke der Tür hinunter, schwang sie langsam auf und ließ ihn hinaustreten in ein Leben, das nicht mehr seines war. Von dem er nie wollte, dass es seines würde. „Vorverlegt?“ Meguré horchte in das Telefon, hörte Blacks sachliche Stimme die neue Sachlage schildern. „Ja. Der Coup findet heute statt. Also… sie und ihre Beamten dürfen sich nicht einmischen, hören Sie? Wir treffen uns gleich alle bei Professor Agasa – not one word to anybody, please. Wir müssen besprechen, wie es weitergeht, das alles entwickelt sich viel zu schnell… Sharon ist dabei, sie wird aufpassen, und hinterher berichten, das sagt Kir zumindest; deshalb halte ich es für weiser, von uns keinen hinzuschicken. Also… holen Sie bitte Môri und kommen Sie dann nach.“ „Na… natürlich.“, murmelte Meguré leise. Dann hängte er auf. „Na los! “, fiel er dann in den gewohnten Kommandoton zurück, scheuchte die Inspektoren Takagi und Sato auf von ihren Schreibtischen auf. „Los, wir holen Mori ab und dann fahren wir zum Professor!“ Noch ihm Gehen wählte der Kommissar die Nummer seines ehemaligen Kollegen, setzte ihn kurz ins Bild. Die Fahrt im schwarzen Porsche war extrem schweigsam verlaufen. Shinichi hatte zusammen mit Sharon auf der Rückbank gesessen und sich die Zeit damit vertrieben, aus dem Fenster zu schauen. Er wusste, dass Gin ihn beobachtete, hin und wieder einen Blick in den Rückspiegel warf, aber er versuchte, es zu ignorieren. Seine Gedanken kreisten um Ran, und um die Frage, was ihn heute Abend erwartete. Mittlerweile war es dunkel geworden; zumindest so dunkel, wie es in Tokio werden konnte. Sie waren im Vergnügungsviertel Shibuya ausgestiegen, in einer Seitenstraße. Sharon hatte hier wohl ihre Wohnung, wie er beiläufig erfuhr, interessieren tat ihn das eigentlich nicht; er lief einfach mit, stellte keine Fragen, schwieg und befolgte Anweisungen. Sie waren in einer der zahllosen Gassen verschwunden, ein wenig ab vom Rummel in den großen Straßen, wo die Tokioter Jugend ihre Genusssucht auslebte, auf der Suche nach Spaß, Alkohol, lauter Musik und… anderen Dingen. Er hielt das Päckchen mit den Drogen, kam sich furchtbar vor und versuchte doch, diesen Gedanken nicht zuzulassen. Shinichi durfte sich nicht furchtbar fühlen. Genaugenaugenommen durfte er gar nicht fühlen… Denn Shinichi existierte nicht mehr. Nicht heute Nacht, nicht hier, an diesem Ort. Hier stand Armagnac, und ihm machte es verdammt noch mal nichts aus, den Drogenkurier zu mimen. Shinichi verzog das Gesicht, wandte sich ab, damit keiner es sah. Er hasste… hasste Armagnac. Und er wusste, sein Gewissen würde über ihn noch herfallen. Gin lehnte an seinem heißgeliebten Porsche, zog an einer Zigarette, die so gut wie nie seinen Mundwinkel zu verlassen schien, und hatte die Hände vor der Brust verschränkt. Er sagte nichts, einzig und allein das orangerote Glühen seines Glimmstängels, dass in regelmäßigen Abständen heller und wieder dunkler wurde, tauchte seine Züge in gespenstisches Licht. Shinichi wusste, auch ohne dass er seine Augen sehen musste, dass er seinen Blick nicht von ihm ließ. Eine falsche Bewegung, ein falscher Laut, und er wusste, es wäre vorbei. Gin würde nicht einen Fehler verzeihen, und es würde ihm auch keiner entgehen. Er wartete nur darauf, ihn dran zu kriegen. Sharon hatte sich neben ihn gestellt, lehnte an der Mauer, ihr Kinn war auf ihre Brust gesunken und sie schien tief in Gedanken. Nach einer halben Ewigkeit schließlich, die allerdings wohl kaum länger als fünfzehn Minuten gedauert haben konnte, kam Bewegung in die schlanke Figur neben ihm. Shinichi blickte auf. „He’s late.“ Sharon schaute zu Gin, der langsam seine Zigarette aus dem Mundwinkel zog, sie zu Boden warf und gründlichst austrat, ehe er die letzte Rauchwolke in den Nachthimmel blies. „In der Tat.“ Er stieß sich von seinem Wagen ab. „Ich nehme an, der Boss hat Anweisung gegeben, was im Falle eines Nichtauftauchens der Kunden zu tun ist?“ „Schema F, wie immer. Taktischer Rückzug, Kontaktaufnahme mit den Klienten, Befragung, und je nachdem wie das Ergebnis ausfällt, neuer Termin oder…“ Shinichi wandte den Kopf ab, blickte die Gasse entlang, zog sich seine Kappe tiefer in die Stirn. Er konnte sich denken, was oder bedeutete. Er hörte Gins heiseres Gelächter. „Aber vielleicht sollten wir einfach mal die Gasse rauf und runter gehen - vielleicht verstecken sie sich ja irgendwo.“ Vermouth warf ihm einen kalkulierenden Blick zu. „Hm.“ „Ich schlage vor, da ihr beide euch so blendend zu verstehen scheint, geht ihr mal die Gasse entlang rauf; und ich schau da unten mal nach.“ Er nickte in die andere Richtung, puhlte dabei mit spitzen Fingern eine neue Zigarette aus seiner Schachtel. „Well.“, meinte Sharon dann, nickte knapp. „Better do that than nothing.“ Sie nickte Shinichi zu, der ihr, nach einem kurzen Blick auf Gin, folgte. Er schaute stur auf den Boden, bis sie außer Hörweite gegangen waren. „Erleichtert?“, fragte sie ihn schließlich, schaute ihn ernst an. Shinichi hob den Kopf, schaute sie ernst an. „Nicht wirklich. Es… ist doch ohnehin nur ein Aufschub. Und ich bin kein Fan von Aufschüben.“ Shinichi seufzte. „Außerdem werde ich das Gefühl nicht los, dass er etwas vorhat. Dass er etwas plant. Irgendwie denke ich, er wusste, dass heute keiner auftaucht. Und dass er uns eigentlich nur loswerden will.“ Er blieb stehen. „Könnte das denn sein, Sharon? Könnte er vorab mit den Klienten ohne dem Wissen des Bosses Kontakt aufgenommen haben?“ Sharon hielt ebenfalls inne. „Es sähe ihm nicht ähnlich, aber auszuschließen ist wohl nichts.“ Sie schluckte, schaute dann die Gasse entlang nach unten, versuchte, in der Dunkelheit das schwarze Auto auszumachen. „I think, we’ll better have a look…“ Sie drehten auf dem Absatz herum und eilten die Straße entlang nach unten, stellten fest, dass sie in der kurzen Zeit schon erstaunlich weit gelaufen waren. Dann waren sie an der Kreuzung, an der sie gewartet hatten, angekommen. Kein Gin weit und breit… und auch der Porsche war weg. Shinichi wurde heiß und kalt zugleich. „You were right, Mr Holmes…“ Sharons Worte waren kaum lauter als ein Flüstern, als sie sich ein letztes Mal um die eigene Achse drehte. „Er hat uns sitzen gelassen. Ich fass es nicht… und wir kriegen ihn dafür nicht mal dran, denn es steht ihm zu, zu gehen, wenn der Klient nicht kommt. Ich bin mir sicher, deine Theorie stimmt… aber nachweisen können wir ihm das nicht.“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Das ist doch unwichtig… viel wichtiger ist doch das Warum! Warum wollte er uns loswerden…“ Er legte seine Stirn in Falten, griff sich ans Kinn. „Es muss dafür einen Grund geben, wenn er es so umständlich einfädelt… ich nehme nicht an, dass er einfach in die Heia wollte…“ Der zynische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. Sharon nickte nur, legte einen Zeigefinger an ihren Wangenknochen. „Sharon… sag, wo könnte Gin hingefahren sein… wobei würden wir ihn stören…?“ „Ich weiß nicht… cool guy, I don’t know…“ Sie seufzte, legte den Kopf in den Nacken. „Aber du musst doch eine Ahnung haben. Du arbeitest seit Jahren…“ „Yeah, I know, you really don’t have to remind me…“ Dann wurde sie bleich. „Oh, shit.“ Er starrte sie an. Er wusste nicht warum, aber er hatte sofort eine Ahnung, woran sie dachte. „Bitte sag nicht…“ „Doch.“ Sharon nickte schwer. „Nur das kann der Grund sein. Nur das. Er will seine Rechnung begleichen. Er will Sherry… ich denke, herauszufinden, wer sie ist, nachdem er dich kennt, ist ihm nicht schwergefallen... er wird die Schule gefunden haben, die ihr Besucht, und mit ein wenig Phantasie und...", sie lächelte bitter, "Charme und ein bisschen schauspielerischem Talent, wird er schon irgendeine Sekretärin dazu gebracht haben, ihm zu sagen, wo Ai Haibara wohnt...“ Shinichi drehte sich um, begann zu rennen. „Was hast du vor?“ „Sie warnen, was sonst? Kommst du jetzt oder muss ich selber fahren? Du sagtest doch, deine Wohnung wäre in der Nähe, also hoffe ich, du hast auch ein Auto!?“ Sie nickte nur, hastete dann neben ihm durch die Nacht, hörte neben sich seinen pfeifenden Atem, hörte das Klackern ihrer Pumps durch die Straßen hallen und verfluchte die Welt. Es gab keinen Gott. Shinichi neben ihr keuchte, hatte nur noch für einen Gedanken in seinem Kopf Platz. Verdammt… Bitte, lass uns nicht zu spät sein… Bitte, bitte… Bitte, bitte, bitte… Wenige Minuten später hatten sich Jodie, James und Shuichi als auch die drei Polizisten des Tokioter Kriminaldezernats Meguré, Takagi, Sato und Kogorô Mori hatten wieder beim Professor eingefunden, um den Stand der Dinge zu erörtern. Sie waren gerade alle eingetroffen, dementsprechend überschlug sich das Gespräch. Heiji stand in ihrer Mitte, versuchte zusammenzusetzen, um was es ging, denn offensichtlich war hier keiner in der Lage, ihn vernünftig ins Bild zu setzen. Er merkte, wie langsam eine Vene in seiner Schläfe zu pochen begann. Offensichtlich ging es um Shinichi und die Organisation. Aber ganz klar durchschaute er das noch nicht. Alle, bis auf Ai, die in ihrem Labor im Keller saß und sich ihr Hirn über ihre Formeln zermarterte. Sie hatte das Gefühl, die Gesellschaft der anderen nicht ertragen zu können, und so beschäftigte sie sich mit Dingen, die sie erklären konnte. Rein rationellen Dingen. Auch wenn Shinichi wieder er selbst war... niemand garantierte, dass das so blieb. Und so nahm sie dankbar jede Ausrede an, um sich diesem Chaos zu entziehen. „Vorverlegt?!“ Kogorô ächzte. „Das sagt Kir, ja.“ Jodie nickte langsam. „Wir müssen uns überlegen, was wir hier machen… die Situation spitzt sich zu, wir müssen eventuell überlegen, ob wir Sie nicht…“ Sie warf Agasa einen bedeutungsvollen Blick zu. „Ai und ich bleiben, wo wir sind.“, murmelte der Professor leise. „Wollen Sie, dass man ihn mit Ihnen auch noch erpresst?“ Shuichi zog die Augenbrauen hoch, warf ihm einen ernsten Blick zu. „Was is jetzt mit Kudô, verdammt?!“ Heijis Schrei übertönte das Stimmengewirr. Akai seufzte leise. „Er verübt wohl gerade das erste Verbrechen seines Lebens als Mitglied der schwarzen Organisation.“ Heiji starrte ihn an, fühlte sich wie vom Bus überrollt. „Sie mach’n Scherze…“ Sharon und Shinichi rannten, was das Zeug hielt. Sie hatten Sharons Wagen, einen schwarzen BMW Z5, einige Straßen weiter geparkt, damit Gin ihn nicht gleich fand, und waren gerade dabei, über den Zaun zu steigen, um Agasas Haus vorsichtshalber über den Hintereingang zu betreten, als sie es hörten. Das Quietschen von Gins Reifen. Wie sie es geschafft hatten, gerade noch reichtzeitig gekommen zu sein, war ihnen beiden schleierhaft; vielleicht hatte Gin den Weg länger suchen müssen als sie, das war wohl ihr Glück. Immerhin kannte Shinichi sich in seinem Viertel aus, und Sharon... Sharon fuhr, das hatte er festgestellt, einen genauso kamikazehaften Stil wie seine Mutter. Ein bitteres Lächeln huschte über seine Lippen, als er daran dachte. Gins Wagen war sicher auch schnell, aber er kam wohl eher selten in dieser Gegend vorbei. Wenigstens etwas, das heute ihnen in die Karten spielte. Sharon starrte ihn an; sie war bereits über den Zaun gestiegen, während er noch halb oben hing. „Wo sagtest du, ist der Schlüssel?“ „Unter dem Stein neben der Tür.“ Sie lief los, während er sich so lautlos wie möglich nach unten gleiten ließ. Als er ankam, hatte sie die Tür schon geöffnet und war bereits auf den Weg ins Wohnzimmer aus dem das Licht schimmerte. Er seufzte, drehte um und lief in die Küche, durchsuchte alle angrenzenden Zimmer, damit sie hier keinen vergaßen. Sharon blickte sich nur kurz um, kniff die Lippen zusammen. Sie konnte sich vorstellen, warum er nicht nachkam. Er wollte nicht gesehen werden, von ihnen, nicht, wenn es nicht nötig war. Er wollte ihnen den Anblick von Armagnac ersparen… und er wollte verhindern, dass er selbst noch den Verstand verlor. Er war kurz davor, das wusste sie. Allein die Tatsache, dass sie sie retten mussten, ließ ihn funktionieren. Und so stand sie da, mitten im Wohnzimmer, blickte geradewegs in Gesichter voll Schrecken und Erstaunen; der junge Detektiv aus Osaka und Shuichi Akai standen in der Mitte des Raumes, waren offenbar gerade am diskutieren gewesen, als sie die traute Runde gestört hatte. Es war klar, was gerade durch ihre Köpfe schoss, man konnte es lesen, in ihren Augen. Angst. Panik. Unsicherheit. Verzweiflung, ja, ein bisschen auch davon. Aber auch Neugier. Hoffnung, erstaunlich viel davon. Und viele, viele unausgesprochene Fragen. Sie schüttelte den Kopf, erstickte jeden Versuch, eine dieser Fragen zu stellen, damit im Keim. Für Fragen war jetzt keine Zeit. „Ihr müsst hier weg. Gin ist gleich da, er parkt gerade sein Auto.“ Diese zwei Sätze schlugen ein wie eine Bombe. „Aber wir dachten, ihr hättet heute einen Deal in Shibuya?“, fragte Akai ruhig, der wie immer Herr über sich war. „Den hatten wir auch. Aber die Klienten kamen nicht, und ehe wir uns versahen, war Gin weg… we didn’t have to guess long, where he’d been gone to…“ Die Gesellschaft erhob sich fast synchron. Der Ernst der Lage war allen sofort klar. „Wohin…?“, murmelte Agasa leise fragend. „Durch die Hintertür. Am besten fürs erste in den Nachbargarten und von dort aus dann weg. Und Licht aus.“ Sie schlug mit der flachen Hand auf den Schalter, eilte der Gruppe hinterher, die flott das Wohnzimmer verließ. Draußen auf dem Gang traf sie auf ihn. Er presste sich gegen die Wand, um nicht gesehen zu werden, warf ihr einen nervösen Blick zu. „Ist hier noch wer?“, fragte sie ihn leise. „Nicht im Erdgeschoss.“, flüsterte er, schüttelte den Kopf. Er blickte hektisch um sich, war erleichtert, als er merkte, dass alle anderen schon außer Hör- und Sichtweite waren. Dann erstarrten sie beide, als sie es kratzen hörten. Shinichi warf einen kurzen Blick an ihr vorbei, hinaus, auf die dunklen Schemen, die Silhouetten seiner Freunde, die bereits im Garten standen, als ihm eines auffiel. Ihre kleine Gestalt fehlte. Sie war nicht da. Er schluckte, wandte seinen Kopf langsam zu Sharon. Selbst in der Dunkelheit konnte sie ihn erbleichen sehen. „Wo ist Ai?“ Mehr frage er nicht. Sie schüttelte hilflos den Kopf. „I don’t…“ Erneutes Schaben war zu hören. Shinichi wandte sich um, sah vom Keller herauf sanftes Licht strahlen. Er drehte sich wieder um, starrte sie gehetzt an. „Bring die anderen in Sicherheit!“ Damit wetzte er los, lief so leise wie möglich den Gang entlang und den Keller nach unten, während Sharon nach draußen eilte, die Tür verschloss und einen aufgebrachten Agasa, der jetzt auch bemerkt hatte, wer ihm fehlte, daran hinderte, zurückzulaufen, wobei ihr zu ihrem Glück die Polizisten und das FBI behilflich waren. Sie schob sie alle durch die kleine Gartentür auf das Grundstück der Kudôs, blieb mit angehaltenem Atem stehen und blickte zu Agasas Haus. Die anderen taten es ihr gleich. Shuichi trat lautlos neben sie. „Ist er da drin?“, fragte er, ohne sie anzusehen. „Wer sonst…“, raunte sie leise. „Who else, if not him…“ Kapitel 12: Der Baron der Nacht ------------------------------- Hallo liebe Leserinnen und Leser! Ich hoffe, ihr hattet einen fleißigen Osterhasen! Nachdem heute ja noch Ostermontag ist, bin ich auch noch nicht zu spät, euch frohe Ostern zu wünschen ;D Nun, heute kommt Teil zwei des etwas geplatzten ersten Coups von Armagnac- ihr werdet sehen, was daraus geworden ist... aber der Abend ist immer noch jung, fürchte ich ^.~ Und für Armagnac noch nicht zu Ende, aber dazu dann im nächsten Kapitel mehr. ^.~ In diesem Sinne wünsche ich euch viel Vergnügen beim Lesen! Liebe Grüße, Eure Leira :D ___________________________________________________________________ Kapitel 12: Der Baron der Nacht Shinichi hetzte die Treppe hinunter, stieß die Tür auf und machte als erstes das Licht aus, versuchte, nicht zu laut zu atmen. Ai fuhr erschrocken auf, schnappte unwillkürlich nach Luft, als es auf einmal finster wurde und sie sich von zwei Armen gepackt fühlte, kam aber nicht dazu, weiter zu schreien, weil sich eine Hand auf ihren Mund presste. Shinichi schluckte, versuchte, nicht die Nerven zu verlieren. Er wagte nicht, sie loszulassen, sie war panisch, ihr kleiner Körper angespannt; er wusste nicht, wie sie reagiert hätte, hätte er sie auf den Boden gesetzt. Er hatte keine Zeit, sich zu erklären, und ohne Erklärung, hätte sie jetzt, in dieser Situation sicher die falschen Schlüsse gezogen und wäre weggelaufen- unter Umständen genau in Gins Arme. Deshalb griff er ein wenig fester, als sie zu strampeln anfing, versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Shinichi holte Luft, dann schaltete er den Computer aus. Am besten sah es so aus, als ob gar keiner daheim gewesen wäre. Mit etwas Glück würde Gin den Rechner nicht anfassen und dessen Wärme fühlen. Sie zwickte ihn in den Arm, woraufhin er sie fast los ließ. „Hör auf damit, Haibara!“, zischte er in ihr Ohr, als sie ihm zu entgleiten drohte, während er zur Tür schlich und angestrengt die Treppe hinauf spähte, in die Dunkelheit lauschte. Er hörte nichts. Wenn Gin schon im Haus war, war er wirklich außerordentlich leise. Ai riss die Augen auf, als sie erkannte, wer sie festhielt. Sie hörte auf, sich zu wehren, ihr Körper erschlaffte, stattdessen krallte sie ihre kleinen Hände in seinen Arm. Kudô! Panik ergriff sie. Sie wusste nicht, ob sie ihm jetzt trauen durfte oder nicht. Du bist jetzt Armagnac… oder? Was tust du hier, Kudô… Sollst du mich entführen, um Ran zu retten? Sind wir schon so weit…? Ai schluckte, presste dann die Augen zusammen. Das wollte sie einfach nicht glauben. Dass er sie entführte, in die Organisation zurückbrachte, sie Gin… zum Fraße vorwarf, das konnte sie nicht glauben. Shinichi Kudô war doch nicht so. Er gab nicht so einfach ein Leben für ein anderes, außer es handelte sich um sein eigenes… Auf keinen Fall aber war er ein Verräter…! Er würde sie doch nie ausliefern… er hatte doch versprochen, ihr immer zu helfen. Nie würde Kudô sowas tun. Nein… doch nicht er… oder? Die Gedanken des rotblonden Mädchens drehten sich im Kreis, sie bekam kaum mit, wie er sie ein Stück die Treppe hinauftrug, bekam nicht mit, wie angespannt er selber war, wie vorsichtig, keinen Laut zu produzieren, sonst… hätte sie wohl längst erkannt, um was es hier ging. Um ihr Leben. Stattdessen dachte sie an ihn; und an jemanden anderen. An Ran. Sie wusste ja, weshalb er überhaupt eingetreten war, in dieses Syndikat, das ihre Schwester auf dem Gewissen hatte. Wegen Ran. Shinichi liebte sie. Mehr als sich selbst. Mehr, als wahrscheinlich irgendjemanden anderen auf dieser Welt. Wenn er also die Wahl hatte, zwischen ihnen beiden, zwischen ihr und Ran… wen würde er wählen? Shinichi… würdest du mich für sie opfern…? Wie weit würdest du für sie gehen… wie weit… wie weit? Liebst du sie genug, um das zu tun? Shinichi… … Armagnac…? Shinichi hielt inne, blieb wie erstarrt auf der Treppenstufe stehen, als er hörte, wie die Haustüre aufgemacht wurde, kniff die Augen zusammen, versuchte, seine Angst zurückzudrängen und sich zu konzentrieren. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Gin lächelte, als er endlich das Haus betrat, sah sich ohne Hast um. Hier also lebte sie… die kleine Sherry. Bei diesem alten Mann, wer hätte das gedacht. Es war leicht, das herauszufinden, nachdem er erst einmal ihre Schule gefunden hatte; was wiederum einfach gewesen war, allzu viele rotblonde Grundschülerinnen gab es nicht, sie stach auf den Fotos auf den Websites der Schulen sofort ins Auge. Ai Haibara. Welch sinniger Name. Sein Lächeln wurde langsam breiter. Ein Anruf im Hauptquartier bei den blassen, schlaksigen und fahrigen Gestalten, die sich die Organisation als Computerspezialisten hielt – und einen Hack-Versuch später hatte er, was er wollte. Die Adresse von Ai Haibara, frisch aus dem Datenfundus der Teitan-Grundschule. Langsam schritt er den Flur entlang, die Hände in den Taschen vergraben, blickte um sich. Es war alles dunkel. Wahrscheinlich lag sie schon im Bett und schlummerte… Kleine Kinder brauchten ja bekanntlich viel Schlaf. Er hörte, wie er näher kam. Shinichi drückte sie fest an sich, hielt ihr den Mund zu, presste sich gegen die Wand der Kellertreppe, als ob er mit ihr verschmelzen wolle, in sie hinein sinken und unsichtbar werden für jeden, der an ihm vorbei ging - er hatte die Augen geschlossen, betete lautlos zu jedem Gott, den er kannte, dass Gin zuerst nach oben ging. Nach oben. Die Treppe hinauf, hinauf, bitte… Nur nicht in den Keller. Langsam öffnete er die Augen wieder, horchte in die Dunkelheit, versuchte, das rauschende Geräusch seines eigenen Blutes in den Ohren zu überhören, hielt den Atem an. Er hörte ihn immer noch, hörte diesen Atem, heiß… ein schwarzer Panther auf der Jagd, bereit zum Sprung, bereit, seine Beute zu schlagen, zu töten… Ai hielt jetzt völlig still. Entweder, weil sie die Gefahr der Situation verstand, oder weil sie ganz einfach gelähmt war vor Angst. Dann hörte er Schritte eine Treppe hinaufsteigen, langsam, leise, aber doch deutlich, verkniff sich ein erleichtertes Aufatmen, schlich sich die letzten Stufen nach oben, das kleine Mädchen immer noch fest an sich gedrückt, huschte lautlos an der Treppe vorbei, den Gang entlang, machte leise die Haustür nach auf und wieder zu und tauchte ein, in die Nacht. Kurz blieb er stehen, genoss die Kühle dieser finsteren Tageszeit, merkte jetzt erst, wie heiß ihm geworden war, schluckte, sortierte sich. Ai hing in seinem Arm, starrte in die Nacht, konnte kaum glauben, was hier passierte. Sie war draußen. Gin war drinnen. Er war nicht gekommen, um sie auszuliefern… Wie hatte sie… Wie hatte sie den Gedanken eigentlich fassen können… Eine Bewegung seinerseits riss sie wieder aus ihren Gedanken. Er drückte sich an die Hausmauer und huschte an ihr gepresst entlang bis zu dem Punkt, wo er unter die Hecken tauchen konnte. Erstaunlich lautlos verschwand er im Dickicht, atmete einmal fast wimmernd aus, als die Anspannung ein wenig wich. Ai blinzelte, schluckte. Der Gedanke, was er gerade durchmachen musste, fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Und sie schämte sich, weil sie gezweifelt hatte, was er vorhatte… weil sie ihm fast unterstellt hätte, für Ran mit ihrem Leben zu bezahlen. Sie kam sich mies vor. Er durchlebte die wahre Hölle und sie… sie dachte nur an sich. Du kamst, um mich zu retten… Sie zitterte, als sie daran dachte, was er für sie aufs Spiel setzte, wen… er für sie aufs Spiel setzte, wurde dann aber aus ihren Gedanken gerissen, als er sie anredete. „Ich lass jetzt deinen Mund los, weil ich meine Hand brauche. Ich denke, ich muss dir nicht sagen, dass du leise sein musst, Haibara?“ Ai nickte nur, ein Schauer rann ihr über den Rücken, als sie seine Stimme hörte. Shinichis Stimme. Dann nahm er seine Hand weg, und sie drehte den Kopf, so gut es ging, schaute ihn an. Er seinerseits beobachtete die Fenster, dann drückte er sich an der Mauer entlang, tastend, im Schutz der Hecke zum zweiten Gartentor des Professors – dem Gartentor, das auf das Grundstück seiner Eltern führte. Gottseidank war das nie verschlossen. Langsam öffnete er es, fiel fast hindurch, schloss es wieder und sah sich einer Gruppe Menschen gegenüber, die ihn alle anstarrten. Langsam ließ er Ai los, die zu Boden sank, immer noch zitternd, ihn nur ansah, zu keiner anderen Reaktion fähig. Sie wusste, was sie ihm zu verdanken hatte. Ihr Leben. Keuchend atmete er aus, merkte erst jetzt, dass er fast die ganze Zeit lang die Luft angehalten hatte. Anspannung fiel langsam von ihm ab, er merkte förmlich, wie sich seine verkrampften Muskeln lösten. Mit einer fahrigen Geste wischte er sich den Schweiß von der Stirn, blickte dann unsicher in die Runde der Menschen, die sich um sie herum versammelt hatten. Und wieder schaute er auf, diesmal allerdings, weil er am Boden saß, und alle anderen standen. Das war es jedoch nicht, was ihm diesen unglaublich bitteren Geschmack im Mund bescherte, sich wie ein Faustschlag in die Magengrube anfühlte. Er rappelte sich hoch, zog sich an den Stäben des Tores in die Höhe, ließ sie nicht los, als er stand. Nein, das half nichts… Es waren die Ausdrücke auf ihren Gesichtern - oder besser, der Ausdruck auf ihren Gesichtern. Sie trugen alle den gleichen. Pures Entsetzen- Ungläubigkeit, Verwirrung in ihrer Reinstform. Shinichi schluckte, fragte sich, wie sie ihn so ansehen konnten… sie wussten es doch, wie konnten sie da noch so erstaunt sein. Das war nicht fair. Ihre entgeisterten Blicke brachten in hart an die Grenze dessen, was er ertragen konnte. Das war nicht richtig so, sie sollten ihn so nicht ansehen. Sie sollten ihn so nicht sehen müssen, überhaupt. Aber was heißt hier schon „richtig“? Dieses Leben läuft doch schon so lange so falsch… Er holte Luft, schaute kurz zu Boden, strich sich erneut einen Schweißtropfen von der Schläfe, versuchte, seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Dann hörte er es. „Kudô!?“ Shinichis Kopf fuhr hoch und er blickte geradewegs Heiji ins Gesicht, der ihn mit Bestürzung, Unglauben… ja fast Abscheu… in den Augen anstarrte. Er wusste nicht, wie viel man ihm schon erzählt hatte, wie viel sie alle überhaupt wussten, aber ihn so zu sehen, in dieser Aufmachung, schwarz wie die Nacht… und in dieser Gesellschaft, musste für sie alle, aber für Heiji wohl besonders, der ihn doch auch immer irgendwie ein bisschen bewundert hatte, der sein Freund gewesen war und zwar nicht irgendein Freund… sondern ein wirklich guter und loyaler Freund… absolut schrecklich sein. Und im wahrsten Sinne des Wortes unglaublich. „Kudô? Biste… biste das wirklich…?“ Seine Stimme war kaum zu hören, klang unsicher. Fragend. Fassungslos. Ja, das beschrieb wohl recht gut, was Heiji wohl gerade empfand. „Ich wollts nicht glauben, als sie‘s mir gerade erzählt haben…“ Shinichi blickte ihm geschlagen ins Gesicht. Er wusste nicht, ob er jetzt für eine derartige Diskussion die Kraft hatte. Ziemlich sicher war wohl, dass sie die Zeit dafür nicht hatten. Heiji starrte ihn an. Er wollte nicht wahrhaben, was er sah, wollte sich einreden, das das alles nicht stimmte, oder wenigstens einen guten Grund hatte. Nur kannte er diesen Grund nicht. Er wusste, es stimmte, man hatte es ihm gerade im Wohnzimmer erzählt, Shinichi war ein Mitglied… was er noch nicht wusste, war warum, gerade als er die Frage stellen wollte, war Sharon aufgetaucht. Shinichi sagte nichts, schwieg; er wusste nicht, was er hätte sagen können in diesen Minuten, wusste nicht, was Heiji dachte, als er seinem Freund in die Augen blickte, der zusehends immer verwirrter zu werden schien, erahnte mehr, als er es sah, wie Heiji unter seiner Bräune immer blasser wurde. Er, Shinichi Kudô, war tatsächlich ein Mitglied der Schwarzen Organisation. Man konnte fast zusehen, wie der Detektiv aus Osaka diese Erkenntnis nicht weiter leugnen konnte. Heiji atmete scharf aus - dann fing er an zu schreien. „Verdammt noch mal, was zur Hölle tust du da?! Bistde übergelaufen oder was, das kann doch nich' dein Ernst sein?! Das kann nich‘… Warum?!“ Shinichi zuckte zusammen, warf einen schnellen Blick zu Agasas Haus. Noch schien alles ruhig. Er wandte sich Heiji zu, der gerade Kogorôs Arm, der ihn beruhigen wollte, abwehrte. „WIE KONNTESTDE… WIE KOMMSTE AUF DIE IDEE...“ „Sei ein bisschen leiser, ich bitte dich…!“ Seine geraunten Worte schienen zu Heiji gar nicht vorzudringen. Man sah ihm an, wie aufgewühlt er war. Wie sehr ihn das mitnahm. „WAS ZUR HÖLLE MACHST DU HIER? Warum läufst du mit denen da rum? Wolltest du ans Gegengift kommen? So schlimm kann dieses Knirpsdasein doch nich‘ gewesen sein, dassde das tust…! Welchen Grund kannstde denn haben, dich auszuliefern und jetzt mit denen...“ Shinichi wurde langsam immer nervöser. „Mein Gott, Heiji sei still! Erstens siehst du ja, ich kam nicht, um hier irgendwem was anzutun, wir haben herausbekommen, was er vorhat, deshalb sind wir hier, um euch zu warnen! Das muss dir doch klar sein, du Idiot! Und jetzt hör um Himmels Willen auf zu brüllen wie ein Irrer, Gin ist da nämlich noch drin - er hört…“ Heiji starrte ihn an, schwieg tatsächlich. Dann trat er nach vorn, ehe Shinichi reagieren konnte, packte ihn am Kragen. „Schön, ja, danke, du hast uns gerettet – aber das geht auf Dauer doch nich' so, Kudô! Du weißt, dass das so nich' läuft bei denen, du kannst diese Organisation nicht unterwandern, das ist dir auch klar, nich' wahr? So blauäugig kannste gar nich sein! Also bitte, ich kann mir nich' vorstellen, dassde da nur drin bist, um uns zu beschützen - das geht auch anders, verdammt, du musst mitkommen, die Polizei… wieso, verdammt...“ „Willst du mir vorwerfen, ich wär da etwa FREIWILLIG?!“ Jetzt war Shinichi es, der laut geworden war. „Ich weiß es nich‘, sag du’s mir!“ Heijis Stimme klang bitter. Shinichi blickte ihn traurig an, dann griff er nach Heijis Händen, versuchte, seine Finger aufzubiegen. „Na, wenns so einfach ginge, wär ich doch nicht hier… wenn ich eine Chance hätte, mit dem FBI, oder wem auch immer…“ „Aber warum sollt’s nich‘ so gehen? Du hast doch bis jetzt mit der Methode immer Erfolg gehabt, oder nich'?!“ Seine Stimme war wieder lauter geworden, sein Griff fester. Gleichzeitig starrte er ihn verständnislos an, offensichtlich wurde ihm langsam klar, dass hier etwas falsch gelaufen war. Ihm war doch klar, dass Shinichi das nie freiwillig täte, aber ihm fehlten noch die letzten Teile, um es wirklich gänzlich zu verstehen. Shinichi starrte ihn an, als ihm eines klar wurde. Heiji wusste, dass er bei der Organisation eingestiegen war- aber nicht warum. Er kannte die Gründe nicht, sonst würde er kaum so reagieren. „Lass mich los, bitte… lass dir doch erklären… du hast keine Ahnung, Heiji...!“ Der Detektiv aus Osaka hörte ihn gar nicht. „Welchen Grund kannste denn haben? Sag mir, was verdammt is der Grund, dass ausgerechnet du dich denen anschließt?! Dir von ihnen einen Namen geben lässt?“ Heijis Worte klangen nach in seinen Ohren. Shinichi schluckte, wandte den Kopf ab, ließ die Hände sinken. „Warum fängste diesen Mist an, du musst dir doch im Klaren sein, was mit dir da drin passiert, verdammt! Das Spiel kannste nich' gewinnen, du wirst sie auf Dauer nich' täuschen können...“ Die anderen standen stumm daneben, die Szene spielte sich wie ein Theater auf einer Bühne vor ihnen ab; sie schienen unfähig, einzugreifen, und aufzuklären, jeder für sich erstarrt für den Moment. „Lass. Mich. Los.“ Shinichi wand sich nun doch im Griff seines Freundes; sie mussten hier weg. Und noch wichtiger; Heiji musste endlich ruhig werden… sonst wurde Gin am Ende doch noch auf sie aufmerksam. „Nein.“ „Heiji, bitte. Lass mich los jetzt, ich hab keine Zeit, dir-…“ „Vergiss es! Du kommst jetzt mit und wir werden -…“ „Heiji, lass LOS!“ Shinichi fuhr ihn an, stieß mit beiden Händen gegen seine Brust. Der Schlag ließ den Detektiv aus Osaka taumeln, er wich zurück, blickte ihn erschrocken an. Shinichi stand ihm gegenüber, atmete heftig, versuchte, sich wieder zu fassen. Heiji schüttelte benommen den Kopf. „Was is los mit dir… du kannst das nicht wollen… du warst doch nich‘ so, du… Du wirst bei denen Verbrechen begehen müssen, Kudô, die werden dich zum Töten bringen, wenn du weiterleben willst, warum tustde dir das an? Warum kommste nicht einfach mit, die Gelegenheit is günstig, besser kanns gar nicht kommen…“ Shinichis Mimik verzog sich, wandte den Blick ab. An die Optionen, die Heiji ihm aufzählte, wollte er nicht denken; es kam ohnehin keine in Frage, so verlockend das auch war… er konnte nicht. Es ging um Ran. „Ich kann nicht.“ Seine Stimme klang gepresst. Der junge Detektiv schluckte. Was hier passierte, wollte ihm nicht in den Kopf- sein Freund, sein Detektivkollege Shinichi Kudô, der Mensch mit den höchsten moralischen Standards, den er kannte, war übergelaufen…? Wollte… wollte ein Mörder werden? Shinichi beugte sich nach vorne, sein Tonfall war leise, als er sprach. Zögernd legte er seinem Freund, der ihn geschlagen und verständnislos ins Gesicht starrte, die Hand auf die Schulter, schaute ihn traurig an. „Heiji, lass… lass gut sein. Am besten vergisst du mich. Du kannst mir nicht helfen, und wenn du mich siehst, dann geh mir zukünftig aus dem Weg… du… du kennst sie doch. Bring… bring dich in Sicherheit. Du hast keine Ahnung, offensichtlich, was passiert ist, am besten lässt du dich aufklären, ich kann das hier und heute nicht tun, wir sollten gar nicht hier sein...“ Er schluckte, starrte Sharon an. „Du kennst die Gründe nicht, sonst würdest du nicht glauben, dass ich hier freiwillig bin, oder diese Klamotten hier aus Überzeugung trage. Nur ist es so… es zählt nicht mehr, was ich noch will. Ich mache… was andere wollen. Weil es… weil es nötig ist. In gewisser Weise… hab ich mich wohl wirklich kaufen lassen…“ Seine Stimme klang bitter. Ein zynisches, aber doch auch trauriges Lächeln war auf seinen Lippen erschienen. Auf seine Weise sah er verzweifelt aus, auch wenn er versuchte, es zu unterdrücken. „Es interessiert keinen mehr, was ich noch will. Ich bin wieder ich- aber ich war nie weniger ich selber als jetzt…“ „Aber du…!“ Shinichi schnitt ihm mit einem ruckartigen Kopfschütteln das Wort ab. „Was war, zählt nicht mehr. Ich bin… keiner mehr von euch.“ Er schluckte hart. „Es… es tut mir Leid, Heiji. Pass… pass bitte auf dich auf.“ Sharon trat aus der Masse heraus. „Komm schon, wir müssen gehen, bevor er herausfindet, dass die Vögel ausgeflogen sind. Wenn er mitkriegt, dass wir…“ „Du brauchst mir nicht erklären, was dann los ist.“ Seine Stimme, wenn auch kaum hörbar, weil er so unglaublich leise sprach, klang bissig. Der Schreck saß ihm noch tief in den Knochen, und dem bekümmerten Blick Agasas nach zu deuten, sah man ihm ihn auch an. „Ihr solltet verschwinden. So weit weg, wie’s geht. Und kehrt am Besten nicht zurück, denn er wird heute nicht das letzte Mal dagewesen sein.“ Mehr sagte er nicht, dann drehte er sich um, folgte ihr, raus auf die Straße, wurde bald verschluckt von der Schwärze der Nacht. „Er hat Recht.“ Black rührte sich nicht von der Stelle, schaute ihm nur hinterher. Dann wandte er den Kopf, blickte zu Môri, der wie vom Donner gerührt hinter ihn trat, und dem jungen Mann in Schwarz hinterher blickte. Sie alle standen da, wie zu Salzsäulen erstarrt, konnten kaum fassen, was gerade passiert war. Das erste Zusammentreffen mit Armagnac… mit Shinichi Kudô… hatte sie alle mehr mitgenommen, als sie geahnt hatten. Meguré war bleich, zerknüllte seinen Hut, starrte auf den Boden, während Sato und Takagi sich nun langsam wieder fingen und begannen, sich um Ai zu kümmern, die wie in Trance auf dem Boden saß, offensichtlich unter Schock stand. Der Professor stand neben ihnen, blickte immer noch in die Richtung, in der Shinichi und Sharon verschwunden waren, in seinen Augen endloser Gram, in seinem Kopf hundert Fragen, von denen eine alle anderen in den Schatten stellte… Was wird Ran sagen… wie sollen wir es ihr nur erklären… Heiji fuhr herum. „Warum tut er das? Warum will er… warum will er ein Mörder werden!?“ Seine Stimme klang aufgebracht. „Verdammt nochmal, warum tut er das?!?!“ Er schrie fast, hatte sich nur mit Mühe unter Kontrolle. „Weil man ihm angedroht hat, Ran zu töten, und ihn auch, wenn er nicht gehorcht.“ Môris Stimme klang klar und sachlich. Er schien sich erstaunlich gut im Griff zu haben. „Sie werden sie umbringen, beide, so gut können wir sie gar nicht beschützen, als dass es ihnen nicht doch früher oder später gelingen könnte, da brauchen wir uns nichts vormachen. Sie kennen Ran, sie wissen, was sie ihm bedeutet und sie werden sie finden, wenn es denn sein muss - und ihn haben sie sowieso. Und weil… weil das… das allerletzte ist, was er will… wird er tun, was immer man von ihm verlangt. Wie er schon gesagt hat - was er will zählt nicht mehr. Shinichi Kudô, wie wir ihn kannten, ist dabei, zu sterben.“ Heiji ächzte, hielt sich die Hand vor den Mund, drehte sich um. Ihm wurde langsam schlecht. Kudô… Jodie schluckte, half dann Ai auf, die ebenfalls in die Richtung blickte, in der das ungleiche Paar verschwunden war, obwohl Shinichi schon längst nicht mehr zu sehen war. „Wir müssen weg. Er hat absolut Recht, Gin ist noch da drin. We have to leave immediately.“ „Aber warum nehmen wir ihn nicht fest?“ Môri starrte auf das Haus. „Warum nehmen wir diesen Mistkerl da drin nicht fest?!“ Akai wandte sich langsam um, schaute ihn kühl an. „Weil, wenn Gin nicht zurückkehrt heute Abend, jeder in der Organisation weiß, wer das zu verantworten hat, nachdem sie eigentlich zusammen unterwegs sein sollten. Wir hätten Shinichi dann auch gleich hier selber erschießen können, und ihre Tochter auch.“ James Black nickte langsam. „Allerdings, wir sollten jetzt wirklich gehen. Der Zeitpunkt, an dem wir ihn kriegen, wird noch kommen; aber jetzt ist er noch nicht da. Definitiv nicht. Wir sind Kudô das schuldig.“ Damit ging er, wandte sich dem Haus der Kudôs zu und marschierte langsam über den Rasen. Shinichi war müde und ziemlich erschöpft, als sie durch die Straßen zurück zum Auto gingen. Sein Kopf war gesenkt, sein Schritt schleppend und langsam. Ihn schien buchstäblich nichts mehr zu halten, es schien fast, als würde er sich eigentlich nur allzu gern der Schwerkraft beugen und sich einfach hinfallen lassen wollen. Was ihn dazu bewog, sich doch noch weiterzukämpfen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, war ihr schleierhaft. Sharon seufzte, schaute ihn an. Man sah ihm nur allzu deutlich an, wie sehr ihn die Hetzjagd gerade mitgenommen hatte, das Treffen mit den anderen, die nun seine Feinde waren, irgendwie. Vielleicht nicht gerade seine Feinde… aber sie gehörten nicht mehr einem Kreis an. You’re out. Es hatte angefangen, zu regnen; eine Art Platzregen aus heiterem Himmel, der die kühle Herbstnacht noch ungemütlicher machte, als sie ohnehin schon war. Binnen Sekunden waren sie bis auf die Haut nass; sie fluchte leise und ungeniert, aber es schien ihn nicht zu stören. Sie wusste nicht, ob er es überhaupt registrierte. Er schien leise für sich immer wieder den Menschen zu verfluchen, der ihn zu diesem Dasein verdammt hatte. Den Boss. Sie beschleunigte den Schritt nicht, obwohl sei gerne schneller ins Trockene gekommen wäre, aber er machte nicht den Eindruck, als würde er mit ihr mithalten. So passte sie sich seinem Schritt an, als sie in die Einkaufsstraße einbogen, in der ihr Auto geparkt war. Langsam schritten sie vorbei an den Schaufenstern, in denen selbst um diese Uhrzeit noch Licht brannte; sie stutzte, als sie merkte, dass er nicht mehr neben ihr ging. Sie drehte sich um, sah ihn schwach erleuchtet vor einer Buchhandlung stehen, und fragte sich, warum um alles in der Welt er sich nun Bücher anschauen musste. Ein wenig angenervt trat sie näher und erkannte, was ihn so in seinen Bann schlug. Der Baron der Nacht. Shinichi schluckte, starrte durch sein Spiegelbild auf der Scheibe hindurch auf die Auslage, wo sich alle Ausgaben der Romanserie stapelten. Die Bücher, die sein Vater schrieb. Daneben ein DIN A4 großes Foto von ihm selber, Yusaku Kudô. Regen troff ihn aus den Kleidern, als er sich unwillig eine nasse Strähne aus der Stirn strich. „Sie kündigen eine Signierstunde an.“, murmelte er leise, blickte auf eine große Tafel, auf der dieser Event beworben wurde. „Anscheinend sind sie wohl in der Stadt…? Davon wusste ich gar nichts.“ Er schaute sie nicht an. „Wohl um sein neues Buch zu promoten.“ Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Kehle, als er sich langsam zu ihr umdrehte. „Ich frage mich, warum er, als detektivisch engagierter Mann… als jemand, der zur Auflösung von mehreren Verbrechen beigetragen hat, mal Helfer der Polizei war… sein Geld ausgerechnet mit Büchern über einen Serienmörder verdient.“ Ein nachdenklicher Ausdruck war auf seinem Gesicht erschienen. „Ich habe mir da nie Gedanken darüber gemacht, aber jetzt scheint es mir seltsam. Er schreibt über einen Mörder, den Baron der Nacht… ein Mythos, schwarz gekleidet, keiner kennt sein wahres Gesicht. Keiner kennt seinen Namen, niemand weiß, wer er ist… es ist fast wie bei euch. Uns.“ Er verzog gequält das Gesicht, Ekel stand in seinen Augen, dann glättete sich seine Mimik wieder, machte einer seltsamen Ausdruckslosigkeit Platz, die sie bei ihm nicht kannte. „Im Prinzip bist du, zusammen mit dem Triumvirat auch die einzige Person, die um seine Identität weiß. Der Boss ist auch ein Baron der Nacht… er könnte glatt sein Vorbild sein.“ Shinichi lachte freudlos, dann machte er einen Schritt weg vom Geschäft, drehte sich noch einmal um. „Er hat mir nie gesagt, was ihn daran so fasziniert. Aber wer weiß, vielleicht kann er bald Bücher über einen anderen Verbrecher schreiben.“ Er schluckte, Bitterkeit stieg in ihm hoch. „Über seinen Sohn… über Armagnac… ein neuer Baron der Nacht...“ Damit drehte er sich um ging langsam voran. Wasser tropfte ihm aus den Haaren, von der Nasenspitze, vom Kinn, seine Lippen waren verkniffen, seine Augen ernst, und doch leer. Sharon starrte ihn nur an, beeilte sich dann, um mit ihm Schritt zu halten. In ihren Augen lag ein Ausdruck, der nur schwer zu deuten war, und sie war froh, dass er ihn nicht sah. Diese Nacht hatte es in der Tat in sich gehabt; sie streifte ihn mit einem kurzen Blick, kam nicht umhin, sie zu bemerken, die ersten Merkmale. Sie konnte es sehen, konnte die Zeichen deuten. Es begann bereits. Shinichi Kudô verschwand. Er verlor sich. So sehr er sich wehrte, was hier geschah, hatte auf ihn einen einschneidenden Einfluss, veränderte ihn. Es mochte sich pathetisch anhören, klischeehaft, albern, übertrieben, aber ihr Gedanke von heute Abend, ein paar Stunden zuvor, stimmte. Shinichi Kudô starb. Lass das nicht zu. Kämpf dagegen an. Gib dich nicht auf… Wenn du willst, dass das noch irgendwie ein gutes Ende nimmt, wenn du auch nur noch einen Funken Glauben besitzt, dass sich das Blatt noch wendet für dich, dann kämpfe! Gib nicht auf…! Kapitel 13: Licht ins Dunkel, Dunkel ins Licht ---------------------------------------------- Meine lieben Leserinnen und Leser! Vielen, vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Ich hoffe, dieses hier kann ein paar eurer Fragen und Bedenken beantworten bzw. klären... ich bin gespannt, was ihr denkt. In diesem Sinne :D Viel Vergnügen beim Lesen, eure Leira :D ____________________________________________________________ Kapitel 13: Licht ins Dunkel, Dunkel ins Licht Seit ein paar Minuten war alles still auf dem Nachbargrundstück. Der Mond leuchtete silbrig und fahl, tauchte die Szenerie in ein unwirkliches, sphärenhaftes Licht; es schien fast, als wäre das, dessen Zeuge er gerade geworden war, gar nicht passiert. Er stand immer noch da, wo er schon vor guten fünf Minuten gewesen war, unsichtbar, perfekt getarnt in der Finsternis, zog an seiner Zigarette, das einzige Zeichen, das seine Anwesenheit verriet, und blickte hinaus in die Nacht. Ein leises Lächeln hatte sich auf seine Lippen geschlichen, wenn er daran dachte, was gerade passiert war, was er gerade durch das Fenster, das er vorsorglich einen Spalt geöffnet hatte, gesehen und gehört hatte. Sein… oder besser ihr Plan war vollends aufgegangen. Es war wirklich zu niedlich gewesen, zu sehen, wie dieser Typ mit dem heftigen Kansai-Dialekt seinen ehemaligen Freund zusammengestaucht hatte. Wahrlich rührend. Ein leises Lachen entfuhr im, Rauch kräuselte sich unkontrolliert aus seinen Mundwinkeln nach oben, ehe er ihn ausstieß, um erneut die Spitze seiner Zigarette durch einen kräftigen Zug zum Glimmen zu bringen. Alles war genauso gelaufen, wie sie es vorhergesehen hatten… wie auch er es vorhergesehen hatte. Erstens… war Sherry tatsächlich hier, und mehr als zum Greifen nah. Zweitens - war weder auf Armagnac noch auf Vermouth Verlass; eine Vermutung, die sich heute Abend mehr als nur bewiesen hatte. Und das… das würde noch Konsequenzen haben. Eine dritte, nette Erkenntnis, die der Abend mit sich gebracht hatte, war die, dass das FBI ihnen wohl schon wieder auf den Fersen war, zumindest Black - den alten Engländer, den Silberrücken des FBI sozusagen, hatte er in der Dunkelheit eindeutig ausmachen können - leider hatte er nicht alle Anwesenden gesehen, ein paar hatten wohl im toten Winkel der Mauer gestanden, und die Nacht war wirklich dunkel, heute. Da konnte auch der Mond nicht viel ausrichten, er verlängerte die Schatten eher, als dass er sie etwas erhellen könnte. Auf jeden Fall würde das Triumvirat mehr als nur zufrieden sein. Der Plan, Vermouth und Armagnac derart auflaufen zu lassen, indem er ihnen den eigenmächtig verschobenen Deal und seine Jagd auf Sherry vortäuschte, um sie damit in Panik und Zugzwang zu versetzen, war vollends aufgegangen. Es hätte schon gereicht, hier vorzufahren - das Haus auch noch zu betreten war ihm dann ein persönliches Vergnügen gewesen. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie dieser Junge Blut und Wasser geschwitzt hatte, als er mit der kleinen Verräterin rausgelaufen war. Gin hatte seinen Angstschweiß förmlich riechen können. Sein Grinsen verbreiterte sich, als er daran dachte, ihn vor seinem inneren Auge noch einmal über den Garten laufen sah. Er fragte sich, ob er ahnte, dass er ihn gesehen hatte, ob er ihn vielleicht bemerkt hatte, als er sich umgeblickt hatte. Es war im Prinzip egal, es würde ihm nichts bringen; sie hatten nun eindeutig etwas gegen Kudô in der Hand; auch wenn der Boss ihn eventuell für sein Fehlverhalten für den heutigen Abend zur Rechenschaft ziehen würde, eventuell. Das Triumvirat hatte damit einen neuen Trumpf. Etwas, das der Boss nicht würde hinweg diskutieren können. Man würde nur noch auf eine günstige Gelegenheit warten, um ihn auszuspielen, und dann würde das Blatt sich wenden. Der Anfang vom Ende war damit eingeleitet. Er ließ die Zigarette aufs Parkett des Zimmers fallen, in dem er stand, trat sie aus. Und das ist für dich… ein kleiner Willkommensgruß, Sherry. Eins musste er sich leider eingestehen… sie hätte er gern noch mitgenommen, wo er gerade dabei war… als Bonus, sozusagen. Das wäre wohl das Tüpfelchen auf dem i gewesen… der absolute Höhepunkt des heutigen Abends. Allerdings, und so ehrlich musste er zu sich selber sein… Kudô dranzukriegen war ihm mittlerweile auch ganz Recht. Langsam drehte er sich um, dann verließ er, die Ruhe selbst, das Haus. Heiji Hattori, ich gratuliere dir. Heiji stand im Wohnzimmer der Kudô-Villa, starrte in die Nacht, schluckte, bekam das Bild nicht aus dem Kopf – das Bild von Shinichi Kudô, in schwarzer Kluft, in den Fängen der Organisation, nein, noch schlimmer… er war einer der ihren. Weil man ihn dazu zwang. Und er… Ehrlich, brillant. Du hast deinem Ruf als bester oder zweitbester Oberschülerdetektiv heut Abend wahrlich alle Ehre gemacht. Dein bester Freund, von dem du behauptest, ihn zu kennen, steckt in Schwierigkeiten, aber alles, wozu du in der Lage bist, ist ihm Vorhaltungen zu machen, ihm kriminelle Absichten zu unterstellen, Feigheit, Verrat, Gier. Ganz große Klasse. Ehrlich. Fein gemacht. Wirklich, irgendeine Sicherung musste ihn ihm durchgebrannt sein, aber konnte allein die Vorstellung, der Anschein, Shinichi Kudô wär ein Verbrecher, ein Mitglied der Organisation, die er seit Jahren jagte, ihn derart den Verstand verlieren lassen? Er hatte doch keine Sekunde mehr nachgedacht - denn hätte er sich mal seines Verstandes bemüht, seiner kleinen grauen Zellen, derer er sich so rühmte, dann hätte ihm doch auffallen müssen… Was zum Henker is‘ in dich gefahren, du Depp!?! Er wandte sich kurz um, warf einen Blick in die Runde. Dann hätte ihm auffallen müssen, dass da was nicht stimmte, und dass Kudô nie etwas tun würde, dass so gegen seine Vorstellung von Moral und Gerechtigkeit ging, wie das… nicht aus freien Stücken… Verdammt, du kennst ihn doch, diesen Moralisten! Du solltest doch wissen, dass er nichts umsonst macht und sowas schon gar nicht freiwillig! Aber anstatt dir das von ihm mal ruhig erklärn zu lass’n, wie jeder vernünftige Mensch es getan hätt‘, tickst du völlig aus, schreist die halbe Nachbarschaft zusammen, verlierst vollständig die Nerven und die Kontrolle über dich… Er steht in schwarzen Klamotten vor dir, offensichtlich ohnehin völlig fertig, und du siehst rot und fängst an, ihn anzuklagen, ohne zu wissen, was dahinter steckt… Hattori, du hast als Detektiv… und auch als Freund… heute auf ganzer Linie versagt. Heiji atmete langsam aus, beobachtete, wie sich die Scheibe vor seiner Nase beschlug. Was is nur in mich gefahren… Das entspricht mir doch gar nich‘. Klar, ich bin manchmal etwas zu impulsiv, sag mehr, als gut wär, aber das heut… das schießt den Vogel ab, und ausgerechnet du musstest das heute aushalten, Shinichi. Heiji seufzte leise, fuhr sich durch die Haare, vergrub dann seine Hände in seinen Taschen. Kudô, es tut mir Leid. Ich hätte das nich‘ sag’n dürfen. Ich hab nich‘ nachgedacht, ich hätte doch drauf kommen können… Ich dacht mir ja, dassde das unter Umständen nich‘ freiweillig machst, aber ich war viel zu kurzsichtig, viel zu überstürzt, ich… dieses Bild schien mir so gänzlich unvereinbar, mit dem Shinichi Kudô, den ich kenne, dass ich wirklich die allerkürzesten Schlüsse zog… und die Erkenntnis kam mir viel zu spät. Aber ich hol dich da raus… du musst nur durchhalten. Ich pass auf, dass Ran solang nix passiert,… verlass dich drauf. Und dann muss ich mich bei dir entschuldigen. Es is‘ kaum zu fassen, was ich für‘n Vollidiot sein kann. Yusaku schritt unruhig auf und ab, zwirbelte mit Daumen und Zeigefinger seinen Bart, ließ sacken, was man ihm gerade erzählt hatte. Er war sichtlich aufgewühlt. Aufgebracht, über das, was passiert war. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Shinichi sich gefühlt haben musste, als er ihnen unter die Augen hatte treten müssen… wie ihn der Gedanke gequält haben musste, was die anderen nun von ihm denken würden… Er glaubte bestimmt, sie alle waren enttäuscht von ihm. Vielleicht ging er sogar soweit zu befürchten, dass sie Angst hatten vor ihm. Der Gedanke war wohl nicht ganz abwegig… Fakt war, in der Situation, in der Shinichi steckte, waren seine nächsten Handlungen unberechenbar geworden, weil nicht mehr er darüber entschied, was er tat. Diese Art von Selbstmarter würde zu Shinichi passen. Der Gedanke daran würde ihn wohl heut den ganzen Abend nicht mehr verlassen, auch wenn er Ai wohl ihr Leben gerettet hatte… Sicher hatte er Angst gehabt. Entsetzliche Angst. Angst, gefangen zu werden. Ertappt. Erwischt zu werden, von Gin, als er dabei war, Ai in Sicherheit zu bringen. Zu wissen, dass er damit Ais, Rans und nicht zuletzt sein Todesurteil unterschrieben hätte… sie konnten nur hoffen, dass Gin sie nicht doch bemerkt hatte. Es musste ihn schier den Verstand gekostet haben. Langsam drehte er sich um, ließ seine Blicke schweifen. Im Wohnzimmer stand die ganze Truppe, die gerade noch beim Professor gewesen war und erholte sich von dem Schrecken, bis auf Kogorô, der losgefahren war, zu Eri. Yukiko hatte für alle Tee gekocht und kümmerte sich rührend um Ai, die auf dem Sofa saß und unter Schock zu stehen schien. Der Autor warf seiner Frau einen besorgten Blick zu; er fand erstaunlich, wie gefasst sie aufgenommen hatte, was mit ihrem Sohn geschehen war… wie sie es wegsteckte, dass sie ihm so nah gewesen waren, gerade eben, es war noch keine Stunde her… Keine Stunde. Sie war beeindruckend ruhig, es schien fast, als hätte sie ihre Fassung endlich wieder gefunden… ihre innere Stärke war zurückgekehrt, sie musste ja stark sein… für ihren Sohn. Für Shinichi, der noch lebte, der zwar durch die Hölle ging, aber immerhin lebte, und auch noch weiter leben würde, wohl… zwar wusste keiner, wie lange, aber er schwebte noch nicht unmittelbar in Lebensgefahr. Noch nicht. Sie konnten ihm noch helfen… es war noch nicht zu spät. Und daran klammerte sie sich, krampfhaft. Noch war nichts verloren. Er seufzte leise, fuhr sich über die Augen, schaute sich im Wohnzimmer um. Jodie Starling, Shuichi Akai und James Black unterhielten sich mit gedämpften Stimmen, saßen zu dritt auf dem großen Sofa, während Heiji mittlerweile vor dem Kamin stand und in das flackernde Feuer blickte, offensichtlich angestrengt versuchte, irgendwie seine Gedanken zu sortieren. Der Oberschülerdetektiv seufzte tief, fasste für sich die Fakten zusammen. Shinichi war in den Fängen der Organisation. Noch mehr - er war Mitglied der Organisation. Verübte Verbrechen, tat, was man ihm auftrug. Und das aus einzig und allein einem einzigen Grund. Ran. Er parierte, um Ran nicht zu gefährden… Er wurde erpresst. Und man hatte ihn überhaupt erst gefasst, weil er bei einem Telefonat mit Ran belauscht worden war und sie ihn bei ihrem Gespräch quasi verraten hatte. Soviel wusste er jetzt, nachdem man ihn endlich so gut wie vollständig ins Bild gesetzt hatte. Heilige Sch***** Wenn Ran das jemals erfuhr... Wenn sie jemals erfuhr, was er für sie durchmachte und dass es… sozusagen ihre Schuld gewesen war, dass es so weit gekommen war, würde… ja, was würde dann passieren? Er wusste es nicht. Wahrscheinlich würde sie zusammenbrechen, er wusste nicht, ob Ran mit diesem Wissen würde umgehen können. Erst Recht, wenn er dann nicht da war, um sie zu beruhigen. Wenn ihm was geschah, und sie jemals erfuhr, dass es wegen ihrem Anruf soweit gekommen war… klar, sie konnte nichts dafür; was sie nicht abhalten würde, aber genau davon überzeugt zu sein. Dass es allein ihre Schuld war. Heiji seufzte tief. Er hatte ja keine Ahnung gehabt… Wenn er sich jetzt Shinichis Worte in Erinnerung rief, lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Er wünschte, er hätte ihn nicht so angefahren. Er konnte sich ja jetzt denken, wie es ihm gegangen sein musste, als er ihnen gegenüberstand… wie es ihm seit Tagen ging, und auch jetzt gehen musste. Du kannst mir nicht helfen, und wenn du mich siehst, dann geh mir zukünftig aus dem Weg… du… du kennst sie doch. Bring… bring dich in Sicherheit. Du hast keine Ahnung, offensichtlich, was passiert ist... sonst würdest du nicht glauben, dass ich hier freiwillig bin, oder diese Klamotten hier aus Überzeugung trage. Nur ist es so… es zählt nicht mehr, was ich noch will. Ich mache… was andere wollen. Weil es… weil es nötig ist. In gewisser Weise… hab ich mich wohl wirklich kaufen lassen… Heiji biss sich auf die Lippen. Was er zu ertragen, zu tun bereit war, war ungeheuerlich. Er ruinierte sich selbst damit. Dieser Zustand musste ihn um den Verstand bringen, das konnte er nicht aushalten, dass wusste er, und der Ausdruck in Shinichis Augen hatte nur allzu deutlich gezeigt, dass auch er es wusste. Dass es so nicht lange gehen konnte. Dass er draufging dabei. Auf irgendeine Art und Weise. Unwirsch strich er sich die Haare aus dem Gesicht. Es interessiert keinen mehr, was ich noch will. Ich bin wieder ich- aber ich war nie weniger ich selber als jetzt… Langsam drehte Heiji sich um, blickte in die Runde. „Und was habense vor, um ihn da rauszuholen? Wie lautet Ihr Plan? Und wann wollen Sie’s denn Ran sagen?“ Seine Stimme klang aufgebracht, und es war nur zu verständlich, warum. Er machte sich Sorgen, er wollte helfen. Schnell. „Sie müssen doch sehen, dass man ihm das nich‘ zumuten kann!“ Yusaku blieb stehen, schaute den erregten jungen Mann an. In seinen Augen blitzte die Wut, seine ganze Körperhaltung verriet seinen Unmut, seine Anspannung. Ihm lag offensichtlich wirklich was an Shinichi. Er war tatsächlich sein Freund. Es überraschte Yusaku ein wenig, denn Shinichi war kein Mensch, der mit Freundschaften viel am Hut hatte, aus gegebenen Gründen; aber mit diesem jungen Detektiven schien es anders zu sein. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, meldete sich James Black zu Wort. „Ran wird vorerst nichts erfahren. Damit sie sich nicht einmischen, sich in Gefahr bringen kann. Ihr Wohl hängt von seinem Durchhaltevermögen ab, wir wissen alle, dass diese Organisation sie findet, wo immer sie ist, das ist nicht der Grund, warum sie auf Izu ist. Aber wir wissen, dass Ran… alles tun würde, um ihn zu retten, und das wird die Situation weder für ihn noch für sie verbessern. Not at all, I’m afraid.“ Heiji schaute ihn an. „Das is aber nich‘ fair ihr gegenüber. Und das beantwortet nich‘ meine erste Frage.“ Jodie schaute ihn an. „You are best friends, aren’t you? Ich meine, du wusstest offensichtlich…“ „Über ihn Bescheid, ja.“ Heiji nickte. „Wir sind… tatsächlich sehr gut befreundet.“ Er schluckte, schaute sie an, wartete ihre Antwort ab. „Dann wirst du doch auch sicher bestätigen können, wenn ich behaupte, Shinichi würde nicht wollen, dass Ran sich seinetwegen in Gefahr bringt. He’s doing that for her!“ Der Detektiv aus Osaka wandte unwillig den Kopf ab. „Stimmt wohl… aber…“ „Kein Aber.“ James schüttelte den Kopf minimal, wandte den Blick nicht ab vom Gesicht des Oberschülerdetektivs. „Sie darf es fürs erste nicht wissen. Nicht, bevor wir einen sicheren Plan haben, sie beide da rauszuholen, wobei wir wieder bei deiner ersten Frage wären.“ Er verschränkte unwillig seine Arme vor der Brust. „Fakt ist, wir haben noch keinen Plan.“ Er warf einen unsicheren Blick zu Yusaku, der an einer Wand gelehnt stand und die Gruppe beobachtete. „Dann sollten wir uns etwas einfallen lassen.“, murmelte er nur, starrte zu Boden. Bedrücktes Schweigen breitete sich aus, bis ein leises Schniefen die Stille durchbrach. „Ich dachte zuerst, er handelt auf Befehl der Organisation. Ich dachte, er verrät mich… um Ran zu retten. Ich…“ Ais Stimme klang seltsam monoton; es wirkte, als kämen die Worte gar nicht von ihr, als würde sie das nicht willentlich sagen, vielmehr wie automatisch. Sie war bleich, offensichtlich schämte sich für ihre Fehleinschätzung was Shinichi betraf, aber sie konnte nicht anders, musste dieses Geständnis machen… diese Beichte ablegen. Sie schluckte, wischte sich über die Augen, merkte die betroffenen Blicke der anderen, wusste, was sie von ihr dachten. Dass er das nicht tun würde. Dass sie ihn nicht kannte, anscheinend. Sie schluckte schwer. „Ich hatte Angst vor ihm. Er hat nichts gesagt, er… ich weiß auch nicht, ich war mir nicht sicher, er wirkte so anders… und… ich meine, er liebt… er liebt sie so… sehr… er erträgt so viel für sie, und er würde für sie so gut wie alles tun. Ich… dachte… ich…“ Ai starrte hatte bis jetzt blicklos auf den Boden gestarrt; erst jetzt hob sie den Kopf, wandte ihn, bis sie das Gesicht fand, das sie suchte, holte Luft, sammelte sich. „Es tut mir Leid.“ Ihre Stimme war kaum lauter als ein Wispern. Yukiko schaute ihr ins Gesicht, versuchte ein Lächeln. „Es ist schon gut… Shiho.“ Dankbar nahm sie die Tasse Tee entgegen, die Yukiko ihr reichte, genoss es, als sie ihr über ihr Haar, ihre Wange strich, war froh um die Nähe, die Geborgenheit, die sie vermittelte und dass sie sie nicht verurteilte für das, was sie von ihrem Sohn gedacht hatte. Dass sie verstand und vergab. Nie hatte sie sich mehr als Kind gefühlt als jetzt; nie hilfloser, nie schutzbedürftiger. Und gleichzeitig quälte sie ihr schlechtes Gewissen, sich jetzt von der Frau trösten zu lassen, die die Mutter der Person war, die wegen ihr gerade durch die Hölle ging. „Ich hätte es eigentlich wissen müssen. Ich kenne ihn doch. Aber so… Was wirklich gespielt wurde, merkte ich erst, als er auf der Treppe stehen blieb. Er hat mich festgehalten, ich konnte… fühlen, wie nervös er war, wie schnell sein Atem ging, sein Herz… hämmerte gegen seinen Brustkorb, ich konnte es spüren, ich… ich hab sowas noch nie erlebt. Bei keinem, erst Recht nicht bei ihm… Er stand da, versuchte, keinen Laut von sich zu geben. Und da wusste ich es. Da wusste ich… er war hier, um mich zu retten. Vor Gin.“ Sie schluckte, krallte ihre Hände in das Sofa. „Er hatte so eine verdammte Angst… ich denke… während der ganzen Aktion hat er nur an Ran gedacht… daran, dass sie sterben muss, wenn Gin ihn mit mir erwischt…“ Fahrig strich sie sich über die Augen, schluckte. „Dann ging Gin nach oben, und er schlich sich raus mit mir. Es war… war schrecklich. Er hätte das nicht tun sollen. Er ist wohl an die tausend Tode gestorben während der Aktion, und dann… dann stand er vor uns, und wir…“ Sie blickte in die bedrückten Gesichter der Menschen um sie herum. „Ich meine… man konnte sein Unbehagen merken. Wie fertig ihn die Tatsache machte, ihn diesen Klamotten, in der Gesellschaft… von uns gesehen zu werden. Dieses Leben führen zu müssen. Zu wissen, und ich bin mir sicher, er wusste es… dass ich, wenn auch nur kurz, Angst vor ihm hatte… Wir müssen ihn da rausholen… ich denke, lang hält er das nicht aus. Er ist stark, das wissen wir alle, ein Kämpfer, das ist er wirklich, aber das hier… das wird ihn auf Dauer ruinieren.“ Angst… Shinichi seufzte, saß im Auto neben Sharon, fuhr sich durch die Haare. Sie warf ihm einen prüfenden Blick aus dem Augenwinkel zu, schaltete behutsam in den nächsten Gang. Langsam kam er wohl wieder zu sich. Er blickte auf die Windschutzscheibe, sah zu, wie die Scheibenwischer versuchten, dem immer stärker einsetzenden Regen Herr zu werden, ohne es wirklich wahrzunehmen. Seine Gedanken kreisten um Ai… er erinnerte sich daran, wie sich kurz ihre Finger in seine Arm gekrallt hatte, sie versucht hatte, sich zu wehren, zu entkommen, bis sie dann leise geworden war, ihr Körper schlaff und leblos, als sie gemerkt hatte, dass er ihr überlegen war und sie ihm ausgeliefert… Das Gefühl war nicht schön gewesen. Ganz… ganz und gar nicht schön. Er hatte ihr keine Angst machen wollen… hatte sie nicht erschrecken wollen. Ein weiteres Seufzen verließ seine Lippen. Vermouth wandte ihren schönen Kopf, blickte ihn mit schwermütigen Augen an. „Du hast ihr das Leben gerettet. Sie wird dir nicht nachtragen, in welchen Klamotten das passiert ist.“ Er senkte den Kopf, ließ seine Hände in seinen Schoß fallen. Konnte die Frau Gedanken lesen? Unwillig verdrehte er die Augen, schluckte, wischte sich einen Wassertropfen, der ihm aus den Haaren über die Schläfe ran, unwirsch weg. „Beruhigt mich ungemein.“ Shinichi schluckte, dann wandte er ihr den Kopf zu, und als er nun sprach, war der sarkastische Unterton von gerade eben völlig verschwunden. „Sie… sie sind doch jetzt sicher, oder?“ Sharon blinzelte, dann nickte sie. „Ja… ich… ich glaube schon, ja. Für den Moment, zumindest.“ „Hm.“ Er wandte den Blick wieder von ihr ab, schaute aus dem Fenster, sah die Lichter der Leuchtreklamen und Straßenlaternen vorbeihuschen. „Warum konnte er mich nicht einfach umbringen.“, murmelte er leise. Sharon atmete langsam aus. Dann nahm sie eine Hand vom Lenkrad, ertastete seinen Arm, drückte ihn. „Es wird schon werden, irgendwie, cool guy.“ Er schüttelte den Kopf, konnte diese mütterliche ‚alles-wird-gut‘-Tour gerade gar nicht vertragen, erst Recht nicht bei ihr, denn zu ihr passte das überhaupt nicht - und in seinen Worten war ein dementsprechend wütender Unterton nicht zu überhören. „Ach schön. Das hilft mir unglaublich, ehrlich.“ Er presste die Lippen aufeinander, atmete heftig, merkte, wie in ihm die Wut immer weiter hochkochte, bis er sie nicht mehr niederkämpfen konnte. „Nun… kannst du mir dann auch sagen, wie, verdammt, Sharon? Wie denn??! Wie soll das hier jemals wieder gut werden?! WIE?! Kannst du mir das mal verraten?“ Er schrie sie an. „Ich bin auf dem besten Weg ein Verbrecher zu werden, siehst du das nicht!? Das FBI, die Polizei… sie haben es gesehen… alle… ich… ich kann doch nie wieder dahin zurück, wo ich herkam…! Ich gehör nicht mehr dazu, ich bin nicht mehr ich, ich bin nicht mehr Shinichi Kudô, ich…“ Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, weil er mit voller Wucht nach vorne schnellte, merkte, wie sich der Sicherheitsgurt in seinen Oberkörper schnürte, ihm die Luft aus den Lungen presste. Er keuchte, stöhnte leise, rieb sich das Brustbein, warf ihr einen verärgerten Blick zu. Sharon hatte eine Vollbremsung hingelegt, war mit quietschenden Reifen auf der verlassenen Straße stehen geblieben, starrte ihn wütend an. „Verdammt, wer, wenn nicht Shinichi Kudô hat sie da gerettet!? Du bist noch da! Du darfst das nur nicht vergessen! You must not surrender, do you understand?!“ Shinichi schluckte, starrte sie an. „You are quite right… sie werden Shinichi Kudô aus dir rauspressen wie Saft aus einer Orange, wenn du es zulässt. Das wollen sie… sie wollen dich umbringen… ohne dich zu töten. Dir dein Leben nehmen, ohne dein Herz zum Stillstand zu bringen, zumindest bis jetzt noch.“ Sie lächelte zynisch. „Ein Zustand der sich ändern kann, aber das tut hier vorerst nichts zur Sache. Fakt ist - noch hast du nichts getan, dass dir die Rückkehr verwehrt - also gib verdammt noch mal noch nicht auf, was ist bloß aus dir geworden?! Du musst kämpfen. Solange es noch etwas gibt, was zu kämpfen sich lohnt, solange noch nicht alle Brücken abgebrochen sind… kämpfe. Fight.“ Er schluckte, starrte sie an. „Aber wenn… wenn ich…“ Er brach ab, biss sich auf die Lippen, wandte den Kopf ab. Sharon wusste auch so, was er meinte. „Murder will kill you, certainly.“ Sie nickte langsam. „Aber noch bist du kein Mörder. Noch kämpfst nicht für unsere Seite, Shinichi… man nennt dich Armagnac, aber du bist es nur, wenn du es zulässt. Solange noch nicht alles verloren ist, bitte… wage, zu hoffen. Hope. Hoffe, für deinen Engel. Du bist es ihr schuldig. Du musst für sie kämpfen… bis zum Sieg - oder zur Niederlage. Aber noch ist es nicht soweit, das Handtuch zu werfen. Es hat begonnen ja. Es verändert dich, ich würde lügen, das abzustreiten, wir wissen es beide. You’ll never be the same again - but nevertheless, you’re still Shinichi Kudô. More than ever. Just now.” Shinichi blickte sie an, sprachlos. Dann wandte er den Kopf ab, lehnte ihn gegen das Fenster der Beifahrertür, seufzte, schloss die Augen. Sie wusste genau, an wen er jetzt dachte. Shinichi dachte an Ran. Langsam atmete sie aus, als sie den Motor wieder anließ, der bei Vollbremsung abgewürgt worden war. Angel… can you spread your wings… ...can you protect his soul…? „Na wunderbar.“ Eri seufzte, starrte ihren Noch-Ehemann an. „Wunderbar. Ich kenn ihn zwar nicht so gut wie du oder Ran, aber ich denke doch, der Abend hier setzt einen neuen Maßstab in Sachen verdorbener Feierabend bei ihm.“ Kogorô hatte sich eine Zigarette angezündet, schaute sie an, nickte gedankenverloren. „Er sieht nicht gut aus. Ich bin froh, dass Ran ihn so nicht gesehen hat. Aber sag mal – wolltest du dir nicht einen Beweis suchen? Oder glaubst’ du’s jetzt auch ohne?“ Eri lehnte sich in ihrem Fernsehsessel zurück. Kogorô ließ sich ihr gegenüber auf dem Sofa nieder. „Hör auf zu rauchen. Bei mir in der Wohnung wird nicht geraucht.“ „Du lenkst ab.“ „Mach die Kippe aus, oder ich tu’s für dich.“ Die Königin des Gerichtssaals lächelte ihn unheilverkündend an. Kogorô grinste säuerlich zurück, ging dann missvergnügt, aber folgsam, in die Küche, um die Zigarette zu entsorgen. Als er wiederkam, hatte sie eine Akte aufgeschlagen. „Masami Hirota, schlank, lange, braunschwarze Haare, ein recht junges Ding. Wurde gefunden mit einer Schusswunde im Oberkörper, erster am Tatort war ein kleiner Junge namens Conan Edogawa.“ Sie blickte ihn über ihre Brille hinweg an. Er nickte. „Sag ich doch.“ Sie hob ein Foto hoch. „Das ist sie, ja?“ Er nickte. „Gut.“ Sie seufzte. „Die Version deiner Geschichte hat soweit Hand und Fuß. Nun, ich hab mich dann auch auf die Suche nach dieser Akemi gemacht. Akemi Miyano. Die Frau… Kogorô, die Frau existiert nicht.“ Sie lehnte sich zurück, ließ ihre Worte sacken, beobachtete aufmerksam ihren Mann. „Bitte was?“ Er schaute sie erstaunt an. „Ich hab alles durchsucht. Ich hab versucht, alle möglichen Quellen anzuzapfen, nirgendwo ein Hinweis auf eine Frau namens Akemi Miyano.“ Kogorô lehnte sich zurück, ließ den Kopf in den Nacken sinken. „Aber ich glaub ihr die Geschichte… ich glaube dieser Ai das… warum sollte sie uns da anlügen?“ „Hat sie auch nicht.“ Eri lächelte mysteriös. „Ich hab den Professor angerufen… bei ihm wohnt die Kleine ja. Und Fakt ist – sie haben mal einen Fall bearbeitet, wo sie es mit Personen zu tun bekamen, die Akemi kannten. Aber noch besser… Akemi hatte einen Wohnsitz. Man findet zwar nirgendwo einen Eintrag mehr in irgendeinem Einwohnermeldeamt- aber bei der Telefonzentrale konnte ich mit Hilfe ihrer Nummer, die mir der Professor durchgab – er hatte sie auf seinen Telefonlisten, wohl weil Shiho… was traurig genug ist… nach dem Tod ihrer Schwester gern mal ihren Anrufbeantworter anrief, um ihre Stimme zu hören. Ich rief also die Telefongesellschaft an, und fragte nach der Person, der diese Nummer gehörte; die Nummer war noch nicht neu vergeben, aber ihr Eintrag gelöscht. Allerdings… existierte noch eine Zahlungsaufforderung; sie ist datiert auf ein Datum sechs Wochen nach ihrem Tod; sie überwies wohl monatlich, ohne Dauerauftrag, und da steht der Name… Akemi Miyano.“ Sie hielt das Mahnungsschreiben hoch, lächelte triumphierend. „Dass dieses Dokument noch besteht verdanken wir dem glücklichen Zufall, dass die Telefongesellschaft derartige Schreiben auf einem Sicherungsserver als Kopie speichert. Das Original war weg.“ Kogorô ächzte. „Na, du hast keine Kosten und Mühen gescheut, was?“ „Nein.“ Eri lehnte sich zurück. „Diese Organisation hat ihre Identität gelöscht, nach ihrem Tod. Für mich ist zwar jetzt ziemlich bewiesen, dass es diese Akemi gibt, und da Shiho sie angerufen hat, wird sie auch ihre Schwester sein… aber diese Zusammenhänge erschließen sich noch nicht. Gin hat sie erschossen, sagst du? Aber wieso genau? Wollte er sie nur beseitigen, damit man Shiho nicht verlor? Aber wieso erzählt man ihr dann von der Ermordung ihrer Schwester? Warum tischt man ihr nicht eine Lüge auf, es dürfte klar sein, dass sie sich weigert, zu arbeiten, erfährt sie, dass die Organisation sie getötet hat.“ Sie seufzte. „Ich hab dann versucht, etwas über Shiho zu finden, aber über dieses Mädchen sind Informationen auch sehr rar gestreut, wie es scheint, ich bin noch nicht fündig geworden.“ Langsam legte sie ihre Fingerspitzen aneinander. „Diese Geschichte ist wirklich abstrus… wenn diese Sache mit dem Schrumpfgift stimmt… wovon ich leider mittlerweile auch ausgehe… dann frage ich mich, was man mit so einem Mittel vorhat. Was eine Organisation mit so einem Mittel bezweckt. Eigentlich ist so eine Erfindung viel zu schade zum Leute ermorden. Und eigentlich sollten solche Leute wie Shiho, ihre Schwester oder… Shinichi… auch nicht in so einer Organisation arbeiten. Ich frage mich, wer das ist, der ihn dazu zwingt. Er muss ihn genau kennen, wenn er ihn derart in der Hand hat.“ Kogorô schaute auf, in seinem Gesicht spiegelte sich Ungläubigkeit zusammen mit einem Ausdruck von langsamem Erkennen. „Jemand, der ihn kennt? Aber das…“ Eri nickte bedächtig. „Der Boss der Organisation ist jemand, der Shinichi Kudô und unsere Tochter Ran kennt. Gut kennt. Ich denke, der Boss der Organisation ist jemand… den auch wir kennen. Fragt sich nur, ob das jetzt mehr Licht ins Dunkel bringt... oder die Sache eher noch undurchsichtiger macht...“ Kogorô schluckte, fuhr sich mit einer Hand über die Stirn. Er spürte kalten Schweiß unter seinen Fingern, schauderte. „Darf ich jetzt eine rauchen, Eri?“ Kapitel 14: Phase 1 ------------------- Hallo, verehrte Leserinnen und Leser :) Ja, ich weiß, diese Woche bin ich etwas später dran. Ich hoffe aber, euch hiermit mitteilen zu können, in zwei, drei Wochen wieder in einen Wochenrhythmus zurückschwenken zu können, der gröbste Stress sollte hier dann bald wieder rum sein. Insofern wünsche ich euch jetzt gute Unterhaltung beim Herausfinden, welches Nachspiel dieser Abend für Shinichi hat und was das Triumvirat mit seinem Trumpf nun zu tun gedenkt. In diesem Sinne, viel Vergnügen beim Lesen, bis in zwei Wochen (richtet euch auf Mittwoch ein, Dienstag werd ich in zwei Wochen wohl nicht schaffen…) – Liebe Grüße, eure Leira :) _______________________________________________ Kapitel 14: Phase 1 Gin dachte nach. Tief zog er an seiner Zigarette, inhalierte den Rauch, blickte hinaus durch die Scheiben seines schwarzen Porsches, sah schwarze Schatten über den Boden kriechen, verursacht durch die flackernde Beleuchtung der Garage, ehe er ausstieg. Er hatte gerade das Hauptquartier erreicht, seinen Wagen, seinen heißgeliebten, schwarzglänzenden Porsche, in der Tiefgarage geparkt und war nun auf den Weg, um seinen Bericht zu erstatten, den Herren des Hauses, den stillen Herrschern, den Schatten des Bosses… dem Triumvirat. Gespenstisch hallten seine Schritte in den katakombenähnlichen Gewölben wieder, nur spärlich erhellten bläuliche Neonröhren das Gemäuer, das ursprünglich zu ganz anderen Zwecken gebaut worden war. Ihm machte die Grabesstimmung hier unten nichts aus, ganz im Gegenteil. Sie brachte ihn erst wirklich in Stimmung. Er würde jetzt das Todesurteil von jemand anderem vorbereiten, auch wenn das, ginge es nach ihm, ganz anders ablaufen würde. Anders, und vor allem schneller. Seine Lippen waren verkniffen, seine Augen zu Schlitzen verengt. Fakt war, er mochte weder diese drei Männer, noch den Boss so wirklich gerne. Er führte ihre Befehle aus, aber in letzter Zeit sank seine Motivation, irgendwie. Dieser Job hatte ihm auch schon mal mehr Spaß gemacht. Das Triumvirat war ihm zuwider, besonders Absinth verabscheute er inbrünstig. Es war offensichtlich, dass der Name eigentlich nur Show und keinesfalls Programm war, der elegante Japaner dominierte klar die beiden anderen Triumviratsmitglieder, auch wenn er sich große Mühe gab, nicht zu offensichtlich zu zeigen, wie sehr er Rum und Cachaça manipulierte; Absinth war ein arroganter Despot, zwar ein intelligenter, aber viel zu herablassender Diktator. Wobei er gegen Despotismus allein ja noch nichts einzuwenden hatte. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. Es war vielmehr die Art an Absinth, die er nicht leiden konnte… wie er seine Leute zu behandeln pflegte. Es war klar, wonach dieser Mann strebte; er fühlte sich zu Höherem berufen, er wollte herrschen. Er wollte Cognacs Platz. Ein schmales Lächeln schlich sich auf Gins Lippen. Gut. Wer will den nicht… Wahrscheinlich war er sogar geeignet für den Posten, er war autoritär, hatte seine Leute im Griff, nahm andere für sich ein, war überzeugend oder manipulativ oder beides; er trat sicher und selbstbewusst auf und erhielt sich ein Flair von Unnahbarkeit, ihn umgab eine Aura, die jeden, der ihm gegenüberstand, einschüchterte und gehorsam machte. Jeden. Bis auf den Cognac, ihn, Vermouth… und Kudô. Gins Stirn legte sich kurz in Falten, als er langsam weiterschritt; nach und nach kam die Tür in Sicht. Der Boss, ja… Cognac. Das Phantom, der Schatten - nicht greifbar, undurchschaubar, unberechenbar. Gin hätte lieber gewusst, wer vor ihm stand, das Gesicht gekannt, dem er Loyalität geschworen hatte, vor vielen Jahren, aber er hatte ihn nie gesehen, wie auch kein anderer; diese Geheimniskrämerei um seine Identität, und die Tatsache, dass Vermouth da viel mehr wusste als er, trugen nicht gerade zu seiner guten Laune bei. Irgendwie ahnte er, dass auch der Boss, dass Cognac nicht der war, der er vorgab zu sein. Auch er hatte sein Geheimnis, wie die meisten hier. Allein die Beharrlichkeit, die er an den Tag legte, bei Sachen, die Kudô betrafen… Irgendetwas war da. Und irgendwann… irgendwann würde der Tag gekommen sein. Irgendwann würde die Stunde der Wahrheit schlagen, und er würde heraustreten müssen, aus den Schatten, die ihn umgaben, ihn schützten, seine Identität verbargen. Vielleicht war dieser Tag gar nicht mehr fern. Nun, Tatsache war… er war ihnen allen gleich loyal - und sich selbst am treusten. Und wenn die Zeit gekommen war… dann würde sich zeigen, für welche Seite der Einsatz am meisten lohnte; welche Ziele zu verfolgen seine Mühen wert waren. Die des Bosses… Die des Triumvirats… … oder seine eigenen. Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen, blaugraue Rauchfahnen kräuselten sich aus seinen Mundwinkeln. Sherry. Ja… der Abend war durch und durch erfolglos gewesen, zumindest was sie betraf, und er war sich darüber im Klaren, dass diese Aktion Folgen haben würde; das FBI würde sie nicht weiter hier herumlaufen lassen, sie nicht mehr aus den Augen lassen, und damit war sie fürs erste mal wieder außerhalb seiner Reichweite - er musste sagen, das wurmte ihn schon anständig. Seine private Mission für den heutigen Abend war in der Hinsicht ein Fehlschlag gewesen. Eine Pleite, wie er sie selten zuvor erlebt hatte. Aber der Plan des Triumvirats war aufgegangen. Nur das zählte ja schließlich. Er stieß den Rauch aus, ein leises Knurren verließ seine Kehle. Dann nahm er die Zigarette aus seinem Mundwinkel, warf sie achtlos auf den steinernen Boden der Tiefgarage, sah sie als kleinen orangen Punkt in der Dunkelheit davon hüpfen. Er fragte sich, was das Triumvirat mit diesem Wissen nun anstellen würde. Vermouth und Armagnac, beides Verräter. Gut… vielleicht würde sie ihren Kopf nochmal aus der Schlinge ziehen können, ihren aalglatten Körper aus der Falle winden, diese Schlange, Sharon… Schließlich konnte sie behaupten, sie hätte vom Boss die Instruktion erhalten, ihn bei all seinen Aktionen zu begleiten, um eben Armagnacs Treue zu prüfen… er zweifelte nicht daran, dass genau das ihr Argument sein würde, und der Boss würde es stützen, wahrscheinlich, schließlich war sie ja Daddy’s little darling. Aber für ihn… für ihn gab es kein Entrinnen mehr. Kudô konnte nicht ungeschoren davonkommen, nach der Aktion heute Abend. Fast lautlos öffnete er die Tür zum Haupthaus und wanderte durch die Gänge des Hauptquartiers, ein schwarzer Schatten, sein Ziel genau vor Augen. Die Residenz des Triumvirats. Yusaku schaute nach draußen, nahm die Stimmen im Hintergrund nur gedämpft war. Ai war auf dem Sofa eingeschlafen; auch wenn sie eine fast erwachsene Frau war, ihr kindlicher Körper verlangte seinen Tribut, und so schlummerte sie auf den Kissen, eingemummelt in eine weiche, flauschige Decke und sah mehr aus wie ein Kind als je zuvor. Es nahm sie unglaublich mit, was gerade passierte, das war offensichtlich; die Gesichter der anderen verrieten ihm, dass man solches Verhalten von ihr nicht gewohnt war. Er wandte sich nicht um, als Yukiko, die bei dem Mädchen gesessen hatte, bis es eingeschlafen war, neben ihn trat. Er wusste, dass sie es war, er roch ihren Duft, Lilie, bevor er ihr Gesicht in der Spiegelung der Scheibe sah. Ihr Gesichtsausdruck war gesetzt, gefasst, aber er wusste, die Sorge zerfraß sie, höhlte sie innerlich aus, bis nichts anderes mehr übrig war, als dieses Gefühl von Machtlosigkeit und Unruhe. Sie alle hatten den schwarzen Porsche wegfahren sehen, wussten, sie waren jetzt in Sicherheit; aber keiner wusste, ob er es war. Shinichi. Yusaku seufzte, dann straffte er die Schultern. „Ich muss… mal raus. Den Kopf… freikriegen.“ „Aber…“ Yukiko schaute ihn erstaunt an, legte eine ihrer zarten Hände auf seine Schulter. „Aber…“ „Ich kann jetzt nicht hier drin bleiben, ich werd‘ hier wahnsinnig… bitte versteh das.“ Er hatte bis jetzt zu seinem Spiegelbild gesprochen; nun drehte er sich um, strich ihr kurz über ihr Haar, zupfte eine lockige Strähne hinter ihr Ohr, seufzte leise. „Warte nicht auf mich, ich nehm den Schlüssel mit. Ich muss nachdenken.“ Damit drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn, verließ das Zimmer. Yukiko schaute ihm hinterher, ein leises Seufzen schlich ihr über die Lippen, Sorge verdunkelte ihre Augen, schlich sich in ihre sonst so sanften Züge. Sie hatte eine Ahnung, was in ihm vorging. Er gab sich die Schuld. Yusaku, das glaubte sie, fühlte, dass er als Vater versagt hatte, dass es ihm nicht gelungen war, besser auf seinen Sohn aufzupassen oder ihm jetzt zu helfen. Mit diesem Wissen zu leben, fiel ihm unsagbar schwer, das wusste sie; ihr Mann war ein Macher, er war nie jemand gewesen, der sich in die Ecke setzte und die Hände im Schoß faltete, Däumchen drehte und abwartete. Jetzt so machtlos zu sein, machte diese Situation für ihn nur umso schlimmer. Shinichi war schließlich sein Sohn… auch wenn er eigentlich fast erwachsen war, Shinichi würde immer ihr Sohn bleiben. Sie wusste, Yusaku würde für Shinichi alles tun, genauso wie sie. Nur war alles in diesem Fall noch bei weitem nicht genug. Im Zimmer war schlagartig Stille eingetreten, als der Autor den Raum verlassen hatte. Nun hefteten sich die Augen aller auf Yukiko; die ehemalige Schauspielerin zuckte hilflos mit den Schultern, trat dann wieder näher, ließ sich neben Ai aufs Sofa sinken, strich ihr ein paar rotblonde Haare aus dem Gesicht. Sie war blass, ihre Lider zuckten selbst im Schlaf unruhig und hin und wieder entwich ihr ein leiser Seufzer. „Ich weiß nicht, wo er hin ist. Er muss nachdenken, mehr hat er nicht gesagt.“, beantwortete sie die unausgesprochene Frage, die im Raum hing, seit die Tür hinter ihrem Mann zugefallen war. Gin hatte mit seinen Bericht gerade geendet, zündete sich nun eine Zigarette an, wartete. Absinth stand vor ihm, hinter ihm saßen die beiden anderen Triumviratsmitglieder noch in ihren dick gepolsterten Ledersesseln - der Gesichtsausdruck allerdings war bei allen dreien der der Gleiche - unverhohlener Triumph. „Sehr schön…“ Absinth nickte sich gedankenverloren zu, griff nach einem silbernen, aufwändig gravierten Zigarrenetui, das auf dem polierten, runden Mahagonitisch lag, ließ es aufschnappen und wählte sich eine aus der darin befindlichen erlesenen Sammlung exquisit duftender Zigarren aus. „Wirklich sehr, sehr schön.“ Er nickte erneut, entfernte mit einem kleinen Knipser, der ebenfalls auf dem Tisch gelegen hatte, das eine Ende der Zigarre, bevor er sie sich in den Mundwinkel klemmte und sie langsam anzündete, gemächlich an ihr zog, bis das Ende zu glimmen anfing. Dann paffte er die ersten Züge, zelebrierte es fast; blaugrauer, schwer nach Tabak riechender Rauch begann die Luft des kleinen, geschmackvoll eingerichteten Salons zu schwängern. Gin fühlte sich jedes Mal wie in einem dieser englischen Herrenclubs hier drin, die man in manchen dieser alten Filme sah, für den besser verdienenden Mann von Welt; es war nicht sein Stil - aber er musste hier ja auch nicht sein Dasein fristen, also blendete er seine Umgebung in der Regel aus. „Und jetzt?“, fragte er ruhig. „Jetzt beginnt der Mord an Shinichi Kudô. Und weil er sich so vehement an sein erbärmliches Leben klammert, machen wir es diesmal besonders gründlich.“ Absinths Lippen umspielte ein kaltes Lächeln, ehe er die nächste Rauchwolke gekonnt in kleinen Kringeln ausstieß. „Nachdem wir ja wissen, wie loyal…“, er grinste hämisch, „er uns ist, dürfte Cognac nicht viel dagegen zu sagen haben. Vorerst muss er es auch gar nicht wissen, was wir vorhaben, ich fürchte fast, er würde uns den Spaß verderben.“ „D’accord, mon ami.“ Cachaça nippte an seinem Glas Sherry und nickte milde lächelnd. „Er könnte da wirklich etwas missvergnügt reagieren, unser Verehrtester. Aber jetzt sind wir am Zuge, je pense.“ Gin verdrehte unmerklich die Augen. Das geschwollene Gerede dieses Franzosen ging ihm gehörig auf den Zeiger. Allerdings hing er sich nur zu gern an diejenige befehlsgebende Instanz, die ihm gewährte, mit Kudô endlich kurzen Prozess zu machen – und das waren im Moment diese drei feinen Herren hier. „Und was schwebt Euer Durchlaucht nun vor?“, murrte er leise, in seiner Stimme ein Hauch von Ungeduld. Absinth lachte, dann wurde er ernst. „Pass ein wenig auf dein Mundwerk auf.“ Dann stieß er sich vom Tisch ab, an den er sich bis jetzt genüsslich seine Zigarre schmauchend gelehnt hatte; seine Gesichtszüge wurden hart, als er sprach. „Shinichi Kudô soll sterben. Und zwar auf alle Arten, auf die man einen Menschen heutzutage sein kleines, mickriges Leben entreißen kann. In diesem Sinne fangen wir damit an, seinen auf Hochglanz polierten Namen etwas zu beschmutzen, oder sollte ich sagen, wir ziehen ihn so gründlich durch den Dreck, dass man auf ewig nicht mehr lesen kann, wie er lautet. Dann finden wir heraus, wer dieses Mädchen ist, damit wir ihn mit ihr in der Hand haben; zu gegebenen Zeitpunkt bringen wir sie dann um. Und letzten Endes, als krönender Abschluss, wird er sterben. Und falls der Grund, den wir haben, nämlich sein netter Alleingang heut Abend, für Cognac noch nicht reicht, denke ich wird uns der kleine Ex-Schnüffler gern selbst einen wirklich hieb- und stichfesten liefern, ich denke, da fällt mir schon etwas ein…“ Absinth hob beide Hände, genoss seinen Auftritt sichtlich. „Aber zuerst ruinieren wir ihn gesellschaftlich, damit er in dem ruhigen Wissen abtreten kann, dass er als Geächteter stirbt, als Verbrecher, als Mörder… als Freund, Sohn, Detektiv, der sich gegen alles gewandt hat, an was er glaubte, und damit alle enttäuscht hat, die an ihn glaubten.“ Er lächelte dünn, in seinen Augen glomm der Funke des Triumphs. „Un ange baissé.“, flötete der Franzose. „Übertreibs nich.“, brummte mit tiefer Stimme Rum, meldete sich damit zum ersten und einzigen Mal in dieser Konferenz zu Wort. „Auf jeden Fall sollten wir das so gründlich machen, dass er darunter leidet… was optimalerweise heißt, dass man die Hexenjagd, die man auf ihn machen wird, auch auf seine Verwandten, Bekannten, Freunde ausweitet. Es muss etwas Großes sein, das wir ihm anlasten, und es spielt keine Rolle, ob er das Verbrechen auch begeht, beziehungsweise begangen hat… allzu gemein sollten wir ja nun auch nicht sein, wir wollen ihn ja nicht überfordern… das wird ihm sonst zu viel heute Nacht.“ Absinth lächelte mitleidig, hatte die Kommentare seiner Mitstreiter geflissentlich überhört. Auf Gins Lippen erschien nun ein Grinsen. „Ihr denkt an einen Mord?“ „Für den Ritter in strahlender Rüstung ist nur dieses Kapitalverbrechen würdig, um ihn vom Ross zu ziehen, nicht wahr?“ Absinth zog an seiner Zigarre, nickte. „Und zwar noch heute Nacht, wie gesagt, das muss jetzt schnell gehen. Nimm ihn mit, sorg dafür, dass man ihm einen Mord anhängt, und zwar so, dass man es morgen in der Zeitung lesen kann, hörst du? Ich denke, er wird freiwillig keinen begehen, aber für diesen Zweck ist es noch nicht nötig. Wir wollen das Ganze ja genießen, nicht wahr? Also brauchen wir noch nicht die ganz harten Geschütze aufzufahren. Es reicht, wenn man es ihm anlasten kann. Mehr muss heute nicht sein. Alles zu seiner Zeit, er soll ja darunter leiden, und das geht nicht so schön, wenn es zu schnell vorbei ist...“ Er seufzte. „Es ist mir egal, wie du’s anstellst, nur tu’s, bevor Cognac Wind von der Sache kriegt, denn ich fürchte, der wird all unsere schönen Gründe nicht gleich gelten lassen… er kann uns dafür nichts, wir sind abgesichert, nachdem, was er sich heute geleistet hat, aber es kann sein, dass er unseren Plan vereitelt, immerhin ist er noch der Boss.“ Ein missvergnügter Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Aber immerhin sind wir befugt, ihn zu bestrafen. Es wäre also geschickt, wenn du…“, er hob die Hand, zeigte mit einem Finger nach oben und zählte auf, „es erstens: schnell, zweitens: diskret und drittens…“, er lächelte, „bombensicher machst. Da Cognac noch nichts von unserem verschobenen Deal heute Abend weiß, würde es sich anbieten…“ Sharon war gerade gegangen, hatte sich für den Abend verabschiedet, als die Tür erneut aufging. Shinichi fuhr hoch, als er sah, wer ihm die Ehre erwies, versuchte, sich im Griff zu haben, sich nicht anmerken zu lassen, dass er Blut und Wasser zu schwitzen begann. Je normaler er sich benahm, desto unverdächtiger würde er ihm erscheinen. Selbstdisziplin war alles, und so entspannte er sich langsam, schaute seinem Besucher ins Gesicht, gelassen, allerhöchstens milde erstaunt; wie man eben Besuch zu später Stunde anzublicken pflegt. In der Tür stand Gin. „Armagnac, guten Abend.“ Seine Stimme klang gleichgültig, aber Shinichi ahnte, dass das wohl nur Show war. Er brauchte sich nichts vormachen, sie wussten, beide, weswegen er hier war. Besorgt fragte er sich, ob er etwas gehört oder gesehen hatte… leider war diese Möglichkeit durchaus in Betracht zu ziehen. Sein Auftauchen hier war eigentlich fast ein Beweis, dass dem so war. Wenn er hatte aus dem Schlafzimmerfenster des Professors geblickt hatte, als Heiji wie ein Irrer losgebrüllt hatte - an und für sich eine leider nur allzu verständliche Reaktion… - dann war er hiermit offiziell geliefert. Shinichi versuchte, sich ein säuerliches Grinsen zu verkneifen, verdrängte den Gedanken, räusperte sich aufgeräumt und verschränkte die Arme vor der Brust. Zugeben würde er auf jeden Fall nichts. Er würde abwarten müssen, und so blieb er ruhig, tippte sich kurz an die Stirn, zum Gruß, senkte nicht den Blick. „Gin. Guten Abend.“ Es kam ihm seltsam vor, ihn so zu grüßen. Ihn, der ihm vor drei Jahren einen Stock von hinten über den Schädel gezogen hatte, ihn damit halb bewusstlos geschlagen hatte, um dann zu versuchen, ihn mit einem Gift zu töten. Und jetzt standen sie hier und machten Smalltalk unter Kollegen? Wohl kaum. Aber anmerken durfte man ihm nichts; und so gab er sich so… natürlich wie möglich unter diesen Umständen. „Was verschafft mir die Ehre deines späten Besuchs?“ Was zum Henker willst du von mir? Gin lächelte schmal, fischte seine Zigarettenpackung aus seiner Manteltasche, zog sich einen Glimmstängel heraus, zündete ihn in aller Ruhe an und ließ die Packung wieder in seine Tasche gleiten. „Ach. Nichts Besonderes… Ich wollte nur mal mit dir plaudern, Armagnac. Wir sind ja jetzt… Kollegen.“ Shinichi zog die Augenbrauen hoch, war auf der Hut. Ja, klar. Der blonde Mann trat näher, rauchte gemütlich seine Zigarette, füllte ungeniert das Zimmer mit blauen Rauchschwaden, ehe er wieder zu sprechen begann. „Tja… jetzt war dieser Abend für dich doch leider tatsächlich gänzlich ereignislos… wo es doch deine Premiere hätte sein sollen. Dein erster Auftrag im Dienste unserer geliebten, schwarzen Organisation. Das hätte doch viel… größer ausfallen müssen.“ Er lächelte breit. „Fulminanter.“ Gin schlenderte noch näher, stand jetzt direkt vor Shinichi. „Zu schade, ja. Wirklich… bedauerlich.“, presste Shinichi hervor, nahm erstaunt zur Kenntnis, dass Gin es unterließ, ihm den stinkenden Qualm seiner Zigarette ins Gesicht zu blasen; der Blonde wandte immer wieder scheinbar rücksichtsvoll den Kopf ab, als er den Rauch ausstieß. Shinichi schaute ihm immer noch unverwandt in die Augen, und auch Gin brach den Blickkontakt nicht, grinste stattdessen breit. Hut ab, Kudô… das traut sich nicht jeder. Aus dir wär wohl sicher ein gutes Organisationsmitglied geworden… ein sehr gutes, wage ich zu behaupten, denn du hast Mut ja… du bist loyal und intelligent… Nur leider bist du vollkommen verdorben für unsere Sache… Leider, leider ungeeignet… Gin zog erneut an seiner Zigarette, inhalierte tief; der Rauch entwich langsam aus seinem Mund, als er sprach. „Weißt du … ich hätte dir einen großen, ersten Auftritt gegönnt.“ Gin grinste breit, lachte leise. Shinichi schluckte, versuchte zu ignorieren, dass ihm ein Schweißtropfen über die Schläfe zu laufen begann. „Sehr nett von dir.“, murmelte Shinichi pragmatisch. „Ja, wirklich. Aber dir ist vielleicht aufgefallen, dass ich nicht gewartet habe, bis ihr von eurem Rundgang zurückgekommen seid, heute…“ „Ist es.“ Gin drehte sich langsam um. „Ja, ich konnte dich leider nicht mitnehmen, und auch Sharon nicht. Ich hatte… noch eine andere Mission für heute Abend, weißt du.“ „Nein, weiß ich nicht.“ Shinichi warf ihm einen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu. Gin wandte sich wieder um, aschte ungeniert auf den Teppich, zog an seiner Zigarette, ehe er sprach. „Weißt du, dein eisernes Schweigen vor ein paar Tagen, als Absinth…“, Gin grinste breit, „… bemerken musste, das eins unserer probatesten Foltermittel an dir scheitert, war umsonst. Du hättest dir die Schmerzen sparen können. Ich hab auch so herausgefunden, wo meine liebe Sherry ist. Wir wissen, wer sie ist und wo sie wohnt. Ai Haibara.“ Shinichi zuckte kaum mit der Wimper. Das ist mir nicht neu. „Gratuliere.“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Oh, Danke. Ich denke auch, das ist besser so für uns alle, nicht wahr? Ich denke, du kannst leichter nachts schlafen, wo du ja weißt, dass du sie nicht verraten hast… nicht wahr? Sie glaubt an dich, vertraut dir blind, dieses Vertrauen würdest du nie missbrauchen, nicht wahr?“ Shinichi merkte, wie sein Magen sich aufreizend langsam umzudrehen begann und unterdrückte den Drang, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Er durfte nicht nervös wirken. Zumindest nicht zu nervös. Er musste sich zusammenreißen. Er weiß es… „Nun, wie dem auch sei.“ Gin zog ein weiteres Mal an seiner Zigarette. „Meine Mission für heute Abend… hatte zwar auch, aber nicht in erster Linie mit Sherry zu tun.“ „Tatsächlich.“, meinte Shinichi kühl, bemühte sich um viel Gelassenheit in seiner Stimme. Ob es ihm gelang, scheinbar unbeeindruckt zu wirken, wusste er nicht. „Tatsächlich.“ Gins Stimme war eisig geworden; Shinichi versuchte, so zu tun als bemerke er das nicht. Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, pustete einmal mehr den Rauch an Shinichis Gesicht vorbei, besah sich den Stummel, warf ihn dann achtlos auf den Teppich, wo er sich in den Teppich brannte – Shinichi sah, wie sich der Rauch zu kräuseln begann, als die Teppichfasern zu kokeln anfingen, trat die Zigarette aus. Gin beobachtete ihn genau, bemerkte, nicht ohne einen Hauch von Erstaunen, die gefasste Reaktion seines Gegenübers. Shinichi begegnete seinen Blick, merkte, wie er langsam wütend wurde. Dieses Machtspielchen zerrte an seinen Nerven. „Warum erzählst du mir das? Was willst du jetzt von mir?“ Seine Stimme klang erstaunlich fest und entschlossen. Gins Lächeln schwand, vom Plauderton war nichts mehr übrig, als er jetzt sprach. Er trat noch näher, blickte auf Shinichi herab, der ein wenig kleiner war als er; seine Stimme klang wie das bösartige Zischen einer Schlange, und doch glomm ein Funke von Triumph in seinen Augen; seine Schadenfreude war unübersehbar. „Ich will dir gratulieren, Armagnac. Ich beglückwünsche dich, du hast heute genauso gehandelt, wie man es von dir erwartet hat.“ Shinichi erstarrte. Nein! „Ich erzähl dir jetzt etwas, Kudô, aber nur einmal, also hör gut zu…“ Seine Lippen kräuselten sich zu einem maliziösen Lächeln. „Ich weiß, was du getan hast. Du hast die Kleine gerettet. Ich habe dich gesehen. Dich. Und deinen Freund mit diesem lächerlichen Dialekt, und Black… um mal einen Anfang zu machen. Ich war auf Befehl in diesem Haus, wie ich schon sagte; der Deal war keinesfalls zufällig verschoben worden, sondern deswegen, damit ich meine Mission durchführen konnte. Ich hatte zwei Aufträge, weißt du… Punkt eins-…“ Er machte eine Pause, hob einen Finger vor Shinichis Gesicht, der ihn mit einigermaßen entsetzt aufgerissenen Augen anstarrte. „… Sherry finden, und ausliefern, wenn möglich. Punkt zwei, und viel wichtiger, war aber…“ Shinichi schluckte, verdrehte die Augen, wandte dann den Kopf ab. „… mich zu testen.“ Langsam atmete er aus. Die Wahrheit hatte ihn getroffen wie ein Schlag ins Gesicht. „Das war eine Falle.“ Ich hätte das wissen müssen! Aber ich hatte keine Wahl… nur… Hab ich jetzt wirklich… Ais Leben gerettet, und mit meinem und Rans… und Rans!... Leben… dafür bezahlt…? Ein eisiger Schauer rann ihm über den Rücken, sein Mund wurde schlagartig trocken, seine Finger eiskalt. Mein Gott, nein…! „Brav geschlussfolgert, Detektiv… aber die Erkenntnis kommt für dich zu spät.“ Gin lächelte milde, in seinen Augen blitzte Spott. „Das Triumvirat traut dir nicht, und das aus gutem Grund, den Beweis hast du heute Abend erbracht. Du hast ihnen den Boden geebnet, mit dir machen zu können, was sie wollen. Bravo.“ Er applaudierte hämisch. „Und weil du so brav warst, heute, bekommst du jetzt auch deine Belohnung. Zieh dich an, Armagnac.“ Er spukte Shinichi den Namen regelrecht vor die Füße; in die Augen des blonden Mannes war ein kaltes Funkeln getreten. „Du gehörst hier nicht her, das wissen wir. Du intrigierst. Du versuchst, dich uns zu entziehen, gegen uns zu arbeiten. Und deshalb… wirst du nun mitkommen. Ich bin mit dir für heute noch lange nicht fertig.“ Er öffnete die Tür. „Das Triumvirat hat Großes mit dir vor, und es nimmt heute seinen Anfang. Ich rate dir, brav zu sein, wer weiß, ob Ungehorsam nicht auch für andere Menschen Konsequenzen haben könnte... ich will fair sein, noch wissen weder das Triumvirat noch ich, wer sie ist… aber verlass dich drauf, ich finde das heraus, wenn ich will. Ich habe Sherry gefunden, glaub mir, dein Vögelchen zu finden wird nicht sehr viel schwerer sein.“ Shinichi keuchte, starrte ihn an, schluckte dann. Was hast du dir eingebrockt…?! Aber das ist jetzt wohl auch egal, du musst tun, was er sagt… Jetzt nur keine Schwäche zeigen… nur keine Angst… Aber die hatte er, er konnte sich nicht wehren. Er glaubte sofort, das Gin herausbekommen würde, dass Ran es war, die er suchte. Ran Mori. Er hoffte nur, das FBI passte auf sie auf. Also folgte er Gin wort- und anstandslos in die Tiefgarage und stieg in sein Auto. In den schwarzen Porsche, um die zweite Fahrt an diesem Abend in diesem Wagen zu… genießen. Hört dieser Abend denn nie auf… Kapitel 15: Nachspiel --------------------- Hallo, meine lieben Leserinnen und Leser! Bitte entschuldigt die lange Wartezeit- ich kann es ja jetzt sagen, ich hatte die letzten Wochen Prüfungen, aber die sind jetzt soweit rum ^_________^ Vielen lieben Dank für all eure Kommentare zum letzten Kapitel! Ich freu mich, wenns euch gefallen hat :D Insofern hoffe ich, den Laderhythmus jetzt wieder langsam einpendeln zu können; vielen Dank für eure Geduld! Dafür gibts heut auch ein langes Kapitel... ich hoffe, es is was geworden, ich war und bin mir nicht ganz grün damit, aber gut... Viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, eure Leira :) _________________________________________________________________ Kapitel 15: Nachspiel Irritiert griff sie in ihre Tasche, als ihr Handy zu klingeln begonnen hatte. Sie war gerade in ihrer Wohnung angekommen, ein Privileg, das nur hochrangigen Mitgliedern zuteilwurde - eine eigene Wohnung außerhalb der Mauern des Hauptquartiers besaßen längst nicht alle – erst Recht nicht die Neulinge, deren Vertrauen erst noch erprobt werden musste. Sie allerdings residierte in ihrem eigenen Domizil, einer feudalen einhundertfünfzig Quadratmeter- Penthousewohnung, mit Marmorböden, schweren, weißen Vorhängen, Kissen und Polstern, roten Teppichen und schwarzen Ebenholzmöbeln. Weiß wie die Unschuld, die sie so verehrte, rot wie ihre Lippen, und das Blut, das sie vergossen hatte und schwarz… Schwarz wie ihre Seele, die sie verkauft hatte. Sharon lächelte sinnierend, dann klappte sie mit einer lässigen Handbewegung das Handydisplay hoch, drückte die immer noch offene Wohnungstür mit einem lackpumpsbeschuhten Fuß zu. Als sie sah, wer es war, der sie anrief, blinzelte sie erstaunt – dann nahm sie den Anruf entgegen. „What’s up, boss?“ „Wo ist er?“ Cognacs Stimme klang drängend. Aufgebracht. Wohl auch ungeduldig, ja. Eventuell ein klein wenig besorgt… „Wer?“ Sharon war verwirrt und auch ein wenig genervt. Sie wusste nicht genau, was er wollte, aber sehr genau, was sie wollte- ihre Ruhe nämlich. Ein heißes Bad. Ein Gläschen Wein... „Na wen meine ich wohl, Vermouth?! Jetzt stell dich nicht dümmer als du…“ „Armagnac?“, unterbrach sie ihn langsam. „Wen sonst?!“ Ein ungeduldiges Schnauben seinerseits erfüllte als lautes Rauschen sekundenlang den Äther. Vermouth hielt den Hörer weg, bis das Raschen verklungen war, sie hasste das. Dann seufzte sie, setzte zum Sprechen an. „Im Hauptquartier. Wo auch sonst, er darf nicht – aber wem erzähl ich das, you’re the boss, you made the rules...“ „Armagnac ist nicht hier.“ Schneidend klang der Satz in ihren Ohren, schnell ausgesprochene, harte Worte. Sharon hielt inne, schüttelte den Kopf, ein missvergnügter Zug schlich sich in ihre Mundwinkel. Vergessen war das heiße Bad, das Gläschen Wein. „Impossible. Ich hab den Jungen abgeliefert. Er muss da sein.“ „Ist er aber nicht. Ich hab ihn gesucht, er ist nicht hier. Mir ist zu Ohren gekommen, wie euer Abend verlaufen ist, und da…“ „…wolltest du nach ihm sehen? How touching.“ Ihre Stimme klang leicht spöttelnd, ihre Mundwinkel hatten sich zu einem mitleidigen Lächeln verzogen. „Nein.“ Er klang genervt. „Ich wollte nicht nach ihm sehen… nicht… so. Du weißt, dass das nicht geht. Ich weiß auch nicht, was ich wollte. Auf alle Fälle ist er nicht da. Nicht in seinem Zimmer. Ich weiß nicht, ob er im Hauptquartier rumläuft, auf den Kameras sieht man aber nichts. Und Gin – und das ist es, was mir gerade Kopfschmerzen macht – ist auch nicht da, nicht zu erreichen und sein Auto ist weg. Ich wollte von ihm einen Bericht, wegen des Deals, aber er…“ Sharon starrte blicklos gegen die Wand ihres Wohnzimmers. „Fucking hell. He’s off with him.“, flüsterte sie leise, Grauen machte sich in ihr breit. „That bloody bastard, I’ll…“ „Ja, das denke ich auch. Ich will, dass du sie suchst.“, unterbrach Cognac sie ein weiteres Mal. In seiner Stimme schwangen Wut und Ungeduld. Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Yeah, sure, aber wie stell ich das an, Boss? They could be everywhere and nowhere. Und eine Handyortung dauert zu lange und ist zu unpräzise.“ Ihre Stimme klang patzig, unwillig verdrehte sie die Augen, und merkte doch gleichzeitig, obwohl sie so gelassen tat, wie in ihr Panik hochkroch. Wenn Gin mit Shinichi unterwegs war, bedeutete das nichts Gutes. „Das ist mir egal, Vermouth. Dir fällt schon was ein.“ Damit legte er auf. Sharon starrte das Handy an, ihre Lippen zu einem schmalen Strich gepresst; dann verließ sie ihre Wohnung, fast fluchtartig. Sie hoffte, dass sie sie finden würde, wo sie sie vermutete. Nämlich bei einem der beiden Klienten, mit denen sie heute den Deal gehabt hätten. Sie ahnte, dass Gin Shinichi eine Lektion der ganz anderen Art erteilen wollte… oder sollte. Sie wusste nicht, was das Triumvirat vorhatte, aber es war klar, dass die drei alten Männer immer noch nicht über ihre Niederlage im Exekutionszimmer hinweg waren, und dass sie auch nicht gut hießen, Shinichi hier zu haben, als Mitglied. Wenn der Abend heute… eine Falle gewesen war… dann war klar, was ihm nun blühte. Was ihnen allen blühen könnte, wenn rauskam, was hier wirklich lief. Shinichi fühlte sich rundum unwohl. Sie befanden nun seit ein paar Minuten in der winzigen Küche einer winzigen Wohnung, vor ihnen standen eine junge Frau und ein etwas älterer Mann. Shinichi schätzte die Frau auf etwa sechsundzwanzig Jahre, ihn um die sechzig. Vater und Tochter, vielleicht. Und er hatte Recht damit, wie er gleich erfahren sollte. Gerade eben hatte eine hitzige Diskussion stattgefunden, die damit begonnen hatte, dass Gin dem Alten vorgeworfen hatte, er hätte den Termin platzen lassen. Sie stand am Kühlschrank gelehnt, beobachtete die Szene angespannt. Der Mann trat vor Nervosität von einem Bein aufs andere, wrang seine Hände, wusste offensichtlich nicht, wohin mit seiner Angst. Er war den Tränen nahe, und es verlangte Shinichi ein gutes Stück Selbstkontrolle ab, nicht einzuschreiten, wo er doch wusste, dass der Mann ohne Schuld so litt. Aber er riss sich zusammen, für Ran. Auch wenn er sich innerlich dafür verdammte. Soweit wären wir nun schon… ich sehe zu, wie ein Unrecht geschieht, und was mache ich? Nichts. Große Klasse… Wie naiv war ich eigentlich?! Hab ich echt geglaubt, sowas würde nicht passieren? Dass es ihnen reicht, wenn ich bei ihnen wohne? Ich weiß doch, wer die sind… Und jetzt steh ich hier, und hoffe, dass ich mich diesen Abend nicht ohnehin schon unrettbar in die Scheiße geritten habe, wirklich… läuft ja alles nach Plan, Kudô. Dann riss ihn der alte Mann aus seinen Gedanken. Shinichi hob den Kopf, blieb aber im Schatten stehen, bei der Tür – hielt sich im Hintergrund, um nicht hinein gezogen zu werden. „Aber… Sie haben doch angerufen, dass der Termin verschoben wurde…! Ich wollte ja kommen, fragen Sie meine Tochter Fumiko, wirklich, ich… ich hab auch das Geld hier…“ Seine Stimme zitterte, klang alt. Alt und heiser… voller Furcht. Er hatte panische Angst, und sie auch. Sie leuchtete in ihren Augen, sprach aus dem Zittern ihrer Hände, die sie vor dem Schoß gefaltet hatte. Shinichi wusste, warum sie sich fürchteten, und wovor. Sie hatten Angst um ihr Leben... Die Qual war für den Vater wohl noch größer, denn es schien klar, dass er auch unter Schuldgefühlen litt. In ihrem Haus war der Teufel zu Gast. Und er hatte ihm selbst die Tür geöffnet. Gin lächelte kalt. „Seltsam. An so ein Telefonat kann ich mich nicht erinnern.“ Er zog seine Waffe, aufreizend langsam, besah sie sich interessiert. Shinichi erstarrte, sog scharf die Luft zwischen die Zähne ein. „Ich denke, du weißt, was denen widerfährt, die sich nicht an unsere Abmachung halten, Sohei, alter Junge.“ Gespieltes Bedauern klang in Gins Stimme, sein Lächeln bröckelte dabei nicht den Bruchteil einer Sekunde, seine Augen ruhten kalt auf dem alten Mann ihm gegenüber. Shinichi ahnte, was jetzt gleich kam. Und er wusste, es war wirklich keine gute Idee, als er sich aus dem Schatten löste, von der Tür wegtrat. Er wusste es. Aber er konnte nichts dagegen tun; er kam nicht dagegen an, zu tun, was er tun musste. Zu sagen, was er sagen musste. Nach dem, was Gin heute schon gesagt hatte, über diesen Abend… konnte er wohl ohnehin nichts mehr noch schlimmer machen. Er hoffte nur, auf Ran passte man auf, wenn er offensichtlich schon nicht in der Lage war, diese Aufgabe pflichtgemäß zu erfüllen. Aber würde er jetzt den Mund halten, soviel wusste er, würde er wieder sich selbst noch jemand anderem jemals wieder in die Augen blicken können. Sollte er hier lebend rauskommen. Er wusste auch nicht, ob er Ran nochmal so unter die Augen treten würde können… mit dem Wissen, nicht versucht zu haben, einen Mord zu verhindern. „Lass das. Wenn du mit mir ein Problem hast, dann mach es mit mir aus.“ Er wisperte die Worte nur, aber alle im Raum Anwesenden hörten sie klar und deutlich. Gins Lächeln wurde noch einen Tick breiter; er hatte damit gerechnet, dass er so reagieren würde. Kudô war ein verdammter Moralist, nicht gemacht für dieses Business. Und genau deswegen waren seine Aktionen so vorhersehbar. „Du hast hier nichts zu melden.“ Er wandte sich nicht mal um, während Vater und Tochter den jungen Mann hinter Gin anstarrten wie eine Erscheinung. Lächelnd entsicherte Gin seine Waffe. „Du bist hier nur zum Zuschauen hier.“ Shinichi schluckte, schaute zu Boden, konnte den fragenden Blicken des alten Mannes und seiner Tochter nicht mehr standhalten. Rachefeldzug, ja. Man wollte ihn büßen lassen… Nur deswegen waren sie hier, heute. Er war hier, damit sie sahen, wem sie ihr Schicksal zu verdanken hatten… auch wenn man ihm es wohl jetzt noch ersparen würde, gleich selber Hand anzulegen. Shinichi schauderte, seine Gedanken drehten sich im Kreis. In ihm wühlte das schlechte Gewissen, er fragte sich, ob er in letzter Zeit nur falsche Entscheidungen traf… immer, wenn er jemanden retten wollte, so schien es, opferte er jemand anderen dafür. Sich selbst für Ran, diese beiden hier für Shiho… oder zumindest einen von ihnen. Er biss sich auf die Lippen, merkte, wie sein ohnehin schon hoher Adrenalinspiegel langsam überschwappte. Alles in ihm stand auf Alarmbereitschaft, fieberhaft suchte er nach einer Lösung, einem Ausweg… der nicht nur ihn und diese beiden hier für heute rettete, sondern zudem Rans Leben nicht gefährdete. Dann hörte er Gins Lachen, das ihn aus seinen Gedanken riss. Der Mann schien die Szene mit allen Sinnen zu genießen. Er hatte sie alle in seiner Hand, spielte mit ihrer Angst, mit jedem einzelnen von ihnen, und das Gefühl war erhebend für ihn. Deswegen machte er diesen Job… er verlieh Macht über andere… Macht über Leben und Tod, Glück und Unglück, Himmel, Hölle… Er war Richter und Henker, und er liebte das. Shinichi schluckte, schüttelte angewidert den Kopf. So durfte das nicht enden, heute. Er konnte es nicht einfach hinnehmen, er musste zumindest… zumindest versuchen, ihn davon abzuhalten. Ihm etwas anderes anbieten, im Tausch für die beiden vor ihnen. Irgendwas. Er trat vollends aus dem Schatten neben der Tür, stellte sich vor ihn. Gin stutzte kurz, dann breitete sich sein Grinsen erneut auf seinem Gesicht aus, spöttisch, fast mitleidig lächelte er ihn an. Seine Waffe zielte genau auf seine Brust, aber ihn schien das nicht zu stören. Irgendwo bewunderte er Kudô ja. Er hatte Prinzipien. Er hatte Charakter. Und er hatte einen klaren Verstand. Noch dazu beherrschte er sich wie kaum ein anderer. Und gleichzeitig war er unsagbar dumm. Gin wartete, ließ seine Hand nicht sinken. Shinichi schaute ihm direkt ins Gesicht. „Du hast kein Recht, das zu tun. Wie gesagt, wenn du ein Problem mit mir hast, dann lass uns das gefälligst unter uns ausmachen. Andere da mit hineinzuziehen ist nicht fair.“ Shinichi sprach leise, aber bestimmt. „Armagnac, glaubst du… das Wort ‚fair‘ existiert in meinem Vokabular? Wie ich meine Probleme mit dir bewältige, wirst du mir überlassen müssen.“ Gin lächelte immer noch, ließ die Waffe nicht sinken. Der Oberschüler schluckte. Kurz dachte er an sie… an Ran… Er hatte Angst, er wusste, um was er spielte, aber… Verdammt, kann man hier eigentlich das Richtige tun? Gibt es eine Entscheidung, die für alle gut ist? Er würde sich selbst und ihr nie mehr ins Gesicht blicken können, wenn er nicht sein Möglichstes tat, selbst im bescheidenen Rahmen dessen, was tatsächlich machbar war. Er durfte nicht zu weit gehen, das wusste er. Nichtsdestotrotz räusperte er sich, blickte Gin entschlossen ins Gesicht. „Du weißt genau, dass sie unschuldig sind. Dass sie nichts dafür können, dass es stimmt, was sie sagen. Du…“ Weiter kam er nicht, als ihn der Lauf der Waffe an der Wange traf. Er schrie nicht auf, keuchte nur, blieb weiterhin stehen. Das Lächeln wich von den Lippen des Blonden, in seinen Augen glitzerte nun langsam wieder kalte Wut. Es wurde lästig jetzt. Er hasste es, wenn jemand seine Autorität untergrub, und genau das tat Kudô jetzt. Shinichi starrte ihn wütend an. „Du hast dazu keine Befugnis. Du hast den Deal verschoben, ich weiß das, du weißt das, und Vermouth weiß es auch. Du und das Triumvirat steckt unter einer Decke… aber ich denke, dem Boss dürfte das nicht wirklich gefallen, und das weißt du auch, sonst stünden wir jetzt nicht hier, in einer Nacht–und–Nebel-Aktion, sondern ich stünde vor ihm, wenn ich am heutigen Abend doch angeblich mein Todesurteil unterschrieben hab, wegen eklatantem Ungehorsam und offensichtlicher Rebellion. Wenn dem wirklich so wäre, wenn ich mich heut tatsächlich ins Aus geschossen hätte, dann wäre ich jetzt tot, nicht hier, mit dir, also was soll das hier-“ Er wischte sich mit dem Handrücken das Blut von der Wange. Gin starrte ihn wütend an, zielte mit der Waffe erneut auf ihn. „Geh da weg jetzt!“, bellte er ungehalten. Shinichi schluckte. Sein Herz raste, Schweiß brach ihm aus allen Poren. Er atmete heftig, merkte, wie er langsam bleich wurde. Gin bemerkte es mit Genugtuung. „Hau jetzt ab. Du hast genug geredet. Du bist hier nur als Zuschauer gefragt.“ Langsam schüttelte Shinichi den Kopf. Als er schließlich zu sprechen anfing, konnte er kaum glauben, dass er das wirklich wagte. „Man kann mir nicht trauen, das wusstet du schon immer und seit heute hast du den Beweis. Das ist aber unser Krieg, nicht ihrer. Wir beide wissen, dass sie unschuldig sind. Du hast, verdammt noch mal, kein Recht dazu, sie umzubringen! Nicht dass du das Recht hättest, wären sie wirklich heute aus eigenem Antrieb dem Deal ferngeblieben… zum Töten hat man nie ein Recht. Aber das hier ist… pure Willkür. Ich dachte, das wäre eigentlich unter deinem Niveau. Mir kannst du auch anders eine reindrücken. Um mir die Hölle heiß zu machen, musst du sie nicht töten!“ Er hatte ihn, während er sprach, nicht angesehen. Erst jetzt, als er geendet hatte, hob er den Blick, schaute ihm ins Gesicht. Gin lächelte ihn überheblich an. „Ja, man merkt den Detektiv in dir. Den ewigen Moralapostel.“ Er lachte leise. „Schade nur, dass das keinen interessiert - dir wird keiner zuhören. Du kannst nichts tun, außer tatenlos zuzusehen. Wie der Abend heute verläuft, ist vorgeplant; du wirst dich fügen müssen, dir dämmert offensichtlich, was das Triumvirat bezweckt. Wenn du jetzt nicht noch mehr Ärger haben willst, als du ohnehin in ein paar Minuten haben wirst, Armagnac… dann solltest du meinem Rat Folge leisten und beiseite gehen.“ Seine Stimme war auf ein leises Knurren herabgesunken, Shinichi starrte ihn an. Er wusste, worauf er anspielte, und es machte ihn schier verrückt. Langsam strich er sich über die Augen, über die Haare, ließ die Hand sinken. Hörte Vater und Tochter hinter sich atmen, sogar winseln. Der alte Mann wimmerte. Ein Laut, der ihm durch jede Faser seines Körpers ging. Er war ihnen schuldig, zu versuchen, sie zu retten. Er konnte sie doch nicht dem Tod überlassen… Gin wurde es nun langsam wirklich zu bunt. Er presste seine Lippen zusammen, schaute ihn aus kalten, blauen Augen an. „Du weißt du spielst mit dem Leben deiner Freundin, Kudô… dir ist doch klar, dass mir egal ist, ob ich dem Boss einen Strich durch die Rechnung mache, wenn ich sie töte? Und egal, wer auf sie aufpasst, lass dir gesagt sein, mich wird nichts aufhalten. Also… ist das jetzt klar…?“ Gin schob seine Waffe unter Shinichis Kinn, zwang ihn, in die Augen zu sehen. „Dein Tod. Sherrys Tod. Akais Tod. Ende. Das ist es, was ich will, und ich verspreche dir, so wird es auch geschehen. Ob mit oder ohne Unterstützung der Organisation.“ Shinichi schluckte, unfähig, den Blick abzuwenden. „Eigentlich sind es ja nur noch zwei, nicht wahr?“ Dann fuhr er zusammen, als er hörte, wie hinter ihm jemand scharf Luft holte. „Kudô…? Doch nicht etwa… Shinichi Kudô? Der Shinichi Kudô, der Detektiv? Du bist das?“ Shinichi merkte, wie ihm das restliche Blut aus dem Gesicht wich, seine Hände zu zittern anfingen. Gin grinste breit ob der unvorhergesehen, nichtsdestotrotz amüsanten Wendung der Geschichte. „Ah… das ist jetzt aber sehr schlecht. Man hat dich erkannt, das wird den Boss und das Triumvirat nicht freuen.“ Er nahm die Waffe herunter. „Morgen weiß die ganze Stadt, was aus Shinichi Kudô geworden ist…“ Shinichi hob die Hand, hielt sie sich vor den Mund. Zum zweiten Mal an diesem Abend hatte man ihn offensichtlich gelinkt… er war nicht hier, um diese Leute zu bedrohen. Er war hier, um den Sündenbock zu spielen. Man wollte seinen gesellschaftlichen Ruin. Würde ihnen das gelingen, dann war an eine Rückkehr in sein Leben schlichtweg unmöglich. Ihm drohte neben der Verachtung der Massen dann auch die Strafe des Gesetzes, die ihn mit voller Härte treffen würde, wenn es ihm nicht gelang, seine Unschuld zu beweisen. Und wie konnte es soweit kommen? Weil er sich wieder einmal genauso verhalten hatte, wie man es von ihm erwartet hatte. War er wirklich so berechenbar? Langsam drehte er sich um, schaute den beiden Bewohnern dieses Hauses entsetzt ins Gesicht. Verdammt…! Was dann geschah, passierte in Sekundenbruchteilen. Aus dem Augenwinkel sah er es. Gin, der seine Waffe hob, und auf die junge Frau zielte. Sie hatte nicht den Hauch einer Chance. Ein Knall durchschnitt die Luft, schmerzerfüllter Schrei verließ ihre Lippen, als sie zusammenbrach. Shinichi keuchte, stürzte auf sie zu, fing sie auf. Der alte Mann fing an zu schreien, als er seine Tochter zu Boden gehen sah. Chaos brach aus. Sie hustete, Blut rann aus ihrem Mundwinkel, ihre Augen flackerten. Und Gin begann, zu lachen. Shinichi merkte, wie jemand ihn von hinten hochzerrte, ihn am Kragen packte und festhielt, wie einen jungen Hund. Er roch Gins Atem, als er sprach, er sah den Alten, der sie beide anblickte, einerseits voller Wut, andererseits beherrscht von Angst. „Wenn dich jemand fragt, wer das getan hat… du kennst seinen Namen.“ Der alte Mann nickte zögernd, warf Shinichi einen fast bedauernden Blick zu; allerdings kümmerte ihn sein Leben und das seiner Tochter mehr als das eines Shinichi Kudô. Jeder ist sich selbst der nächste. „Nein!“ Shinichi brüllte, wand sich frei. „Nein! NEIN!“ Er starrte Gin in die Augen, sein Gesicht war leichenblass, seine Hände zitterten. Gin lachte leise. „Glaub mir, dein Leben ist jetzt vorbei. Es wird Zeit, dass du das merkst. Man wird jetzt nach dir suchen… du tust besser daran, den Kopf unten zu halten.“ Sein Atem ging schnell, flach, seine Finger wurden kalt - der Schock begann langsam, mit seinen eisigen Fängen nach ihm zu greifen. „Glaub nicht, er wird sich mir widersetzen. Er wird tun, was ich sage, weil er sonst auch stirbt. Wir verstehen uns.“ Er nickte dem Mann zu, dem bereits die ersten Tränen über die Wangen zu laufen begannen, als er seine schwerverletzte Tochter im Arm hielt. Hilflos schnappte Shinichi nach Luft, konnte nicht fassen, wie ihm geschah. Er glaubte noch, Mitleid zu sehen in den Augen des alten Mannes, dann hörte er die Tür hinter sich zufallen, weil er von Gin nach draußen gezerrt wurde. Vor dem Wohnhaus ließ er ihn stehen, lachte leise. „Nun sieh zu, wie du heimkommst. Und untersteh dich, dich zu stellen oder zur Polizei zu gehen. Ich brauche dir wohl nicht erklären, warum.“, bemerkte er trocken, stieg in seinen Porsche und brauste von dannen. Shinichi blieb zurück, sank gegen die Hausmauer, zu keinem klaren Gedanken fähig. Auf Gins Lippen lag ein zufriedenes Lächeln. Alles war planmäßig verlaufen. Das Triumvirat würde zufrieden sein. Shinichi Kudô war nun ein Verbrecher… der strahlende Retter der Polizei - ein hochgradig Krimineller… Genüsslich zündete er sich eine weitere Zigarette an. Shinichi stand da, zitterte am ganzen Körper, merkte, wie ihm Verzweiflung die Kehle zuschnürte, in ihm der Wunsch aufkeimte, einfach tot zu sein... Seine Knie gaben nach, langsam rutschte er zu Boden. Er biss sich auf die Lippen, versuchte, sich zusammenzureißen. Es regnete immer noch, aber es interessierte ihn nicht. Fast automatisch griff in seine Taschen, zückte sein neues Handy, rief mechanisch den Notarzt, hoffte, dass es noch nicht zu spät für sie war. Bitte… bitte… bitte… Dann hörte er neben sich Reifen quietschen, eine Tür aufgehen und zufallen. Er war nicht in der Lage wegzulaufen. Konnte nicht einmal aufstehen. Er stand unter Schock, das merkte er nur allzu deutlich. Seine Reaktionen waren viel zu langsam, sein Gehirn schien abgeschaltet zu haben, oder nur mit Notstrom zu laufen. Dann merkte er, wie jemand in schüttelte, seinen Namen rief. Irgendwann hatte er es geschafft, das Gesicht zu fokussieren, das ihn anstarrte, hörte Sirenen, von weitem. „Sharon?“, murmelte er schleppend. Sie presste die Lippen aufeinander, zerrte ihn hoch, zog die hintere Tür des Wagens auf, stieß ihn hinein, setzte sich ans Steuer und brauste von dannen, vorbei am Krankenwagen, der ihnen gerade entgegenrauschte, mit Martinshorn und Blaulicht, ein rotweißer Schemen auf regennasser Straße. Sie schaute in den Rückspiegel, sah ihn auf der Rückbank liegen, so, wie er gefallen war, als sie ihn ins Auto geschubst hatte, schüttelte missbilligend den Kopf. Sie konnte sich denken, was Gin getan hatte. Was das Triumvirat getan hatte, und was es plante. Er wachte aus seinem Zustand während der Fahrt nicht wirklich auf. Als sie ankamen, ließ er sich bereitwillig von ihr führen, schien jeglichen eigenen Willen verloren zu haben. Vor seinen Augen fiel sie immer wieder. Sackte zusammen, als die Kugel sie traf, um ihr ihr Leben zu rauben… Sah, wie alle Lebendigkeit aus ihren Augen wich, aus ihrem Körper floh, ihn zusammenstürzen ließ wie ein Hochhaus, nachdem man in seinem Inneren die Abrisssprengung gezündet hatte. Blickte immer wieder in ihre leeren Augen, hörte den Schrei ihres Vaters in seinen Ohren, und ihren eigenen… ein so heller, erschrockener, verletzter Schrei… der letzte Laut, der ihre Lippen verließ, wahrscheinlich. Er war ihr Mörder… Shinichi Kudô war seit heute Abend ein Mörder. Und immer wieder er hörte sein leises Lachen. Es hallte in seinem Kopf, ließ ihn nicht los. Sharon stand vor ihm, starrte ihn an. Mittlerweile hatte sie ihn in sein Zimmer verfrachtet, ihm den tropfnassen Mantel ausgezogen, und auch den Pullover. Hatte die Narbe einer Schussverletzung in seiner Magengegend bemerkt und sich ernsthaft gefragt, warum so ein junger Mensch schon solche Verletzungen hatte. Viel wichtiger war in diesem Moment aber nicht sein körperlicher Zustand. Absinth war gerissen, das musste man ihm lassen… es war nicht ungewöhnlich, auf diese Art Druck auf die Klienten auszuüben. Dass dieser Druck ungerechtfertigt sein würde, weil der Klient für seine Verfehlung nichts konnte, würde keinen interessieren. Niemand würde fragen. Die Organisation befand sich im Krieg. Sie seufzte, dann wandte sie sich ihm wieder zu. „Shinichi… du hast sowas doch schon gesehen… oder?“ Er reagierte nicht. Es war klar, dass er mit den Gedanken woanders war. Wahrscheinlich lebte er schon sein Leben von morgen… als Geächteter in seiner Welt. Sie starrte ihn an. „Shinichi!“ Er rührte sich immer noch nicht. Sie seufzte, verdrehte die Augen. Dann holte sie aus, schlug ihn mit der flachen Hand ins Gesicht. Er schrie auf, hob den Kopf, starrte sie wütend an. Offenbar hatte die Ohrfeige ihre Wirkung nicht verfehlt. Sie lächelte kurz. „Wie schön. Du bist wieder ansprechbar.“ Er verbiss sich einen Kommentar, schüttelte den Kopf. „Ich will meine Ruhe für heute.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust, schaute ihn an. „Was hat Gin gesagt…?“ „Kannst du dir das nicht denken?“ Ein wenig aufgebracht klang er, bemerkte sie. Was auch kein Wunder war, denn ja, sie konnte sich ja eigentlich denken, was gelaufen war. Ein kurzer Seufzer entwich ihren Lippen, dann ging sie kurz nach draußen, kam nach ein paar Minuten wieder mit einer Tasse Kaffee und einem frischen Handtuch, wischte ihm über sein Gesicht, reichte es ihm in die Hand. Er rubbelte sich mechanisch die Haare trocken, und sie setzte sich neben ihn. Als er fertig war, drückte sie ihm den Kaffee in die Hand. „Für die Ohrfeige.“ Er verdrehte die Augen, nahm er einen Schluck. „Ich bin so gut wie tot, Sharon.“ Sie zuckte zusammen, schaute ihn erstaunt an. Der Schock saß ihm immer noch in den Gliedern, vor allem in seinen Augen konnte man es sehen… aber er schien wieder zu sich zu kommen. „What has happened…?“ Sie versuchte, sachlich zu klingen. „Er ist gekommen. Hierher. Gin. Ich nehme an, das ist klar.“ Sie nickte. Er seufzte, versuchte sich zu sammeln; seine Stimme klang nichtsdestotrotz abgehackt, als er sprach, seine Sätze waren kurz und knapp. Es schien jemand ganz anderes aus ihm zu sprechen. „Das heute war ein Test. Vom Triumvirat. Man wollte meine Glaubwürdigkeit testen, und was soll ich sagen…“, er lächelte müde, „selten hab ich eine Prüfung mehr vergeigt. Du solltest dir ne gute Ausrede einfallen lassen, Sharon, warum du dabei warst. Gin hat uns gesehen.“ Shinichi unterbrach sich, trank einen weiteren Schluck Kaffee. Seine Finger zitterten. „Nun. Das… Triumvirat will mich wohl endlich weg haben, und ich schätze, sie planen meinen Tod auf Raten. Heute kam mein gesellschaftlicher Ruin dran, damit ja kein gutes Haar an mir bleibt, wenn ich dieser schönen Welt ade sage… wir fuhren also hin, zu diesen Klienten, von heute, er hat mich soweit provoziert, dass ich mich mehr oder minder zu erkennen gegeben habe, wurde erkannt, und dann hat er die Frau angeschossen. Ich hab ihm einmal mehr heute abend in die Karten gespielt. Alles was ich anfange, ist falsch. Ich schaufel mir mein Grab selber, wie es scheint.“ Sharon stöhnte auf. „Du wolltest sie beschützen. Sie retten. Du konntest nicht anders.“ Er nickte bekümmert. „Ich meine, es war… war doch auch meine Schuld, dass sie soweit in den Schlamassel geraten sind. Aber trotzdem….“ Sein Gesicht verzog sich vor innerer Qual und Verzweiflung. Langsam hob er die Hände, verbarg kurz sein Gesicht. Sharons Augen wurden groß, als ihr die Tragweite dessen, was heute Abend passiert war, klar wurde. Dann riss seine Stimme sie wieder aus ihren Gedanken. „Ich schätze, mein Leben ist jetzt vorbei. Er hat dem alten Mann eingebläut, zu sagen, ich hätte sie… angeschossen. Ich hoffe, sie überlebt das, ich hab den Krankenwagen gerufen, ich denke, der Alte hatte kein Telefon, sie schienen recht… mittellos zu sein, aber ich… mein Gott, ich bin ruiniert… es wird morgen in allen Zeitungen stehen… Shinichi Kudô ist ein Schwerverbrecher… Wenn sie stirbt… bin ich ihr Mörder.“ Seine Stimme brach. „Er soll allen sagen, ich hätte das getan. Und genau das wird er auch tun.“ Shinichi biss sich auf die Lippen, schmeckte Blut. Sharons starrte ihn an, verfluchte Gin diesen Bastard, innerlich so an die tausend Mal. Dann vernahm sie ein leises Stöhnen, wandte sich wieder zu ihm, der seinen Kopf schwer auf eine Hand gestützt hatte, als könne er ihn nicht mehr alleine halten… als wäre die Last seiner Gedanken zu groß. „Und ich kann nichts sagen. Darf nichts… sagen… Er wird sie finden und töten, sonst, es ist ihm egal, ob er darf, oder nicht. Ich schätze aber, das Triumvirat gibt ihm gern die Erlaubnis. Was den Boss angeht-.“ Sharon nickte langsam. Shinichi seufzte leise, ein einsamer Tropfen rann ihm über die Nase, fiel auf seine Knie. Sein Blick verlor sich, als er in Gedanken versank. Ein Horrorszenario nach dem anderen tauchte auf vor seinem inneren Auge, die meisten verbunden mit den Menschen, die er liebte. Er hatte versagt, er hatte sie alle enttäuscht, und jetzt… Jetzt würden sie sich wegen ihm wohl den Hohn und den Vorwurf der Gesellschaft noch anhören müssen… Er stöhnte erneut auf, presste sich einen Handballen an die Stirn. Sie beugte sich vor, nahm ihm den Kaffeebecher aus der anderen Hand, als sie merkte, dass er abzudriften begann, als er sich ausmalte, wie sein Leben ab morgen aussehen würde. Es entsetzte ihn. Es ängstigte ihn. Das sah sie ihm an. Und dann kam ihm der schlimmste Gedanke überhaupt. „Mein Gott, wenn Ran das…“ Er atmete stoßweise, wurde kreidebleich, als er erkannte, was das für ihn bedeutete. Langsam wich ihm erneut alle Farbe aus dem Gesicht, sein Blick wurde starr, seine Hände zitterten. „Wenn Ran…“ Sie schaute ihn an, schluckte schwer. Er hatte Recht… sie würde morgen erfahren, was passiert war. „Ran…“ Seine Stimme war kaum zu hören, in seinen Augen ein Ausdruck puren Entsetzens… und Verzweiflung. Sie wusste, damit war es vorbei mit ihm. Er war gänzlich verloren in seinem Alptraum, und würde heute auch nicht mehr daraus erwachen. Sie schaute ihn von der Seite her an, sah diesen bleichen Teint, diesen starren Blick, die aufeinander gepressten Lippen. Mit ihm würde heute nicht mehr zu rechnen sein. Fakt war… er hatte Recht. Es war eine Katastrophe. Man würde eine Hexenjagd veranstalten, auf ihn. Und jeden mit durch den Dreck ziehen, der mit ihm in irgendeiner Verbindung stand. Man hatte ihn ruiniert, gesellschaftlich. Und er konnte, durfte zu seiner Verteidigung nichts sagen. Sie schluckte, dann erhob sie sich. Sie drückte ihn aufs Bett, zog ihm die Schuhe aus und warf ihm die Decke über. Er ließ es willenlos geschehen. „Versuch zu schlafen. Das ist das Beste, was du jetzt noch tun kannst. Überlass alles andere mir.“ Er sagte nichts, starrte die Decke an. Sie presste die Lippen aufeinander, dann ging sie, schaltete das Licht aus. Sharon begann sie zu laufen, die Gänge entlang, zu einem bestimmten Zimmer. Etwas musste getan werden. Leider war das Triumvirat zu beseitigen keine Option, auch wenn sie das liebend gern übernommen hätte – deshalb mussten sie sich etwas anderes einfallen lassen. Sie warf die Tür so schwungvoll auf, dass sie gegen die Wand krachte. „Hast du ihn gefunden? Wie geht es ihm?“ Cognacs Stimme drang ungeduldig an ihr Ohr, noch ehe sie die Tür hinter sich wieder zugemacht hatte. Sie verpasste ihr einen Tritt, schmetterte sie regelrecht zu. Dann schaute sie ihn an, atmete heftig; er blickte ihr fragend entgegen. Der Boss stand hinter seinem Schreibtisch, seine Finger trommelten auf blankpoliertes Mahagoni, vor ihm stand ein bauchiges Glas mit einer goldgelben Flüssigkeit. Cognac. Offensichtlich war er etwas nervös. Sharon entfuhr ein hysterisches Lachen, allerdings nur kurz; dann wurde sie wieder ernst. „Oh, he’s fine. Had a nice trip today…“ Ihr Sarkasmus war beißend. Der Boss seufzte, starrte sie an. „Sharon… was ist passiert, verdammt?“ Sie schluckte, merkte, wie auch ihr, wie Shinichi eben, das Blut langsam aus dem Gesicht wich, als ihr die Konsequenzen dieses Abends durch den Kopf schossen. „The triumvirate has gone too far this night.” Cognac zog eine Augenbraue hoch. „Was? Inwiefern?“ Sharon kniff die Lippen zusammen, setzte sich auf eine Tischkante, schlug eins ihrer langen Beine über das andere. Und dann quoll es aus ihr heraus; unaufhaltsam wie ein Tsunami brach der vergangene Abend über sie herein; und jetzt auch über ihn. „Was denkst du denn?! Du bist der Boss, und weißt nicht, was los ist, hier? Verdammt nochmal, warum hast du deine Leute nicht besser im Griff? Absinth has taken over the leadership, as it seems, and you have noticed nothing! Er hat ihn gesellschaftlich ruiniert, innerhalb von fünfzehn Minuten! Gin hat eine junge Frau angeschossen, die jetzt vielleicht schon tot ist, und lässt den Mord Shinichi in die Schuhe schieben. Der Vater der Frau soll aussagen, Shinichi Kudô wäre der…“ „Was?!“ Seine Stimme klang leise, aber sein Entsetzen und auch sein Unwillen, zeigten sich deutlich. Sie nickte, fuhr sich durch die Haare. Er schluckte, wollte die Information erst mal verdauen. Als er sich soweit wieder im Griff hatte, wieder einen klaren Gedanken fassen zu können, ließ er sich in seinen Stuhl gleiten, griff sich seinen Cognacschwenker, nahm einen kleinen Schluck. Dann atmete er tief durch. „Nun in Ruhe und von vorne, Vermouth. Wo ist er jetzt und was ist heute alles passiert?“ „Er ist jetzt in seinem Zimmer.“ Er nickte, bedeutete ihr mit einer Geste, fortzufahren, blickte dabei auf die Tischplatte seines Schreibtisches. Vermouth atmete durch. Cognacs Ruhe steckte sie an, und auch war sie eigentlich nicht der Typ Frau, der gleich in Panik und Hysterie verfiel. „Well. Gin hat heute den Termin des Deals verschoben, im Namen des Triumvirats, und ging Sherry suchen. Damit… fing das Desaster an.“ „Weiter.“ „Da… der Junge das natürlich nicht hinnehmen konnte, sind wir sie retten gefahren… Nun war es so… diese Aktion war wohl als… eine Art Treuetest gedacht, Gin hat uns beobachtet, alles dem Triumvirat erzählt, die jetzt gegen Shinichi den Beweis seiner Illoyalität in der Hand halten- und ihn deshalb wohl Stück für Stück umbringen wollen. Stufe eins war heute. Gesellschaftlicher Ruin. Man hat dir wohl alles bewusst verschwiegen, weil sie wissen, wie du zu ihm stehst.“ Sie benetzte ihre Lippen mit ihrer Zunge, glitt elegant vom Tisch, ließ sich in den Sessel ihm gegenüber sinken. Er schenkte ihr aus einer Kristallkaraffe ebenfalls ein Glas Cognac ein. Sie nahm es an, nippte daran, seufzte. „Während Shinichi wohl versucht hat, nun Gin davon zu überzeugen, dass es keine gute Idee ist, die beiden Klienten zu töten, haben die beiden ihn erkannt. Gin hat daraufhin auf die Tochter geschossen und dem Vater aufgetragen, unter Androhung ihn ebenfalls zu töten, Shinichi als Schuldigen zu nennen. He should be blamed for that crime. Soweit sind wir schon.“ Sie seufzte, strich sich über die Augen. „It’ll be big in the papers tomorrow. Everyone will read it. He’s now an outcast. Er kann nichts dazu sagen, darf sich nicht verteidigen, wegen Ran. Er wird nichts sagen, wegen angel. He’s socially dead now. He’s almost gone. You tried to save him, but you’re killing him nevertheless. Der Tod… wäre so viel gnadenvoller gewesen… Cognac.” Der Angesprochene schüttelte den Kopf, fuhr sich über den Bart. Dann zog er eine Zigarette aus einem silbernen Etui, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, zündete sie sich langsam an, nahm einen Zug. „Gibt es Beweise?“ „Für seine Schuld?“ „Ja. Haben wir Fingerabdrücke, eine Tatwaffe oder sonstwas zurückgelassen?“ „Nein. Nicht soweit ich weiß. Nur den Alten als Zeugen, nothing else.“ Sie schüttelte ihr Haupt. „Gut.“ Cognac zog ein weiteres Mal an seiner Zigarette, inhalierte tief, legte den Kopf in den Nacken und stieß den Rauch langsam aus. „Dann denke ich, soweit ist es noch nicht. Noch ist er nicht gesellschaftlich ruiniert. Wenn man dich fragt, im übrigen, was du heute mit Sherry zu schaffen hattest, dann sagst du, du hattest den Auftrag zu seiner Beobachtung von mir. Was die können, kann ich schon lange.“ Er legte seine Hände aneinander, stützte seine Ellenbogen auf die Tischplatte. „Was Armagnac betrifft… Es wird nichts nützen, den Alten und seine Tochter, so sie denn noch lebt, umzubringen; er wird den Sanitätern im Krankenwagen erzählt haben müssen, was passiert ist, und die haben das Verbrechen bestimmt schon angezeigt. Also… wirst du zu den Klienten fahren, mit diesem alten Herrn reden, und ihm sehr ans Herz legen, dass er seine Aussage am besten soweit revidiert, dass es so aussieht, als ob Shinichi Kudô lediglich anwesend gewesen wäre und dann abgehauen. Wer geschossen habe, wisse er nicht.“ Sie nickte knapp. „Sehr schön. Dann werf ich jetzt mal ein paar Leute aus dem Bett, die diese Geschichte dann auch so weitererzählen, und nicht die…“, er lächelte sanft, wobei sich die Enden seines Schnauzbartes nach oben wanderten, „Unwahrheit verbreiten. So geht das auch nicht. Mal ganz abgesehen von Armagnacs… Shinichi Kudôs… Ruf… ist das nicht unbedingt zuträglich für die Schwarze Organisation… meine Organisation… wenn eine Berühmtheit in unserer Mitte als Schwerverbrecher gesucht wird. Das zieht zu viel Aufmerksamkeit an, und genau das wollen wir ja nicht… nicht wahr… Sharon?“ Sie nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Glas, hörte ihm nur zu, merkte, wie der Alkohol sie etwas müde machte, überging die kleine Spitze in ihre Richtung. „Absinth darf so nicht auf eigene Faust handeln.“ „Sag ihm das. Ich denke, es interessiert ihn nicht. Du kennst ihn doch… er ist gefährlich.“ „Nicht gefährlicher als ich.“ Ein bedrohliches Lächeln huschte kurz über seine Lippen, Sekundenbruchteile nur. Dann war es weg, aber die Stimmung im Raum war nun anders. Nicht mehr voll Bedrückung und Entsetzen… nein. Kampf lag in der Luft. Er sog gierig an seiner Zigarette, klopfte mit seiner Faust auf den Tisch, sacht, als er nachdachte. „Mit mir legt man sich nicht an.“ Sharon lachte leise. „Not with me either, dear.“ Die Stimmung war in der Tat umgeschlagen. Sie lächelten sich über den Tisch hinweg siegessicher an. „Was für eine Nacht.“, murmelte er dann. Sie stand auf, ging nicht mehr auf diese Bemerkung ein, sondern verließ den Raum ohne ein weiteres Wort. Sie hatte zu tun. Cognac war aufgestanden, mit seinem Glas, schaute aus seinem Panoramafenster und dachte nach… Ja, sie würden ihn da schon rausboxen, heute Nacht. Aber gleichzeitig wusste er, dass das nur ein schwacher Trost war. Ob nun öffentlich oder nicht, Shinichi Kudô würde eines Tages ein Mörder sein… Er hatte ihn retten wollen, stattdessen in die ewige Verdammnis geschickt. Vermouth hatte Recht gehabt, objektiv betrachtet wäre sein Tod… sein leiblicher Tod… gnadenvoller gewesen. Und nun fragte er sich, warum ihm nicht früher klar geworden war, dass es für Shinichi Kudô keine Rettung gab – nie gegeben hatte. Entweder man raubte ihm sein Leben; oder seine Seele. Irgendwie brachten sie ihn immer um. Seine Geschichte hatte kein Happy End. Keins, dass er schreiben konnte, zumindest. Aber jetzt galt es erst einmal, die Wogen zu glätten. Es wurde Zeit, ein paar Kontakte einzuschalten und dem Triumvirat Einhalt zu gebieten. Ein Schuss vor den Bug war schon lange fällig. Diese Geschichte durfte so nicht an die Öffentlichkeit; das Risiko für die Organisation war viel zu hoch, wenn Shinichi Kudô polizeilich gesucht wurde. Er war dann das Risiko. Eins, das beseitigt werden musste… Klar, Absinth hatte genau das beabsichtigt; aber er war immer noch der Boss hier. Er war der Boss. Das Triumvirat interessierte ihn nicht, sie trafen die Entscheidungen nicht, sie legten nur Einspruch ein. Er entschied. Er entschied, wer lebte – und wer starb. Kapitel 16: Die Ruhe vor dem Sturm ---------------------------------- Schande über mein Haupt, Leute. *sichschämt* *seufz* Es tut mir ehrlich Leid, euch immer noch so lange warten zu lassen, aber der Berg an Arbeit, der sich bei mir häuft, wird und wird nicht kleiner. *seufz* Aber keine Angst, abgebrochen wird nicht! Ich möchte euch auf jeden Fall aber sehr für die Kommentare zum letzten Kapitel danken, ich freu mich ehrlich, dass ihr trotz meiner Unpünktlichkeit noch dabei seid! Ich arbeite dran, dass es wieder geregelter geht, aber momentan is bei mir die Hölle los. Nun... in diesem Sinne... ich schätze, ein paar von euch werden mich für dieses Kapitel verfluchen. Trotzdem hoffe ich, dass ihr mittlerweile neugierig genug seid, um herausfinden zu wollen, wie das hier ausgeht ^.~ Mit den besten Grüßen, eure Leira :) _______________________________________________________________________ Kapitel 16: Die Ruhe vor dem Sturm Professor Hiroshi Agasa saß beim Frühstück, schlug nichts ahnend die zusammengerollte Zeitung auf, fing an, mit einer Handflächen über das Papier zu streichen, um es zu glätten, in seiner anderen hielt er sein Frühstücksbrötchen, von dem er sich gerade einen großen Bissen genehmigen wollte; allerdings blieb es beim Versuch. Was er auf der Titelseite zu sehen bekam, sorgte dafür, dass ihm fast das Herz stehen blieb. Als Ai zehn Minuten später in die Küche kam, dicht gefolgt von Heiji, fand sie den Professor wie zur Salzsäule erstarrt am Küchentisch sitzend, mit aufgerissenen Augen, eine Hand mit einem Brötchen irgendwo zwischen Tisch und Mund schwebend. Die Szene wirkte wie eingefroren; tatsächlich war die Erdbeermarmelade das einzige, was sich noch bewegte; langsam rann sie vom Brötchen, schien förmlich über die Hand des Professors zu kriechen, bis sie in der Nähe des Handgelenks in klebrigen Tropfen auf den Tisch fiel. Die beiden schauten sich kurz fragend an, dann traten sie näher und sahen, was den Professor so entsetzt hatte. Siegessicher grinsend wie eh und je blickte Shinichi ihnen entgegen; mit erhobenem Zeigefinger und in Farbe, nahm er fast ein Viertel der Seite ein. Heiji kannte das Archivbild. Allerdings war auch nicht das Bild das, was ihn so erbleichen ließ; sondern die Überschrift. Shinichi Kudô auf der Flucht vor der Polizei? „NEIN!“, entfuhr es Heiji entsetzt. Ruckartig riss er das Blatt zu sich, begann zu lesen, konnte nicht fassen, was er sah. Ai hatte nur die Schlagzeile gelesen; was an und für sich reichte, aber sie blieb ihm Gegensatz zu Heiji ganz ruhig. „Er spaltet das Lager.“ Ihre Stimme war leise und klang leicht melancholisch, als sie wissend mit ihren hellblauen Augen das Foto betrachtete. Heiji ließ die Zeitung sinken, schaute sie verblüfft an. Langsam atmete er wieder durch, die ersten Zeilen des Berichts waren schon viel weniger reißerisch als seine Überschrift. Agasa hob ebenfalls den Kopf und ließ nun sein Brötchen sinken, legte seinen Arm unbedacht in den Marmeladenfleck. Er schien es nicht zu bemerken, sondern blickte seine kleine Mitbewohnerin fragend an. Ai kletterte auf einen Stuhl, zog eine Tasse zu sich heran und goss sich Kaffee aus der Kanne ein, überflog die Zeilen schnell. „Wie ich vermutet habe, genau.“ Sie schlürfte genussvoll einen Schluck Kaffee. „Hey, Kröte.“ Heiji beugte sich vor sie. „Wie du was vermutet hast, bitte? Muss man dir alles aus der Nase zieh’n? Klärste uns mal auf?!“ Entnervt schaute er sie aus Halbmondaugen an; sie starrte nicht minder genervt zurück. „Nun,“ begann sie, „das ist doch offensichtlich, du Meisterdetektiv. Hier steht, Shinichi Kudô wäre bei einem Mordversuch zugegen gewesen und nun unauffindbar, was ihn eventuell als Täter in Betracht kommen lässt. Eventuell, man kann sehen, wie wenig die Zeitung selber dran glaubt bis auf die Schlagzeile… und die lautete so, damit sich dieses Käseblatt gut verkauft...“ Sie blickte auf, pflückte Agasa sein immer noch unangetastetes Marmeladenbrötchen aus der Hand, warf ihm einen fragenden Blick aus blauen Augen zu; er nickte abwesend, und so biss sie herzhaft hinein. Anscheinend hatte sie sich endlich wieder einigermaßen gefangen. Agasa seufzte, konnte nicht leugnen, dass ihn das ein wenig beruhigte. Das kleine Mädchen hingegen kaute, warf einen kalkulierenden Blick auf die Zeitung, schluckte dann runter und fuhr fort. „Wir können also davon ausgehen, dass er es nicht war; es gibt keine Beweise und hätte Shinichi tatsächlich jemanden umgebracht, im Auftrag der Organisation, stünde es nicht in der Zeitung. Offensichtlich will ihn jemand gesellschaftlich in den Abgrund treiben, nur dazu sind solche Spekulationen da, und ich denke, eigentlich hätte das hier ursprünglich noch viel schlimmer ausfallen müssen. Ich tippe darauf, dass er gestern noch büßen musste… oder das die ganze Sache von vorneherein eine Falle war.“ Sie schluckte schwer, schaute betrübt in ihre Tasse, zog sich dann die Sahne heran und schüttete so viel von der weißen Flüssigkeit hinein, bis ihr Kaffee eine milchigbraune Farbigkeit hatte. Langsam nahm sie einen Schluck. Er schmeckte cremig und leicht nach Mokka. „Er musste büßen, dass er mich gerettet hat, oder man wollte ihn testen, wie sehr man ihm trauen kann. Egal, was es war, es hatte Konsequenzen für ihn. Und so wie’s aussieht, hat der Boss ein wenig seinen Einfluss geltend gemacht, damit man ihm nicht gleich öffentlich den Kopf abreißt… ginge es nach dem Triumvirat oder auch nach Gin, säße er bestimmt schon im Knast, zumindest aber wär ne polizeiliche Fahndung am Laufen. Hier wird allerdings nicht mal nach ihm gefahndet. Man bittet ihn lediglich um Kooperation.“ Das Kantinengemurmel und die Geräusche von klappernden Tellern gingen an ihr völlig vorbei. Sie hatte eine einigermaßen lange Nacht hinter sich, und trank gerade die dritte Tasse schwarzen Kaffee in kleinen Schlucken. Ihr gegenüber saß er, las die Zeitung. Sharon beobachtete jedes Zucken seiner Mimik; nicht, dass es davon viele zu sehen gäbe. Shinichi hatte sich beindruckend gut im Griff. Nach dem gestrigen Abend hatte er sich wohl einigermaßen von seinem Schock erholt, auch wenn er immer noch etwas blass war. Er wirkte weder niedergeschlagen noch erleichtert, sondern sehr… neutral. Ja, neutral war wohl das beste Wort, um das zu beschreiben, was sie sah. Die personifizierte Neutralität. Langsam blickte er auf. „Es ist… nicht so schlimm, wie ich dachte.“ Langsam reichte er ihr das Blatt, trank seinen Kaffee mit einem Zug leer. „Für Ran wohl trotzdem nicht angenehm, aber ich bin noch kein Mörder. Nicht mal wirklich tatverdächtig… wie kommt das…?“ Sharon lächelte hintergründig. „Kontakte.“ „Hm.“ Shinichi seufzte, schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. Dann fuhr er wieder hoch. „Und was ist jetzt mit Gin?“ „Um ehrlich zu sein, nichts. Der Status ist der gleiche wie gestern. Man hat ihn nicht abgezogen, er ist immer noch der Mann des Triumvirats – er und Absinth gehen ja sehr konform, was ihre Politik dich betreffend angeht. Das dicke Ende kommt bestimmt noch.“ Shinichi schluckte, starrte in seine Tasse. „Das dicke Ende kommt immer. Der Tag wird kommen… ich bin nur froh… dass Ran das nicht erfahren muss…“ Er schloss kurz die Augen, dann schaute er sie ernst an. „Ich würde nicht wollen, dass sie durch diese Hölle gehen muss… glauben muss, sie hätte sich so sehr in mir getäuscht, glauben muss, ich wäre ein Mörder… sie darf es nie erfahren. Wenn es passieren muss… dann soll wenigstens sie es nicht wissen. Ich werde ohnehin nie zu ihr zurückkommen… und für sie selber ist es besser, sie weiß von nichts. Wenn sie immer an den Shinichi Kudô glauben kann, den sie mal kannte…“ Er lächelte bitter, rührte langsam etwas Zucker in seinen Kaffee, hielt allerdings inne, als ihm der Geruch von kaltem Rauch in die Nase stieg. „Was willst du?“, fragte er, ohne aufzusehen. Sharon blickte gelangweilt auf, bewunderte Shinichi für seine Gelassenheit, bedachte dann Gin, der hinter ihm stand, mit einem fragenden Blick. „Yeah. Why are you disturbing our breakfast…?“ Gin bedachte sie mit einem kühlen Blick, der jedoch nichts war im Vergleich zu dem, der Shinichi galt, als der sich die Mühe machte, sich ebenfalls umzudrehen. Er wünschte ihm den Tod, das war nur zu deutlich in seinen Augen zu lesen. Shinichi hielt ihm stand. „Wir haben einen Job. Heute Abend, Shibuya. Der neue Deal.“ Mehr sagte er nicht, dann drehte er sich um und ging. Sharon schaute ihm nachdenklich hinterher. Dann wandte sie sich zu Shinichi, seufzte leise. „Das dicke Ende.“ Shinichi blickte auf, schaute sie an; dann stand er auf, verließ eiligen Schrittes den Frühstücksraum. Ihm war schlecht, ihm schwirrte der Kopf… und er musste nachdenken. Ein paar sehr unangenehme Gedanken wälzen, die sich ihm gerade wieder aufgedrängt hatten, beim Lesen dieses Artikels und dem Gespräch mit Sharon. Auf dem Balkon ihres Hotelzimmers auf Izu hielt sie die Zeitung in ihren zitternden Händen. Vor ihr stand Sonoko, einigermaßen aufgebracht, hielt ihr ihr Handy hin. „Ruf an. Um Himmels Willen, mir ist egal, wen - aber ruf an!!!“ Ran jedoch schien sie gar nicht zu hören. Shinichi Kudô auf der Flucht vor der Polizei? Das war die Schlagzeile über einem Archivbild von Shinichi. Darunter der Bericht. Shinichi Kudô wurde darin als Zeuge eines Mordversuchs aufgeführt, und laut der Zeitung unauffindbar zu einer Aussage. Ran schluckte schwer, las den Bericht immer und immer wieder, schüttelte nur den Kopf. „Da stimmt was nicht.“, murmelte sie leise. „Da stimmt was nicht.“ Sonoko ließ ihre Hand mit dem Handy sinken, stemmte sich stattdessen beide Fäuste in die Hüfte. „Warum?“, hakte sie dann widerwillig ein. „Was soll da nicht stimmen? Er hat einen Mordversuch gesehen und Schiss gekriegt. Vielleicht wollt er sich seine eigene Haut retten…?“ Leises Rascheln begleitete Rans Versuche, die Zeitung zusammen zu falten, bevor sie sie schließlich irgendwie gefaltet zur Seite legte und zu Sonoko aufsah. Der Wind fuhr ihr ins Haar, als sie den Kopf schüttelte. „Nein, Sonoko. Shinichi würde bei sowas nicht weglaufen, und das weißt du eigentlich genauso gut wie ich. Und erst Recht würde er sich nicht weigern, der Polizei für Auskünfte zur Verfügung zu stehen. Das geht hinten und vorne einfach nicht zusammen.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Irgendwas an dem Bericht stimmt nicht. Irgendwas mit Shinichi… stimmt nicht. Und wenn ich jemanden anrufe, dann werde ich aber bestimmt nur die gleichen Ausflüchte wie immer hören. Sie wissen, wo Shinichi ist, aber mir sagt keiner was. Sie wissen, genau wie ich, dass mit ihm was nicht stimmt! Der Professor kann so schlecht lügen, Sonoko…“ Sie lächelte bitter. „Dabei hätte er es doch so einfach. Ich würd ihm wirklich gern glauben, dass sich Shinichi nur wieder in einem Fall festgebissen hat. Aber so ist es nicht… er weiß das, ich weiß das. Er macht mir was vor, aber er tu‘ts so unüberzeugt und mit derart schlechtem Gewissen, dass er mir eigentlich schon Leid tut.“ Sie sackte zusammen auf ihrem Stuhl auf dem Balkon ihres Hotelzimmers, atmete langsam aus, strich sich über die Stirn. Sonoko ließ sich gegen die Brüstung sinken, schaute sie nachdenklich an. „Also warten…?“ „Was anderes bleibt mir nicht. Offensichtlich will man mich nicht da haben… und wenn ich nicht weiß, wo Shinichi ist, brauch ich mit der Suche nicht anfangen…“, murmelte Ran, lachte hilflos. „Er könnte ja überall sein… aber ich bin hier, und offensichtlich soll ich hier bleiben, damit ich ihnen oder ihm nicht in die Quere komme? Ich weiß es nicht.“ Ein Ausdruck großen Unwillens trat auf ihr sonst so engelhaftes Gesicht. „Aber eins darfst du mir glauben, wenn wir zurückkommen, dann dürfen sie sich was anhören, wie kommen sie dazu, derart zu entscheiden für und über mich! Ich bin kein kleines Kind mehr…!“ Sie seufzte entnervt, dann schlich sich wieder der Sonoko mittlerweile altbekannte, bedrückte und sorgenvolle Ausdruck auf Rans Gesicht, und sie wusste genau, wem ihr nächster Gedankengang galt. „Ich hoffe nur, das alles ist bald… vorbei. Und ich bete dafür… dass es ein gutes Ende nimmt.“ Sie schaute auf, blickte aufs Meer, wo die Strahlen der Morgensonne wie gefallene Sterne auf den Wellen tanzten, aber wirklich Sinn für dieses bezaubernde Bild hatte sie nicht. Was ist nur los… Was hast du diesmal angestellt,… Shinichi. Agasa, Heiji und Ai saßen schweigend am Küchentisch. Ai trank ihren Kaffee aus, blickte stumm in die leere Tasse. „Das alles, weil man ihn erkannt hat… weil er einmal nicht aufmerksam genug war, zu spüren, dass man ihn belauscht…“ Heiji schaute sie von oben herab an; unangenehme Gedanken hatten sich in seinen Kopf geschlichen und tanzten dort Polka, jedesmal, wenn er versuchte, sie zu ordnen. „Irgendwie hab ich das Gefühl, dass diese Geschichte kein gutes Ende nimmt…“, murmelte er leise, sank gegen seine Stuhllehne, ließ seinen Kopf nach hinten fallen, seufzte laut. Agasa wollte ihnen etwas entgegnen, als ein leises Motorengeräusch an ihre Ohren drang. Sie alle wandten sich um, schauten hinaus- und sahen den Wagen von Yusaku Kudô in seine Einfahrt einbiegen. Agasa wischte sich über seine Augen, seufzte. „Er war lange weg.“ Heiji, der ebenfalls der Geräuschquelle seinen Kopf zugewandt hatte, und Ai, die in ihre leere Tasse schaute, als würde sie im langsam festtrocknenden Kaffee die Antwort auf ihre Fragen finden, nickten nur. Der junge Detektiv seufzte. „Und was machen wir heut…? Was fangen wir an mit dem ganzen Tag…?“ Ai ließ sich vom Stuhl gleiten, während Heiji seinen Kaffee nun ebenfalls leerte. „Wir fahren nach Tottori und halten Ausschau. Oder?“ Sie warf dem alten Professor einen fragenden Blick zu. Der nickte nur, sah sie dabei allerdings nicht an, weil etwas anderes seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Er schaute aus dem Fenster, wo er drei Gestalten auf dem Gartenweg erspäht hatte, die auf ihrem Weg zur Tür waren. Die drei Agenten vom FBI näherten sich; auch in ihren Händen war eine Tageszeitung. Agasa stand auf, öffnete die Haustür. Die drei Agenten traten schweigend ein, setzten sich. Black warf einen Blick in die Runde, bemerkte dann die Zeitung auf dem Tisch. „Ah gut. Ihr… seid also schon im Bilde. Dann brauch ich euch nicht mehr informieren, diesbezüglich.“ Heiji, Professor Agasa und Ai nickten synchron. Jodie, die ihre Zeitung hielt, legte sie zu der auf den Tisch, schenkte sich nach einem kurzen, fragenden Blick zu Agasa eine Tasse Kaffee ein. Shuichi tat es ihr gleich. Black setzte sich an den Tisch, räusperte sich, zwirbelte seinen Bart. „Wir wissen auch die Hintergründe, haben die Polizei diesbezüglich schon informiert, ich muss sagen, ich hab ihren Kommissar ja noch nie derart excited erlebt. Ich fürchte, der gute Meguré war kurz vor einem Herzanfall, er konnte sich irgendwie nicht wirklich einen Reim auf die Sache machen, aber jetzt scheint soweit wieder alles geklärt.“ Er seufzte leise. „Kir hat vor einer Stunde bei uns angerufen, sie hat den Tathergang von Vermouth, die ihn wiederum von ihm…“, er nickte zur Zeitung, von der Shinichis Konterfei immer noch siegesgewiss in den leeren Luftraum über ihn grinste, „hat.“ Agasa, der sich mittlerweile auch wieder gesetzt hatte, beugte sich vor. Heiji, der seine Hände bis gerade in den Hosentaschen vergraben hatte, zog sie heraus, umklammerte die Stuhllehne. „Ja?! Und das heißt jetzt genau??“ Ein leicht amüsiertes Funkeln trat in die Augen des alten FBI-Agenten, als er den Eifer des jungen Mannes bemerkte, wurde aber sogleich wieder ernst. „Dass mit Gins Besuch hier gestern war eine Falle für unseren Mr. Holmes, in die er eigentlich nur tappen konnte. Nachdem sie alle wieder im Hauptquartier angekommen waren, hat Gin ihn auf Befehl des Triumvirats mitgenommen, zu den Klienten, das heißt, zu zwei von drei Klienten… mit denen gestern eigentlich der Deal stattgefunden hätte...mit dem Ziel, einen von ihnen zu töten, und Shinichi den Mord anzuhängen.“ Er seufzte. „Aber beginnen wir von vorn. Gin, Vermouth und… Armagnac… begeben sich nach Shibuya, zum Treffpunkt, wo die Übergabe stattfinden soll. Dort angekommen, warten sie vergebens auf die Klienten. Gin schlägt vor, sich aufzuteilen und nach ihnen zu suchen, eine Möglichkeit, um sich von den beiden abzusetzen. Tatsächlich hatte er im Vorfeld die Klienten informiert, auf eigene Faust, dass der Termin verschoben würde. Auf… heute Abend. Nun riechen Sharon und Shinichi den vermeintlichen Braten, kommen hierher, retten uns, beziehungsweise dich, junge Dame,“ seine Augen schwenkten kurz in Ais Richtung, „und flüchten. Im Hauptquartier angekommen, verabschiedet sich Sharon, Shinichi bleibt allein.“ Er hielt inne, bat um ein Glas Wasser. Ai sprang vom Stuhl, um es ihm zu besorgen, schaute ihn dabei nicht an. Er ahnte, warum sie so reagierte. Sie gab sich die Schuld, schließlich war sie es gewesen, die man gestern hatte retten müssen. Es stand zweifellos fest, was mit ihr passiert wäre, hätte Gin sie allein gefunden, egal ob Falle oder nicht. Hätte Gin die Gelegenheit bekommen, sie als Sahnehäubchen dieses Coups noch mitzunehmen, hätte er es getan. Langsam trank er einen Schluck, bemerkte, wie wohl es tat, seine ausgetrocknete Kehle zu befeuchten. Das Schicksal des jungen Detektiven und auch das des kleinen Mädchens vor ihm ließ ihn nicht kalt, auch wenn er sich stets gut unter Kontrolle hatte. „Das Triumvirat, das nun den Beweis für seine Illoyalität in den Händen hat, beschließt, ihm den gesellschaftlichen Todesstoß zu geben - und zwar umgehend…“, übernahm nun Akai, der an der Kühlschranktür lehnte, das Reden. „Es wird keine Zeit verloren; Gin und Shinichi fahren also zu den Klienten. Im Zuge des Gesprächs haben die beiden, ein Vater und seine erwachsene Tochter, ihn erkannt; was, im Nachhinein gesehen, ja Sinn und Zweck der Übung war. Gin schoss auf die Tochter, trug dem Vater auf, Shinichi als Täter zu nennen und ließ ihn allein zurück. Sharon hat ihn aufgegabelt, kurz bevor der Notarzt kam, den Shinichi noch gerufen hatte. Man… will ihn offensichtlich wirklich gründlich ruinieren. Vermouth muss dem Boss wohl nahe gelegt haben, dass ein wegen Mordversuchs gesuchter Kudô der Organisation nicht gut tut, oder aber er hat das selbst erkannt, anders kann ich mir diesen Artikel nicht erklären. In der Organisation wird offensichtlich an zwei Fronten gekämpft, was uns eigentlich zum Vorteil gereichen könnte.“ Er nickte zu den Zeitungen auf dem Tisch. „Sie hätten ihn umbringen können.“, murmelte Jodie und sprach damit aus, was Ai sich dachte. „Ja.“, James nickte. „Allerdings, wie Kir auf meine Bemerkung diesbezüglich meinte, würde sie das kaum verwundern, dass man das nicht gemacht hat… wozu hätte man ihn denn dann überhaupt am Leben gelassen? Ihnen, oder besser dem Boss, muss was an ihm liegen… er rettet ihm jedes Mal wieder seinen Kopf. Und das Triumvirat ist mittlerweile soweit, entweder gegen ihn oder gegen den Boss oder gegen beide… einen derart großen Hass zu schüren, dass ihnen eine einfache Kugel in seinem Kopf offensichtlich nicht mehr ausreicht. Sie wollen ihn ruinieren, und damit alle, die etwas mit ihm zu tun haben. Wenn eine solche Lichtfigur wie Shinichi Kudô es war und immer noch ist, derart abstürzt, dann bleibt das nicht ohne Konsequenzen für sein Umfeld.“ Heiji schluckte, verschränkte die Arme vor der Brust, blickte stur zu Boden, dachte nach. „Der Boss ist jemand, der ihn kennt. Jemand aus seinem Umfeld.“ James Black lächelte leise. „Ja, soweit sind wir auch, das zu glauben. Gut geschlussfolgert. Im Übrigen sind wir nicht die einzigen, die das glauben… Herrn Moris Frau glaubt das auch, sie teilte es uns gestern Abend mit, und sie scheint mir eine durchaus intelligente und scharfsinnige Frau zu sein… wir sind uns also einig.“ Langsam glitt ihm das Lächeln von den Lippen. „Nur stellt sich nun die unerfreuliche Frage… who is it? Es könnte… jeder von uns sein… eigentlich. Denn wen… wen kennt er denn sonst so gut? Oder wer kennt ihn so gut, außer uns…“ Shinichi lief Kreise, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, dachte nach. Zermarterte sich sein Hirn nach allen Regeln der Kunst. Es gab zu viele Fragen, mittlerweile. Gestern Abend hatte er gedacht, sein Leben wäre vorbei. Shinichi Kudô war ein potentieller, gesuchter Mörder geworden, in Sekundenbruchteilen. Heute sah alles ganz anders aus; und das konnte nur deshalb geschehen sein, weil jemand seine Finger im Spiel hatte. Jemand Mächtiges. Jemand, an dessen Fingern eine Menge Fäden hingen, mit denen er andere tanzen ließ wie Marionetten. Ein Strippenzieher. Nur so konnte er es sich erklären, dass er heute noch kein Geächteter war. Nun stellte sich die Frage- welches Interesse hatte dieser Jemand daran, ihm, wie auch immer, zu helfen? Und wer war dieser jemand? Außer Frage stand für Shinichi, wer dieser Jemand war… der Boss. Ja. Er allein konnte dafür mächtig genug sein. Allein das Gin gerügt worden war… konnte nur vom Boss kommen. Keinesfalls vom Triumvirat; denen hatte Gins Aktion wohl eher gefallen. Also der Boss… Dass er es gewesen war, leuchtete ein. Schließlich versuchte der Boss, seit er hier war, ihm das Leben zu retten, warum auch immer. Es begann damit, dass man ihm auf seinen Befehl hin das Gegengift gab, was hirnrissig war; man hätte ihn als Kind genauso gut foltern und töten können, wenn nicht noch besser. Nein. Nach allem, was bisher passiert war, war Shinichi sich sicher, der Boss hatte ihm seinen Körper wiedergeben wollen… um ihm einen Gefallen zu tun. Gut, er hatte ihn damit fast umgebracht, aber – Was soll’s. Man kann nicht alles haben, nicht jedes Risiko eliminieren. Punkt zwei war so offensichtlich wie gewagt; die Rettungskation in der Folterkammer. Hier hätte er sterben müssen! Eigentlich. Dieser Tag wäre sein Todestag geworden. Gin hatte die Waffe schon im Anschlag gehabt, Absinth den Befehl schon gegeben…! Nur ein Telefonat hatte ihn vor der Hinrichtung bewahrt… ein sehr folgenschweres Telefonat, und mittlerweile wünschte er sich immer öfter, es wäre nie geführt worden. Und dieses Telefonat war es auch gewesen, das so unendlich viele Fragen aufwarf. Cognac hatte ihm das Leben gerettet und es ihm gleichzeitig zur Hölle gemacht. Er drohte ihm damit, Ran zu töten, wenn er nicht gehorchte, und von Sharon wusste er, dass er über Ran Bescheid wusste; dass die Drohung keinesfalls leer war. Shinichi schluckte, fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, durch die Haare, blieb stehen. Der Boss kannte Ran. Und er wusste, dass er selber für Ran alles tun würde. Er kannte ihn… Das war sicher. Und offenbar war er ihm ähnlich, wie geartet auch immer diese Ähnlichkeit war; man hatte gesehen, was es Absinth für ein Vergnügen gewesen war, ihm das unter die Nase zu reiben. Sah er ihm ähnlich? War er ihm vom Wesen her ähnlich, vom Charakter? Wenn ja… wollte er das denn? Der Boss war ein Mörder. Sicherlich wollte er keinem Mörder charakterlich ähneln. Shinichi seufzte, ein sarkastisches Lächeln huschte über seine Lippen, verschwand, so schnell wie es gekommen war. Er wusste es nicht, aber was es auch war, worin diese Ähnlichkeit bestand… es behagte ihm nicht. Und daraus ließ sich wohl auch dieser Satz erklären… „Es ist eine Gnade für dich, dass du unwissend sterben darfst.“ Shinichi murmelte die Worte leise, legte seine Stirn in Falten. Tu dir einen Gefallen, frag nicht weiter… Wie Sharon schien auch Absinth der Ansicht zu sein, es wäre eine… Gnade… für ihn, nicht zu wissen, wer der Boss war… Warum? Würde ihn dieses Wissen kaputtmachen? Was sonst… warum sonst sollte es denn eine Gnade sein? Es musste jemand sein, bei dem es ihn schwer treffen würde, wenn er wüsste, dass er der Chef dieser Organisation war… Also doch jemand, der ihm nahestand…? Sharon allein war in der Beziehung ja ohnehin sehr seltsam. Sie wurde nervös, wenn das Gespräch auf den Boss kam; wenn er Fragen stellte, nach ihm, seiner Identität. Die Reaktion auf seine Mutmaßungen war allzu deutlich gewesen… sie war vor ihm geflohen, regelrecht. Egal wer der Boss war; das Wissen um seine Identität musste ihn wohl erschüttern. Shinichi ließ seine Hände sinken, verschränkte sie vor der Brust, starrte mit leerem Blick und zusammengepressten Lippen auf den Boden. Er dachte an gestern. Seine Mutmaßung, was… Als er gemeint hätte, es könne nicht mehr schlimmer werden, selbst wenn der Boss sein Vater wäre, hatte sie wirklich nur wegen Scotch so erschrocken geschaut? Er hielt die Luft an. Warum sollte sie sich vor Scotch erschrecken? Vermouth, eins der hochrangigsten Mitglieder hier überhaupt, eine Serienkillerin, eine wahre femme fatale… vor einem halbidiotischen Wissenschaftler… erschrecken? Lachhaft, eigentlich. Aber… Sie war regelrecht entsetzt gewesen. Shinichi hob die Hand, presste den Handballen gegen seine Stirn, begann ihn gegen seinen Kopf zu hämmern. Nein. Sein Vater war in Japan. Nein, nein… Und er schrieb Bücher über einen Baron der Nacht. Über einen Mörder. Shinichi ächzte, starrte mit aufgerissenen Augen auf den Boden, schüttelte langsam den Kopf. Er wollte sich weigern, seine Gedanken von gestern Abend noch einmal hervorzukramen, er war doch verwirrt gewesen, hatte doch neben sich gestanden, als er die Auslage in dem Buchladen angeschaut hatte, er hatte doch nicht gewusst, was er sagte… Er war doch total fertig gewesen, unfähig zu einem klaren Gedanken, wegen dieser Rettungsaktion… Er hatte doch nicht klar denken können… er war doch unzurechnungsfähig gewesen… Ja… Der Baron der Nacht ist ein Verbrecher. Shinichi presste die Augen zusammen. Hör auf, das zu denken! Drehst du jetzt durch, oder was? Du kennst deinen Vater seit neunzehn Jahren, es wär dir oder deiner Mutter doch aufgefallen, wenn er ein Schwerverbrecher wäre… Er öffnete die Augen wieder, atmete ein und wieder aus, versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Er dachte wirres Zeug. Kein Wunder, bei dem, was er momentan durchmachte. Vielleicht gab ihm doch einer irgendwelche Drogen hier. Es war alles möglich… Aber sein Vater, sein eigener Vater, war nie im Leben der Boss der schwarzen Organisation. Denn dann hätte er bestimmt nicht so einen Sohn wie ihn bekommen. Er wäre doch nie zu so einem Moralapostel, zu einem Verfechter der Gerechtigkeit, zu einem Detektiven geworden… wäre sein Vater einer der gefürchtetsten Schwerverbrecher Japans. Shinichi lachte auf. Allein der Gedanke war absurd. Absurd! Absolut lächerlich. Aber… Warum schreibt mein Vater, der doch selber Detektiv sein könnte, Bücher über einen Mörder? Warum schreibt er nicht über einen Detektiv? Shinichi unterdrückte seinen Würgereiz. Er bekam diese Gedanken nicht aus seinem Kopf. Sein Name war Armagnac. Der Boss hieß Cognac. Zwei verwandte Weinbrandsorten… Auch das würde darauf hindeuten, dass… Nein. Er fantasierte sicher nur. Bestimmt war das nur eine perfide Methode des Bosses, ihn zu täuschen und zu quälen. Bestimmt. Sein Vater- der Boss?! Nein. Er lachte bitter, schüttelte den Kopf. Nein. Er kannte doch seinen Vater! Der würde ihm das hier doch nie antun…! Niemals! Langsam ließ er sich auf sein Bett sinken. Wäre sein Vater der Boss, und würde er ihn lieben, und den Eindruck hatte er eigentlich schon; dass seine Eltern ihn doch gern hatten… hätte er doch schon längst versucht, ihn von der Sache abzuziehen. Ihm irgendwie das Gegengift beschafft und ihn auf andere Spuren gebracht. Genau genommen hat er das auch versucht… Und das Gegengift… ist vielleicht gerade erst fertig geworden. Shinichi schüttelte erneut den Kopf. Nein! Sag mal, was tust du! Bist du völlig bescheuert, sowas darfst du gar nicht denken! Diesen mickrigen Versuch, ihn davon zu überzeugen, dass Interpol die Sache übernehmen sollte und er mit ihn die Staaten kommen sollte, konnte man doch nicht als ernsthaften Versuch bezeichnen, ihn hier wegzubringen. Er kaute auf seiner Unterlippe herum, durchfurchte seine Haare mit seinen Fingern. Nein. Gut, es traf erstaunlich viel zu; sein Vater kannte ihn wohl neben Ran und Agasa am besten; er kannte Ran, wusste, dass er sie liebte, über alles. Aber… er würde Ran doch auch nicht in solche Gefahr bringen! Niemals! Sein Vater war Autor und schrieb über einen Verbrecher, und wenn schon?! Und überhaupt war er nicht der einzige Autor, der über einen Verbrecher schrieb. Arsène Lupin war auch als Dieb der Protagonist bei Leblanc, nicht der Detektiv. Das war nun wirklich nichts, woraus man ihm einen Strick drehen konnte! Er konnte schreiben, worüber er wollte! Shinichi lachte triumphierend auf. Außerdem - Sharon würde doch ganz anders austicken, wenn Yusaku der Boss wäre… immerhin kannte sie ihn, seinen Vater! Und seine Mutter! Genau genommen haftete ihr der Ruf seines Lieblings an… wie konnte da sein Vater der Boss sein… welche Art von Liebling wäre sie denn…? Er verzog das Gesicht. Nein. Ausgeschlossen. Mochte sein, dass es jemand war, den er kannte, aber… Aber doch nicht sein Vater… Das alles waren doch keine stichhaltigen Beweise! Er stand wieder auf, die Fäuste in die Hosentaschen gerammt, lief im Kreis. Allein der Gedanke daran war verrückt. Es gab keinen Beweis, das waren alles nur Mutmaßungen eines total übermüdeten, überreizten und strapazierten Hirns, nichts anderes. All diese Hinweise trafen auch auf andere zu. Selbst ähnlich sein konnte er auch wem anderes. Es gibt viele Arten, jemandem zu ähneln. Shinichi seufzte, hörte auf, auf seiner Lippe zu beißen, als er Blut schmeckte, atmete langsam aus. Nein. Er ist es nicht. ER ist es nicht! Es musste irgendjemand sein, den er kannte, der ihn kannte. Es konnte jemand vom FBI sein. Oder von der Polizei. Sogar Agasa, auch wenn er das für unwahrscheinlich hielt. Aber nie im Leben sein Vater. Schon aus einem Grund nicht… weil er sein Vater war. Shinichi schluckte. Sein Vater hätte ihm dieses Leben hier nicht eingebrockt… Den stichhaltigsten Punkt der dieses Argument entkräftete, verbannte er nach ganz hinten in seinen Kopf. Er hatte ihm das Leben gerettet. Nur wegen dem Boss lebte er noch… Eine andere Möglichkeit als dieses Leben hier gab es nicht, um ihn vor dem Tod zu bewahren. Müde wischte er sich über die Stirn, fühlte sich irgendwie ausgezehrt, hohl. Diese Denkerei trieb ihn in den Wahnsinn. Und der Gedanke an den heutigen Abend auch. „Ja. Der Gedanke kam uns auch… deshalb hielten wir es für das Beste, heute nochmal nach Tottori zu fahren, um dort noch einmal zu suchen… vielleicht finden wir ja jemand bekannten in der Nähe, auch wenn… uns alle das als Täter wohl selber noch nicht ganz ausschließt; aber je länger wir zusammenbleiben, desto eher können wir uns ausschließen, denn sobald der Boss den nächsten Schritt macht, und keiner von uns sich auffällig verhalten hat, können wir uns ausschließen. Und Shuichi wird nach Izu fliegen… zu Ran. Für den Fall der Fälle… dass man sie angreift.“ Heiji blickte auf. „Klingt vernünftig.“, murmelte er. „Habense schon einen Verdacht, wer’s is?“ Black schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht. Wir können konkret keinen benennen… wir könnten es alle sein… und keiner von uns. Aber der Boss der Schwarzen Organisation kennt ihn definitiv zu gut, um nur Außenstehender zu sein, und mir fällt auch kein anderer Grund ein, warum man ihn so unbedingt am Leben lassen will, dort, wenn einem nicht persönlich was an ihm liegt.“ Ai und Agasa nickten. Shuichi leerte seine Tasse, stieß sich von der Kühlschranktür ab. „In diesem Sinne würde ich dann auch von hier verschwinden. Ich muss den Flieger kriegen.“ James nickte nur, während Jodie seinen Arm kurz drückte. „Mach ihr keine Angst and be a nice guy, yes, Shu?“ Sie versuchte ein Lächeln, aber aus ihren Augen sprach die Sorge. Shuichi schaute sie unbewegt an. „Bin ich nicht immer ein netter Junge, Jodie?“, meinte er trocken, ehe er sich umwandte. Black schmunzelte leicht, dann wandte er sich zu den anderen dreien wieder um. „Nun, ich würde sagen, wir teilen uns auf. Sie, Professor, würde ich mit Ai auf die Suche schicken, Heiji, du kommst mit uns…“ Die Türklingel unterbrach seinen Redefluss. Ai und der Professor tauschten erstaunte Blicke, dann sprang Ai erneut vom Stuhl, um die Tür zu öffnen. Wenige Sekunden später wurden Kinderstimmen laut. Dann drang Ais Stimme an ihre Ohren. „Hört zu, das ist lieb von euch, aber…“ „Wir wollen auch suchen!“ Ayumis fiepsiges Stimmchen war erstaunlich laut. „Wir wollen auch helfen! Wir sind auch Conans Freunde! Du willst doch nicht sagen, ihr habt die ganze Zeit nur die Hände im Schoß gefaltet, du und der Professor!“ Genta klang verärgert. „Und überhaupt ist es unsere Pflicht als Detectiveboys, diesem Verbrechen auf die Spur zu gehen! Conan hätte sicher von uns erwartet…“ Die vier Erwachsenen in der Küche verdrehten die Augen. „Die habn‘ gerade noch gefehlt.“, murmelte Heiji genervt. Damit quollen sie durch die Küchentür, blieben erstaunt stehen. „Conan hätte sicher nich‘ von euch gewollt, dass ihr euch in Gefahr begebt, ihr Landplagen.“, bemerkte Heiji unfreundlich. Die drei Kinder schienen seine Worte nicht zu hören; wenn sie sie doch wahrnahmen, so übergingen sie sie geflissentlich. Stattdessen bestürmten sie James Black und Jodie Starling mit Vorwürfen. „Warum haben Sie sich nicht bei uns gemeldet?“ „Sagen Sie nicht, Sie hätten nicht nach Conan gesucht!!“ „Das glauben wir Ihnen nämlich nicht! Sie wollten uns nur nicht dabei haben!“ „Wir wissen genau, was Sie von uns denken!“ „Dass wir Kinder sind!“ „Genau!“ „Jawohl!“ „Dass wir bei so einer Suche nichts zu suchen haben!!!“ „Genau!“ „Jawohl!“ „Da irren Sie sich aber! Wir sind die Detective Boys, und wir finden es gemein, dass sie uns nichts gesagt haben! Uns nicht mitgenommen haben! Wir sind Conans Freunde, wir machen uns Sorgen!“ „Genau!“ „Jawohl!“ „Und egal, wo Sie heute hingehen, wir kommen mit!!!“ „Genau!!!!!!!!“ „Jawohl!!!!!!!!“ Ayumi hatte sich wahrlich in Rage geredet, während Mitsuhiko und Genta ihre kleine Freundin tatkräftig unterstützt hatten. Ai stand hinter ihnen, schwieg beeindruckt, während Jodie und James leicht überrumpelt schienen. „Hey hey… calm down, Bakerstreet Irregulars… ihr dürft heute mitsuchen.“ Etwas nervös wischte sich der betagte Engländer sich den Schweiß von der Stirn, warf seiner jungen Mitarbeiterin einen kurzen Blick zu. Sie nickte geschlagen. „Gut...“, murmelte er dann leise. „Dann teilen wir uns auf.“ Nachdenklich strich er sich über seinen Bart. „Jodie, du fährst mit dem Professor und der kleinen Ai. Ich fahre mit dir…“, er nickte Heiji ernst zu, „und mit euch.“ Er wagte ein großväterliches Lächeln, als er zu den Kindern blickte. Drei sehr entschlossen dreinblickende Kindergesichter schauten zu ihm auf. „Good.“, schloss er dann. „We have no time to loose. Lasst uns aufbrechen.“ Während also sich die Gruppe um Jodie und James Black auf den Weg machte, saß Kogorô Môri in der Wohnung seiner Frau und hörte ihr zu. Er hatte Eri selten so aufgebracht erlebt; sie rannte vor ihm auf und ab, und redete ohne Unterlass. Mittlerweile war er soweit, verstanden zu haben, dass sie die Zeitung gelesen hatte und kein Wort glaubte. Schließlich blieb sie vor ihm stehen, still. Er hob den Kopf, schaute sie an. „Und was denkst du nun, Eri?“ Sie seufzte, ließ sich in den anderen Sessel sinken, nickte. Dann schaute sie ihn an. „Ja. Ich denke wirklich, diese Organisation gibt es und sie ist ziemlich groß, auch wenn man kaum Beweise findet… Aber Himmel, Kogorô… wenn diese Organisation wirklich so skrupellos ist, so grausam… wie könnt ihr glauben, ihr kriegt ihn da heil wieder heraus…? Ich mein, du siehst es ja…“ Sie hob die Zeitung hoch, schwenkte sie vor seiner Nase energisch herum, so heftig, dass er ein wenig zurückwich, unwillkürlich. „Die sind verdammt gut. Ich denke, das hier hätte eigentlich anders ausgehen sollen, und eigentlich bestätigt mir dieser Artikel, dass er da drin einen wirklich guten Freund hat.“ Sie lächelte zynisch, seufzte dann, ließ sich gegen die Tischkante sinken. „Nichtsdestotrotz, das ist zu viel… egal wer er ist, wer… der Boss ist, er wird ihn nicht immer beschützen können, er wird ihn nicht retten können. Shinichi wird draufgehen, auf irgendeine Weise. Es wird Ran das Herz brechen, aber ich glaube nicht daran, dass wir ihn nochmal lebend wieder sehen werden. Und selbst wenn er überlebt... das heißt, wenn er es schafft, sich für Ran zum Verbrecher zu machen… wenn es wirklich dazu kommt… und er jemanden töten muss, um sie zu schützen, glaubst du, er lässt sich hier nochmal blicken?“ Sie hielt die Zeitung erneut in die Höhe, ließ sie dann wieder sinken, seufzte. Kogorô schüttelte den Kopf. „Nein.“ Er seufzte. „Nein… aber irgendwie hab ich das Gefühl, dass wir ihn wiedersehen. Über kurz oder lang. Ich denke nicht, dass er sein Leben so zu Ende gehen lässt…“ Langsam setzte er sich weiter auf, lehnte seine Unterarme auf seine Knie, faltete seine Hände. „Er ist nicht der Typ dafür. Es kommt mir vor wie bei Conan… er war gezwungen, so zu sein, aber abgefunden hat er sich damit nicht.“ Eri warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. „Du magst ihn.“ Kogorô seufzte, schaute zu Boden, sagte nichts. „Soweit man mich informiert hat, schickt man heute einen FBI-Agenten zu Ran, um auf sie aufzupassen. Die Lage scheint sich zuzuspitzen.“ Damit stand er auf, nickte ihr zu, verließ ihre Wohnung. Kapitel 17: Wahrheit -------------------- Ja, Leute, glaubt es ruhig- ich lebe noch! ^.~ Nein, ernsthaft- es tut mir unendlich Leid, euch so lange ohne Kapitel gelassen zu haben, aber ich hatte irre viel am Hals in den letzten Wochen. Ich hoffe, ab jetzt wieder wöchentlich laden zu können, aber nagelt mich nicht fest- auf jeden Fall aber dürfte hiermit die lange Zeit der langen Pausen beendet sein. Entschuldigt nochmal, bitte; Schande über mein Haupt. Dafür geht es mit Riesenschritten in Richtung Boss- ein paar werden es nach diesem Kap wissen; andere sicher nach dem nächsten. Bitte tut mir nichts *lacht* Ich hab mir das gut überlegt und hoffe, der Schock hält euch nicht vom Weiterlesen ab! Liebe Grüße, eure Leira :) _______________________________________________________________________ Kapitel 17: Wahrheit Im Konferenzraum des Polizeidezernats Tokio saßen Kommissar Meguré und die Inspektoren Takagi und Sato zusammen mit jeder Menge Kaffee an einem Ende des runden Tisches und ordneten Informationen, hielten den Stand der Dinge fest. Auch sie waren bereits heute Morgen über die neuesten Entwicklungen informiert worden, und sie waren davon ähnlich begeistert wie alle anderen. „Es ist zum verrückt werden…“, jammerte der Inspektor, blickte auf seine Notizen. Takagi zerzauste sich das Haar mit beiden Händen, was ihm einen schrägen Blick seiner Angebeteten und einen Stoß ihres Ellenbogens in seine Seite einbrachte. „Nun lass dich mal nicht so hängen, Takagi!!!“ Meguré schaute von einem zum anderen, enthielt sich jedoch eines Kommentars, sondern ging nochmal die Fakten durch. Er kam nicht umhin, Takagi in gewisser Weise zuzustimmen. Shinichi Kudô hatte sich wirklich in unglaubliche Schwierigkeiten gebracht. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass heute etwas passieren würde. Etwas… das Bewegung in die Sache brachte. Er wusste nur nicht… ob es etwas Gutes oder Schlechtes war. Dann räusperte er sich vernehmlich, um die Aufmerksamkeit seiner Mitarbeiter auf sich zu ziehen. Die beiden Inspektoren hörten sofort auf, sich miteinander zu streiten, und blickten ihren Vorgesetzten diensteifrig an. „Ja, Chef?“, hakte Takagi nach ein paar Momenten des Schweigens schließlich nach. Der Kommissar seufzte, strich sich über seinen Bart. „Wir fahren heute da hin.“ Sato starrte ihn an. „Da hin?“ „Ja. Da hin.“, nickte Meguré. Takagi seinerseits verstand nur Bahnhof. „Wohin?“, wagte er leise zu fragen, fing sich einen leicht genervten Blick von Sato ein. Der Kommissar seinerseits seufzte leise. „Nach Shibuya, Takagi. Wir werden diesen Deal beaufsichtigen und gegebenenfalls einschreiten.“ „Aber…“, wandte der junge Inspektor unbehaglich ein, wurde allerdings sofort unterbrochen. „Kein aber. Wir müssen etwas tun, das ist unsere Pflicht. Wir sind doch nicht hier, um nur Däumchen zu drehen! Leute werden fast umgebracht, Kudô ist in den Händen dieser Verbrecher- verdammt, wir können doch nicht ständig untätig herumsitzen!! Für was sind wir Polizisten?!“ Er war laut geworden, lauter als er beabsichtigt hatte, aber es kümmerte ihn wenig. Schwungvoll knallte der Polizeischef seine Kaffeetasse auf den Tisch, so hart, dass der frisch gebrühte und daher kochend heiße Kaffee aus dem Becher schwappte und sich über seine Hand ergoss. Megure biss die Zähne aufeinander, fluchte leise und zog ein Taschentuch aus seinem Jackett. „Wir fahren da hin. Wenn etwas ist, dann greifen wir ein, ich lass nicht zu, dass sie das mit Kudô anstellen. Was für ein Kommissar wäre ich denn dann?! Ich denke, wenn das FBI jetzt nach Ran sieht, ist sie sicher genug und wir können uns das erlauben.“, brummte er unwirsch, trocknete seine Hand ab und wischte den Kaffee vom Tisch. Sato nickte ernst. Ihr war es ohnehin viel zu langsam gegangen. Takagi murmelte ebenfalls leise seine Zustimmung. Meguré seufzte, schaute von einem zum anderen. „Verdammt nochmal, ich kann doch Yusaku und Yukiko kaum noch in die Augen sehen…! Nicht so…! Nicht, wenn ich hier sitze, meine Hände im Schoß verschränke und nichts tu… nichts tu, für ihren Sohn… vielleicht ist das heute Nacht unsere letzte Chance, da einzugreifen…“ Takagi seufzte, räumte seine Notizen zusammen, während Sato ihren Vorgesetzten nur stumm anstarrte. Sie konnte nur ahnen, wie sehr ihn das mitnahm. Es dämmerte gerade, die Sonne versank dramatisch im Meer, zog wie fast jeden Abend zu dieser Jahreszeit auf Izu, eine pompöse Show ab. Shuichi Akai war gerade aus dem Flugzeug gestiegen und winkte nun nach einem Taxi, nannte dem Fahrer die Adresse des Hotels, in dem Ran und Sonoko wohnten, und stieg ein. Das Meer zog an seinem Fenster vorbei, aber er sah die Schönheit der prächtigen Farben und des glitzernden Wassers nicht. Sie interessierten ihn einfach nicht. Die Sonne würde auch morgen wieder untergehen, aufhalten konnte er das ohnehin nicht. Dementsprechend beeindruckte ihn dieses Naturschauspiel nicht im Geringsten. Seine Gedanken waren woanders… nicht auf Izu. Auch nicht in Tokio. Genau genommen war der Ort, an den seine Gedanken jetzt hinwanderten, nicht auf dieser Welt - sondern in seinem eigenen Kopf. Nur in seinem Kopf. Er dachte an Akemi. An ihr Lachen, an das Funkeln in ihren Augen. An ihre Lebendigkeit, ihre Fröhlichkeit, ihr Licht, das so viel heller gestrahlt hatte als die Sonne… so hell, dass es sogar sein Leben erhellt hatte. Und er dachte an diesen rabenschwarzen Tag, als man ihm gesagt hatte, dass sie ermordet worden war. Von Gin. Das war der Tag gewesen, an dem er seine Haare abgeschnitten hatte. Er zog eine Zigarette aus der Schachtel in der Tasche seiner Lederjacke, ignorierte den leisen Protest des Taxifahrers, zündete sie an, zog ruhig an ihr. Akemi war durch Gins Hand ermordet worden. Und im Beisein von Shinichi Kudô war sie gestorben. Es war an der Zeit, dass sie sich alle wieder trafen, am Besten sie alle drei; es wurde Zeit, dass Gin dafür bezahlte, was er getan hatte. Ein Leben für das andere. Aber zuerst… zuerst musste er Ran beschützen. Ran Môri, die seiner Akemi so erstaunlich ähnlich war. Das Mädchen, für das Shinichi Kudô sterben würde. Soweit sollte das nicht kommen… man sollte das nicht testen müssen. Gedankenverloren zog er an seiner Zigarette. Dieses Paar sollte erleben, was ihm und Akemi nicht vergönnt gewesen war, und er würde dafür Sorge tragen, würde alles tun, was in seiner Macht stand, dessen war er fest entschlossen. Er wusste, dass auch Akemi das so gewollt hätte. Als der Taxifahrer nach circa einer halben Stunde leise schimpfend über ignorante Raucher und Fahrgäste vor dem Hotel hielt, bezahlte er ihm den Betrag, den er ihn nannte und stieg wortlos aus. Mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen schritt er den Weg entlang zum Eingangstor des Hotels, ohne sich groß um seine Umgebung zu kümmern, und doch behielt er alles im Auge. Er würde aufpassen, dass ihr nichts passierte. Verlass dich drauf, Kudô. Er wusste, Shinichi hatte es versucht, bei Akemi… dass er es nicht geschafft hatte, war nicht seine Schuld. Er hatte diesmal die bessere Ausgangssituation, und er würde Ran beschützen. Ein bitteres Lächeln glitt über seine Lippen, als er durch das Tor schritt. Koste es, was es wolle. Müde stapften die drei Kinder hinter James und Heiji her. Die beiden älteren drehten sich um, warteten, bis sie aufgeholt hatten, warfen sich besorgte Blicke zu. Die Kinder wussten es immer noch nicht… wussten immer noch nicht, nach wem sie eigentlich suchten. Nicht nach Conan. Sondern… nach Shinichi Kudô. Heiji seufzte leise, stemmte die Hände erschöpft in die Hüften, ließ seinen Kopf in den Nacken fallen und beobachtete den Stand der Sonne. „‘s wird bald anfangen zu dämmern.“, bemerkte er dann leise. Neben ihm raschelten verrottende Blätter auf dem Boden, als die Grundschüler sich um ihn scharten. „Wir sollten wohl langsam zum Auto gehen…“, meinte der FBI-Agent und sah in die müden, aber nichtsdestoweniger entschlossenen Gesichter ihrer jungen Mitstreiter. „Aber…!“, begann Mitsuhiko. „Sollten wir die Sonne nicht noch ausnutzen?“ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Es ist bestimmt noch ungefähr eine Stunde hell!“ Heiji seufzte leise. Er musste gestehen, irgendwie wollte er auch noch nicht aufgeben; irgendwie hatte er das Gefühl, dass heute noch etwas passierte, und sie in der Nähe sein sollten, wenn es geschah. Langsam hob er die Hand, zog sich seine Kappe tiefer ins Gesicht. „Schön. Bis Sonnenuntergang. Aber dann is Schluss. Ende Gelände, Freunde.“ Die Kinder nickten, wenn auch widerstrebend. Er wandte sich zu James um. „Ich hoffe, das is‘ Ihnen Recht…? Aber ich kann einfach auch noch nich‘ gehen… und außerdem glaub ich, dass auch der Professor und Jodie noch bis zum letzten Sonnenstrahl suchen werden…“ Der alternde FBI-Agent schaute ihm mitfühlend ins Gesicht. „Ihr seid wirklich gute Freunde, was…?“ Heiji nickte zögernd, schaute dann entschlossen auf. „Ja. Aber sagen Sie mir, was für ein Freund, egal ob wirklich gut oder nich‘, wäre ich, ihm da nicht helfen zu wollen? Ich bin bereit, jeden verdammten Stein und jedes noch so kleine Blatt in diesem verdammten Wald umzudreh’n, um Sh… schnell…“, er stotterte kurz, warf einen unsicheren, nervösen Blick auf die Kinder, „um so schnell wie möglich unseren kleinen Freund zu finden.“ Er wandte sich ab, atmete aus. Das war knapp, Hattori. James warf ihm einen mitfühlenden Blick zu, legte ihm verständnisvoll die Hand auf die Schulter. „Well, then… suchen wir weiter.“, stimmte er zu und setzte sich wieder in Bewegung, wachsam wie ein Luchs; sie suchten schließlich nicht nur nach Shinichi Kudô… sie durften auch nicht vergessen, dass sie ihm Hoheitsgebiet des Feindes waren - und der Feind war mächtig. Auf der der Straße näheren Seite des Waldes erging es Jodie, Agasa und Ai nicht unähnlich. Jodie lehnte an einem Baum, nahm einen Schluck aus ihrer Trinkflasche, während sich der Professor kurz auf einem Felsen ausruhte. Einzig und allein Ai hielt ihre Augen offen, gönnte sich keine Ruhe, ging immer wieder zu einer Stelle, untersuchte sie und wandte sich enttäuscht ab, wenn es sich doch um eine Täuschung handelte. Auch sie hatten gerade beschlossen, die Suche noch bis zum Einbruch der Dunkelheit fortzusetzen; danach wollten sie mit dem Auto noch die angrenzenden Straßen absuchen. Falls Shinichi die Flucht gelänge, so hofften sie, würde er die Straße suchen, um sich an ihr zu orientieren. In der Dunkelheit durch den Wald zu irren wäre schließlich dumm… und dumm war er nicht. Alles, nur das nicht. Der Professor seufzte, wischte sich mit einem Taschentuch die Schweißtropfen von der Stirn, beobachtete Ai, die ihre innere Unruhe umtrieb. Wie es aussah, waren sie wohl nahe dran… am Sitz des Feindes. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Kehle, bekümmert starrte er auf den Boden. Er hätte besser auf ihn aufpassen müssen. Wie hatte man ihn so einfach entführen können…? Der alte Mann schloss die Augen, schluckte schwer, als er an jenen Abend dachte. Als er ihn gesehen hatte, in schwarz… Dieses Unbehagen in seinen Augen. Er hatte das nicht gewollt, jeder hatte es sehen können. So hatte er nicht enden wollen. Und er hatte nie gewollt, dass ihn jemand jemals so erblicken musste. Er hatte ihnen diesen Anblick nicht antun wollen, denn er wusste, was sie alle denken mussten… dass er nun ihr Feind war. Ein Feind, dem man misstraute, vor dem man sich fürchtete. Und doch hatte er sich nicht fürchten können… das einzige Gefühl, das Agasa in diesem Moment empfunden hatte, war grenzenloses Mitleid. Am liebsten hätte er ihn in sein Haus gezerrt und ihn nicht zurück gehen lassen. Ja… er litt mit ihm, der wie ein Enkel für ihn war, seit Geburt an. Agasa schluckte, schüttelte den Kopf. Es war nicht nur Unbehagen gewesen, was in seinem Augen zu lesen gewesen war. Sondern auch Schmerz. Angst… vor der Zukunft. Und dieser Ausdruck von Schuldigkeit, obwohl er doch noch nichts getan hatte… er hatte nichts getan, und fühlte sich schon schuldig… Und er war verzweifelt. Shinichi war all das geworden, was er nie hatte sein wollen. Er war nicht mehr Herr über sich selbst. Er war nicht mehr Conan, aber Shinichi war er auch noch nicht… nicht mehr… nicht wieder? Agasa konnte es nicht sagen. Fakt war… seine Farbe war nun Schwarz. Schwarz… die Farbe der Finsternis. Und so sah seine Welt wohl gerade aus… schwarz, finster, bar jedes noch so schwachen Hoffnungsschimmers. Das war nicht richtig. In Agasas Augen trat ein entschlossener Ausdruck. Jodie, die gerade ihren Blick auf ihn gerichtet hatte, bemerkte ihn, nickte ihm in stummer Zustimmung zu. Sie würden ihn finden. Ihn retten. So wie er es für jeden von ihnen tun würde. Nicht eher würden sie ruhen. Mittlerweile war es dunkel geworden, die Sonne versank gerade hinter den Wolkenkratzern - sie fuhren bereits im dichten Verkehr Tokios, waren fast an ihrem Bestimmungsort angekommen. Shinichi saß wieder hinten, im Fond. Er war angespannt, nervös, aber nicht nur das; er konnte es sich nicht erklären, konnte sich nicht dagegen wehren, als in ihm ein dumpfes Gefühl aufkeimte… dass diese Nacht etwas Entscheidendes mit sich bringen würde. Egal was es war; nach dem heutigen Abend würde seine Welt eine andere sein. Neben ihm saß Vermouth, zog sich in aller Ruhe die Lippen nach, mit blutrotem Lippenstift, und war dabei außerordentlich gründlich. Shinichi verdrehte die Augen, blickte durch das Fenster nach draußen. Die Lichter der Straßenlaternen huschten an ihm vorbei, die Schweinwerfer der anderen Autos, die Leuchtreklamen… sie waren kaum mehr als bunte Schweife, wie Sternschnuppen. Verwischt, vergangen… verloren. Shinichi schloss kurz die Augen, atmete aus, gezwungen, kontrolliert. Sharon neben ihm warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu. Vorn neben Gin räusperte sich Wodka, aber sagte nichts, als sein Vorgesetzter ihm einen warnenden Blick zuwarf. Und dann setzte der Regen ein. Immer heftiger schlug er auf die Windschutzscheibe, perlte an ihr ab, wurde von den Scheibenwischern weggeschleudert. Shinichi seufzte leise, hörte es zart klicken, als Vermouth ihren Lipstick verschloss und in die Tasche ihrer eng anliegenden Jacke gleiten ließ. Dann streckte sie fordernd die Hand nach vorn. „Was willst du?“, fragte Gin schleppend. „Eine Zigarette, dear.“ Sie setzte ein verführerisches Lächeln auf, ließ alle ihre makellosen, weißen Zähne kurz aufblitzen. Shinichi beobachtete sie aus dem Augenwinkel, ohne den Kopf zu drehen. Gin brummte mürrisch, zog aber eine Zigarette aus seiner Manteltasche, reichte sie ihr. „Fire, if you don’t mind.“ Sie lächelte erneut, ließ sich von Wodka, der dienstfertig wie immer, natürlich ein Feuerzeug dabei hatte, den Glimmstängel entzünden. Langsam, genüsslich zog sie daran, ließ sich in die Polster sinken. „That’s fine.“ Ein leiser Seufzer entfloh ihrer Kehle. Ja, sie spielte ihre Rolle gut. Shinichi wandte sich wieder ab, sah nach draußen. Es war klar, dass sie hier eigentlich das Sagen hatte, dass sie Gin irgendwie um den Finger wickelte, erst Recht, nach dem Zwischenfall von gestern Nacht. Allerdings war er sich nicht sicher, ob sie den Ernstfall verhindern konnte. Er schluckte. Gin war immer noch der, der für diesen Deal zuständig war. Er hatte zwar eine Rüge bekommen vom Boss; aber ihn hatte das Triumvirat geschickt, und als Vertreter des Triumvirats war er immer noch gleichgestellt mit Vermouth bei diesem Auftrag. Im Übrigen würde wohl das Triumvirat, dessen war Shinichi sich ziemlich sicher, nicht so viel dagegen einzuwenden haben, wenn Shinichi Kudô als Schwerverbrecher im Todestrakt des Tokioter Staatsgefängnisses einsaß. Dann merkte er, wie Gin den Wagen bremste. Offenbar waren sie angekommen. Shinichi schaute aus dem Fenster, glaubte die Gasse wieder zu erkennen, in die sie fuhren. Gin parkte seinen Wagen, brachte ihn zum stehen, stellte den Motor ab. Gelassen, geschäftsmäßig stiegen sie aus, alle, bis auf ihn selber, dessen Hände eiskalt und klamm waren; seine Bewegungen schienen irgendwie hölzern. Aber er riss sich zusammen. Er wusste ja, warum er das tat. Für wen. Was ihn erwartete, ahnte er, als er sich umsah. Es wirklich der gleiche Ort wie gestern. Dieselbe Zeit wie gestern. Aber diesmal… diesmal wurden sie erwartet. Die beiden Männer waren bereits da. Wodka stieß ihn in die Seite, streckte fordernd die Hand aus; Shinichi griff in seinen Mantel, zog das Päckchen mit der Gute-Laune-Designerdroge heraus und händigte es ihm wortlos aus, als sie sich den beiden Männern näherten. Sie blieben nicht unbeobachtet. Die drei Polizisten hatten sich in einem zivilen Auto verschanzt, hatten kein Licht und keine Zigarette an und verhielten sich vorbildlich still. Sie warteten schon seit fast zwei Stunden, befürchteten bereits, doch an der falschen Stelle zu sein, als sie sie sahen. Zwei Männer, die aus einer Gasse traten. Und zwei Männer, eine Frau und ein junger Mann, die ihnen entgegen schritten. Meguré hielt den Atem an, bemerkte nicht, wie Sato neben ihm sich verkrampfte und Takagi hinter ihm mit einem zischenden Geräusch scharf die Luft einsog. Kudô. Shinichi, oder, da er jetzt wohl im Dienst war, Armagnac, ging hinter ihnen her, auf die zwei Männer zu. Einer war der, den er gestern mit Gin besuchen gewesen war… der andere war ihm unbekannt. Gin zog seine Waffe, dann winkte er Wodka heran. „Mach das Paket auf.“ Der untersetzte Mann wickelte das Packpapier auf, brachte zwei Beutel gefüllt mit kleinen, bunten Pillen zu Tage, reichte sie seinem Vorgesetzten, zog dann ebenfalls seine Waffe. Gin hielt die beiden durchsichtigen Päckchen in die Luft. „Habt ihr das Geld?“ Der alte Mann, den Shinichi vom Vortag kannte, nickte eifrig, eilte nervös näher, in seinen Händen hielt er ein mit Packpapier umwickeltes Bündel. Er schwitzte heftig, und er roch immer noch ungewaschen, nach Fett und kaltem Rauch. Shinichi schluckte, fragte sich, wie es seiner Tochter ging. Immerhin hatte Gins Schuss sie gestern wohl nicht getötet, eine Tatsache, die ihn doch erleichterte. Er fing den Blick des Alten auf, bemerkte das Erstaunen in seinen Augen, das ihm auch gestern schon entgegen geblickt hatte, gepaart mit etwas Mitleid. Heute mehr als gestern noch - offensichtlich ging es ihr gut, wenn er sogar etwas Mitleid für Shinichi erübrigen konnte. Wäre sie tot, wäre dem sicher nicht so. Shinichi seufzte lautlos, bewegte sich unruhig. Er verhielt sich unauffällig, wünschte sich eins zu werden mit der Nacht, der Dunkelheit, damit er einfach verschwinden konnte, wusste doch, dass das nicht ging und harrte aus. Hoffte, dass man ihm keine Beachtung schenkte. Der Mann trat immer näher, und mit jedem Schritt roch man ihn stärker. Unsicher schaute er von ihm zu Gin. Der Blonde erwiderte seinen Blick kalt. „Gib es ihr. Vermouth wird nachsehen, ob es vollständig ist. Dann bekommst du die Ware, Sohei.“ Der Alte biss sich auf die Lippen, händigte sein Bündel aus. Sharon nahm es auf Gins Nicken hin in Empfang, öffnete es. Es war gefüllt mit gebündelten Notenscheinen. Sie zählte kurz lautlos durch, dann nickte sie. „Scheint vollständig zu sein.“ Gin winkte Wodka mit seiner Waffe zu; der trat daraufhin näher, warf dem Mann einen der Beutel entgegen. „Und nun mach, dass du abhaust.“, blaffte er den Mann an, der in den letzten Minuten fast geschrumpft zu sein schien vor Angst und Anspannung. „Schon weg…“, erwiderte er mit zitternder Stimme, und rannte, nach einem letzten Blick zu Shinichi weg, zurück in die Gasse, die zu einer belebten Partymeile führte, weg, weg von diesen schauderhaften Gestalten… wahrscheinlich geradewegs hin zum nächsten Kunden, dem er in Pillen gepresste Glückseligkeit verkaufen konnte. Shinichi schluckte, bewegte sich leicht, der Mantel schien ihn fast zu Boden zu ziehen. Er ließ seine Hände in seine Taschen gleiten, atmete tief ein und aus. Langsam ebbte seine Nervosität ein wenig ab. Ein Klient war nun weg. Der zweite würde bestimmt auch nicht lange dauern. Er ließ seinen Blick ein wenig schweifen, während Gin und Sharon auf Wodka warteten, der das erste Geldpaket im Wagen verstaute. Dann stutzte er. Er wusste nicht, warum sein Blick wie magisch von einem dunkelgrünen Toyota angezogen worden war, aber er kam nicht mehr los davon. Ließ seine Augen über die Karosserie schweifen… schaute zu den Fenstern. Ungläubig riss er die Augen auf, merkte, wie sein Herz zu rasen begann. In dem Auto saß jemand! Gerade fragte er sich, ob es nun als Armagnac seine Pflicht war, jemanden darauf aufmerksam zu machen, beziehungsweise, ob man ihm einen Strick daraus drehen konnte, wenn er es nicht tat, als er erkannte, wer im Wagen saß. Diese Hutkrempe hätte er unter Tausenden wiedererkannt. So unauffällig wie möglich wandte er den Blick ab, schaute zu Boden, schluckte, merkte, wie sein Herz zu rasen begann. Sie hätten nicht kommen sollen, Kommissar. Sonoko starrte den hochgewachsenen Mann an, der gerade zielstrebig auf Ran zuschritt. Sie standen gerade am Abendessensbuffet, stellten sich ihr Menü zusammen, als der Fremde den Raum betreten hatte und unbeirrt auf sie zusteuerte. Ran tat sich gerade gebratene Nudeln auf, als sie diesen Blick im Nacken spürte. Sie wandte sich um, blickte geradewegs in die grünen Augen des Mannes, den sie in ihrem Leben ganze zwei Mal getroffen hatte. Sonoko neben ihr schaute abwechselnd von Ran zu Shuichi Akai, schien sichtlich verwirrt. „Du musst mitkommen.“ Mehr sagte er nicht, und Ran hatte Mühe, ihn zu verstehen, weil er so leise sprach. „Wir essen gerade.“, meinte sie unbehaglich, warf einen Blick zu Sonoko, die dichter an sie rückte. „Und wer sind Sie eigentlich?“ „Das weißt du doch.“ Er blickte scheinbar gelassen um sich. Ran seufzte, schaute auf ihren Teller. Wirklich Hunger hatte sie ja nicht… und sie hatte eine Ahnung weswegen der Mann hier war. Das FBI… hier war. Sie seufzte leise, reichte dann mit einem entschuldigenden Lächeln ihren Teller der Bedienung hinter der Theke. Sonoko schaute unsicher von Ran zu dem Mann, gab ihren Teller ebenfalls zurück. „Ich komm auch mit! Denken Sie nicht, ich lass Sie mit Ran allein…“ Was er dachte, sollte sie nie erfahren, denn er drehte sich einfach um, verließ sich offensichtlich darauf, dass die beiden ihm folgten. „Unhöflicher Kerl.“, murrte Sonoko. „Wer ist das eigentlich?“ „FBI.“, wisperte Ran, sah sie dabei nicht an. Sonokos Kinnlade klappte nach unten. Shinichi versuchte krampfhaft, nicht mehr in die Richtung des grünen Toyotas zu schauen, musterte stattdessen den anderen Klienten. Der Mann schien etwas gepflegter als der andere Mann, immerhin. Er betrachtete ihn von oben bis unten, vom Scheitel bis zur Sohle, prägte sich alles genauestens ein, nur um nicht in Versuchung zu kommen, nochmal zum Wagen zu sehen. Er hoffte inständig, Meguré war schlau genug, niemanden auf sich aufmerksam zu machen und sie einfach ihr Ding hier durchziehen zu lassen. Gin beobachtete Shinichi seit einer geraumen Weile; ihm war seine innere Unruhe nicht entgangen, und so analysierte auch er seine Umgebung; und fand, wie Shinichi auch, den Wagen mit den Polizisten. Ein gemeines Lächeln schlich sich auf seine Lippen, in seinen Augen lag kalter Glanz. Ah… du hast Publikum, Kudô. Nun, sie sollen ihre Vorstellung bekommen, nicht wahr? Damit sie nicht umsonst angereist sind und sich nun mit den billigen Plätzen zufrieden geben müssen… Sie sollen morgen schön berichten, über deinen Auftritt heute Abend… Shinichi neigte den Kopf, als er Gins Blick auf sich ruhen spürte, sah in dessen berechnende Augen, beobachtete ihn, wie er sich voller Gelassenheit eine Zigarette ansteckte und wusste, was Sache war. Gin wusste Bescheid. Und damit, das war Shinichi klar, hatte für ihn heute, hier und jetzt die Stunde geschlagen. In seinen Magen schien ein Kilo Eiswürfel zu rutschen, er wandte den Blick wieder ab, betrachtete wieder ihren zweiten Kunden… versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und konnte doch nicht verbergen, dass in ihm alles rebellierte. Am liebsten wäre er auf und davon gelaufen. Er wusste, das konnte er nicht. Takagi erbleichte langsam. „Die haben uns gesehen.“, flüsterte er in die Dunkelheit, wandte seinen Blick nicht von der kleinen Gruppe ein paar Meter entfernt. Meguré nickte ernst. „Ja.“ „Und was jetzt?“ „Wir bleiben und hoffen das Beste. Was auch immer, wir dürfen uns, fürchte ich, nicht einmischen. Das Überraschungsmoment ist dahin. Und ich kann euer Leben da nicht riskieren, die sind in der Überzahl…“ „Aber Kudô…“, warf Sato ein, wandte sich zu ihrem Boss. „… ist nicht zu trauen, momentan, auch wenn sich in mir alles sträubt, das so zu sagen. Ich weiß nicht, wie weit er für Ran gehen würde. Wir sollten nichts provozieren, um sein Unglück nicht noch größer zu machen, verstehen Sie, Sato? Ich trau ihm keinen Mord zu… aber eben wenn er uns nichts tut, im Fall der Fälle, weiß er, er bringt Ran damit um. Auch wenn das FBI auf dem Weg zu ihr ist… er weiß das nicht. Lassen wir ihn in Ruhe, solange es geht, und beschränken wir uns aufs Beobachten… auch wenn ich mir den Abend, verdammt nochmal, anders vorgestellt hatte.“ Der Unmut in seiner Stimme war deutlich zu hören; allerdings schwang in seinem Ton auch noch etwas anderes mit. Angst. Sato schaute ihn lange an, nickte dann ernst, drehte sich wieder zur Scheibe. Takagi hinter ihr seufzte kaum vernehmlich, schien nicht einmal zu blinzeln, als er die Szene beobachtete. Endlich trat Wodka wieder neben sie. Shinichi schluckte. Er hatte bemerkt, dass der Klient ausgesprochen nervös war, sich wie irre an ein Bündel klammerte, in dem er, wie er vermutete, das Geld aufbewahrte, ähnlich wie der andere Kunde. Ihm wurde immer unwohler. „Das Geld?“, fragte Gin geschäftsmäßig, in seiner Stimme schwang deutlich die Drohung. Der Mann, im gut sitzenden Nadelstreifenanzug schlich näher, händigte Sharon, wie auch sein Vorgänger, das Paket aus. Sie öffnete es, zählte die Bündel und stockte unwillkürlich. Sie waren gut gemacht und sauber unter echtes Geld gemischt, aber das Papier fühlte sich einfach anders an… Blüten...! Sie zählte hastig weiter, hoffte, dass weder Gin noch Wodka ihr Zögern bemerkt hatten; sie hatte eine Ahnung, was passieren würde, käme heraus, dass ein Teil der Scheine Falschgeld war. Sie warf Shinichi einen unbehaglichen Blick; er schien ihn zu verstehen, denn er wandte den Kopf ab, biss sich auf die Lippen, während er seine Fäuste in seiner Jacke ballte, seine Haltung angespannter wurde. Nun hatten sie auch noch einen echten Grund, ihren Mann hier umzubringen. Hätte Gin noch irgendwie Zweifel gehegt, so wären sie spätestens jetzt wie weggeblasen, wenn der Kunde sie betrog... „Vermouth?“ Shinichi blickte irritiert auf. Es war Wodka, der gesprochen hatte, was einem Naturphänomen gleichkam. „Stimmt etwas nicht?“, drehte sich nun auch Gin um. Shinichi konnte das Zittern des Mannes förmlich spüren. Er wusste, seine Stunde hatte nun geschlagen. Und Shinichi wusste das auch. Ohne auf ihre Antwort zu warten, trat er zu ihr, griff in das Paket, zog einen Bündel Scheine heraus und griff prompt nach den Blüten. Der Oberschüler verengte die Augen, wandte den Kopf ab. Das Glück ist mir heut aber auch gar nicht hold. Gin hielt sie gegen das Licht einer Straßenlaterne, zog einen Schein heraus, rieb mit dem Finger über das Papier, roch daran, riss ihn sogar ein. Dann schleuderte er das Bündel Noten dem Mann ins Gesicht, trat näher, hob ihn scheinbar mühelos hoch, presste ihn an die Hausmauer. „Falschgeld servierst du uns?“, knurrte er leise. „Dachtest du, wir fallen darauf herein?“ Das war der Moment, als eine weitere Gestalt, unbemerkt von allen anderen Anwesenden, die Gasse betrat und dem Schauspiel beiwohnte. Gin ließ den Mann los, der zu wimmern begonnen hatte wie ein getretener Hund, winkte Wodka herbei. Der untersetzte Mann krempelte sich die Ärmel hoch. Shinichi legte den Kopf in den Nacken, hörte nur den Schrei. Als er wieder hinsah, sah er, wie dem Mann das Blut aus der Nase lief. In ihm rebellierte alles; er wollte helfen, wollte nicht so tatenlos rumstehen, aber er riss sich zusammen. Für Ran. Für… sich. Er hoffte immer noch, einigermaßen unbehelligt aus der Affäre zu kommen, obgleich er wusste, dass seine Hoffnung umsonst war. „Glaubtest du, du könntest uns täuschen?!“, drang Gins erboste Stimme an sein Ohr. Der Hühne hatte sich vor dem Mann aufgebaut, das spärliche Licht der Laterne ließ seine Haare fast silbern glänzen, der Wind, der durch die Gasse fegte, fing sich in ihnen und in seinem Umhang. Ja… Gin war jemand, vor dem man sich fürchtete. „Ich… ich… ich hab einfach nicht…“, fing der Mann zu stottern an, knetete seine Hände. „Was hast du nicht…?“ „Nicht genug…“ Der Klient brach ab, zuckte unter Gins vernichtendem Blick zusammen. „Nicht genug was? Geld? Dann, mein Verehrtester, darfst du aber auch nicht Geschäfte mit uns machen wollen.“ Gins Stimme klang kalt. Vermouth kniff ihre Lippen zusammen, verschränkte ihre Arme vor der Brust, während Wodka eifrig nickte. „Du weißt, wie du jetzt dafür bezahlst, nicht wahr…?“ Er trat einen Schritt näher. Der Mann stolperte mehrere Schritte zurück, taumelte gegen die Wand, rutschte nach unten, hob schützend die Hände über den Kopf. „Ich krieg das Geld noch! Morgen! Bitte!“ Gin zog an seiner Zigarette, warf sie dann zu Boden, trat sie fast brutal aus, stieß den Rauch langsam aus. Er schien keine Eile zu haben. „Nein.“ Eisig hallte seine Stimme in der Gasse wieder. Völlige Stille herrschte. „Nein…“, wiederholte Gin gelassen. „Ein Morgen gibt es nicht.“ Er zog seine Waffe aus seinem Mantel, unter den Augen ihres Klienten, der bei dem Anblick schier den Verstand zu verlieren schien. „Nein!“ Der Mann schrie jaulend auf, fing an zu weinen. Shinichi starrte ihn an, unfähig, sich zu bewegen. Dann drang ein Satz an sein Ohr, der ihm durch Mark und Bein ging. Und in diesem Moment wünschte er sich, tot zu sein. „Ich denke, das ist ein guter Zeitpunkt, um dich deiner Feuerprobe zu unterziehen... die Ehre gebührt dir, Armagnac. Erschieß ihn.“ Gin stand vor ihm, schaute ihn kühl an, hielt ihm den Revolver hin. Shinichi blickte dem Mann starr ins Gesicht, der mit gebrochener Nase und um Atem ringend vor ihm auf dem Boden kniete und schluchzte wie ein kleines Kind. Seine Wangen waren binnen Sekunden glänzend nass geworden. Shinichi kniff seine Lippen zusammen, merkte, wie ihm der kalte Schweiß aus allen Poren brach. „Nein.“, murmelte er, bevor er auch nur darüber nachdenken konnte, was er da sagte. Er schüttelte den Kopf, trat weg von ihm, schluckte schwer. „Nein.“ Seine Augen waren weit aufgerissen. „Du weißt, was auf dem Spiel steht.“ Auf Gins Lippen schlich sich ein maliziöses Lächeln, in seinen Augen funkelte Genugtuung. Er hatte sich lange genug angesehen, wie Kudô sich Zeit erschwindelte, es war nun genug. Es war an der Zeit, dass er starb. „Du weißt, wessen Leben du in der Hand hast.“ Er lachte leise, schob sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie sich gelassen an. Inhalierte tief und stieß den Rauch aus, beobachtete genau den jungen Mann vor sich. Man sah ihm an, wie er mit sich kämpfte, wie er mit sich rang und sich quälte und es war wunderbar. Die Polizisten im Auto hielten den Atem an. Sie alle wussten, was jetzt vor sich ging, trauten sich fast nicht, hinzusehen. Gin genoss es. Er liebte es, seine Beute noch ein wenig zappeln zu sehen. Er wusste, Kudôs Leben würde heute Abend sein Ende finden, heute… und durch seine Hand. Wenn er diesen Auftrag nicht ausführte, den Befehl verweigerte, war es vorbei mit ihm. Er würde derjenige sein, der ihm sein jämmerliches Leben aus der Brust würde reißen dürfen, das wusste er. Und er konnte es kaum erwarten. „Na? Was ist nun…?“ Er beugte sich näher. „Gestern hattest du Glück, aber heute… heute kann und wird dir keiner helfen, Armagnac…“ Ein boshaftes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Und willst du nicht auch unserem Publikum eine Show bieten, die es nie vergessen wird…?“ Shinichi stöhnte auf, griff sich an den Kopf, kniff die Augen zusammen. Sharon warf ihm einen Blick zu, konnte nachvollziehen, was in ihm vorging. „Weißt du… ich dachte ja nicht im Traum daran, dass alles so perfekt laufen würde…“, begann Gin von neuem, übertönte das Schluchzen des Mannes auf den Boden, griff Shinichi am Hinterkopf in die Haare, zog seinen Kopf zurück, so fest, dass er leise aufschrie, zwang ihn, in die Knie zu gehen. Seine Lippen waren leicht offen, sein Blick ging geradewegs in den Himmel… in unendliche Leere. „Der Klient bringt Falschgeld, ein Grund, zu drastischen Maßnahmen… und die Polizei sieht zu, wie du zum Mörder wirst, so oder so…“ Gins heißer Atem strich an seinem Hals entlang; dann ließ er ihn wieder los, und Shinichi taumelte ein paar Schritte nach vorn, keuchte. „Nun, nimm die Waffe und tu, was man dir sagt. Ansonsten könntest du mich jetzt auch gleich fragen, ob du euer Grab noch ausheben darfst, bevor ich dich in die ewigen Jagdgründe schicke, und sie dir hinterher.“ Shinichi biss sich auf die Lippen, konnte kaum mehr klar denken, war fast nicht mehr in der Lage, das Zittern, das ihn zu schütteln begann, unter Kontrolle zu halten. Ran. Sein Leben war ihm einigermaßen egal, aber Ran… Ran! Man würde Ran töten… Er hatte doch versprochen, nicht zuzulassen, dass ihr etwas geschah, und nun war er drauf und dran, ihr Henker zu werden… Ihr Leben stand auf dem Spiel. Wenn er verweigerte, diesen Mann zu erschießen, würde man sie umbringen. Aber er konnte doch nicht… er konnte doch nicht einen Menschen töten. Er war doch kein Mörder! Selbst wenn er wollte… er brachte es nicht über sich. Er schaffte es nicht. Er wollte es gar nicht schaffen. Aber er musste… er musste doch! Musste doch… Musste doch… „Los!“ Gin hielt ihm die Waffe unverwandt vor die Nase. Der Mann vor ihm auf dem Boden wand sich, winselte leise. „Bitte… bi…biitteeeee!“ Shinichi starrte ihn an, sein Gesicht verzog sich vor innerer Zerrissenheit. Der Klient vor ihm sah ihm das an, witterte seine Chance, begann noch mehr zu jammern, zu betteln, immer mehr Tränen flossen ihm über die Wangen, er schniefte geräuschvoll, immer lauter wurde sein Flehen. „Nicht… bitte… nicht…!“ Er wand sich zu seinen Füßen, krallte seine Hände in den Asphalt, griff dann nach Shinichis Hosenbein. Dem Oberschüler drehte sich fast der Magen um. „Du bist doch nicht so wie sie, das seh ich doch… bitte… bitte…“ Shinichi biss sich auf die Lippen, schmeckte noch mehr Blut, trat dann zurück, damit der Mann sein Bein wieder los ließ. „Sie haben meine Freundin.“, wisperte er, wie als Entschuldigung, und wusste doch, dass es keine war. „Sie haben meine Freundin… egal was ich mache, ich werde immer ein Mörder sein… entweder Ihrer, oder der meiner… meiner Freundin… Außerdem sollten Sie sich nicht zu sicher sein… dass Sie nicht trotzdem sterben werden, wenn ich Sie nicht umbringe.“ Er schluckte hart, wunderte sich, warum er noch so sachlich reden konnte. Die Situation war aussichtslos, aber er konnte sich noch perfekt artikulieren. Gin grinste auf einmal, trat zu ihrem Opfer, schlug ihm gönnerhaft auf die Schulter. „Na, das ist ein interessanter Aspekt. Ich würde sagen, das machen wir doch… entweder sein Leben, oder das deiner Freundin. Du darfst es aussuchen, wer leben darf. Wir werden ihm nichts tun, nicht wahr, Vermouth?“ Sie schaute ihn kalt an, kniff nur die Lippen zusammen, bis von ihnen nicht mehr zu sehen war als ein feiner Strich. Gin räusperte sich, trat wieder hinter Shinichi, der kurz die Augen schloss; ein Ausdruck von Qual huschte kurz über sein Gesicht. „Aber lass dir ja nicht einfallen, dass du dich der Entscheidungsgewalt entziehst. In dem Fall, dass dir mit der Knarre ein Unfall passiert, stirbt sie auch.“ Seine Stimme klang eiskalt. Shinichi schluckte, konnte kaum mehr stehen. Alles in ihm drehte langsam durch. Der Gestank des Zigarettenqualms, in den Gin ihn hüllte, brannte in seiner Nase, seiner Lunge. Die blonde Frau starrte ihn an, wandte dann den Blick wieder ab. Damit, das wusste sie, brachten sie Shinichi endgültig an die Grenze dessen, was er ertragen konnte. Schicksal, Gott zu spielen… zu entscheiden, wer lebte und wer starb… diese Entscheidung konnte er nicht treffen. Der Mann starrte ihn bettelnd an. „Du hörst ihn… bitte, verschone mich… ich hab Frau und Kinder…“, er hustete. Shinichi schaute zu Boden, konnte ihm nicht ins Gesicht blicken, als er redete. „Sie ist erst neunzehn… ich liebe sie… ich kann sie doch nicht…“ Seine Stimme brach. Er war kurz davor, den Verstand zu verlieren, das wurde ihm langsam klar. Ausdruckslos starrte er auf den Boden vor seinen Füßen. „Also ist dir ihr Leben wichtiger als meins… bin ich weniger wert…?“ Shinichi sah zur Seite, wischte sich fahrig übers Gesicht, unfähig, etwas darauf zu sagen. In ihm tobte ein Kampf; denn ja, genau diese Frage beschäftigte ihn ja auch. Durfte er Rans Leben über das dieses Mannes stellen? Durfte er das Leben dieses Mannes über Ran stellen, die doch völlig unschuldig war? Er war immerhin ein Krimineller. Er war Waffenschmuggler und Dealer. Er ruinierte das Leben anderer Leute. „Ich weiß nicht…“ Seine Stimme klang monoton. In ihm rebellierte alles, äußerlich war er kaum mehr fähig zu einer Reaktion. Er war wie gelähmt. „ERSCHIEß IHN ENDLICH!“, bellte Gin, wohl wissend, Shinichi damit noch mehr unter Druck zu setzen, drückte ihm die Waffe in die Hand. „Nein…“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Nein, nein, nein…“ Verzweiflung kroch in ihm hoch. „Dann weißt du, was passiert.“ Gin zog an seiner Zigarette, atmete den Rauch langsam durch die Nase aus. Das hier lief wirklich genau nach Plan. Shinichi schluckte, merkte, dass sein Hals wie ausgedörrt schien, drehte sich um, sah in Sharons Gesicht, das voller Mitleid war, sah in Wodkas Gesicht, voller Häme… Er wollte fast gehen, weg hier, weg… vielleicht, wenn er einfach ging… …konnte er sich dem entziehen, was hier auf ihn wartete… Er atmete aus, stöhnte leise. Kaum, Kudô. Weglaufen war keine Option. Er schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, kniff die Augen erneut zusammen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte keinen umbringen, das war klar. Auch keinen Verbrecher. Allerdings… war für Shinichi noch sehr viel klarer… dass er Ran schützen wollte. Gerade wollte er sich umdrehen, vielleicht doch noch versuchen, sich irgendwie rauszureden… was hoffnungslos sein würde, das wusste er… als er im Augenwinkel eine Bewegung erhaschte. Kaum mehr als ein Schatten in der Dunkelheit, Schwarz auf Schwarz, kaum wahrzunehmen… und doch sah er sie. Die Silhouette. Die Silhouette eines Mannes, der ihm nur allzu bekannt war. Shinichi keuchte, alles in ihm verkrampfte sich, und doch konnte er seine Augen nicht abwenden, wusste doch, wer es war. Er. Ihm blieb fast das Herz stehen. Was sich dann abspielte, passierte binnen weniger Sekunden. Shinichi stand da, wie zur Salzsäule erstarrt, wollte so sehr glauben, er täusche sich. Wollte seinen Augen nicht trauen. Es war kaum mehr als ein Schatten, ein Schemen am anderen Ende dieser vermaledeiten Gasse, in der er zum Mörder werden sollte, aber er erkannte ihn. Er hätte diese Gestalt unter Tausenden… unter Millionen wiedererkannt. Er wusste um die Identität des Menschen, der dort stand. Ohne jeden Zweifel. Und er wusste auch, wer er war – als was er zu dieser Stunde, in diesem Moment, in dieser Gasse stand. Dort… stand der Boss der Schwarzen Organisation. Und sah ihm zu. Beobachtete jede seiner Bewegungen. Shinichi schluckte hart, der Revolver wog schwer in seiner Hand, zog ihn fast zu Boden, wie es schien. Also… bist du es doch… Du… du… Mit einem Mal schien seine Welt Kopf zu stehen. Alles machte auf einmal Sinn… aber alles schien gleichzeitig so falsch… So falsch… So entsetzlich verkehrt. Er griff sich an die Stirn, blinzelte, schaute nochmal hin. Es hatte sich nichts verändert. Dort stand er immer noch. Immer noch. Er atmete heftig, versuchte, nicht durchzudrehen. Er musste sich zusammenreißen, jetzt. Es ging immer noch um Rans Leben. Immer noch um Ran! Da durfte er… so schwer es ihm auch fiel… nicht den Verstand verlieren. Beruhige dich. Nur keinen Fehler machen, jetzt… Denn wenn auch noch die Gestalt in der Gasse die gleiche war, nach diesem kurzen Augenblick, den so ein Blinzeln brauchte - etwas anderes hatte sich definitiv verändert. Seine Situation nämlich; denn die hatte sich um 180 Grad gedreht. Sein Weltbild war zusammengebrochen, das innerste nach außen gekehrt worden, wo oben war, war nun unten… sehr weit unten… aber wenigstens ein Gutes hatte es. Er wusste nun, was er zu tun hatte, mit dieser Waffe in seiner Hand. Langsam schien die Welt wieder klarer zu werden. Der Nebel über seinen Gedanken lichtete sich, Erleichterung machte sich in ihm breit. Ein Ausweg zeichnete sich ab. Ran war sicher. Ran war sicher… Ein leiser Seufzer entfloh seinen Lippen. Egal was für ihn die Identität dieses Menschen dort am Ende der Gasse bedeutete… für Ran war es die Rettung, dessen war er sich gewiss. Und für ihn… damit zumindest in gewissem Sinne auch. Denn er… er würde ihr nichts antun. Egal was er selber hier machte, sie war in Sicherheit… er würde nicht zulassen, dass man ihr etwas antat. Und deshalb war es auf einmal egal, was er hier veranstaltete. Ihm wurde fast leicht ums Herz, so absurd es auch schien. Er musste nicht morden… nicht, um sie zu schützen. Shinichi wusste, er unterzeichnete sein eigenes Todesurteil mit dem, was er zu tun gedachte, aber das war ihm egal. Damit konnte er leben, oder sterben, wie man’s nahm. Lieber gab er sein Leben, als dass er das eines anderen dafür nahm. Als er wieder näher trat, lächelte er fast. Bitter zwar, nur ein winziges Bisschen angeheitert über die erstaunten Mienen von Gin, Wodka und auch Vermouth. Er wagte sich nicht auszudenken was Meguré im Wagen jetzt von ihm dachte. „Schön, bringen wir’s hinter uns.“ Unter den ungläubigen Blicken von Vermouth, Gin und Wodka entsicherte er den Revolver, ging zum nächsten Kanaldeckel; schraubte den Schalldämpfer ab, langsam, mit ruhigen Händen. Shinichi schaute sie an, lächelte nun doch ein wenig triumphierend, atmete durch, dann zielte er in die Luft, drückte ab, ehe ihn jemand daran hindern konnte; und ließ die Waffe dann durch das Gitter fallen, wo sie klappernd in tintiger Schwärze verschwand. Der Krach in der Gasse war ohrenbetäubend. Das Echo des Schusses brach sich vielfältig an den eng stehenden Hausmauern. Sofort wurden Stimmen laut, die ersten Menschen strömten von der anderen Seite der Gasse herein, Tumult brach los. Er merkte nur noch, wie ihn jemand grob am Arm packte, fing den dankbaren Blick des Mannes auf dem Boden auf; dann wurde er in den Porsche gestoßen, und unter lautem Reifenquietschen brausten sie davon. „Du weißt schon, was du jetzt getan hast…?“ Gins Stimme klang eisig, und doch bebte sie vor Vorfreude. Shinichi erwiderte nichts. Ja, er wusste, was er getan hatte. Das einzig Richtige. Das Richtige. Langsam hob der Kopf, schaute aus dem Fenster, sah sein bleiches Gesicht als Reflexion in der Scheibe. Dachte an sie. Leb wohl… Ran. Neben ihm saß Sharon, blickte ihn an, ihr Blick unergründlich. Kurz sah er zu ihr, und da… wusste sie es. Sah es in seinen Augen. So you know it now. In einem grünen Toyota schauten sich drei Polizeibeamte betroffen an. „Hat er’s gewusst… dass Ran wohl in Sicherheit ist…? Oder konnte er es einfach nicht…?“, wisperte Takagi schließlich in die Dunkelheit. Meguré erwiderte nichts. Er startete nur den Motor, fuhr aus der Gasse, zurück zum Revier. Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sie alle wussten, was nun passierte. Jetzt würde man ihn töten. Sie würden ihn lebend nie wieder sehen. Und in ihren Gedanken stellten sie sich immer wieder die gleiche Frage. Waren wir Schuld? Im Hotel auf Izu starrten zwei junge Frauen den schwarzhaarigen Mann an, der auf einem Stuhl in ihrem Zimmer saß. Er hatte geschwiegen, seit sie hier angekommen waren. Ran hatte ihn gelöchert, gefragt, angebettelt… aber er war eisern geblieben und hatte geschwiegen. Nur gesagt… dass er auf sie aufpassen würde. Ran warf ihm einen ärgerlichen Blick zu; dann ging sie nach draußen, auf den Balkon, starrte in die Nacht, hinauf in die Sterne. Shinichi. Sie biss sich auf die Lippen, presste eine Hand gegen ihre Brust, spürte, wie ihr Herz schlug, flatterte wie ein kleiner Vogel in einem zu kleinen Käfig. Irgendetwas war los… und es machte sie schier verrückt, nicht zu wissen, was. Und sie musste an sich halten, um diesem Akai, so hieß der Mann in ihrem Zimmer, und das war auch die einzige Info, die sie neben seiner gezückten FBI-Marke über ihn erhalten hatte, nicht eins überzubraten, um ihn zum Reden zu bringen. Leider befürchtete sie ja, er wäre ihr gewachsen, kampftechnisch. Also blieb ihr nichts, außer zu warten… voller Anspannung und Angst… Was der neue Morgen bringen würde. Kapitel 18: Cognac ------------------ Nun... Zuerst einmal vielen Dank für die Kommentare! Es hat mich echt gefreut, dass ihr die Hoffnung noch nicht aufgegeben hattet, dass meine Geschichte doch noch weitergeht :D Nun... hierzu sag ich erstmal nichts... einige von euch haben es kommmen sehen... andere dachten etwas anderes. Ich hoffe, ihr lest trotzdem weiterhin mit; ich kann nur noch einmal betonen, ich habe mir tatsächlich was dabei gedacht, als ich es geschrieben hab, das ist nicht nur pure Willkür. In diesem Sinne überlasse ich euch diesem Kapitel und dem Geheimnis um die Identität des Bosses - in dieser Geschichte. Mit den allerfreundlichsten Grüßen, eure Leira _____________________________________ Kapitel 18: Cognac Er wusste, jetzt war es soweit. Diesmal gab es kein Zurück mehr. Erstaunlich gefasst schritt Shinichi den schmalen Gang entlang, vorbei an weißen Kunststofftüren, den Kopf hoch erhoben, sein Blick ohne Angst. Er hatte seine Chance gehabt, und sie verspielt. Schließlich… hatte er sie nie haben wollen. Diesen Weg ging er bewusst, er hatte ihn sich ausgesucht, zu seiner Entscheidung stand er; er fürchtete nichts mehr. Er hatte nie ein Mitglied sein wollen, hatte dies nun wohl sehr klar gemacht, und wenn das hieß, dass er jetzt sterben musste, dann war ihm das Recht. Alles war besser als das, was er in den letzten zwei Tagen erlebt hatte. Alles war besser als ein Leben weiter in dieser Lüge, jetzt, da er es wusste… Jetzt, da er die Wahrheit kannte. Absinths Worte hallten durch seinen Kopf. Es ist eine Gnade für dich, dass du unwissend sterben darfst… Ein zynisches Lächeln huschte über seinen Lippen, ging, so schnell wie es gekommen war. Das mit der Unwissenheit hat sich dann wohl erledigt. Er schluckte, merkte, wie Kälte in ihm emporkroch. Keine Angst… aber wahrscheinlich ein leiser Abklatsch dessen, was ihn jetzt noch erwartete. Sein Leben war am Abgrund; was jetzt mit ihm geschah, spielte keine Rolle mehr. Die Hauptsache war doch, dass Ran in Sicherheit war, und dessen war er sich gewiss; und dieser Funken Erleichterung, der ihn durchfuhr, malte ein kurzes Lächeln auf die Lippen, ein echtes. Nur kurz; genauso schnell wie es gekommen war, verschwand auch dieses Lächeln, bei dem Gedanken, was er und Ran nun endgültig nie bekommen würden. Wie weh er ihr jetzt tat, in diesem Moment; nur jetzt spürte sie es noch nicht. Aber mit dem Augenblick, an dem sie es erfahren würde, was aus ihm geworden war… warum… das alles passieren hatte müssen, da… würde ihre Welt einstürzen. Und in Trümmern liegen bleiben, wobei er hoffte, das nur… nur für eine Weile. Betrübt schluckte er, kam nicht umhin sich in Gedanken an die tausend Mal zu verfluchen ob seiner Dummheit in den letzten Jahren. Er hatte es verbockt. Alles. Und er war unsagbar blind gewesen. War so beschäftigt gewesen, zu täuschen, dass er gar nicht mitbekommen hatte, wie man ihm beständig ein Trugbild vorgaukelte. Nicht einen Schritt war er ihm wohl je vorausgewesen, dem Boss. Nicht einen. Nichtsdestotrotz war er sich die ganze Zeit so schlau vorgekommen. Dabei hatte er nichts bewirkt. Er war ihnen all die Jahre doch nicht wirklich nahe gekommen, der Grund, warum er sterben sollte, war ein ganz anderer… Die Chance, sie zu vernichten, hatte er wohl kaum gehabt, auch wenn sie wohl erkannten, dass man ihn nicht laufen lassen konnte, weil er nicht ganz dumm war… Shinichi zog die Augenbrauen zusammen. Der Gedanke daran war wirklich frustrierend. Zu wissen, dass er dieses Spiel schon zu Beginn verloren hatte, dass alles, was passiert war, umsonst gewesen war, all seine Anstrengungen, alle Bemühungen, alles… für die Katz. Klar, sie wussten, er war potentiell eine Gefahr gewesen, schließlich war er Detektiv und wirklich nicht unintelligent, aber bisher hatte man ihn wohl kontrolliert, ohne dass er es je gemerkt hatte. Jetzt aber wusste er viel zu viel, und daneben hatte das Triumvirat wohl noch einen anderen Grund, ihm mit Freuden sein Lebenslicht auszupusten. Er war doch wohl kaum mehr gewesen als eine Marionette in diesem Spiel, die vielleicht ein wenig selber zappelte, aber gefährlich hatte er ihnen wohl nie werden können. Wie auch… unter diesen Umständen. Er hing ja an den Fäden fest. Er schluckte bitter. Und jetzt war es vorbei. Die Fäden hatte er gerade abgerissen und was nützte schon eine kaputte Marionette… Vermouth ging vor ihm durch den weiß getünchten Gang mit dem hellgrauen Linoleumboden, warf ihm immer wieder einen Blick zu, bemerkte schließlich Beaujolais, die ihnen nachlief, in ihren Augen glomm ein sensationslüsternes Funkeln. Sie lächelte breit, zeigte dabei ihre perfekten, weißen Zähne, und schien extrem gut drauf zu sein, holte die kleine Gruppe ein, als sie vor einer Tür stehen blieb. „Also hat er’s vergeigt? Ja?“ Sharon hielt inne, drehte sich um, bedachte dann die Rothaarige mit dem herablassendsten Blick, den sie auf Lager hatte. „Fuck you off, Beaujolais.“, bemerkte sie dann gedehnt, drehte sich wieder um und marschierte weiter. Gin, der vor ihnen gegangen war, wandte sich ebenfalls um, in seinen Zügen eine Heiterkeit, die man von ihm nicht gewohnt war, und die ihn seit ihrer Ankunft nicht verlassen hatte. „Na, na… wer wird denn, Vermouth.“ Er lächelte gewinnend, dann wandte er sich selbst an die Rothaarige. „Verschwinde.“, befahl er kühl, lächelte dabei immer noch. „Aber…“ „Ich sagte, du sollst Leine ziehen, Beaujolais. Drück ich mich etwa undeutlich aus? Muss ich noch klarer werden?“ Die Schärfe in seiner Stimme war unüberhörbar. Beaujolais schluckte, wagte aber nicht, ihm noch einmal zu widersprechen. Stattdessen warf sie ihm einen beleidigten Blick zu, bedachte Shinichi mit einem gehässigen Lächeln und stolzierte von dannen. „You can go as well.“ Vermouth trat vor, blickte Gin arrogant aus den Augenwinkeln an, während sie ihre Hand auf den Türknopf legte. „Ich bring ihn zum Boss, you’ve no permission for that area. Du benachrichtigst das Triumvirat, Gin.“ Gin verengte die Augen zu Schlitzen, man sah ihm an, dass ihm ihre Order nicht schmeckte. Er sah sie lange prüfend an; dann schien er zu dem Schluss gekommen zu sein, dass sich daran nichts ändern ließ, für den Moment, knurrte etwas unverständliches und verschwand durch eine Tür in der Seite, die, wie Shinichi bemerkte, einen weiteren Gang offenbarte - genau wie die Tür vor ihnen, die sie nun passierten. Er warf der Blondine neben sich einen musternden Blick zu. Besorgt. Sie schien wirklich besorgt. Er seufzte, schaute sie an. „Warum?“, fragte er dann. „Warum was?“, hakte die blonde Frau nach, ließ sich zurückfallen, bis sie neben ihm schritt. „Warum passt du auf mich auf? Du hast das die ganze Zeit über getan, nicht nur, seit ich in der Organisation bin. Warum kümmert es dich, was mit mir passiert, was ich tue? Das würd ich gern noch wissen, bevor…“ Vermouth schaute ihn an, wandte dann ihren Blick ab. Ihre Gesichtszüge wurden hart, ihr Mund fast verkniffen, und kurz, ganz kurz konnte man das wahre Alter dieser Frau auch auf ihrem Gesicht sehen. Kurz, ganz kurz, sah man Sharon Vineyard, die fünfzig Jahre alte Frau, die ihn und Ran und seine Mutter seinerzeit durch das Theater geführt hatte, in New York. „Weil du der Sohn meiner besten Freundin bist… und ich nie wollte, dass sie dich verliert. Dich… auch noch.“ Shinichi schluckte hart, wandte den Blick nun ebenfalls ab, bohrte ihn in den Boden vor sich, als gelte es, ihn zu durchlöchern. „Also… habe ich Recht? Er… er ist es wirklich?“ Seine Stimme klang ungewohnt rau, kratzig fast. Er hob die Hand, rieb irritiert seinen Hals, räusperte sich und schluckte erneut. Ihm war nicht recht, überhaupt nicht recht, dass ihn seine Stimme verriet. Dass sie Zeugnis über seinen inneren Aufruhr ablegte. Vermouth bedachte ihn mit einem traurigen Blick, ihr Tonfall klang etwas niedergeschlagen, als sie nun sprach. „Wie lange… seit… seit wann weißt du es denn…?“ Shinichi schaute sie nicht an. „Ich hatte die Ahnung schon länger… Du… du warst viel zu offensichtlich…“ Er biss sich nur auf die Lippen und schüttelte stur den Kopf. „Und dabei hattest du es so leicht mit mir, ich wollt es nicht wahrhaben… ich wollte es wirklich nicht glauben. Ich mache den gleichen Fehler immer wieder… ich will nicht glauben, was mir nicht gefällt…“ Shinichi schaute auf, kam nicht umhin sich zu wundern, wie sehr sich Vermouth, die eiskalte Killerin verändert hatte. So kannte er sie gar nicht. So besiegt, so erschüttert. Lange beschäftigen konnte ihn dieses Phänomen jedoch nicht. In seinem Magen rumorte es, ihm war wirklich schlecht. Das Gefühl, das sich in ihm ausbreitete, in jede einzelne Faser seines Körpers kroch und die Herrschaft über sein Denken an sich riss, konnte er nicht in Worte fassen. Und deshalb schwieg er nun, bis sie an der Tür angekommen waren, hinter der über sein Schicksal entschieden werden sollte. Dann waren sie angekommen. Stille hatte sich ausgebreitet, als die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, einzig und allein die leise Atmung der Anwesenden und gelegentliches Rascheln und Reiben von Stoff war zu hören, wenn sich eine der drei Personen etwas bewegte. Die Atmosphäre jedoch schien fast zu brennen, ein unwirkliches, statisches Knistern schien in der Luft zu hängen, die Anspannung war fast spürbar. Was er fühlte, konnte er nicht mehr beschreiben, und so stand er da, wartete, versuchte nicht zu denken. Schließlich wusste er schon, bevor die Gestalt aus dem Schatten trat, was, oder besser wer, ihn erwarten würde. Seit er den Schatten in der Gasse gesehen hatte, wusste er es doch... Sie mussten fast zeitgleich angekommen sein, im Hauptquartier. Shinichi schluckte, stellte fest, dass sein Hals ausgedörrt zu sein schien, hob irritiert die Hand an seine Kehle, ließ sie wieder sinken, als er merkte, was er tat. Er hatte den Blick auf den Boden vor ihm geheftet, schöner, roter Marmor. Bleich starrte ihm sein Konterfei entgegen, so lange, bis er seinen Anblick nicht mehr ertragen konnte. Erst dann sah er auf, langsam. Es half ja schließlich alles nichts… seinem Schicksal musste man sich stellen. Der Wahrheit musste man sich stellen. Er war ihr doch noch nie davon gelaufen… und er würde es auch heute nicht tun. Ein letztes Mal musste er ihr wohl noch einmal in die Augen schauen… der Wahrheit. Als er dann tatsächlich in den Lichtkegel der Deckenlampe trat, schien in ihm etwas zu Stein zu werden, er kam sich vor wie erstarrt, unfähig, sich zu bewegen, die Augen abzuwenden. Er biss sich stattdessen wieder einmal an diesem Abend auf die Lippen, so fest, dass er Blut schmeckte. Der Schmerz beruhigte ihn fast… diesen Schmerz konnte er begreifen. Anderes nicht. Er merkte, wie sein Innerstes zu Eis zu gefrieren schien, wie seine Atmung sich beschleunigte, sein Puls zu rasen begann und wandte dann doch ruckartig den Kopf ab. Er wollte ihn nicht sehen. Ertrug den Anblick keinen Augenblick länger. In seinen Hosentaschen ballte er die Fäuste, so fest, dass seine Fingernägel in seinen Handballen schnitten. „Du hast es doch geahnt, besser gesagt, gewusst… Es… sollte dich doch nicht mehr so treffen, Shinichi…“ Yusaku Kudôs Stimme war leise, als er sprach, und in ihr schwang echtes Bedauern. Sharon bewegte sich leicht, sie schien ihre Nervosität abzustrahlen wie eine Aura, Shinichi spürte sie deutlich. „Du wusstest doch, was Sache ist, als du in der Gasse den Mann nicht erschossen hast, und es war dir auch klar, was dich erwartet, als du gerade durch die Tür gekommen bist. Du willst es jetzt nur nicht glauben.“ „Hör auf…“ Shinichis Stimme war tonlos; seine Augen hingen fest an einer Vase in der Ecke. Von seinem Selbstbewusstsein, das ihn erhobenen Hauptes hierher gebracht hatte, war gerade nicht mehr viel übrig, jetzt, wo er vor vollendeten Tatsachen stand. Wie hatte er glauben können, er könnte damit umgehen… Yusaku lächelte traurig. „Du kennst die Wahrheit, aber du willst sie mal wieder nicht glauben, nicht wahr? Wolltest es wohl die ganze Zeit nicht… wie ich dich kenne. Aber du weißt, dass es stimmt. Egal ob du mich nun ansiehst oder nicht, du weißt es, dass ich es war, gerade in der Gasse, die ganze letzte Woche, all die Jahre über...“ Der junge Detektiv merkte, wie bei den Worten seines Vaters die Bitterkeit erneut in ihm hochstieg, so intensiv, dass er sie fast auf seiner Zunge schmecken konnte. „Sag mal, hat dich das amüsiert…?“, wisperte er dann. Ruckartig blickte er auf. „Wars interessant, zuzusehen, wenigstens, hat die Show sich gelohnt?“ „Shinichi!“ Der Schriftsteller schluckte, konnte sich denken, warum sein Sohn so aufgebracht reagierte. Er hätte an seiner Stelle wohl kaum anders reagiert, hätte er erfahren, dass er jahrelang nicht mehr gewesen war als eine Figur in einem Spiel, kontrolliert von Mächten, die er nicht kannte… noch dazu von Mächten, denen er vertraut hatte. Ihm waren die Hände gebunden gewesen all die Jahre, all seine Mühen waren umsonst gewesen, er hatte ihn ja auf Abstand gehalten und ihm Theater vorgespielt, genauso wie Shinichi den anderen etwas vorgemacht hatte… Das musste ihn wütend machen. Er fühlte sich verraten, missbraucht, und das zu Recht. Er war frustriert, das war verständlich. Er hatte all die Jahre umsonst gelitten… und noch schlimmer, all die Jahre dem Leiden anderer zugesehen, die ebenfalls… umsonst gelitten hatten. Dann begegnete er dem wütenden Blick seines Sohns und erstarrte. Ja, Shinichi war wirklich aufgebracht, anscheinend übernahm nun seine Wut das Regiment, anscheinend wich der Schock. „Na, nun sag schon! Du siehst mir ja immerhin seit Jahren bei meinen fruchtlosen Bemühungen zu, mein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen, mal ganz zu schweigen von letzter Woche.“ Er schaute ihn an, lächelte sarkastisch. „Und ich dachte doch wirklich, der Lügner in unserer Familie wäre ich.“ Diese Worte trafen Yusaku wie ein Schlag ins Gesicht. „Du warst in guter Gesellschaft, mein Sohn.“, murmelte er dann leise. „Ach, was du nicht sagst.“, erwiderte er pampig, wurde allerdings gleich wieder von seinem Vater unterbrochen. „Hör zu, ich…“ „Nein.“ Shinichi hob die Hand, brachte damit seinen Vater seinerseits zum Schweigen.. „Jetzt rede ich und du hörst zu. Wahrscheinlich ist es sowieso das Letzte, was du je von mir hörst, also solltest du gut zuhören. Ich hätte dir da… nämlich noch etwas zu sagen.“ Er biss sich auf die Lippen. „Was mich noch interessieren würde wäre, was du dir verdammt nochmal dabei gedacht hast, all die Jahre. Alles was du mir beigebracht hast, all deine Moralvorstellungen, deine ethischen Ansichten, dein Sinn für Gerechtigkeit... sieh mich an! Ich bin, wozu du mich gemacht hast! Ein Verfechter der Gerechtigkeit, ein waschechter Moralapostel…“ Seine Stimme hatte monoton, hoffnungslos geklungen, bis zum Schluss, als er kurz auflachte, hohl, mutlos. „Wozu das alles?! Wozu bringst du mir das bei, wenn du all deine Prinzipien selbst verrätst…? War das irgendwie lustig, wars spannend für dich, dieses paradoxe, absurde Spiel, dass du da abgezogen hast und Erziehung nanntest?! Du hast mit mir das genaue Gegenteil von dir kreiert und dann glaubst du, mich hier eingliedern zu können? Wieso das alles? Wie hattest du dir das denn mal vorgestellt, glaubtest du, dein kleines Geheimnis bliebe auf ewig unentdeckt? Das alles ist doch absurd! Hast du eigentlich irgendwann mal darüber nachgedacht?! Wolltest du, dass ich’s mal rausfinde, oder wie?“ Yusaku schwieg; nun war er es, der den Kopf abwandte, weil er die Anklage in den Augen seines Sohns nicht ertrug. Shinichi trat einen Schritt näher, merkte, wie die Mutlosigkeit, das Entsetzen einem Zorn wich, den er in diesem Ausmaß selten vorher gespürt hatte. Das Schweigen seines Vaters regte ihn auf. Diese ganze Situation regte ihn auf. „Hast du dazu denn nichts zu sagen, verdammt?“, zischte er ihn böse an. Ein wütendes Funkeln trat in seine Augen. „Wenigstens das bist du mir schuldig! Eine Erklärung! Mein Gott, hast du denn zu dieser Farce von einer Vater-Sohn-Beziehung nicht ein Wort zu sagen!?! Du predigst mir Moralgefühl und schlachtest hinter meinem Rücken die Leute ab, du willst von mir, dass ich gerecht und wahrhaft und ehrlich bin und selber stielst du, mordest, betrügst, belügst, erpresst und…“ „Du nennst mich einen Verräter.“ Yusaku unterbrach ihn, aber klang immer noch sachlich. „Ja.“ Shinichi atmete durch, versuchte, sich ein wenig in den Griff zu kriegen. „Da irrst du dich, mein Sohn.“ „Nenn mich nicht deinen Sohn.“, wisperte Shinichi scharf. „Du hast keinen mehr. Du verdienst auch keinen.“ Er schloss kurz die Augen, öffnete sie dann wieder und schaute ihn stur an, voller Trotz und Wut. „Und ich irre mich nicht.“ In seinen Augen lag Anklage und ein Hauch von Trauer. „Ich hab dir vertraut, verdammt, und dann tust du mir das an…! Du hättest mich sterben lassen sollen, als man dir die Entscheidung abnahm, warum hast du es verhindert, als man mich erschießen wollte? Wie konntest du mir dieses Leben einbrocken, wie konntest du denken, ich könnte so leben, überhaupt…!? Wie konntest du tatenlos zusehen, wie man mich zu Grunde richtet… ich sollte ein Verbrecher werden, Himmel, du weißt, was das mit mir macht, so gut solltest du mich doch kennen! Aber nein - du hast gebilligt, dass ich ausgelöscht werde, wahrscheinlich war es ja deine Idee… Shinichi Kudô, so wie er war, sollte eliminiert werden!“ Er schüttelte den Kopf, langsam, schaute ihn unverwandt an. „Nein… du bist nicht mehr mein Vater! Mein Vater hätte das nicht getan…! Denn Väter tun so etwas nicht.“ Seine Stimme klang bitter. „Und wie konntest du… verdammt, wie konntest du nur Ran da mit reinziehen…? Du hast doch gesehen, wie ich versucht habe, sie zu schützen, sie unter allen Umständen da rauszuhalten, und nun…“ Er hob den Kopf, starrte den Autor wutentbrannt an. „Ich hab mir mein Leben zur Hölle gemacht, um sie zu beschützen! Ich… hab alles getan, was in meiner Macht stand, und dann kommst du! Ich warne dich…“ Shinichis Stimme zitterte. „Wehe, du kommst ihr zu nahe… verdammt, sie…“ Er schluckte hart, starrte dann zu Boden, seine Stimme war leise, aber die Drohung in ihr war deutlich zu hören, als er sprach. „Lass Ran in Ruhe, denn wenn ihr etwas passiert, dann gnade dir Gott, denn ich werde es nicht tun, ich werde nicht… gnädig… sein…, egal ob ich tot bin oder nicht.“ Shinichi keuchte, atmete heftig. Yusaku schaute ihn an, in seinen Augen lag mindestens genauso viel Bitterkeit wie in den seines Sohnes, aber ungleich mehr Schuld. Er fühlte sich schuldig, ja… allerdings half das keinem von ihnen beiden das Geringste. Langsam schüttelte er den Kopf. „Ich kann dich beruhigen, ich werde Ran… nichts tun. Ich nehme an, das weißt du, sonst hättest du das nicht gewagt, den offenen Widerstand, gerade eben.“ Er schluckte, rang nach Worten, kam sich dabei lächerlich vor; er war Schriftsteller, ein Mann des Wortes, und nun fiel ihm scheinbar nicht eins mehr ein. Kurz massierte er sich die Schläfen, wandte sich kurz ab, stütze sich an seinem Schreibtisch ab. Merkte, wie sein Puls langsam in die Höhe ging, er schneller atmete, seine Gedanken zu rasen anfingen. Das war so nie geplant gewesen. Keiner hätte das erfahren sollen. „Ich habe nicht tatenlos zugesehen! Nach allem, was du weißt… weißt du, das ist nicht so! Du bist unfair, wenn du mir das vorwirfst.“ Er drehte den Kopf, schaute seinem Sohn ins Gesicht. Shinichi war bleich, ja. Man konnte ihm ansehen, wie sehr ihm das hier gerade den Boden unter den Füßen wegzog. Er hatte ihm vertraut. Ihm geglaubt. Alles. Immer. Bedingungslos. Und nun stand er da und musste feststellen, dass sein Leben eine einzige Ruine war, gebaut auf einer Lüge. „Was ist schon unfair. Du hast davon doch keine Ahnung.“ Shinichi schaute ihn mit verachtendem Blick an, aber die Enttäuschung in seinen Augen vermochte er nicht zu verbergen. Niemals hätte er so vor ihm stehen sollen. Shinichi hätte das nie erfahren sollen, niemals. Genausowenig wie all die anderen. Und er hätte nie… nie in diese Lage kommen dürfen, nie… hätte sein Leben bedroht sein sollen. Er hatte ihn schützen, ihn raushalten wollen, aber Shinichi… zeigte sich gegen jede Schutzmaßnahme resistent. Er ging seinen Weg, und wenn der ihn in die Hölle führte, dann war dem eben so. Yusaku seufzte, schaute ihn immer noch an, konnte dann dem stummen Vorwurf in Shinichis Augen nicht mehr standhalten und drehte sich weg, schaute auf die Tischplatte, studierte die Maserung des Mahagonis. „Verdammt nochmal, Shinichi, du bist mein Sohn… kannst du dir denn nicht vorstellen, dass ich dich nicht sterben sehen kann…?“, flüsterte er leise. Shinichi keuchte, starrte ihn wütend an. „Und was hast du die letzten Tage getan? Sag mir, was hast du gesehen?!“ „Shinichi!“ „Armagnac, für dich!“ Er schrie ihn an, merkte, wie ihm langsam die Luft ausging. Yusaku fuhr herum, starrte ihn voller Entsetzen an. „Schließlich hast du mir den Namen selbst gegeben.“ Shinichi hielt sich die Hand an die Stirn, sein Kopf fühlte sich an, als müsse er explodieren. Er wollte weg hier, endlich, wollte, dass das ein Ende fand; und so beschloss er, zu schweigen, kniff die Lippen zusammen und starrte an seinem Vater vorbei, aus dem Panoramafenster in dessen Rücken, sah den fahlen Mond über der Tokioter Skyline hängen. Er hatte nichts mehr zu sagen. Yusaku starrte ihn erschüttert an, zog sich eine Brille von der Nase, fuhr sich übers Gesicht. „Shinichi… so heißt du aber nicht… nicht für mich.“ Seine Stimme klang hilflos. Sharon schluckte, bewegte sich unruhig. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Beide nicht, um genau zu sein. „Verdammt, verstehst du nicht… du bist mein eigen Fleisch und Blut… mein Sohn…! Ich wollte nicht, dass man dich umbringt… ich wollte um keinen Preis, dass man dich tötet… um Himmels Willen… kannst du das nicht verstehen?“ Shinichi schwieg beharrlich, stopfte seine Fäuste noch tiefer in seine Hosentaschen, würdigte seines Vaters weiterhin keines Blickes. „Shinichi… als man dich hier anschleppte, was meinst du, wie hab ich mich da gefühlt? Ich wollte doch nie, dass es soweit kommt! Ich wollte dich hier nie sehen! Du hast immer fein ermittelt, und ich hab immer schön dafür gesorgt, dass du nie zu nahe kamst, nachdem du ja das Feld nicht anderen überlassen wolltest, soweit… denke ich, bist du in deinen Überlegungen gekommen, und es tut mir Leid, dass alle deine Bemühungen damit… umsonst waren. Aber es schien mir das Beste zu sein! Und es funktionierte, bis… bis Beaujolais kam und alle meine Pläne durchkreuzte. Ich war auf einmal zum Handeln gezwungen, du hast das Triumvirat doch kennengelernt… Ich dachte, ich kann dich retten, indem ich dich hier… zum Mitglied mache… Aber du hast dich nicht verbiegen lassen… du hast dich widersetzt.“ Yusaku schaute ihn an, ganz kurz huschte so etwas wie Stolz über sein Gesicht. Shinichi blickte ihn immer noch nicht an, schaute zur Seite. „Aber damit hast du es mir jetzt unmöglich gemacht,… dir noch zu helfen. Es war damals schon schwer, das Triumvirat doch noch zu überzeugen… und nun ist es vorbei. Du hast es… geschafft. Du hast dein Todesurteil unterschrieben. Eigentlich war das nur folgerichtig, und ich hätte es viel früher sehen müssen.“ Die Stimme des Autors versagte. „Du hast ja Recht… Es… es tut… mir leid. Als Vater hab ich auf ganzer Linie versagt, und ich verdiene keinen Sohn. Es tut mir leid.“ „Das bedeutet mir nichts.“, flüsterte Shinichi nun doch, senkte den Kopf, schaute zu Boden. Er fühlte sich verraten. Missbraucht. Betrogen. Yusaku zuckte unter den Worten zusammen wie unter einem Peitschenhieb, sank dann kraftlos in seinen Stuhl. Shinichi versuchte seinen Kopf zu leeren, denn wenn er über das hier nachdachte, merkte er, wie er langsam den Verstand zu verlieren drohte. „Ich wollte doch auch nicht, dass es soweit kommt! Das musst du wissen, verdammt! Aber du musst mich verstehen… ich hatte keine Wahl… ich bin doch… dein Vater… und nun… ich weiß doch auch nicht, was ich jetzt machen soll.“ Er seufzte, fuhr sich über das Gesicht, mit beiden Händen, schluckte. „Ich wollte dich retten und hab dich doch in dein Unglück getrieben. Aber ich hab das doch… gut gemeint! Ich konnte dich nicht sterben lassen, Shinichi… Du musst mich verstehen, bitte…“ „Ach ja?“ Shinichis Kopf fuhr hoch, Wut kochte erneut hoch in ihm. „Ach ja? Ich muss verstehen, dass mein Vater ein Mörder, Erpresser, Entführer, also allgemein gesagt, ein Krimineller ist!? Ein Verbrecher? Mein Vater, der mir immer so von Moral, und Ehrlichkeit und Gerechtigkeit gepredigt hat… mein Vater?! Der die momentan größte Verbrecherorganisation Japans führt, und drauf und dran ist, seinen eigenen Sohn für die Sache zu opfern? Aus ihm einen Mörder machen wollte?! Das muss ich verstehen?! Ehrlich? WIRKLICH? Das glaub ich nicht!“ Er atmete schwer, spürte, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb hämmerte, merkte, wie sich im Nacken seine Haare aufstellten. Er war wütend, ja. Er war so unglaublich wütend. Und gleichzeitig war er traurig… und enttäuscht… wie nie zuvor. Er hatte keinen Vater mehr. Shinichi kniff die Lippen zusammen, schüttelte stur den Kopf. „Ich muss gar nichts verstehen! Erst Recht nicht…“, er holte Luft, „… erst Recht nicht dich. Und jetzt komm bitte zu einem Ende.“ Langsam atmete er aus, keuchte. Yusaku nickte nur, wandte seinerseits den Blick ab. „Wahrscheinlich stimmt das.“ Sharon hatte sich aus der Diskussion herausgehalten, sah die beiden nur ernst an, überlegte nach einem Ausweg und fand doch keinen. Es gab keinen. Sie blickte zu dem jungen Mann neben ihr, der sich nun langsam aus seiner Starre löste. Shinichi schluckte, schaute ihn dann geschlagen an. „Nun… dann mach endlich, wozu wir hier sind.“ Er hatte aufgegeben. „Willst du es selber in die Hand nehmen oder wem gedenkst du die Ehre zuteilwerden zu lassen?“ Yusaku atmete stockend aus, hob den Blick, sah in Shinichis Augen. Diesen Ausdruck hatte er dort nie sehen wollen… diesen Ausdruck von Kapitulation. Shinichi war erschöpft, und es leid, dieses Gespräch weiterzuführen, das sah er ihm an. Er verachtete ihn, er war enttäuscht von seinem Vater, fühlte sich verraten und wollte nun endlich das Ende. Jedes seiner Worte hatte mitten ins Schwarze getroffen. Yusaku drehte fast durch. Tief holte er Luft, versuchte, die Nerven zu bewahren. Er schluckte, merkte, wie sich das Schuldgefühl weiter in ihm breitmachte; Schuld, Angst und Verzweiflung. Er wollte seinen Sohn nicht töten. Verdammt er wollte ihn doch nicht umbringen! Er hatte doch nicht umsonst alles getan und riskiert, um ihn am Leben zu halten. Er liebte ihn doch. Er wünschte ihm ein schönes Leben. Fieberhaft dachte er nach, wälzte tausende Gedanken, entwarf einen Plan nach dem anderen um ihn zu verwerfen und doch immer wieder zum gleichen Ergebnis zu kommen. Shinichi hatte sein Schiff manövrierunfähig gemacht. Es war nicht mehr in der Lage, vor dem Angriff zu fliehen oder sich zu verteidigen. Es war drauf und dran, zu kentern. Yusaku schüttelte nun seinerseits den Kopf, erschöpft, gebrochen, um Jahre gealtert. „Du hast in allem Recht. Ich hab alles falsch gemacht, von deiner Geburt an bis zu diesem Moment und die Konsequenz für meine Fehler ist, dass du jetzt du sterben musst…“, murmelte er tonlos vor sich hin. „You cannot be serious!“ Sharon starrte ihn an, schlug mit beiden Händen flach auf den Tisch. „He is your son!“ Er schaute niedergeschlagen auf. „Herrgott, Sharon, das weiß ich doch! Ich war dabei, als er auf die Welt kam! Ich hab ihn aufgezogen! Aber was soll ich machen, kannst du mir das sagen? Wenn du die Lösung kennst für mein Problem, dann her damit! Du weißt, wie ich mit Rebellen verfahre, wir hier verfahren… immer verfahren haben, und du weißt, was sie alle von mir erwarten! Er hat vor Zeugen den Befehl verweigert, hat gesagt, dass er nicht mitmacht! Ich kann ihn nicht laufen lassen, ich kann ihn nicht am Leben lassen - weil es nicht meine Entscheidung ist… verdammt, Sharon, du weißt doch, was auf dem Spiel steht… du weißt, dass die Entscheidung längst nicht mehr bei mir liegt.“ Seine Stimme brach, wurde leise. „Ich würde mein Leben für ihn geben, das weißt du! Aber es liegt nicht mehr in meiner Hand. Das Triumvirat erwartet, dass ich ihn...“ Er warf ihm einen Blick zu, stöhnte auf, konnte das Wort nicht aussprechen. Dann fasste er sich wieder. „Es wäre ja nicht so, als wäre er irgendein leicht einzuschüchternder Oberschüler, den man erpressen und verängstigen könnte - nein, nicht zu vergessen - er ist ein Detektiv! Er wird sich nicht einschüchtern lassen, er hängt diesen Laden hin, das verfolgt er seit Jahren, das weiß ich, du weißt es, und das Triumvirat weiß es auch. Und du weißt, wie das Triumvirat zu ihm steht – nämlich gar nicht, sie wollen ihn tot, immer schon. Ich hatte schon Schwierigkeiten, sie zu überzeugen, ihn als Agent auszubilden, weil er der Feind ist. Er wird nie einer von uns; wir wussten es von Anfang an, aber ich hatte gehofft… ich könnte ihn schützen, er würde einlenken...“ Seine Stimme verlor sich in unverständlichem Gemurmel, fast so, als würde ihm jetzt erst klar, wie sinnlos seine Hoffnung eigentlich gewesen war. Er seufzte leise, massierte sich die Schläfen, starrte Sharon dann fast trotzig an. „Ja, verdammt… er ist mein Sohn! Und ich liebe ihn, und nichts will ich weniger, als dass er stirbt. Aber seine Zeit hier ist vorbei. Du weißt, warum. Das Triumvirat… Absinth, Rum, Cachaça… sie wissen, was er getan hat, und wer ich bin, in welcher Beziehung Shinichi und ich stehen. Sie werden ihn umbringen. Es ist nicht meine Entscheidung. Ich kann nichts mehr tun.“ Er schluckte, war blass geworden während seiner Rede. Sharon hatte den Blick abgewandt, war ebenfalls bleich wie ein Bettlaken. „Wenn Shinichi entkommt, dann wird er mich hinhängen, uns alle hinhängen, und ich würde von ihm nichts anderes erwarten… aber das lassen die nicht zu. Wenn ich ihn laufen lasse, dann wissen sie, warum er entkommen konnte, und du weißt, was sie gegen mich in der Hand haben. Was dann passiert. Ginge es nur um mich, ich würd ihn raustragen, hier… was sie mit mir machen, ist mir egal.“ Er lächelte bitter. Shinichi horchte auf. Sie hatten ihn in der Hand? Er war der Boss… mit was könnten sie ihn schon erpressen…? Seine Blicke wanderten verwirrt von Sharon zu seinem Vater. Sie hatte den Blick ruckartig abgewandt, während auf seinem Gesicht pure Verzweiflung stand. „Yukiko.“, murmelte Sharon. Shinichis Herz setzte einen Schlag aus, dann wandte er sich seinem Vater zu, der sichtbar mit sich kämpfte, dann nickte. „Ja. Sie weiß doch von all dem hier nichts… sie hat keine Ahnung, wer ihr Mann eigentlich ist. Und ich bin doch nur hier, weil sie mich mit ihr… und bis jetzt auch dir… in der Hand haben. Fakt ist, wenn ich nicht tu, was sie verlangen, dann töten sie sie...“ Shinichi sank langsam in einen Sessel, starrte ihn an. „Ja, die Masche ist nicht neu, Sohnemann… was meinst du, wie ich auf die Idee kam, dir das anzutun? Dir mit Ran zu drohen? Weil ich weiß, wie sehr man einen Menschen in der Hand hat, bedroht man das Leben derer, die er liebt.“ Yusaku hatte seine Reaktion bemerkt, nickte schwer. „Glaubst du ernsthaft, ich wollte das hier…?“ Er machte eine ausholende Geste, lächelte bitter. „Nein… ganz sicher nicht.“ Langsam strich er sich mit einer Hand über Gesicht und Haare. „Du kannst von Glück reden, dass sie von Ran nichts wissen. Von ihr weiß nur ich, Sharon und Beaujolais, aber die kann nichts ausrichten, und sie kennt zudem nur den Vornamen… und ich hatte und habe nicht vor, Ran ein Leid zuzufügen. Aber Fakt ist…“ Er wedelte erschöpft mit der Hand, wandte sich wieder Sharon zu. „Wenn er frei kommt… dann wird er dafür sorgen, dass die Organisation bezahlt, für alles. Nicht wahr, Shinichi?“ Er warf ihm einen langen Blick zu. „Aber das… genau das lassen die nicht zu. Sie stellen mich vor die Wahl, entweder dich zu töten, oder deine Mutter, und wir dürfen uns aber sicher sein, sollte die Wahl auf deine Mutter fallen, dann bist du eben deswegen trotzdem nicht sicher, wenn du nicht schaffst, diesen ganzen faulen Apfel auf einmal zu vernichten.“ Auf Yusakus Gesicht war ein trauriges Lächeln getreten; langsam legte er die Spitzen seiner Finger aneinander. „Ich will dich nicht umbringen, ich liebe dich, egal ob du mir das noch glaubst oder nicht… und ich will auch Yukiko nicht gefährden… ich denke, das liegt auch nicht in deinem Interesse.“ Shinichi schwieg, sagte nichts mehr. „Das einzige, was ich für dich noch tun kann…“ Sharon horchte auf, schaute dem Schriftsteller angespannt ins Gesicht. „Ich kann dir… fünf… vielleicht zehn Minuten Vorsprung geben.“ Yusakus Stimme war kaum mehr zu hören. Beschämt, wie es schien, wandte er seinen Kopf ab. Shinichis Kopf fuhr hoch, Erstaunen lag in seinem Blick. „Das ist die einzige Chance, die ich dir noch geben kann. Herrgott… auch wenn du mich jetzt verachtest, wozu du jedes Recht hast…“ Er schaute auf, schaute seinem Sohn geschlagen ins Gesicht. Shinichi stutzte, erschrak. So…alt… hatte er seinen Vater noch nie gesehen. „Fünf Minuten, Shinichi, dann werden sie dich jagen… dann wird dein Verschwinden bemerkt werden, länger kann ich sie nicht aufhalten, wegen deiner Mutter. Es wird sonst zu offensichtlich, dass ich dir geholfen habe, und dann ist sie in Gefahr. Sobald du durch das Haupttor das Gelände verlässt, wenn du zuvor nicht auf jemanden triffst, muss ich...“ Er brach ab. „Versuch, zu entkommen und mach, was du für richtig hältst. Mehr kann ich nicht tun… ich bin zwar der Boss der Organisation…“ Er lächelte bitter. „Aber ich bin auch ihr Gefangener. Ich kann mich diesen Gesetzen nicht widersetzen. Und ich kann mich nicht… der Polizei stellen. Ich… ich kann es nicht riskieren wegen Yukiko. Und ich bin… lange nicht so mutig wie du es bist. Es ist gut, dass du… nicht so geworden bist wie ich. Ich wollte nie, dass du zu den gleichen Dingen fähig bist wie ich… Dass uns in der Hinsicht so wenig verbindet ist unschätzbar viel wert und ich bin so dankbar dafür.“ Während er geredet hatte, hatte Yusaku Kudô seine Finger auf der Tischplatte angestarrt. „Nun, leb wohl.“ Langsam sah er auf, schüttelte den Kopf, als Shinichi den Mund öffnete, um etwas darauf zu erwidern. „Lauf.“ Shinichi schluckte. Langsam atmete er aus. Dann stand er auf, ohne ein Wort zu sagen, sah ihn an, mit einem schwer zu deutenden Ausdruck in den Augen. Drehte er auf dem Absatz um, verließ das Büro und begann zu rennen. Yusaku stand auf, als die Tür zugefallen war, warf Sharon einen Blick zu, reichte ihr den Revolver aus seiner Schublade. „Na los. Schlag mich irgendwohin damit, es muss aussehen, als hätte er uns überwältigt.“ „Und was ist mit mir?“ Sie hob eine Augenbraue. Yusaku zog eine weitere Schublade auf, holte eine Uhr heraus. Das Narkosechronometer. „Ich hab schon lange auch so eine… seit ich sie das erste Mal bei Shinichi gesehen hab.“ Vermouth lächelte bitter, nahm den Revolver, schlug ihm schwungvoll mit dem Griff der Waffe ins Gesicht. Er schrie nicht, atmete nur scharf aus und taumelte kurz, griff sich dann an die Platzwunde an der Schläfe, aus der das Blut zu laufen begann. „So fest hättest du nicht…“ „Es soll doch glaubhaft wirken, oder nicht, darling? Du musst… damit beschäftigt gewesen sein, um ihn nicht selbst zu stellen.“ Ein breites Grinsen zierte ihre Lippen. Er sagte nichts mehr, hob nur die Uhr hoch, zielte auf ihren Hals, ließ den Deckel aufschnappen und drückte ab. Während sie umfiel wie ein gefällter Baum, zu Boden ging und liegenblieb, ein schwarzer Engel mit goldenen Locken, ließ er sich in seinen Sessel sinken, warf einen Blick hinaus durch das Panoramafenster. Er sah das Haupttor. Es ging auf. Dann sah er ihn durch hetzen. Eine schlanke, schwarzgekleidete Gestalt, die lief, als ob der Teufel persönlich hinter ihm her wäre. Genau genommen war dem auch so. Sein Magen zog sich zusammen, als er den Alarmknopf drückte. Langsam nahm er die Hand von seiner Schläfe, betrachtete das Blut an seinen Händen. Lauf, Shinichi. Lauf. Lauf um dein Leben. Draußen hörte er Rufe, Schritte. Die Jagd hatte begonnen. Und der Regen setzte ein. Shinichi war draußen, vor den Toren, wusste immer noch nicht, wie genau er rausgekommen war. Im Grunde genommen war es auch egal; es zählte nur da Ergebnis. Er war draußen. Kurz hielt er inne, hielt sich den Handrücken an die Stirn, versuchte, nicht zu viel zu denken, aber es gelang ihm nicht. Die Ereignisse der letzten Tage stürzten auf ihn ein wie eine Meute wütender Hunde auf eine wehrlose Katze. Shinichi schluckte, merkte, wie ein Zittern durch seinen Körper lief. Yusaku Kudô war der Boss der schwarzen Organisation. Der Anführer der Organisation, die ihm die letzten drei Jahre seines Lebens als Shinichi Kudô gekostet hatte. Die Organisation, die Akemi Miyano auf dem Gewissen hatte, der er Conan Edogawa verdankte, die Schuld war, an Tausenden von Rans Tränen und an unzähligen Stunden, in denen er in seiner Bitterkeit und zahllosen Selbstvorwürfen versunken war, weil er wieder nicht helfen hatte können, dank seines neuen Alter Egos. Stunden, in denen er sich nutzlos, wie ein Versager, wie ein Mistkerl, ein Niemand vorgekommen war, jemand, den man besser vergas… Weil er tatenlos einem Verbrechen hatte zuschauen müssen. Weil Ran wieder geweint hatte, wegen ihm. Weil… Yusaku Kudô war Boss der Organisation, die ihn umbringen wollte… die ihn vernichten hatte wollen, in den letzten Tagen… Wochen, Monaten Jahren… Der Boss dieser Organisation war sein eigener Vater. Den er… trotz allem, was er ihm eben an den Kopf geworfen hatte… trotz der Wut, der Enttäuschung, der Verzweiflung, die ihn ergriffen hatten und nicht losließn… noch immer liebte… wie ein Sohn eben einen Vater liebte. Irgendwo verstand er ihn… verstand, warum er so gehandelt hatte, verstand es, weil er in der gleichen Situation gewesen war und nicht sicher war, wie er gehandelt hätte, hätte er sich entscheiden müssen… Ja, er verstand, warum das alles so hatte enden müssen, unter diesen Umständen und gleichzeitig wollte er ihn nicht verstehen. Denn er war verraten worden… von seinem eigenen Vater. Das verzieh man einfach nicht so schnell, und das wollte man auch nicht nachvollziehen müssen… Und er wollte nicht verstehen… weil er nicht zu den gleichen Dingen fähig sein wollte. Ihm war schlecht. Er fühlte sich elend, er war verzweifelt, er merkte erst jetzt, wie unter ihm der Boden unter den Füßen wegbrach… Seine Welt stürzte ein. Der Mensch, von dem er dachte, er könne ihn immer vertrauen, wäre immer für ihn da und würde ihm immer helfen… Dieser Mensch hatte ihn verraten. Langsam hob er die Hand vor den Mund, unterdrückte einen Würgereiz. Dieser Gedanke, diese Situation trieb ihn an die Grenze dessen, was sein Verstand zu ertragen bereit war. Dieses Hin und Her, dieses Für und Wider, gepaart mit all den Ereignissen der letzten Woche, angefangen von der Entführung bis hin zu diesem Zeitpunkt… forderten nun ihren Tribut. Pochender Kopfschmerz stellte sich ein, begann in seinem Hinterkopf, schien durch seinen Schädel zu rasen. Shinichi griff in seine Haare, hielt sich den Kopf, kniff die Augen zu, ein leises Stöhnen verließ seine Lippen. Nur nicht durchdrehen jetzt. Du bist zwar draußen, aber in Sicherheit bist du noch nicht. Über das alles kannst du noch nachdenken, wenn du sie abgehängt hast. Er seufzte, überging, dass ihm kurz schwarz vor Augen wurde, drehte sich um; wollte sich orientieren, in welche Richtung er am besten lief. Die Entscheidung wurde ihm schnell abgenommen. „Haltet ihn auf!“ Er dachte nicht mehr. Er rannte einfach los, egal welche Richtung, nur weg. Einfach weg von hier. So schnell wie möglich. Hinter sich hörte er sie rufen, aber er achtete nicht auf sie. Er konzentrierte sich nur aufs Laufen, denn ein Stolpern könnte schon fatal sein. Er versuchte zu vergessen, was für eine Unterhaltung er gerade im Büro des Bosses, im Büro seines Vaters, geführt hatte. Er hatte keinen Vater mehr. Shinichi schluckte, merkte, wie es in seinem Magen kribbelte, wie seine Hände kalt wurden, seine Beine taub. Das Laufen fiel ihm schwer, aber er riss sich zusammen. Er wusste nicht, wie lange er gerannt war, und wohin… aber auf einmal war alles still. Unsicher blieb er stehen, lauschte, versuchte etwas anderes zu hören als seinen eigenen Atem, als das Rauschen von Blut in seinen Ohren. Er stand da, keuchend, versuchte, herauszufinden, in welche Richtung er nun am besten fliehen sollte. Shinichi sah auf, in den Himmel, legte seinen Kopf in den Nacken, um anhand des Mondes oder der Sterne seine Laufrichtung zu bestimmen, sah die Himmelskörper funkeln wie Diamanten auf schwarzem Samt, aber er konnte sich nicht sammeln. Er fand die Wegweiser nicht, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Es schien, als entzöge sich ihm sein Denkvermögen. Er konnte sich nicht konzentrieren. Hilflos schaute er wieder zu Boden, fuhr sich durch die mittlerweile tropfnassen Haare, merkte, wie er vor Kälte und Nässe schlotterte. Regen prasselte immer noch auf ihn nieder, es goss in Strömen – schon längst war er bis auf die Haut durchnässt. Agasa, Ai und Jodie saßen im gelben Käfer und fuhren die Landstraßen entlang. Ganz wie sie beschlossen hatten, hatten sie bis zur Dämmerung gesucht, und waren dann ins Auto gestiegen. James hatte sich mit den Kindern und Heiji verabschiedet; sie mussten die Kleinen zu ihren Eltern zurückbringen, ehe die sich noch Sorgen machten. „What a dreadful night.“, wisperte Jodie, schaute aufmerksam durch die Windschutzscheibe, verfluchte den Regen, der die Sicht so behinderte. „Allerdings.“, pflichtete der Professor ihr bei, lenkte den Wagen, hielt ebenfalls Ausschau. Ai sagte nichts. Sie saß im Fond des Wagens, starrte auf ihre Hände, mit denen sie ihre Knie umklammerte, schluckte schwer. Ein ungutes Gefühl hatte sich in ihr breitgemacht. Ein Gefühl, dass sie nicht losließ… ein Gefühl, das sie schon einmal beschlichen hatte. Am Tag, als Akemi sterben musste… Sie schloss die Augen, schüttelte den Kopf. Nicht er auch noch! James Black wagte seinen Ohren kaum zu trauen. Er hatte sein Auto am Straßenrand geparkt, als sein Handy zu klingeln anfing; am Telefon war Hidemi Hondo, ihre Stimme überschlug sich fast. „Sie wollen ihn töten!“ Die schwarzhaarige Frau presste das Telefon an ihr Ohr. „Er hat sich geweigert, einen Klienten zu erschießen, und jetzt wird man ihn umbringen… da kann keiner ihn raushauen. Vorhin wurde der Alarm ausgelöst, offensichtlich ist er… flüchtig… aber weit wird er nicht kommen… sie sind hinter ihm her, die ganze Organisation ist auf den Beinen…“ Black starrte Heiji an. Dann legte er das Telefon auf. „Er ist da draußen.“ „Worauf warten wir dann noch?!“ Heiji starrte ihn aufgebracht an, gestikulierte wild. „Fahrense los!“ Langsam, bedrückt schüttelte der FBI-Agent sein Haupt. „Wir können nicht. Nicht mit den Kindern im Wagen, er ist nicht gepanzert.“ Betrübt blickte er zu den schlafenden Detective Boys. „Man wird schießen. Es wird hoch hergehen, Kudô ist vogelfrei… wir können das Leben der Kinder nicht riskieren, junger Freund.“ Heiji starrte ihn an, dann drehte er sich ruckartig um, griff nach der Türklinke, hörte ein leises Klacken. James hatte den Wagen zentralverriegelt. „Es ehrt dich, dass du das tun willst, aber du hast keine Chance. It is dark, you will not see them, and they’ll shoot at any moving thing. I’ll not risk your life. Das kannst du nicht von mir erwarten.“ „Lassense mich raus! Sie hab’n kein Recht..! Ich muss…“ Heiji atmte schwer. Traurig schüttelte James den Kopf. „Forget it. Wir können nur abwarten. Ausharren. Irgendeinen Ausgang wird es geben, in dieser Nacht…“ „Dann rufen Sie Jodie an!“ „Würde ich gern.“ Der grauhaarige Mann seufzte tief. „She just left her mobile in this car…” Zynisch lächelnd hob er ein Handy aus der Mittelkonsole des Wagens. „Wir können nur hoffen, dass Fortuna ihnen hold ist, und sie ihn finden…“ Heiji verdrehte die Augen, ließ sich in den Autositz sinken, nicht, ohne noch einmal an der Türklinke zu rütteln. Der Wagen ließ sich nur mit dem Schlüssel zentralverriegeln von innen, und den Schlüssel hatte James… er hatte keine Chance. Kudô! Verdammt, halt durch! Dann pfiff eine Kugel durch die Nacht. Der Schuss war ohrenbetäubend. „Da ist er!“ Schreie hallten durch die Dunkelheit. Angst. Er hatte Angst, spürte sie in jeder Faser seines Körpers vibrieren. Todesangst. Shinichi fuhr herum, blickte hektisch um sich, versuchte zu orten, aus welcher Richtung der Schuss gefallen war, schließlich wollte er ihnen nicht in die Arme laufen. Er schaute sich gehetzt um, begann dann einfach wieder los zu hetzen. Er hatte keine Zeit… Verdammt…! Allein, was ihm in den letzten paar Stunden an Schrecken widerfahren war, reichte für den Rest seines Lebens. Und das wollte er nun wenigstens behalten… sein Leben. Auch wenn es… ein anderes Leben war, als das, welches er vorher geführt hatte… er wollte es nicht einfach so aufgeben. Auch wenn er den Boden unter den Füßen verlor, auch wenn seine Welt ein großer Trümmerhaufen war und er nicht wusste, was morgen kam, was er jetzt tun sollte, mit diesem Wissen… Diesem Wissen, dass er nicht haben wollte. Er kniff die Augen zusammen, nur kurz. Bilder tauchten auf, in seinem Kopf, sein Vater, der Boss… Sein Vater… der ihm das angetan hatte… Der ihm das Leben gerettet hatte… Den er jetzt hasste… Und doch irgendwie… immer noch liebte. Diese Schuld in seinen Augen zu sehen, diese Verzweiflung… diese Angst. Er war ein Verbrecher. Er musste ihn… verraten. Aber… war er dazu in der Lage? Seinen Vater auszuliefern? Auf das, was er getan hatte, stand die Todesstrafe in Japan. Mein Gott, diese Worte gehen einem immer so leicht über die Lippen, wenn man nicht in der Situation steckt. Früher hätte er darüber nicht nachgedacht. Jetzt tat er es, und es trieb ihn an seine Grenze. Shinichi keuchte, riss die Augen wieder auf, wusste immer noch nicht, was er tun sollte. Aber musste doch etwas tun… Etwas tun… irgendetwas. Aber zuerst galt es, zu überleben. Also sollte er jetzt verdammt nochmal zu denken aufhören und etwas anderes tun. Rennen nämlich… sonst würde er diese Entscheidung nie mehr treffen müssen. Eigentlich auch ein verlockender Gedanke… aber so einfach durfte er sich das nicht machen. Und so lief er, lief, lief, lief um sein Leben. Ruderte mit den Armen, fing sich gerade noch, als er fast ausgerutscht wäre, rannte weiter. Hinter ihm hörte er Reifen quietschen. Auch ohne sich umzudrehen wusste er, dass es Gin war. Ein schwarzer Panther auf der Jagd. Er keuchte, kniff die Augen zusammen, hustete. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, schmerzhaft. Er rang nach Atem, das Blut rauschte in seinen Ohren, als er weiter rannte. Weiter, weiter, weiter… Schneller, schneller,… Wenn sie dich kriegen, bist du tot… Er bog ab, dann schlug er sich in die Büsche. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, zerkratzten seine Haut, rissen an seiner Kleidung - aber so konnte er zumindest den Autos entkommen. Diesmal hörte er sie nicht. Es war nur ein leises Pfeifen in der Luft- der Schalldämpfer machte seine Sache wirklich gut. Und dann spürte er sie. Die Kugel. Den Schmerz. Er schrie auf, markerschütternd, gellend, als das Projektil ihn von hinten traf, seinen Bauchraum durchschlug, vorne wieder austrat und in einem Baum ihre Ruhe fand. Er stürzte, keuchte, würgte und spuckte Blut. Kurz wurde im schwindlig, schlecht - dann rappelte er sich wieder auf, als er eine Autotür zuschlagen hörte, wankte weiter, taumelte durch den nächtlichen Wald. „Los, weit kann er nicht sein. Wir haben ihn getroffen.“ Gin. Shinichi zitterte - dann blieb er stehen. Sie konnten ihn nicht sehen, ihn nicht, und auch nicht die Spur, die er hinterließ. Es war zu dunkel, und es war alles nass. Taschenlampen würden sie nicht verwenden, denn so könnten nicht nur sie ihn sehen… sondern auch er sie, und hätte ihnen damit ausweichen können. Nein, sie würden die Dunkelheit zur Deckung nutzen… so wie er. Sie konnten ihn nicht sehen. Aber sie konnten ihn hören. Also musste er sich ein Versteck suchen, und da warten, bis sie von ihm abließen. Hoffen, dass sie ihn nicht fanden. Prüfend schaute er den Baum neben sich an - dann griff er nach dem ersten Ast, den er erreichen konnte, und zog sich hoch, biss die Zähne zusammen, unterdrückte ein Stöhnen. Kletterte höher, so leise er konnte. Und wartete… versank in Gedanken, die sich langsam immer mehr im Kreise drehten, ihn immer mehr verwirrten, und versuchte, irgendwie noch versuchen auszumachen, wo seine Verfolger abblieben. Es gelang ihm nicht, seine Gedanken ließen ihm keine Ruhe mehr. Immer auswegloser schien das alles zu werden… immer weniger Halt fand er, so sehr er auch nach etwas suchte, an das er sich klammern konnte. Seine Welt brach Stück für Stück auseiander, zerlegte sich in winzig kleine Einzelteilte, die er versuchte, zusammenzusetzen. Immer mehr Fragen türmten sich auf, immer weniger Antworten fand er, und immer mehr Dunkelheit drückte auf ihn nieder. Finsternis… Warum…? Agasa, Jodie und Ai fuhren immer noch die Straßen ab; es war ihnen, als hätten sie in der Ferne einen Knall gehört, und nun versuchten sie, in diese Richtung zu fahren. Der Regen wurde immer schlimmer, die Scheibenwischer konnten das Wasser kaum mehr abhalten, im Licht der Schweinwerfer sah es aus, als ginge ein Schauer von Diamanten nieder, jeder Regentropfen brach das Licht, funkelte kostbar. Jodie seufzte, bemerkte einen Wagen, der an ihnen vorbeifuhr. Er war schwarz. Langsam drehte sie sich nach hinten um, zu Ai. Sie war kreideweiß im Gesicht, ihre Lippen zitterten, aber sie machte keinen Mucks. „Something’s goin‘ on here.“ Das Mädchen nickte nur. Irgendwann war es still. Diese Stille war es gewesen, die ihn aus einer Lethargie gerissen hatte, aus seinen Gedanken. Es regnete immer noch - dicke Tropfen fielen auf ihn nieder, erbarmungslos. Shinichi spähte durch die Nacht, horchte, hing wie halbtot auf seinem Ast, zitterte vor Kälte und Erschöpfung. Aber er musste weiter… hier im Wald würde ihn keiner finden, und gefunden werden musste er, denn in seinem Zustand kam er lebend nirgendwo mehr zu Fuß an, das war ihm klar. Soweit funktionierte sein Verstand noch, wenn er ihm auch sonst immer mehr zu entgleiten drohte. Er musste zurück auf die Straße. Wenn, dann würde man ihn dort aufgabeln. Er konnte nur hoffen, dass es die richtigen Leute sein würden. Er war fast unten, als der Ast abbrach. Aus gut drei Metern Höhe stürzte er, schlug hart auf dem Boden auf und blieb liegen. Fast etwas fassungslos blinzelte er den Mond an, Regen tropfte auf ihn nieder, in die Augen. „Ahhh…“, stöhnte er schwach, kniff die Augen zu, merkte, wie ihm übel wurde, und kalt. Aber… auf eine andere Weise kalt als ihm ohnehin schon war. Eine Kälte… die ihn bewegungsunfähig machte, ihn lähmte. Tauber Schmerz breitete sich von seinem Kopf über den Rücken bis in alle Gliedmaßen aus. Kurz wurde es schwarz um ihn. Dann kam er wieder zu sich - er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Als er sich aufsetzen wollte, durchfuhr ein Gefühl von Schmerz seinen Körper vom Scheitel bis zur Sohle, ließ ihn leise aufschreien. Er biss die Zähne zusammen, krabbelte, stemmte sich hoch, krallte seine Finger in den nassen Waldboden und keuchte. Sein Kopf tat weh, ihm war schwindlig und schlecht, er fürchtete, dass er sich gleich übergab, versuchte, den Würgereiz zu unterdrücken und kroch voran, auf allen vieren, zog sich am nächsten Baum hoch, taumelte weiter. Es dämmerte bereits, als er die Straße erreicht hatte. Regen ließ sie glänzen wie einen Strom. Er griff nach der Schusswunde an seinem Bauch. Seine Hand war schwarz - er wusste, dass sie voller Blut war. Es tat weh. Alles. Alles tat weh. Er konnte nicht mehr. Es ging nicht mehr. Die Welt begann sich auf einmal so schnell zu drehen. Er hörte wie durch Watte, schwarze Flecken traten vor seine Augen. Er setzte sich hin, um nicht umzufallen als er merkte, dass er sich nicht mehr halten konnte, dass ihn seine Kraft verließ. Sein Atem ging schwer, stoßweise. Mühevoll versuchte er, herauszufinden, wie er hierhergekommen war, doch es schien, als hätte ihn nun sein Gedächtnis, sein Gehirn, restlos im Stich gelassen. Er konnte nicht mehr denken, nicht einen klaren Gedanken mehr fassen. Was war passiert…? Wo war er hier…? Mein Kopf… Das war der Schock… bestimmt der Schock. Deshalb fiel ihm das Denken so schwer. Deshalb konnte er sich nicht mehr konzentrieren… Und dann kam er nicht mehr dagegen an. Er kippte zur Seite, immer noch seine blutige Hand vor Augen, verlor das Bewusstsein. Es war vorbei. Kapitel 19: Teil Zwei: Amnesia - Kapitel 1: Gefunden ---------------------------------------------------- Hi folks! Mit etwas Verspätung diesmal das nächste Kapitel, tut mir Leid! Und: Natürlich hat man ihn gefunden! Das wusstet ihr doch schon seit dem Prolog :D Und nun darf ich verkünden, genau da geht es jetzt auch weiter... mit dem zweiten Teil von Amnesia, dem Teil, dem die Geschichte auch den Namen verdankt. Ich danke euch sehr für eure Kommentare zum letzten Kapitel und ich hoffe, ich kann euch Yusaku als Boss doch einigermaßen glaubhaft erklären. Es war, das versichere ich euch, beileibe keine Schnapsidee... In diesem Sinne, viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, eure Leira :) __________________________________ Teil Zwei: Amnesia Kapitel 1: Gefunden Agasa stand am Gang vor dem OP und wartete. Neben ihm wartete Ai. Ein paar Stunden war es nun her, seit sie ihn auf der Straße gefunden und ihn hierher, ins Haido-Zentral-Klinikum, gefahren hatten. Die Fahrt hatte kaum länger gedauert als eine halbe Stunde; in dieser halben Stunde hatte er vorn neben dem Professor auf dem Beifahrersitz gelegen, Jodie hatte neben ihr gesessen – und im Wagen war es totenstill gewesen, als der alte Mann durch Nacht und Regen seinen Käfer zu Höchstleistungen angespornt hatte. Sie hatte ihn noch gesehen, ganz kurz, bevor er in den Operationssaal gerollt wurde - aber allein dieser kurze Augenblick hatte ihr gereicht, um zu sehen, dass es ihm wirklich schlecht ging. Er war kreideweiß im Gesicht gewesen, hatte gezittert; Schüttelfrost, soviel war selbst für den Laien offensichtlich. Die Ursache dafür war genauso offensichtlich - am ganzen Körper war er tropfnass, seine Lippen bereits blau angelaufen. Unterkühlt. Und sie hatte das Blut gesehen. Blut an seinen Händen, an seiner Kleidung. Blut. Überall. Sein Blut. Ai schien wie versteinert, fühlte sich wie gefroren, starr und kalt, unfähig zu einer Bewegung. Sie hatte gewusst, dass er verletzt war, dass es ihm schlecht ging, als man ihn in den Wagen gehoben hatte… aber da war das Licht viel zu schwach gewesen, um Einzelheiten auszumachen. Jetzt im Schein der Neonröhren war jeder Kratzer sichtbar geworden. Überdeutlich. Und es waren nicht wenige gewesen… und bei weitem nicht nur Kratzer. Sie knetete ihre kleinen Hände, dann sah sie auf zum Professor, bemühte sich um eine ruhige Stimme. „Wo sind die… die anderen?“ Der alte Mann schaute zu ihr herab, versuchte, einen beruhigenden Tonfall in seine Stimme zu bringen, merkte er doch, wie es um seine kleine Mitbewohnerin stand, egal wie sehr sie sich um Fassung mühte. „Warten alle im Wartezimmer. Ich schätze… Mr Black wird wohl die Kleinen nun bald heimfahren. Eigentlich sollten sie ja schon zuhause sein.“ Seine Stimme klang monoton, er schien nicht wirklich bei der Sache zu sein. „Sie haben gesagt, sie bleiben bei Ihnen über Nacht.“ Jodie war hinter die beiden getreten, ihre Arme unsicher vor der Brust verschränkt, in ihren Augen echte Sorge. Hinter ihr stand Heiji, der merklich blasser geworden war. Einerseits war er zwar unsäglich erleichtert, seinen Freund nun endlich in Sicherheit zu wissen; andererseits konnte er nicht aufatmen, solange er nicht wusste, dass Shinichi auch wieder gesund wurde. Noch dazu stand ja eine Sache noch zwischen ihnen; etwas, dass er sich nicht verzeihen konnte, nämlich sein Verhalten als Freund, das er vor ein paar Tagen im Garten an den Tag gelegt hatte. Es nagte beständig an ihm, und so wenig für ihn tun zu können - im Moment, und auch bei seiner Rettung generell, trieb in fast in den Wahnsinn. Wozu war er denn sein Freund… wenn er ihm nicht helfen konnte, wenn er Hilfe brauchte? Er wollte endlich mit ihm reden. Er wollte sich aussprechen, sich… entschuldigen. Ihm von nun an zur Seite stehen. Als Freund. Der alte Mann seufzte, dann bemerkte er James Black langsam näher kommen. Jodie hatte ihren Vorgesetzten vom Krankenhaus aus angerufen, der zusammen mit Heiji und den Kindern nur kurz darauf eingetroffen war. „The kids are asleep in the waiting room. Any… news?“, bemerkte er leise. Agasa schüttelte den Kopf, seufzte erneut, vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen, sein Blick dunkel umwölkt vor Sorge. Sie hatten den Kindern immer noch nicht von seiner Doppelidentität erzählt. Die Kinder hatten in ihm nur Rans Freund gesehen. Sie hatten keinen blassen Schimmer. „War er eigentlich…“ Ai schluckte, bemerkte einigermaßen fassungslos, wie ihr die Stimme wegbrach. Sie griff sich an den Hals, räusperte sich - dann schaute sie nach oben, in die Gesichter ihrer Freunde, entgegen ihrer Angewohnheit, vor sich her zu reden und ihren Gesprächspartner nicht anzusehen. „Professor… war er eigentlich- ich meine hat er…?“ Sie atmete tief durch, versuchte, sich zu sortieren, konnte kaum glauben, dass sie nur noch stottern konnte, anscheinend; sie, die doch eigentlich immer die Nerven behielt. Sie räusperte, wandte den Blick ab, studierte die Musterung des Linoleumbodens, ehe sie erneut ansetzte. „Als sie ihn fanden, Professor, hat er da was gesagt? Er war ja kurz bei Bewusstsein, er stand ja, als wir ihn fanden…“ Na endlich ein vollständiger Satz. Gut gemacht. Agasa seufzte, ließ sich auf die Bank, die im Gang stand, nieder. Schwerfällig, ungelenkig, müde. Ai schaute ihn an, erschrak, ihre kindlichen Augen wurden groß, als ihr ein Gedanke, eine Erkenntnis in den Kopf schoss. Nie hatte sie ihm seine Sorgen so richtig angesehen, bis jetzt. Er sah alt aus, so niedergeschlagen und zerfressen vor Sorge, und erst jetzt wurde ihr wieder klar, und zwar so richtig klar, dass ihn und Shinichi eine sehr, sehr lange Freundschaft verband. Agasa kannte Shinichi schon als Baby - er war wohl für den Detektiv schon so eine Art Großvaterersatz gewesen. Die beiden standen sich wirklich nahe, und jetzt standen sie hier im Krankenhaus, hatten Shinichi gerade schwerverletzt in den OP rollen sehen. Ai schluckte, zuckte dann zusammen, als sie Agasas Stimme vernahm, der ihr leise antwortete. „Er war wach, kurz, ja. Gesagt hat er nichts. Aber der Blick in seinen Augen…“ Der alte Mann schauderte, als er sich daran erinnerte. Sah diese blauen Augen, das Gesicht seines jungen Freundes vor sich. Dieses ihm so bekannte Gesicht. Und er sah diese Fassungslosigkeit in seinen Augen. Dieses Entsetzen. Diesen Schmerz, diese Angst. Und… diese Verwirrung. Genau dieser Ausdruck in Shinichis Augen ließ ihn Böses ahnen. „Was, Professor?“ Ai zog ihn am Ärmel. Heiji, Black und Jodie beugten sich vor. „Welcher Blick?“ Es war Heiji, der fragte, und er klang nervös, definitiv. „Er schien so… überrascht. So fassungslos. Verwirrt, ja. Total verwirrt. Als hätte er keine Ahnung, wie ihm das zugestoßen ist…“ Das rotblonde Mädchen ballte die Fäuste, biss sich die Lippen blutig, bemerkte aus dem Augenwinkel, wie der junge Mann aus Osaka es ihr gleichtat. „Sie glauben doch nicht…?“ „Er hatte eine schlimme Wunde am Kopf…“, murmelte Agasa. „Möglich ist alles.“ „Aber…!“ „Ich weiß.“ Der alte Mann seufzte. „Ich weiß, dass das so ziemlich das Letzte ist, was er brauchen kann.“ Er räusperte sich, streckte sich unbehaglich. „Ich muss seine Eltern anrufen. Und die Polizei. Bleibst du hier, Ai?“ Sie nickte. „Soll ich dir was zu trinken mitnehmen…? Oder Ihnen? Heiji?“ „Mir egal.“ Ihre Stimme war kaum hörbar. Heiji schüttelte ebenfalls den Kopf, rammte seine Hände in seine Hosentaschen und lehnte sich gegen die Wand, starrte stur geradeaus. Man konnte förmlich sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. James Black und Jodie schüttelten ebenfalls die Köpfe. „Wir informieren Akai… er sollte mit Ran wohl besser herkommen, es gibt keinen Grund mehr, sie auf Izu zu halten. Und wenn Sie wollen, Professor, dann informieren wir die Polizei.“ Ai interessierte das nicht, genauso wenig wie Heiji. Sie beide wandten sich um, stumm schauten wieder die Tür zu OP 4 an. Hinter dieser Tür lag er. „Shinichi…“ Sie wisperte den Namen nur. Heiji sah sie nicht an. Durchhalten, Kudô…! Hiroshi Agasa hatte in der Krankenhauslobby eine Telefonzelle gefunden, wählte die Nummer der Kudôs. Er zog es vor, hier drinnen zu telefonieren, hier, wo er alles und jeden sah, und nicht mit dem Handy rauszugehen, in die nächtliche Finsternis, wo er nicht wusste, ob nicht hinter einer Ecke bereits einer von ihnen wartete und sich nur zu sehr über Informationen über Shinichi Kudô freute. Er war nervös, ihm war ganz und gar nicht wohl bei der Sache, und das wunderte ihn, denn eigentlich überbrachte er doch… erfreuliche Nachrichten. In gewisser Weise. Allerdings hätten diese Nachrichten wohl noch erfreulicher sein können. Das Freizeichen ertönte, während er überlegte, welche Worte er wählen sollte. Was sollte er ihnen nun erzählen- oder besser, wie? Er wusste doch selber noch gar nicht, wie es um Shinichi stand. Wie schwer verletzt er wirklich war. Das Freizeichen ertönte ein weiteres Mal, und ein drittes Mal, und er wusste noch immer nicht, was er genau sagen sollte. Was sein seltsames Verhalten zu bedeuten hatte… Gerade, als er auflegen wollte, sich fragte, ob der deswegen erleichtert sein sollte, dass er noch eine Galgenfrist erhielt, oder nicht, hob doch noch jemand ab. „Yukiko Kudô am Apparat, wer ist dran, bitte?“ Agasa seufzte. Ihre Stimme klang besorgt, was ihr nicht zu verübeln war. Und was auch ganz und gar nicht verwunderlich war. Er hatte bis zuletzt nicht gewusst, wer ihm als Gesprächspartner lieber gewesen wäre - nun wusste er es. Yusaku wäre seine Wahl gewesen. Yusaku, der einen kühlen Kopf behielt, immer. Ein Mann, der wusste, wie man mit solchen Ereignissen umging. „Wer ist dran, bitte?“, ertönte die Frage wiederholt an sein Ohr, der Tonfall diesmal aber weitaus drängender. Der Professor kratzte seinen Mut zusammen, räusperte sich. „Ich bin’s, Yukiko. Hiroshi. Ich rufe an… es geht um…“ Er wusste nicht, wie er fortfahren sollte. Allerdings wurde ihm diese Entscheidung bald abgenommen- nämlich als ihn Yukiko Kudô unterbrach. „Shinichi? Habt ihr- wurde er gefunden? Wo ist er? Wie geht es ihm? Kann ich ihn sprechen? Professor, nun sagen Sie doch etwas…“ Sie war aufgeregt, die Besorgnis um ihren Sohn sprach deutlich aus ihr. Agasa seufzte, holte selber erst einmal tief Luft, ehe er erneut ansetzte. „Yukiko… beruhig dich, setz dich besser hin. Schalt das Telefon auf Lautsprecher und hol Yusaku, damit ich es nicht zweimal erzählen muss…“ „Professor-…“ Der alte Mann zog die Augenbrauen hoch, als er sich ihres unsicheren Tonfalls gewahr wurde. So hatte er sie noch nie gehört. „Yu… Yusaku ist nicht da… sie müssen es wohl zweimal erzählen.“ Sie schluckte. „Oder ich sags ihm… wenn er wiederkommt. Ich weiß allerdings nicht, wann das sein wird, er ist heute Abend einfach wieder weggefahren und ich…“ Angst. In seiner Stimme lag Angst. „… weiß nicht wohin...“ Sie seufzte, er spürte deutlich, wie sehr sie sich zusammenriss, am anderen Ende der Leitung. „Aber ich denke, er kommt… bald wieder. Ich versuchs später auf seinem Handy. Aber nun sagen Sie doch…“ Ihre Stimme wurde immer drängender. „Nun sagen Sie doch… was ist mit Shinichi? Er ist doch nicht- bitte sagen Sie…“ Yukiko brach ab, für einen Moment herrschte Stille in der Leitung, ehe ihre sachte zitternde Stimme erneut an sein Ohr drang. „Er ist nicht tot, Professor, oder? Bitte- sagen Sie,… sagen Sie, dass er nicht tot ist… Mein Gott, er darf nicht tot sein, bitte…“ Agasa seufzte, ein minimales Lächeln huschte über seine Lippen. Wenigstens diese Sorge konnte er ihr nehmen. Vorerst, zumindest. „Nein, ist er nicht. Noch nicht, heißt das.“ Seine Miene verdüsterte sich kurz. „Was… was ist denn jetzt eigentlich passiert...Ha… haben sie ihn gefunden?“, fragte sie wispernd. Angst klang in ihrer Stimme, wahnsinnige Angst. Der alte Professor fuhr sich mit den Fingern durch seine weißen Locken, wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Nun… ganz genau weiß ich es auch nicht… ich kann dir nur sagen, was ich miterlebt habe. Aber gut - dann hör zu…“ Er holte tief Luft, sammelte sich. „Ich hab ihn gefunden, vor… jetzt ungefähr zweieinhalb Stunden. Auf einer Landstraße, er war bis auf die Haut durchnässt, hat geblutet - er hat eine Schussverletzung im Bauchbereich, die Kugel ging durch. Offensichtlich ist er geflohen. Er war nur kurz ansprechbar, dann ist er wieder zusammengebrochen, aber er schien… verwirrt.“ „Inwiefern verwirrt…?“, fragte Yukiko zögernd. Agasa rang mit sich. „Ich- ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, vielleicht irre ich mich auch, aber… als ich ihn mit seinem Namen angeredet hat, da sah er mich sehr seltsam an. Als wüsste er nicht…“ „Nein!“ Yukikos Stimme klang schrill. „Reden Sie bitte nicht weiter, Professor. Ganz bestimmt irren Sie sich. Er war bestimmt nur verwirrt - er war doch… er, ich meine, er war doch Shinichi- als sie ihn fanden, oder?“ „Ja. Ganz Recht.“ „Nun, vielleicht war er nur so perplex, weil Sie ihn mit seinem Namen angeredet haben. Er ist wohl vielleicht Conan zu sehr gewöhnt…?“ In ihrer Stimme schwang Hoffnung. „Aber ich nannte ihn doch immer Shinichi…“, murmelte Agasa etwas hilflos. „Es kann auch an der Situation gelegen haben. Er war verletzt, wer weiß, was er durchmachen musste. Er hat bestimmt nicht…“ Sie weinte fast, klammerte sich an diesen Strohhalm wie eine Ertrinkende. Und der alte Mann schaffte es nicht, ihr diese Hoffnung zu nehmen, sie wirklich in Tränen ausbrechen zu lassen. „Wahrscheinlich. Er war vielleicht unter Schock…“ „Ja!“ Yukiko räusperte sich, rang um ihre Fassung. „Das war es bestimmt. Der Schock, bestimmt…“ Leises Schluchzen, gemischt mit unverständlichem Gemurmel füllte die Leitung. „Wann kommt ihr ihn besuchen?“ Die Stimme des Professors riss sie wieder zurück. Yukiko sammelte sich, schluckte ihre Tränen runter, wischte sich die letzten Tropfen aus den Augenwinkeln. „Bald, hoffe ich. Ich… muss noch hierbleiben bis Yusaku da ist…“ „Sicher. Bis… bis dann. Ich informier dich, sobald ich was Neues weiß. Kopf hoch, Yukiko, er packt das schon… Shinichi steckt das weg. Der Junge ist stark.“ Der Professor rieb sich die Stirn, fragte sich, woher er die Kraft für solche Floskeln hatte. „Ja…“, murmelte sie leise. „Natürlich. Es wird… wieder gut jetzt. Es muss.“ „Du wirst sehen, das wird es.“, er versuchte, beruhigend zu wirken, hoffte, dass er sie nicht gerade anlog. Dann legte er auf, zögernd, schwer ruhte seine Hand auf dem Hörer. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Kehle, ein frustriertes Aufstöhnen- er bedeckte sein Gesicht mit einer Hand, dann wählte er die Nummer der Môris, hielt jedoch inne. „Ja, jetzt ist es wohl an der Zeit…“, murmelte er leise, als er sein Adressbüchlein aus seiner Tasche fischte und es auf der Suche nach ihrer Nummer durchblätterte. Sie musste es nun wissen. Ran. Er biss sich auf die Lippen, als er ihre Nummer eintippte, fragte sich in Gedanken, wie viel er ihr erzählen durfte. Nicht alles… so viel war klar. Ran merkte, wie ihr Handy in ihrer Tasche vibrierte, zog es heraus, stutzte, als sie sah, dass keine Nummer übermittelt wurde. Zögernd hob sie ab, hielt sich das Handy dicht ans Ohr. „Môri Ran, wer spricht, bitte?“ Sie presste ihre Augen zusammen, biss sich auf ihre Unterlippe, in ihrem Kopf kreiste nur ein Gedanke. Lass es Shinichi sein, bitte… Lass es Shinichi sein, lass es Shinichi sein! „Hallo Ran. I-ich bins. Professor Agasa…“ Ran atmete kaum hörbar aus, merkte, wie sich in ihr die Enttäuschung breit machte. Professor Agasa. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie auch der FBI Agent in seine Tasche griff. Offensichtlich war sie nicht die einzige, die angerufen wurde. Dann holte sie Luft. Immerhin rief man sie endlich mal an, und sie musste nicht immer nachbohren; das könnte bedeuten, dass man ihr endlich mal ein wenig mehr Information zukommen lassen wollte. Und so ergriff sie die Chance beim Schopf, ließ den alten Mann, der gerade zu einem Satz ansetzen wollte, keine Zeit zum Sprechen. „Professor? Haben Sie- haben Sie schon etwas von Shinichi gehört, er hat sich immer noch nicht gemeldet, geht immer noch nicht an sein Handy, ich mach mir langsam echte Sorgen…“ Es sprudelte geradezu aus ihr heraus, aber eine echte Antwort… erwartete sie mittlerweile eigentlich gar nicht mehr. Umso überraschter war sie, als sie die Stimme des Professors vernahm. „Ja…, Ran. Ich hab… etwas von Shinichi gehört.“ Schleppend ging ihm dieser eine Satz über die Lippen. „Huh?“ Sie runzelte verwirrt die Stirn. Die schwere Stimme des Professors machte sie nervös. „Hör zu- du wirst jetzt gleich furchtbar sauer auf mich sein.“ Ran schloss die Augen, atmete langsam aus. Also war doch der Tag der Wahrheit heute. Anscheinend wollte man sie jetzt endlich tatsächlich einweihen. Sonoko beobachtete sie aufmerksam, trat neben sie. „Sie haben mich angelogen, Professor.“, stellte sie mit ruhiger Stimme fest. Der alte Mann seufzte in den Hörer, was als lautes Rauschen an ihr Ohr drang. „Ja.“, gab er dann gequält zu. „Es ist nicht alles in Ordnung mit Shinichi, und das war es die ganze Zeit nicht, nicht wahr? Es hatte einen Grund, warum er nicht mehr angerufen hat, es war nicht, weil sein Akku kaputt war, er… er steckt in Schwierigkeiten, und Sie haben versucht, mir das auszureden, Sie haben mir nichts---!“ Sie merkte, wie sie sich langsam hochschaukelte, wie sie immer wütender wurde, jetzt, da die Wahrheit endlich auf den Tisch kam – die schreckliche Wahrheit, gespickt mit jeder Menge schlechten Nachrichten. Frustriert atmete sie aus, wollte mit ihrer Tirade fortsetzen, als sie den Professor am anderen Ende der Leitung seufzen hörte. „Ja.“ Agasas Stimme klang unendlich müde. Ran ließ sich aufs Bett sinken. Ihre Beine hatten einfach so nachgegeben. „Warum sagen Sie mir das jetzt? Ich meine… erst jetzt?! Warum…? Ich meine- warum sagt er mir das nicht selber, warum haben Sie mich angelogen, wollte er, dass…“ Ihre Stimme klang brüchig, aber sie riss sich noch zusammen. „Wo ist er jetzt?! Wann kann ich ihn denn jetzt endlich sprechen? Verdammt, ich mach mir Sorgen, ich… ich merk das doch… ich… ich…“ „Ran-…“ „Ja…“ Sie schluckte schwer. „Er konnte wirklich nicht mit dir sprechen. Und jetzt… kann er das auch nicht. Er war nicht der, der beschlossen hat, dich rauszuhalten, obwohl er es wohl durchaus unterstützt hätte, hätte er in der Sache mitreden können. Wir hielten es alle für das Beste. Also… ich. Dein Vater, das FBI, die Polizei… alle… eigentlich. Ich meine… hast du dich nicht gefragt… er ist doch bei euch, jetzt, oder? Akai?“ Ran nickte, merkte dann, dass er wohl ihr Nicken kaum sehen würde und seufzte leise. „Ja. Er ist hier. Und ich kann mir schon denken, dass er auf uns aufpassen soll, weil Shinichi was ausgefressen hat. Was mich interessieren würde ist, warum sollte jemand mir oder Sonoko was antun wollen, nur weil Shinichi…“ Sie brach ab. Sonoko starrte sie mit offenem Mund an. „Wurde er erpresst? Professor, wo ist er jetzt? Jetzt sagen Sie mir doch endlich, was mit ihm los ist!!“ Rans Stimme überschlug sich. Akai warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Ran…“, murmelte Agasa erschöpft. „Ich kann dir das nicht alles am Telefon erzählen. Ich habe gehört, man wird euch jetzt bald herbringen, ich erzähl dir, was vorgefallen ist, wenn du hier bist…“ „Professor…“ Mit Mühe hielt sie sich zurück, versuchte nicht zu schreien, wo sie doch hörte, wie mitgenommen der alte Mann selbst war. Aber sie würde den Teufel tun und hier noch einen Tag oder länger unwissend und von Sorge zerfressen warten und Däumchen drehen. „Was ist mit ihm…?“ Tränen begannen, über ihre Wangen zu laufen, aber sie bekam das gar nicht wirklich mit. Hiroshi Agasa seufzte in den Hörer, ließ sich gegen die Rückwand der Kabine sinken, in der er stand, fühlte sich seltsam hilflos, als er sie weinen hörte. Er kannte Ran. Er wusste, wie sehr sie ihn liebte, Shinichi, und er ahnte, wie sehr sie gerade litt, da sie nicht wusste, wie es ihm ging. „Ihm sind… schlimme Dinge passiert, in der letzten Woche, weißt du. Er… ist jetzt im Krankenhaus, von da aus ruf ich dich auch an. Alles… alles weitere… wenn du da bist. Okay?“ Ran fuhr hoch. „Was?! Wie geht es ihm? Wie-…“ Panik schwang in ihrer Stimme. „Ran…“ Agasa versuchte so verständnisvoll, so ruhig wie möglich zu sprechen. „Du weißt… Shinichi hat nun schon… ziemlich lang einen Fall bearbeitet, eine… ziemlich große Sache. Das alles… ist eine sehr lange Geschichte. Ich kann sie dir wirklich nicht am Telefon erzählen…“ „Aber wir kriegen den Flieger frühestens übermorgen mittag!“ Rans Stimme war laut geworden. „So sagen Sie mir doch…“ „Man operiert ihn gerade. Er wurde angeschossen.“ Am anderen Ende der Leitung war es schlagartig totenstill. „Wie schlimm…“ Ihre Stimme war kaum lauter als ein Hauch, ihre gewisperten Worte gingen in der Geräuschkulisse der Krankenhauslobby fast unter. Agasa seufzte, fuhr sich mit seinen Fingern durch seinen Schnauzer, fühlte sich elend. „Ich kann dir nicht mehr sagen, ich weiß selber nicht mehr. Ich informiere dich über seinen Zustand, wenn ich was Neues weiß.“ Ran krallte ihre Hand in die Bettdecke, schluchzte. „Wie schlimm…?“, wiederholte sie tonlos. In ihren Worten waren die Tränen deutlich zu hören, jetzt. „Ich weiß es wirklich nicht…“ Agasa seufzte, strich sich über sein altes, faltengezeichnetes Gesicht und kam sich in diesem Moment älter vor als je zuvor. Sie liebte ihn. Und es musste gerade die Hölle für sie sein. „Hör zu Ran. Beruhig dich. Trink eine Tasse Tee… oder irgendwas in der Art. Du kannst jetzt nichts weiter tun; und ich werde hier bleiben und nach ihm sehen, sobald ich kann, und melde mich bei dir, wenn ich etwas neues weiß. Ist das in Ordnung?“ Ran schniefte, merkte, wie sie zu zittern anfing. „J…ja.“ „Gut.“ Der Professor seufzte leise. „Sei tapfer.“, murmelte er. Dann legte er auf, blieb minutenlang stehen, wo er war, die Augen halb geschlossen, merkte, wie seine Beine zitterten. Shinichi, was machst du bloß… Ran hielt ihr Handy in der Hand, sah es stumm an. Sie wandte sich zu Sonoko, schluckte. Ihre Lippen bebten, sie konnte kaum sprechen. „Er liegt im Krankenhaus, Sonoko. A…“ Sie holte Luft, schaute an die Decke, als immer mehr Tränen ihren Weg über ihre Wangen suchten, „…angeschossen. Angeschossen, verdammt nochmal, was hat er… was hat er sich nur wieder… wieder eingebrockt, dieser…“ Sie begann zu schluchzen, presste ihre Augen zusammen, hasste sich dafür, dass sie sich nicht beherrschen konnte, gerade, wo er… es wieder sehen konnte. Akai. „Schhht…“, wisperte Sonoko leise. Wortlos nahm sie ihre weinende Freundin in die Arme, streichelte ihr über den Rücken. In der anderen Ecke des Zimmers stand Shuichi Akai und telefonierte mit Jodie. Er war mittlerweile auf dem gleichen Stand wie Ran; mit dem Unterschied, dass er noch ein paar Detailinformationen bekam, die ihr vorenthalten worden waren. „Kir. Yes. Sie hat uns angerufen und uns mitgeteilt, dass er es verbockt habe, dass er sich wohl geweigert haben muss, jemanden zu erschießen, und deshalb haben sie ihn dem Boss vorgeführt. Die Version in der Organisation ist die, dass Kudô mit Vermouth und dem Boss allein im Zimmer war, sie beide überwältigt habe und dann geflohen ist. Der Boss muss es wohl aber dann noch geschafft haben, den Alarmknopf zu drücken, weshalb eine Hetzjagd auf ihn veranstaltet wurde… a real manhunt… He was shot… we suppose, it has been Gin who hit him, but we can’t be sure… on the other hand, you know Gin…“ Sie holte Luft, ein bitteres Lächeln war auf ihren Lippen erschienen. … that bloody bastard. Akai schaute blicklos auf den Boden, hielt still. Er hatte Jodie noch nie so ausdauernd reden gehört, und sie klang aufgebracht… das alles hatte sie wohl sehr mitgenommen, deshalb ließ er sie erzählen und stellte keine Fragen. Er hörte sie seufzen, dann vernahm er ihre Stimme an seinem Ohr. „You’re still there?“ „Sicher.“ „Well then. It was… dark, and it rained, hell, it rained cats and dogs…! They lost him. Man hat man ihn aus den Augen verloren; Gin und die anderen sind ohne ihn zurückgekehrt… was klar ist, denn der Professor, ich und Ai haben ihn ja gefunden, auf der Straße. Er muss sich versteckt gehalten haben, bis sie von ihm abgelassen hatten, und ist dann zur Straße… damit er gefunden wird. Denn allein… allein hätte er es in seinem Zustand nirgendwo mehr hin geschafft. He looks dreadful, Shu. The bullet went through his stomach… and he got himself a cold. Seine Lippen waren ganz blau… ich hab sowas noch nie gesehen, never…“ Sie seufzte. „Oh, the professor looks bad as well…“, bemerkte sie, als der alte Mann schleppenden Schrittes an ihr vorbeiging. „Ja, der hat gerade mit ihr telefoniert.“, bemerkte Akai leise. Jodie machte große Augen. „Oh. With Ran? How much did he tell her?“ „Nur, dass er verletzt ist, soweit ich das mitbekommen habe. Sehr weise von ihm. So wie’s aussieht, kommen wir mit dem Flieger übermorgen mittag zurück; wir sehen uns dann.“ Er seufzte. „Ich muss euch wohl nicht sagen, dass ihr gut auf ihn aufpassen müsst… und auf sie.“ „Ai?“ „Ja. Ihr seid der Organisation immer noch verdammt nah… und sie werden euch schneller gefunden haben, als euch lieb sein kann.“ „James hat schon Vorkehrungen getroffen. Offiziell liegt Shinichi Kudô nicht in diesem Krankenhaus.“ „Wohl auch besser so.“ Ein humorloses Lächeln huschte über seine Lippen. „Passt auf euch auf, Jodie.“, bemerkte er dann noch trocken, dann legte er auf, wortlos, ließ sich auf einen Stuhl sinken und betrachtete die beiden Mädchen auf dem Bett. Und wieder weinst du… dabei kannst du ihm mit deinen Tränen nicht das Geringste helfen. Du hilfst ihm nie… nie, wenn du weinst… Damit schadest du ihm nur. Leise seufzte er, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute aus dem Fenster. Yusaku Kudô lief Kreise in seinem Büro, hatte keine ruhige Minute mehr. Sharon war nach ihrem ganz persönlichen narkoleptischen Anfall losgelaufen, um Informationen über Shinichis, beziehungsweise Armagnacs, Verbleib zu bekommen - und kurz nachdem sie verschwunden war, war Absinth auf der Bildfläche erschienen. „Verdammt, Cognac, wo ist er?!“ Yusaku hatte sich betont gelassen das Blut von der Schläfe gewischt, versucht, sich seinen inneren Aufruhr nicht anmerken zu lassen. „Geflohen.“ „Das weiß ich auch, verdammt! Deshalb ist die halbe Organisation da draußen im Wald! Sie haben ihn fliehen lassen! Glauben Sie mir, Cognac, das werden Sie bereuen, das…“ „Ist nicht meine Schuld.“ Yusaku war aufgestanden, um den Tisch herumgegangen und hatte sich vor dem Triumviratsmitglied aufgebaut. „Ich hab den Alarm ausgelöst, sobald ich wieder bei mir war. Ich sah ihn gerade durchs Haupttor laufen, oder denken Sie, man wäre ihm sonst so dicht auf den Fersen? Ich hab die Meute persönlich auf meinen eigenen Sohn gehetzt! Verdammt, warum sollte ich ihm die Flucht ermöglichen, wenn ich ihn ohnehin ans Messer liefere?!“ ‚Und verdammt, Kudô… genau das hast du getan. Du hast ihn ans Messer geliefert… Wenn er diese Nacht nicht überlebt, weißt du, wer sein Mörder ist.‘ Dann hatte er langsam die Hände vor der Brust verschränkt, eine Geste, die, wie er wusste, immer Eindruck schindete. „Ich denke, es dürfte klar sein, dass ihr ihn finden müsst, um jeden Preis. Er weiß zu viel. Er muss in jedem Fall wieder hierher.“ Absinth hatte ihn skeptisch angeschaut. „Sie wissen, Cognac…“ „Dass Sie mir nicht trauen, weil er mein Sohn ist, ich weiß. Aber Sie vergessen, wer auf dem Spiel steht. Meine Frau.“ Er hatte sich bedeutungsvoll geräuspert. „Glauben Sie etwa, sie ist mir weniger wert?!“ Seine Stimme war laut und entschlossen gewesen, und das hatte Wirkung gezeigt. Absinth hatte ihn starr angesehene, sekundenlang, dabei ausgesehen, als würde er seine Zunge zerkauen und war dann wortlos aus dem Zimmer gestürmt. Und er hatte sich gehasst, und hasste sich… …jetzt noch. Absinth hatte sich augenscheinlich von derart schlagenden Argumenten fürs erste überzeugen lassen, wenn auch widerwillig, aber er war abgedampft, um Instruktionen zu erteilen. Seitdem saß er nun hier in seinem Büro, oder stand am Fenster, oder lief Kreise… Auf dem Tisch stand ein halbleeres Glas Cognac, daneben eine volle Glaskaraffe. Im überquellenden Aschenbecher qualmte eine angerauchte Zigarette vor sich hin, aber ihn interessierte das nicht. Es war nun drei Stunden her. Drei Stunden. Und keine Nachricht, von niemandem. Noch war keiner von der Suche zurückgekehrt, wie es schien. Dann ging die Tür auf, und Sharon stöckelte herein. Sie wischte sich müde über die Augen, ließ sich in den Sessel sinken, griff sich das Cognacglas und leerte es auf einen Zug. „Wo ist er?“ Yusaku trat vor sie, unterbrach sie unwirsch. „Ist schon jemand zurück? Wo ist er?!“ Sharon lächelte bitter. „Ich hab eine gute, und eine schlechte Nachricht. Welche willst du zuerst hören, Boss?“ Er überging den zynischen Ton in ihrer Stimme, fuhr sich über den Bart. „Die Gute.“ „He has not been found yet.“ Yusaku schloss die Augen, atmete auf. „Die Schlechte?“ „Es regnet in Strömen, es ist eiskalt, und Gin rühmt sich, ihn angeschossen zu haben. Und laut der Menge Blut, die er verloren hat, als er sich durch die Büsche schlug, muss er ihn gut getroffen haben. Er sagt zumindest,… that everything was dripping wet with blood… als sie doch endlich mit Taschenlampen losgezogen sind, haben sie es gesehen.“ Sie starrte in das leere Cognacglas, griff dann nach der Karaffe und machte es voll. Der Schriftsteller zog die Augenbrauen hoch, sagte nichts. Er war nach dieser Nachricht kreidebleich geworden, merkte, wie seine Finger kalt und klamm wurden und sich sein Magen ekelhaft zusammenzog, bis er einen kleinen, harten Ball im Bauch zu haben schien. Er griff sich die Karaffe und nahm einen Schluck daraus, allerdings machte das auch nichts besser. Sharon nippte ebenfalls an ihrem Cognac. „Das heißt, er wird die Nacht nicht überleben…?“, murmelte er zögernd. Er war sich nicht sicher, ob er die Antwort hören wollte. „Wenn ihn keiner findet, ist er bis zum Morgengrauen tot.“ Ihre Stimme klang seltsam fremd in seinen Ohren. „Nein…“ Er wisperte das Wörtchen nur, aber in seiner Stimme lang namenloses Entsetzen. Yusaku schloss die Augenbrauen, atmete tief ein. „Ich muss ihn suchen!“ Er wollte zur Tür, aber sie hielt ihn zurück. „You cannot. You know that… Yusaku. Das weißt du. Du bringst ihn um damit, und Yukiko auch und dich. Du musst bleiben und aushalten, was du angerichtet hast.“ Er drehte sich um, starrte sie an. Nie hatte sie ihn so… verlassen gesehen. So… verzweifelt. Verletzt. So voller Angst. „Aber…“ Sie hob den Blick, ihre eisblauen Augen voll Trauer. „Ich weiß.“ Sie schluckte. „I know… you must trust him… Vertrau darauf, dass er es schafft, mehr kannst du nicht tun. All you can do is wait… and try to protect him, once you’ve got him back. If you get him back, that is.“ Yusaku schluckte, fühlte sich, als würde alles Leben aus ihm weichen, griff sich an die Stirn. Er war machtlos, sie hatte Recht. Langsam ging er zurück zu seinem Schreibtisch, hielt sich an der Tischkante fest. Er konnte nichts tun, nichts… Nichts… Kraftlos sank er in den Stuhl. Shinichi starb und er musste zusehen… Sein Sohn… Er holte Luft, starrte an die Decke, versuchte, nicht durchzudrehen, und merkte doch, wie er den Kampf langsam verlor. Den Verstand… langsam verlor. Er schrie auf, dann fuhr er aus seinem Stuhl, holte aus, räumte mit einer ausholdenden Bewegung beider Arme den Mahagonischreibtisch ab; die Karaffe flog zu Boden, wo sie auf den marmornen Fliesen zerbarst, tausende Splitter flogen durch die Luft, die goldene Flüssigkeit bildete eine große Pfütze, weichte Akten, Zigaretten und was sonst noch so alles vom Schreibtisch gefegt worden war, ein. Yusaku schien das nicht zu kümmern. Er hieb mit beiden Fäusten auf den nunmehr leeren Tisch, einmal nur. Dann sank seine Stirn auf die Holzplatte langsam, und er konnte nicht verhindern, wie seine Schultern zu zucken begannen, als die Erkenntnis und die damit verbundenen Schuldgefühle und seelischen Schmerzen ihn einfach überrannten. Sharon hatte währenddessen nicht einmal mit der Wimper gezuckt, saß wie versteinert in ihrem Sessel, den Cognacschwenker mit beiden Händen umklammert und schaute ihn nur an. „Yusaku… what the hell did you do there…? Was wolltest du heute Abend dort? Warum bist du uns gefolgt?“ Yusaku ließ sich in seinen Sessel sinken, hielt sich den Kopf, schwieg lange, ehe er leise antwortete. „Ich war dabei, als er auf die Welt kam.“, murmelte er heiser, presste dann die Lippen zusammen. Sie schaute ihn stirnrunzelnd an, wartete, dass er fortfuhr. „Und ich wollte… verdammt, ich wollte… dabei sein… wenn er… wenn er… stirbt…“ Er sah kurz auf, in seinen Zügen stand unbeschreibliche Qual. Sharon zuckte zusammen, als sie ihn so sah, konnte nur erahnen, wie es in ihm aussah. Dann drang seine brüchige Stimme wieder an ihre Ohren. „Ich hatte eine Ahnung, was heute passiert, was sie ihm antun wollten… Deshalb kam ich. Weil ich dachte… ich hab nichts anderes verdient, als zuzusehen, wie ich meinen eigenen Sohn umbringe, ihn zu Grunde richte… auch wenn es nur der Tod seiner Seele ist…“ Er schluckte hart, lächelte sie dann bitter an. „Ich hab ihm das eingebrockt, ich sah’s als meine Bestrafung an…“ Sharon nahm einen großen Schluck Cognac, schauderte kaum merklich. Es war nicht gut, wenn man versuchte, das Zeug wie Wasser zu trinken, stellte sie fest. Ihr Hals brannte. „Du hast ihn erlöst. Als er dich gesehen hat…“ „Ich…“ „You were his rescue. He’ll hate you for the rest of his life, if there’s a rest, that is… aber du hast ihn gerettet, indem du da warst… den einen Teil zumindest. Was sein Leben betrifft, nun… das hast du ihm vielleicht genommen. Du konntest ihn immer nur teilweise retten, Yusaku… Körper oder Seele.“ Er schaute sie aus müden Augen an, nickte betroffen. „Ich hoffe, diesmal… beim dritten Anlauf…“ Er lächelte matt. „Ich hoffe, diesmal hab ich ihm wirklich geholfen… ich will… verdammt, ich will, dass er lebt… dass Shinichi Kudô lebt, mein Sohn lebt… das Leben, das er leben will…“ Yusakus Blick verlor sich auf der Tischplatte. „Ich will, dass er lebt… er soll leben… leben…“ Sharon schluckte, biss sich auf die Lippen, beobachtete mit starrem Blick einen verzweifelten Vater. Survive, silver bullet… You must… survive. Währenddessen war ein hochgewachsener, schlanker Japaner außer sich, lief in seinem weitläufigen Büro Kreise wie ein Tiger in ihrem zu kleinen Käfig, bereit zum Sprung, bereit, sich auf jeden zu stürzen, der sich in seine Nähe wagte, und seinem Leben ein jähes Ende zu bereiten. Absinth war in Rage. Rum und Cachaça wohl auch, aber sie zeigten es nicht ganz so deutlich. „Wo bleibt er?!?“, schrie er. „Wo bleibt ER?!“ Abrupt wandte er sich um, betrachtete Chianti, Korn und Wodka, die erfolglos von ihrer Suche zurückgekehrt waren. „Und was soll das heißen, ihr habt ihn noch nicht gefunden? Verdammt, er ist verletzt- habt ihr in den Krankenhäusern schon nachgesehen…? Bin ich denn hier von lauter Idioten umgeben?!“ Wodka, Korn und Chianti schüttelten den Kopf. Dann ging die Tür auf, und Gin trat ein. „Ah.“ Absinth blieb stehen. „Da bist du ja. Gibt es Neuigkeiten?“ „Ist und bleibt verschwunden.“, knurrte der Blonde tonlos. In ihm loderte eine Wut, die der Absinths in nichts nachstand, und das wussten sie beide. „Man könnte meinen, er wäre tot- er hat viel Blut verloren, wenn das alles ihm gehört, was wir im Wald gesehen haben. Aber dann… hätten wir ihn schon finden müssen. Eine Leiche bewegt sich bekanntermaßen nicht mehr von selbst vom Fleck.“ Kir war zu der Gruppe getreten, schaute aufmerksam von einem zum anderen, fühlte sich nervös und angespannt und hoffte, man sah ihr das nicht an. „Wir werden natürlich sofort anfangen, die Krankenhäuser der Umgebung durchzugehen. Wenn er in einem ist, werden wir ihn bald gefunden haben.“ „Dann beeilt euch, verdammt noch mal! Wisst ihr, was seine Flucht heißt - was glaubt ihr, was er alles weiß?! Wenn er der Polizei und dem FBI erzählt, was er hier mitbekommen und herausgefunden hat… er weiß, wo unser Hauptquartier ist! Kennt den Boss!“ Absinth atmete heftig. „Es dürfte auf der Hand liegen, dass Kudô zu neutralisieren höchste Priorität hat, alles andere wurde, solange dieses Problem nicht gelöst ist, heruntergestuft. Dieser Befehl kommt von ganz oben. Er muss gefunden werden, es muss in Erfahrung gebracht werden, wem er etwas erzählt hat - diese Personen sind ebenfalls umgehend zu eliminieren. Ihn selber- Kudô selber soll hierher gebracht werden, lebend, der Rat selbst will sich die Ehre geben. Habt ihr den Befehl verstanden?“ Allgemeines Nicken war die Antwort. Absinth nickte sich selber stumm zu, griff sich mit einer Hand ans Kinn, drehte sich gedankenverloren um, eher er sich noch einmal ruckartig umwandte. „Und was zur Hölle macht ihr dann noch hier?!“ Er herrschte sie an, sah, wie sie parierten, sich beeilten, den Raum zu verlassen… nicht ohne eine Spur Genugtuung. Mach dir keine falschen Illusionen, Kudô. Du… kannst uns nicht entkommen. Ein unheilverkündendes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Auf keinen Fall. Langsam richtete er sich auf, wischte sich müde über sein Gesicht. Wie viel Zeit vergangen war, wusste er nicht- er ahnte nur, dass für ihn langsam der Zeitpunkt gekommen war, wo er seine Rolle wieder tauschen musste. Er sollte wieder Yusaku Kudô sein… er sollte in sein Leben zurück. Denn dort… ging es mindestens genauso hoch her wie hier. Und nirgends durfte er auch nur einen Aspekt aus den Augen verlieren. Schwerfällig stemmte er sich hoch, unter seinen Augen der Ansatz dunkler Ringe, sein Gesicht gezeichnet von Sorge und Angst, genauso wie seine Stimme, als er endlich sprach. „Ich muss nach Hause, Sharon… zu Yukiko. Ich denke, Kir hat das FBI schon informiert… damit weiß wohl auch der Rest bereits, was vorgefallen ist.“ Sie nickte nur, stand auf, wesentlich eleganter als er, doch auch in ihrem Gesicht waren die Spuren dieser Ereignisse nur zu deutlich zu sehen. „Go home. Ich mach hier Ordnung, bevor noch jemand falsche Schlüsse zieht.“ Er nickte ihr dankbar zu, verschwand dann in einem Geheimgang in der Wand, der zu seiner Garage führte. Im Krankenhaus ging das Licht über der OP-Tür aus. Ai und Agasa schauten synchron auf, als sich eilige Schritte näherten – dann ging die Tür auf. Heiji und die beiden Agenten vom FBI waren bereits gegangen; Heiji hatte, wenn auch höchst widerwillig, die Aufgabe übernommen, zu Môri zu gehen, beziehungsweise sich zu Môri chauffieren zu lassen, und ihm den Stand der Dinge zu schildern; Agasa hätte es nach den zwei Telefonaten nicht geschafft, die Geschichte noch einmal zu erzählen und Heiji sah ein, dass man ihm das auch nicht noch ein drittes Mal zumuten durfte. Die Polizei war von Jodie wie versprochen informiert worden, und die Wachpolizisten waren ebenfalls schon im Krankenhaus angekommen. Laut dem FBI waren Meguré und die anderen, wie zu erwarten, unglaublich erleichtert gewesen, zu hören, dass man ihn nun gefunden hatte – und er am Leben war, wenn auch keiner sagen konnte, wie lange dieser Zustand andauern würde. Der Kommissar wollte sich auch gleich noch um den Zeitungsartikel kümmern, damit Shinichis Ruf nicht noch mehr litt als nötig, und morgen dann selber vorbeikommen. Außerdem hatten sich James und Jodie bereiterklärt, die Kinder endlich nach Hause zu fahren; es war klar, dass die Kleinen nach diesem Abend unmöglich beim Professor übernachten konnten. Der alte Mann war mit sich selbst beschäftigt… seine Sorgen und Ängste zehrten an seiner Substanz, er brauchte Ruhe, wenigstens Nachts – unbedingt. Umso erleichterter war der Professor demnach auch, als man ein Krankenhausbett herausrollte. Agasa eilte näher, stolperte fast, als ihm seine Beine den Dienst zu versagen drohten, als er sah, dass er ihm Bett lag und atmete – atmete! Shinichi lebte… und schlief. Ein Arzt mittleren Alters, immer noch in OP-Montur, schaute ihn skeptisch an. „Sind Sie ein Verwandter?“, fragte er dann kurz angebunden. Agasa schaute kurz in Shinichis bleiches Gesicht, schluckte. „Sein Großvater. Mütterlicherseits.“ Der Arzt nickte zufrieden, seufzte dann. „Sah schlimm aus. Wohl auch ein bisschen schlimmer, als es war, aber nichtsdestotrotz hätte er die Nacht allein da draußen nicht überlebt. Er wäre wohl verblutet. Soweit… scheint alles in Ordnung zu sein, mal abgesehen davon…“, er grinste, dachte wohl, er wäre komisch, „von dem Loch im Bauch und der nicht zu verachtenden Gehirnerschütterung. Was die für Folgen hat, wissen wir noch nicht. Sie sagten bei der Einweisung, er wäre Ihnen seltsam vorgekommen…?“ Der Halbgott in Hellgrün hatte kurz auf sein Krankenblatt geschielt. Agasa nickte zögernd. „Es kann allerdings sein… das… vielleicht… vielleicht war‘s der Schock…?“ „Möglich. Wir werden sehen, wenn er aufwacht, ob er bleibende oder temporäre Schaden davongetragen hat.“ Er sprach diese Vermutung in so gelassenem Tonfall, dass es Agasa schaudern machte. Er sah, wie der Arzt mehr sich selbst als Agasa zunickte, klemmte dann das Krankenblatt ans Bett. „Nun, wie Sie sehen, er lebt und es geht im leidlich gut. Morgen können Sie ihn besuchen, und nachschauen, wie er sich erholt. Für den Abend muss ich Sie bitten, Ihren Enkel in Ruhe zu lassen, er braucht seinen Schlaf. Eine geruhsame Nacht wünsche ich.“ Damit drehte er sich um, schritt mit flatterndem Kittel von dannen. Agasa seufzte laut, sah den Assistenzärzten nach, die Shinichi durch die Gänge rollten, nach ein paar Metern gefolgt von Polizisten, die vor einer halben Stunde geschickt worden waren, um das Zimmer zu bewachen. Dann schaute er zu dem kleinen Mädchen, das unbemerkt seine Hand ergriffen hatte. „Gehen wir nach Hause, Ai… wir haben… eine entsetzliche Nacht hinter uns. Wir brauchen wohl alle… etwas Schlaf.“ Ai nickte stumm, konnte die Augen nicht von dem Bett lassen, bis es aus ihrer Sichtweite verschwunden war – dann ließ sie sich vom Professor aus dem Krankenhaus führen, merkte noch im Auto, wie die Müdigkeit sie übermannte. Als er das Gartentor öffnete, rannte sie ihm schon entgegen, fiel in seine Arme, konnte sich minutenlang nicht soweit fassen, einen zusammenhängenden Satz zu äußern, sondern schluchzte hemmungslos. Ihm wurde langsam flau. Er wusste nicht, warum sie so aufgebracht, so aufgewühlt war, aber er befürchtete das Schlimmste. Langsam schob er sie ein wenig weg von sich, strich ihr über die Wangen, immer wieder. „Yukiko…“, flüsterte er leise. „Yukiko, so beruhig dich…“ Haltlos liefen ihr die Tränen über die Wangen. Er wurde unruhig, verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, merkte, wie er sich immer unwohler zu fühlen begann. „Yukiko, was ist passiert…? Weiß man… weiß man etwas Neues von…“ Sie nickte, räusperte sich, schluckte ein paar Mal schwer. „Ja.“, brachte sie schließlich hervor, ihre Stimme war leise und krächzend. „Ja…?“, wiederholte er langsam, zog die Augenbrauen hoch. „Yukiko…?“ Sie fing wieder an zu schniefen, strich sich nun selber immer wieder über die Augen, hielt sich mit der anderen Hand an der Schulter ihres Mannes fest. „Man hat ihn gefunden…“, sagte sie langsam, unterbrochen von einsetzendem Schluckauf. Yusaku erstarrte auf der Stelle, schluckte, schob seine Frau dann vorsichtig von sich weg, schaute sie bang an. Er traute sich fast nicht, die Frage zu stellen. „Wie… wie… wie geht… es ihm…?“ „Er liegt im Krankenhaus…“ Sie strich sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Langsam schienen sie doch zu versiegen, als sich ein winziges, erleichtertes Lächeln auf ihre Lippen schlich. „Aber soweit… hat er wohl noch mal Glück im Unglück gehabt. Hiroshi hat ihn aufgegabelt, er hat gerade nochmal angerufen, morgen kann er besucht werden, er ist stabil… zwar verletzt, man hat ihn angeschossen, aber… Mein Gott, er lebt, er ist endlich draußen… jetzt wird endlich wieder alles gut…“ Langsam ließ sie sich wieder gegen ihn sinken, schlang ihre Arme um ihn, vergrub ihre Nase an seinem Hals. „Endlich, endlich…“ Er seufzte langsam, atmete aus, schloss die Augen, zog sie dann an sich, lehnte seine Stirn an ihre Schulter. Schuldgefühle wühlten immer noch in ihm, aber auch er konnte nicht leugnen, dass er unglaublich erleichtert war. Er hatte ihm das eingebrockt, er war schuld, und dafür würde er durch die Hölle gehen… aber erst morgen. Es würde hart werden, und er wusste nicht, was die Zukunft ihm brachte, nun, da sein Sohn auf freiem Fuß war, mit diesem Wissen… er wusste nicht, wie er ihm gegenübertreten sollte… ihm, oder irgendjemand anderem. Unter Umständen… wenn Shinichi… sich dazu entschloss, zu reden… könnte er morgen schon verhaftet werden. Auffliegen. Morgen schon könnte er vielleicht in die blauen Augen seiner Frau blicken… und in ihnen nicht mehr Liebe, sondern Abscheu, Ekel, Enttäuschung und Angst lesen, Schmerz… Aber noch nicht heute. Heute spürte er, wie sie sich an ihn schmiegte, ihre Hände in seinen Rücken krallte und Halt suchte… ihm bedingungslos vertraute und ihn liebte. Heute war er einfach nur unsagbar froh… dass Shinichi überlebt hatte. Dass er nicht gestorben war, wegen ihm. Er lebte. Danke. Sie war die letzte, die von der freudigen Nachricht erfuhr. Es war kurz vor Mitternacht, als eine email auf ihrem Handy ankam. Sharon, die auf ihrem Sofa in ihrer Wohnung vor sich hindämmerte und dabei eine Flasche Rotwein leerte, seufzte, griff sich ihr Mobiltelefon, las die Nachricht. Ein heiseres Stöhnen entwich ihren Lippen, gefolgt von einem tiefen Seufzen, als sich unendliche Erleichterung in ihr breitmachte. From: Boss Message: Found and alive. Langsam stellte sie das Glas Rotwein, das sie in ihrer Hand hielt, ab, atmete aus… ließ den Kopf in den Nacken sinken und starrte an die Decke. Thankyou, god. Thankyou… all angels above… Kapitel 20: Kapitel 2: Erwachen ------------------------------- Hallöchen! Leute, vielen Dank für eure Kommentare zum letzten Kapitel! Wer gerade ausm Urlaub kommt, den heiße ich herzlich willkommen ;D Wer in den Urlaub fährt: gute Reise! :) Dieses Kapitel war eigentlich immens lang- so immens, dass ich es geteilt hab. Eigentlich wären das 14 000 Wörter geworden *lacht* Das wär ein bisschen viel, nich? Gibt's dann nächste Woche :) Ich denke auch, hier zu teilen war sehr sinnvoll. Nun, auf jeden Fall dürft ihr euch nun mit unserem Amnesiepatienten auseinandersetzen; ich muss sagen, ich fands gar nicht einfach, denn wie reagiert Shinichi, wenn er nicht mehr Shinichi is? *seufz* Nun denn, ich wünsch euch viel Spaß beim Lesen..! Bis nächste Woche, eure Leira :) __ PS: Akai hat jetzt grüne Augen, danke für den Hinweis, SailRose! Ich hatte seine Augen echt nicht im Kopf (komischer Satz ;D), weil ich hauptsächlich den Manga lese; und da sind seine Augen weiß XD PPS: Des zweiten Hinweises bezüglich Akais Augenfarbe von Seiten eines scheinbar hochmotivierten und qualifizierten Kommentators mit extrem charmantem Usernamen hätte es nicht gebraucht, denn ich kann lesen und lese meine Kommentare auch, aber danke trotzdem. -.- Im Übrigen möchte ich anmerken, dass ich es extrem unfair und unsportlich finde, andere Leser und Kommentatoren meiner Geschichte zu beleidigen. Wer ein Problem mit meiner Fanfic hat, der wende sich vertrauensvoll an mich; überdies wollen wir uns doch in gesitteter Sprache verständigen, nicht? (Nachtrag (20.08.2010): Der Fall hat sich nun erledigt, den Kommentar habe ich soeben gelöscht.) Nochmals: freundliche Grüße, eure Leira ________________________________________________________________________ Kapitel 2: Erwachen Weich. Stoff. Das war es, was er unter seinen Fingern spürte. Seit ein paar Minuten war er wach, das wusste er. Es war ein klarer Unterschied zum Traum, zum Schlaf spürbar, auch wenn das, was er geträumt hatte, ihm sehr real schien. Was genau es gewesen war, von dem er geträumt hatte, wusste er nicht mehr. Es hatte etwas mit einer Straße zu tun gehabt, ja… aber an mehr erinnerte er sich nicht. Träume neigten ja dazu, dass man sie vergaß, wenn man erwachte, auch wenn sie noch so wirklich, so echt gewirkt hatten. Diesmal träumte er allerdings nicht, diese Realität war echt - er war bei Bewusstsein. Aber er hatte die Augen noch nicht geöffnet. Absichtlich. Auf seinem Gesicht fühlte er Wärme und einen zarten Lufthauch. Der Geruch von Desinfektionsmittel und Seife, von Waschpulver, stieg ihm in die Nase. Vor seinen Augen war alles rot- draußen musste es wohl sehr hell sein. Dann schlug er die Augen auf. Er hatte Recht - es war wirklich hell. Strahlend schickte die Sonne ihr Licht in sein Zimmer, tauchte alles in pastelliges Gelb, verlieh dem ansonsten kahlen, kühl wirkenden Raum warmen Glanz. Er lag in einem Bett. In einem… Krankenhausbett? Er war im Krankenhaus? Wie…? Und dann erinnerte er sich. Da war ein alter Mann gewesen, der ihn gefunden hatte. Der ihn angesprochen hatte. Er hatte besorgt gewirkt. Er musste ihn wohl hierher gebracht haben. Also war diese regnerische Nacht, diese Straße… doch kein Traum? Aber wo war er? Wo befand sich dieses Krankenhaus? Wie kam es, dass er hier war? Ich bin verletzt. Da war es wieder, dieses Bild, von dem er gerade noch gedacht wäre, es wär ein in den Tiefen seines Gedächtnisses verschollener Traum. Er sah das Blut an seiner Hand kleben; blinzelte unwillig, merkte, wie sich ein flaues Gefühl in seiner Magengegend einstellte. Unsicher betrachtete er seine Hände, stellte fest, dass sie sauber waren, ließ sie wieder auf die Bettdecke sinken und seufzte. Langsam ließ er sich zurückfallen in die Kissen. Er fühlte sich immer noch müde, wollte wieder schlafen, und konnte doch nicht. Er sah sie immer noch vor Augen, seine Hand… er konnte dieses Bild nicht vertreiben. Blut. Seine Hand wanderte unter die Bettdecke, befühlte seinen Bauch, spürte einen Verband unter dem Stoff des Pyjamas. Ja, das war die Ursache für all das Blut gewesen. Eine Verletzung im Bauchbereich, offensichtlich. Wer hatte ihn verletzt? Wie hatte er sich verletzt? Wie genau war er hierhergekommen, wer war der Mann gewesen, wie kam es, dass er jetzt hier lag, allein? Und nicht wusste, wer ihn verletzt hatte? Er seufzte, zog die Stirn kraus, merkte, wie sich das mulmige Gefühl verstärkte, merkte, wie ihm kalter Schweiß ausbrach, als er sich gewahr wurde, dass all seine Fragen ins Nichts führten. Mit der nächsten Frage allerdings sollte sich seine Welt fürs erste aus ihren Angeln heben; von leichter Unsicherheit konnte nicht mehr die Rede sein. Wer… wer war er eigentlich? Blanke Panik keimte in ihm auf, verbunden mit dem absurden Gedanken, dass Panik ihm gar nichts half. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass er zu zittern anfing, als er sich klar darüber wurde, dass er sich zwar mächtig viele Fragen stellen konnte, aber auf keine einzige eine Antwort fand. Er wusste es nicht. Wusste nicht, wer er war, wer ihn verletzt hatte, was das überhaupt für eine Verletzung war, wo er sich befunden hatte, und wer dieser alte Mann gewesen war. Er hatte keinen blassen Schimmer. Auf keine dieser Fragen wollte ihm eine Antwort einfallen, so sehr er sich auch abmühte, er erinnerte sich an nichts. An nichts. Er wusste nicht, wie er hieß, wie er aussah - wo er herkam, wer seine Eltern, seine Freunde waren. Wie alt er war, wer seine Freunde waren, woher er kam, wo er wohnte…? Die Tafel in seinem Kopf, wo all diese wichtigen Daten stehen sollten, war wie blank gewischt. Die Schubladen, wo diese Informationen gelagert waren, verschlossen, der Schlüssel verschollen. Sein Puls beschleunigte sich, seine Atemfrequenz schoss in die Höhe. Wer bin ich? Verdammt, wer… wer bin ich?! Unsicher tastete er mit seinen Fingern sein Gesicht ab, griff sich in die Haare, er hatte keine Ahnung mehr, wie er aussah, und das wurde ihm fast zu viel - jeder Mensch wusste doch, wie er aussah…! Er atmete schwer, dann fasste er sich wieder, ließ die Hände sinken. Okay… langsam jetzt. Nur nicht durchdrehen. Schau dich um und denk nach… Die Fakten. Genau. Er brauchte Fakten. Fakten waren gut, auf sie konnte man sich verlassen. Unsicher schaute er an sich herab. Räusperte sich, konnte sich aber nicht dazu überwinden, mit sich selbst zu reden, um seine Stimme zu hören. Aber anhand dessen… wie sich seine Haut anfühlte, im Gesicht, und wie sie an seinen Händen aussah… schloss er, dass er noch relativ jung war. An seinen Körperbau und seiner Größe angelegt… schätzte er sich auf um die zwanzig, plus/minus ein, zwei Jahre. Er rupfte sich ein paar Haare aus. Dunkelhaarig. Okay. Ein etwa zwanzigjähriger, dunkelhaariger, schlanker Mann. Das war er. Nicht unbedingt sehr aufschlussreich – aber immerhin besser als nichts. Gut, wenn er noch genauer wissen wollte, was sein äußeres Erscheinungsbild betraf, musste er wohl aufstehen, und in das kleine Bad gehen, das dem Zimmer angeschlossen war; aber zum Aufstehen fühlte er sich momentan nicht in der Lage. Das musste wohl oder übel warten. Geschlagen seufzte er, blickte um sich, tastete über seinen Bauch. Er war offensichtlich so schwer verletzt, dass man ihn in ein Krankenhaus einweisen hatte müssen. Und er wusste nicht, wer ihm das angetan hatte. Wusste nicht, ob sie vielleicht noch frei rumliefen und hinter ihm her waren. Er wusste nicht, warum er nichts mehr wusste. Das alles drängte ihm einen Schluss auf. Er durfte keinem vertrauen. Keinem. Fürs erste. Aber reden musste er mit jemanden, denn er brauchte Informationen, um sein Leben zu rekonstruieren. Was er auch noch nicht wusste, war… dass bereits einige Leute auf der anderen Seite der Tür standen, etwas weiter den Gang entlang, und sich über ihn berieten. Das wiederum konnte er natürlich auch nicht wissen. Draußen standen der Arzt von gestern, Dr. Katsuragi mit Namen, seines Zeichens Neurologe des Klinikums, zusammen mit Professor Agasa, Ai, Heiji und Jodie Starling, sowie den Detektive Boys, die am Morgen beim Professor aufgekreuzte waren und sich ungefragt angeschlossen hatten, weil sie immer noch dachten, man suche nach Conan. Sie wollten ihn endlich finden, das alles dauerte ihnen schon viel zu lange. Momentan allerdings war von den großen Sprüchen, die sie heute Morgen am Frühstückstisch von Agasa gerissen hatten, nicht viel zu hören. Sie waren leise, schienen von der gedrückten Atmosphäre, der großen Klinik und den vielen Beamten eingeschüchtert – vor allem aber von der Tatsache, dass es Shinichi wohl immer noch nicht wirklich gut ging. Sie unterhielten sich kaum und warteten still neben Ai und Agasa darauf, dass man endlich wieder in den Wald ging. Ayumi, die seit Tagen ihre Farbe nicht zurück ins Gesicht bekommen hatte, weil die Sorge um Conan sie nicht ruhen ließ, schaute zu Ai; sie war ebenfalls auffallend blass und schien nervös. Aufmunternd griff sie nach ihren Fingern, lächelte ihr zu. Ai schaute sie an, zwang sich, die Mundwinkel nach oben zu ziehen und wandte dann den Kopf ab. Ach Ayumi... Wenn du wüsstest, dass deine Suche längst ein Ende hat… Es wird dir das Herz brechen, wenn du es erfährst. Sie schluckte, schaute kurz auf ins sorgenvolle Gesicht des Professors, der den Ausführungen des Arztes lauschte. Er hatte kaum geschlafen, das wusste sie. Weil sie ebenfalls kaum geschlafen hatte. Sie hatte nicht zur Ruhe finden können, ihre Gedanken waren die ganze Nacht nur um ihn gekreist… ihr war bewusst gewesen, dass er ihr viel bedeutete, dass sie ihn sehr schätzte, aber wie sehr sie bereits an ihm hing, wie viel sie tatsächlich empfand, wie sehr es sie treffen würde, wäre er tot… und wie sehr sie jetzt mitnahm, was ihm passiert war… hatte sie erst in diesen Stunden im Bett erkannt, als sie an die Decke starrte und nicht schlafen konnte, aber endlich mal Zeit gefunden hatte, über alles nachzudenken, weil sie nicht von der Angst beherrscht war, dass er längst tot war. Sie seufzte tief, schaute kurz zu Mitsuhiko und Genta, der unter missbilligenden Blicken einer vorbeieilenden Schwester ein Sandwich verschlang. Manche Dinge änderten sich nie. Sie lächelte müde. Andererseits sind ein paar solcher Konstanten auch nicht schlecht. Es beruhigt, dass es etwas gibt, das so bleibt, wie es ist, wenn sich alles herum auf den Kopf stellt… Der alte Mann und Jodie hatten es einfach nicht übers Herz gebracht, die Kinder zurückzulassen, die ihrem Freund Conan so loyal waren… gerade auch, nachdem sie vom gestrigen Tag so enttäuscht waren; gut, man hatte Shinichi gefunden, der wohl ohne ihre Hilfe gestorben wäre, das war sicherlich keine schlechte Sache, Ran-chan würde sich freuen; aber sie hatten doch nach Conan gesucht! Und Conan war immer noch weg. James Black war bei der Polizei und setzte sie vollständig ins Bild, wie sie von Jodie erfahren hatten; er würde nachmittags zu ihnen stoßen. Dann würde man auch beraten müssen, wie man Shinichi bewachte; denn es war klar, dass die Organisation nicht lange brauchen würde, um herauszufinden, wo er war. Und was dann passieren würde, könnte katastrophal sein und war nicht vorhersehbar- also musste man tun, was man konnte, um diesen Fall zu vermeiden. Dann konzentrierte sich Ai wieder auf das, was der Arzt sagte. Nachdem jetzt all die medizinischen Fachfloskeln genannt waren, die Shinichis Zustand beschrieben, schien der gute Mann endlich auf den Punkt zu kommen. Sie blinzelte ihn an, aber er nahm es nicht wahr. „Heute Morgen war er noch nicht wach. Vielleicht verhält es sich ja jetzt anders.“ Der Arzt strich sich über die Haare, warf dann einen ungeduldigen Blick auf seine Uhr. „Er liegt ja nicht im Koma, also könnte er jederzeit aufwachen. Ich würde allerdings anraten, nur die engeren Verwandten hineinzulassen, um ihn mal nicht zu überfordern. Also seinen Opa und seine… Schwester?“ Unsicher blickte er zu Ai, die ihr kindlichstes Gesicht aufsetzte, ihn mit großen Augen ansah und glaubhaft nickte. „Sie anderen warten am besten draußen. Bis wir wissen, wie es um…“, der Mann grinste, „sein Oberstübchen steht. Zu viel Aufmerksamkeit, zu viel Lärm und zu viele Gesichter könnten ihm im Fall des Falles zu sehr stressen und ihn noch mehr verwirren, als er es vielleicht schon ist. Sie geben mir Bescheid, falls er wach war, ja? Dann sehe ich nach ihm… und muss eventuell eine entsprechende Therapie einleiten. In diesem Sinne muss ich mich jetzt allerdings vorerst verabschieden, ich hab Visite. Ich nehme an, die Herren Polizisten wissen, dass man Sie hineinlassen kann?“, er nickte etwas unwillig in die Richtung der beiden Beamten. „Ja.“ Agasa seufzte leise. „Denen sind wir hinreichend bekannt.“ „Dann entschuldigen Sie mich jetzt bitte. Ich hab auch noch andere Patienten.“ Der Arzt drehte sich um, rauschte mit wehendem Kittel von dannen. Heiji, Jodie, Agasa und Ai sahen sich fragend an. „Gehen Sie mal ruhig.“, meinte Heiji langsam. „Wir warten solange hier, nich‘ wahr?“ Jodie nickte nur, setzte sich auf eine Bank. Die Kinder taten es ihr gleich, wenn auch etwas widerwillig. Der alte Professor nickte, ging dann den Gang entlang zu seiner Tür, gefolgt von Ai; sie boten ein seltsames Bild, als sie den spiegelblank gebohnerten Linoleumboden entlang schritten, der alte Mann und das rothaarige Mädchen. Heiji schaute ihnen hinterher, stützte dann seinen Kopf in seine Hände, seufzte leise. Meine Güte Kudô, was haste dir da bloß eingebrockt… Vor der Tür angekommen zögerte Agasa kurz, schluckte hart, warf Ai einen fragenden Blick zu; sie nickte ihm ernst zu, in ihren blauen Augen Sorge und Erleichterung, Angst und Erwartung gleichermaßen. Er schluckte, in unguter Erwartung, was ihn erwarten könnte, und drückte die Klinke herunter. Shinichi zermarterte sich gerade sein Hirn auf der Suche nach Informationen, fand es mit der Zeit immer frustrierender, dass so gar nichts mehr da war in seinem Kopf- dieser Zustand ging ihm gar nicht ein, er wusste doch, dass er Erinnerungen hatte, wo also waren sie? -, als unerwartet für ihn die Tür aufging. Er fuhr ruckartig hoch, hielt sich gleich daraufhin stöhnend eine Hand gegen den Bauch. Schlechte Idee. Dann wandte er sich seinen Besuchern zu, zog die Augenbrauen hoch. Der alte Mann war wieder da. Sieh mal einer an… Besuch für mich. Er starrte ihn an, seine Verwirrung musste man ihm wohl ansehen, so leise, so vorsichtig, wie der Opa die Tür schloss, sich ihm näherte. „Du bist ja wach…!“ Der alte Mann hörte sich erleichtert an. Shinichi runzelte die Stirn, sein Erstaunen wich langsam einem gespannten Interesse. Auch wenn er noch nicht wusste, ob er ihm vertrauen konnte - vielleicht konnte ihm der Mann ein paar Informationen geben. Denn die brauchte er dringend. Er schaute ihn an, musterte den alten Herrn von oben bis unten; erst dann sah er sie. Das kleine Mädchen. Rotblonde Haare, grüne Augen, ein wirklich niedliches Ding - aber irgendetwas passte an ihr nicht ins Gesamtbild. Sie wirkte nicht niedlich, nicht süß, auch wenn sie so aussah. Etwas in ihren Augen schockierte ihn. Sie sahen nicht aus, wie Kinderaugen aussehen sollten, strahlend, voller Erwartung dessen, was das Leben ihnen zu bieten hatte. Eher das Gegenteil war der Fall. Ihre Augen sprachen von einem Wissen, dass so ein kleines Kind nicht haben konnte Sie erzählten von Bildern voller Schmerz, als ob sie schon viele schlimme Dinge gesehen, viel Leid erlebt hätten, Verlust und Tod ins Gesicht geschaut... Sie wirkten, als ob sie zu einem Menschen gehörten, der in seinem Leben schon Schreckliches durchmachen hatte müssen. Und ein kleines Mädchen ihres Alters kam für so einen Erfahrungsschatz eigentlich nicht in Frage. Wer ist das…? Seine Gedanken überschlugen sich; er presste kurz die Augen aufeinander, in der Hoffnung, sein malträtiertes Hirn spiele ihm einen Streich. Er öffnete die Augen wieder und bemerkte, dem war nicht so. Ihre Augen waren immer noch die gleichen… voller Schmerz, Verlust… Enttäuschung und Verzweiflung… diese Augen gehörten keinem Kind. Und doch war sie ein kleines Mädchen. Großer Kopf, schmaler Körper, kleine Nase, zarte Haut. Das war nicht möglich. Mit Mühe wandte er sich von ihrem Gesicht ab. „Shinichi?“ Er zuckte beim Klang des Namens merklich zusammen, schluckte. Das wär dann wohl ich. Shinichi. Sollt ich mir merken… Der alte Mann schaute ihn fragend an, strich sich nervös über seinen Bart. Er hatte ihn nicht begrüßt. Shinichi hatte genau genommen nicht ein Wort gesagt, er starrte sie nur an, mit einem Blick, den Agasa nur allzu gut kannte. Shinichi analysierte. An und für sich ein Vorgang, der hier… überflüssig sein sollte. Schließlich waren sie seine Freunde. Dass er sie nicht als solche begrüßte, sondern sie offensichtlich gerade auf Herz und Nieren prüfte um herauszufinden, wer sie waren und ob er ihnen trauen konnte, ließ nur einen Schluss zu. Shinichi erkannte sie nicht. Sein Magen wurde flau. Unsicher zwirbelte er seinen Bart, ließ seine Hand dann langsam sinken. „Wie geht es dir?“, fragte er zögernd, trat näher, zog sich einen Stuhl heran. Gute Frage. „Nun, ich lebe noch… nicht wahr?“, murmelte Shinichi. Er schaute ihm immer noch ins Gesicht, schluckte. „Hören Sie, verzeihen Sie mir, wenn es unhöflich scheint, aber bevor irgendwelche Missverständnisse…“ „Du weißt nicht, wer wir sind.“ Agasa ließ sich auf den Stuhl sinken, blickte seinen jungen Freund niedergeschmettert an, wusste die Antwort ja, bevor Shinichi sie ihm bestätigte. „So… sieht es aus.“ Langsam wandte der junge Detektiv seinen Kopf ab, seufzte. „Sollte… nicht ein Arzt kommen und mich untersuchen?“ Man hörte ihm den Widerwillen deutlich an. „Wir… haben gerade mit ihm gesprochen, er schaut später nach dir.“ Agasa schaute ihn betroffen an, warf einen Blick auf Ai, die noch bleicher geworden war, und krampfhaft die Hände ballte. Sie zitterte, er wusste es. Sie ahnte, wusste, was das bedeutete. Der alte Mann räusperte sich. „Gut, versuchen wir es anders… ab welchem Zeitpunkt hast du eine Erinnerung…?“ Shinichi schaute ihn kurz an, dann wandte er den Blick ab, schaute auf seine Bettdecke und versuchte, sich ein wenig zu konzentrieren, auch wenn es ihm schwer fiel. Langsam allerdings lüpfte sich der Schleier ein wenig; er erinnerte sich an vergangene Nacht; immerhin. Was bedeutete, dass der Zeitpunkt seines phänomenalen Blackouts irgendwann letzte Nacht gewesen war? Das hieß – welch Freude - nur die letzten zwanzig Jahre davor waren verschütt gegangen. Prima. Wir machen Fortschritte. Er verkniff sich ein ironisches Lächeln, hob stattdessen den Kopf, um die weiße Wand anzustarren und weiter nachzudenken. Es hatte geregnet. Es war Nacht gewesen. Er hatte Schmerzen gehabt, und ihm war schlecht geworden… und dann kam das Auto, dann der Mann. Das kleine Mädchen kannte er nicht. Dafür erinnerte er sich an den Namen… Shinichi. Der kam ihm jetzt etwas bekannter vor. So hatte ihn der nette alte Herr hier auch schon genannt, als er ihm das erste Mal begegnet war. Und jetzt wollte er wissen, an was er sich erinnerte? Wer war er eigentlich? „Gestern Abend.“, antwortete er schließlich, seine Stimme war leise, sein Blick leer. Er drehte ihm langsam wieder den Kopf zu, räusperte sich, weil er gemerkt hatte, wie heiser seine Stimme klang. „Also, ich nehme einfach an, es war gestern, ich weiß nicht, wie lange ich… geschlafen hab. Bewusstlos war. Was auch immer.“ Er seufzte. „Ich… hab ein paar verschwommene Bilder von einem gelben Käfer und einer Landstraße, und Ihnen, Sie haben mich gefunden, stimmt‘s? Aber ansonsten - ist da nichts. Mir fehlen die letzten zwanzig Jahre vor gestern Abend, denn ich schätz mich mal auf… so um die zwanzig? In diesem Sinne, verzeihen Sie mir bitte die Frage, aber… wer - wer sind Sie denn jetzt eigentlich?“ Agasa stöhnte leise auf, strich sich hilflos über die Augen. „Du erinnerst dich an gar nichts…?“ Shinichi legte den Kopf schief, schaute den Mann durchdringend an. Irgendetwas ging hier vor sich, und er wusste davon nichts. Ein Gefühl, das ihm ganz und gar nicht behagte. „Wirklich… nichts?“ Seine Stimme klang bekümmert. Shinichi schüttelte den Kopf. „Wenn ich es Ihnen sage. Ich wusste bis gerade eben nicht meinen Namen, und auch jetzt weiß ich ihn nicht ganz, sondern nur den Vornamen. Und selbst den hatte ich von gestern auf heute vergessen, aber jetzt fällts mir wieder ein… ich war wohl etwas…“, er lächelte entschuldigend, „weggetreten. Aber wie gesagt - ich weiß nicht, wie alt ich bin, wo ich herkomme, wer meine Freunde, meine Eltern sind und wie mir das hier passiert ist. Ich meine, ich denke nicht, dass es alltäglich ist, mit einer derartigen Verletzung im Krankenhaus zu landen? Und bitte- wer sind Sie jetzt eigentlich?!“ „Ich bin ein Freund von dir, mein Name ist Professor Hiroshi Agasa.“ Agasa schaute ihn ernst an, fuhr dann mit seiner Erklärung fort. „Ein alter Freund, um genau zu sein. Ich kenn dich schon dein Leben lang.“ Freund? Könnte im Prinzip gerade jeder behaupten und ich wüsst nicht ob’s stimmt… Shinichi schluckte. Dann wanderte sein Blick wieder zu dem kleinen Mädchen. „Und wer ist das?“ Er starrte sie an. Skepsis lag in seinem Blick, ein Hauch von Verwirrung, auch wenn er sich bemerkenswert gut im Griff hatte. Er war wachsam, angespannt, sie kam ihm wohl seltsam vor, er spürte, dass sie nicht… normal… war. Von ihm so angesehen zu werden, tat ihr weh. Er kannte sie nicht mehr, er begegnete ihr mir Vorsicht. Weg war der selbstbewusste, intelligente Oberschüler – oder Grundschüler, wie man’s nahm - weg war ihr Freund, der Detektiv, der für jedes Problem eine Lösung fand, für jede Situation einen Ausweg und immer für sie da war. Vor allem für sie da war. Stattdessen war er hier. Shinichi - wie ihn noch keiner je erlebt hatte. Sie wollte sich nicht ausmalen, wie es für Ran sein würde, wenn er sie so ansah. Wahrscheinlich noch um ein Hundertfaches schlimmer. „Sie heißt Ai Haibara.“ Die leise Stimme des Professors riss sie aus ihren Gedanken. Agasa schüttelte langsam den Kopf. Shinichi hörte ihm zu, zog die Augenbrauen hoch. Ja, jetzt bin ich schlauer... Ein paar mehr Infos wären echt nett, Leute… Shinichi seufzte schwer. Mit jeder Sekunde fühlte er sich ein wenig unwohler. Er wollte, dass sie wieder gingen, wenn sie ihm nur noch mehr vor Augen führen wollten, wie wenig er wusste, oder endlich anständig mit ihm redeten. Oder ihm jemand besorgten, der das übernahm. Verdammt, er war schwer verletzt worden, und wusste nicht von wem, er wollte Antworten...! Was… was war, wenn sie...? Was ist, wenn sie mit diesen Leuten, die mir dieses Loch im Bauch verpasst haben und Schuld haben, dass mein Gedächtnis dem Loch in einem Schweizer Käse gleicht, unter einer Decke stecken? Wer garantiert mir denn das Gegenteil…? Dann sah der Mann ihn an - und er wusste es. Der Blick in sein altes, faltiges… und so unglaublich mitfühlendes, sorgenvolles Gesicht, seine warmen Augen, dieser fürsorgliche Blick… er wusste es einfach. Wusste, dass dieser alte Herr nicht sein Feind war. Dass er sein Freund war, wie er es behauptete. Warum auch sonst hätte er ihn herbringen sollen, gestern Nacht? Nein, diese Reaktion war eigentlich bezeichnend gewesen. Er machte sich Sorgen um ihn. Echte Sorgen. Shinichi atmete durch, atmete leise aus, schwieg. Dann begann Agasa zu sprechen. Langsam und ruhig, versuchte seine Stimme unter Kontrolle zu halten, sich die Nervosität nicht anhören zu lassen- ihn nicht merken zu lassen, wie bekümmert er wirklich war. „Gut, fangen wir von vorne an. Du bist Shinichi Kudô, deine Eltern heißen Yukiko und Yusaku Kudô. Das hier…“ Er seufzte leise, schaute auf das kleine Mädchen. „Ist Ai Haibara, wie gesagt. Sie wohnt bei mir, aber wir sind nicht verwandt, auch wenn wir uns grad als dein Opa und deine Schwester ausgeben, damit wir dich besuchen können.“ Er lächelte entschuldigend. „Sie ist ebenfalls eine Freundin von dir.“ Shinichi legte verwundert die Stirn in Falten. Er war mit kleinen Mädchen befreundet? Wieso das denn? Der junge Mann schüttelte unwillkürlich den Kopf, versuchte, Ruhe zu bewahren. Du musst nicht alles gleich verstehen… bestimmt hat alles einen Sinn… „Wissen Sie, wie ich - ich meine, Sie haben mich hergefahren, nicht wahr? Wann genau war das? Und - was fehlt mir eigentlich? Wissen Sie, woher…?“ Er hustete. Seine Stimme krächzte. Agasa schaute ihn mitfühlend an. Shinichi hatte versucht, es zu unterdrücken - aber man hatte den leisen Anflug von Panik, aber auch von Hoffnung, in seiner Stimme hören können. Er schaute ihn an. „Gestern. Gestern haben wir dich endlich gefunden, du hattest recht mit deiner Zeiteinschätzung.“ Shinichi stutzte. Endlich? Wie lange war ich… weg…? Wo war ich…? Aber bevor er zu der Frage kam, fuhr der Professor mit seiner Rede fort. „Du wurdest, wie du wohl schon festgestellt hast, ziemlich schwer verletzt. Jemand-…“ Agasa seufzte leise, schluckte, fuhr fort, „hat dich angeschossen. Ein Durchschuss. Die Kugel trat im Rücken oberhalb deiner Niere ein, ging glatt durch und verließ deinen Körper vorne. Zwei Rippen sind angebrochen, wohl von einem Sturz. Du hast zahlreiche Hämatome am ganzen Körper, eine schwere Gehirnerschütterung - die wohl unter Umständen auch mit die Ursache für deinen offensichtlichen Gedächtnisschwund ist. Außerdem bist du erkältet, du hast eine Bronchitis. Du kannst von Glück reden, dass keine Lungenentzündung draus geworden ist. Aber das ist wohl dein kleinstes Problem im Moment.“ Shinichi schluckte, nickte dann, war kreidebleich geworden, aber sagte nichts- zu voll war auf einmal sein Kopf mit Fragen. Vielen Fragen. Eine Schussverletzung. Mein Gott… wie kommt man zu sowas? Die Dinger fliegen ja nicht einfach so in der Gegend rum, ich muss… Wer hat auf mich geschossen? War es ein Unfall…? War es Absicht…? Wenn ja, was… War das… war es etwa… Wollte mich jemand… Dann riss ihn der alte Mann wieder aus seinen Gedanken, als er mit seinem Bericht fortfuhr. „Bevor- du verschwunden bist, warst du mit mir, Ai und noch drei anderen Kindern unterwegs. Wir machten einen Campingausflug. Am zweiten Tag bist du verschwunden. Wir haben eine gute Woche lang nach dir gesucht - und ich habe dich gestern gefunden, wie du dich ja erinnerst. Auf der Straße, im Regen.“ Shinichi starrte seine Hände an. „Ja. Das weiß ich ja. Aber von allem anderen hab ich keinen Schimmer.“ Dann warf er dem Professor einen schrägen Blick zu. „Aber wenn ich Sie noch eines fragen darf - warum waren wir mit vier Kindern unterwegs? Sind das Enkel von Ihnen?“ Er seufzte, massierte sich die Stirn, ließ dann seine Hand wieder sinken. „Oder bin ich Kindergärtner? Kann ich mir irgendwie nicht so recht vorstellen…“ Agasa und Ai lächelten kurz bei der Vorstellung - allerdings erlosch ihr Lächeln sofort wieder, als sie in sein verwirrtes, unsicheres Gesicht blickten. „Nein, du bist kein Kindergärtner. Du bist Oberschüler - eher noch Detektiv als sonst irgendetwas anders. Und eigentlich waren wir auch nicht mit vier Kindern unterwegs, sondern mit fünf. Das fünfte Kind…“ „Was ist damit? Ist es auch verschwunden? Und wie komm… wie komm ich überhaupt zu ner Schussverletzung, ich… meine… sowas ist ja auch nicht eben alltäglich… Was.. was ist denn passiert…?!“ Agasa atmete scharf ein. Jetzt waren sie soweit, soweit gekommen… dass er nicht mehr wusste, wie er ihm jedes einzelne Detail erklären sollte, wenn er einen bestimmten Umstand nicht wusste. Wenn er über Conan Edogawa nichts wusste… Denn er… war der Grund für all das hier. „Es war verschwunden…“ Agasa brach ab. Das würde sehr schwer werden, jetzt. Er fragte sich, ob es überhaupt gut war, ihm in seiner Verfassung jetzt von Conan Edogawa zu erzählen. Das kleine Mädchen und der alte Mann sahen sich an. Agasa stand sein Zögern und Zweifeln quer übers Gesicht geschrieben. Ai seufzte, schüttelte betrübt den Kopf. „Wir müssen es ihm sagen. Es führt kein Weg dran vorbei, er versteht es sonst nicht. Und ihn anzulügen ist schlimmer, als ihn einfach nur noch mehr zu verwirren… und wie sollen wir ihm seinen Zustand er klären, wenn er nicht weiß… was die Ursache ist…“ Ai hatte seinen Gedanken erraten. „Aber wird er es uns glauben…?“ „Wohl eher nicht. Aber wir müssen es ihm erzählen. Er ist in Gefahr, mehr noch, als ohnehin schon. Wir dürfen ihn nicht unwissend lassen. Er weiß sonst nicht, was los ist, kann nicht angemessen reagieren-….“ „Kann er ohnehin nicht.“ Ai betrachtete Shinichi skeptisch. Der starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Könntet ihr aufhören, von mir in der dritten Person zu sprechen, wenn ich im Raum bin? Ginge das? Also was ist los…? Was ist das, was ich nicht verstehe, angeblich?“ Agasa und Ai starrten ihn erstaunt an. „Natürlich. D… du hast natürlich Recht. Entschuldige.“ Der alte Herr strich sich müde übers Gesicht. „Es ist nur so, was wir dir gleich sagen werden, ist so unglaublich, dass du es uns nicht glauben wirst.“ „Wie wär’s, wenn Sie’s zuerst mal versuchen und meine Reaktion einfach abwarten? Wenn es erklärt, wie ich… mit einem Loch im Bauch und ohne Gedächtnis hier ankomme, bin ich bereit, ziemlich viel zu glauben, denk ich…“ Er seufzte tief. Ihm war das alles hier nicht unbedingt geheuer, aber langsam verlor er etwas die Geduld. Er hörte sich gern jede Theorie an, die irgendwie erklären konnte, wie er hier landen hatte können. „Also schön. Ich… nehm dich beim Wort,… Kudô.“ Ai nickte ging zur Tür, vergewisserte sich, dass niemand lauschte, keiner kam - dann machte sie die Tür wieder zu. „Ist dir an mir was aufgefallen?“, fragte sie schließlich, als sie wieder neben dem Professor stand. „Was soll mir aufgefallen sein?“ Er war perplex. Warum fragte sie ihn solche Dinge? Wollten sie ihm nicht was sagen? Sie lächelte hintergründig. „Irgendetwas. Wenn dir was aufgefallen ist, Shinichi, dann sag es. Ich weiß, dass du dir was über mich denkst, also sag es.“ Er seufzte leise, lehnte sich zurück. Dieses angespannte Sitzen bereitete ihm dumpfe Schmerzen. Die Situation behagte ihm nicht wirklich; er war im Krankenhaus, wusste nicht wieso, wusste nicht wer er war und wer die anderen waren und woher er kam und nun kamen diese zwei Gestalten und stellten jetzt auch noch komische Fragen. Allerdings… Wenn es ihn irgendwie weiterbrachte, dann war es wohl besser, er spielte das Spiel mit, noch dazu, weil gerade ja keine akute Gefahr von den zweien für ihn auszugehen schien. Wenn es denn Antworten brachte… Wenn es denn Antworten brachte. Ob es tatsächlich Antworten bringen würde, für ihn, konnte er allerdings erst wissen, nachdem er auf ihre Frage reagiert hatte… Er seufzte, verdrehte die Augen. „Deine Augen sind seltsam.“, murmelte er dann, schaute beim Sprechen aus dem Fenster. „Sie erzählen von so viel Leid. Soviel Schmerzen – sie schildern ein Leben, gezeichnet durch Verluste und Qualen. Deine Augen passen nicht zu dir. Das heißt, zu dir vielleicht schon.“ Er wandte den Kopf - man sah ihm an, dass ihm unangenehm war, seine vagen Vermutungen auszusprechen. „Aber sie passen nicht zu einem Kind. Sie haben das Leben in all seinen Facetten gesehen - du bist dafür eigentlich noch zu jung.“ Ein leises Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. In gewisser Hinsicht änderten sich Leute nie. Nicht einmal, wenn ihr Gedächtnis aufgrund retrograder Amnesie das Weite gesucht hatte. Konstanten gibt es immer. Irgendwo in dir drin bist du noch, Kudô. „Ganz Recht, Shinichi. Und was folgerst du daraus?“ Er blinzelte, schaute sie verwirrt an. „Woher soll ich das wissen? Lass den Quatsch, hör auf, dich lustig zu machen, ich find das nicht…“ „Sag es einfach. Ich weiß, der Gedanke spukt dir im Kopf rum…“ Shinichi hustete. Dieses Kind war unheimlich. Definitiv. „Na los. Sprichs aus.“ Ai starrte ihn an, ihre hellen Augen bohrten sich in seine, ihr Blick so wissend… Er drehte den Kopf weg - das war doch absurd. Dann zuckte er zusammen, als er merkte, wie ein zusätzliches Gewicht die Matratze zusammendrückte, sich ihm näherte, und fuhr herum. Sie war aufs Bett geklettert, kniete direkt vor ihm, fixierte ihn mit ihren grünen Augen erneut, fesselte seinen Blick. Er wich zurück, unwillkürlich. Drückte sich in seine Kissen. Sie krabbelte näher an ihn heran, ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Viel zu nah, um auszuweichen. „Sag, was du denkst… Shinichi!“ Er biss sich auf die Lippen, konnte selber kaum fassen, dass er diesen absurden Gedanken aussprach. „Du bist älter als du aussiehst.“ Es war raus. Ai ließ sich zurückfallen, setzte sich in den Schneidersitz, lächelte ein zufriedenes Lächeln und verschränkte locker ihre Arme vor der Brust. „So ist es.“ Er riss sich los von ihr, atmete tief durch. Dann lachte er bitter. „Ja, klar. Ein frühreifes Früchtchen bist du-, nichts weiter.“ „Du warst genauso.“ Shinichi fuhr ruckartig herum, stöhnte dann auf, hielt sich den Bauch. „WAS bitte? Ich bin ein frühreifes-“ Sie sah ihn aus Halbmondaugen an. „Nein. Nicht das. Du warst auch ein Erwachsener in einem zu jungen Körper.“ Agasa schluckte, als er forschend in das Gesicht seines jungen Freundes blickte. Die Reaktion, die kam, war vorhersehbar. „Ja, sicher.“ Er sagte es erstaunlich ruhig. Eine Ruhe, die trog. „Doch. Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber es stimmt. Du warst das fünfte Kind.“ Agasa seufzte, warf ihm einen abwartenden Blick zu. Shinichi begann den Kopf zu schütteln. „Herr… Professor. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber ich glaube fast, das was hier passiert ist, ist ein wenig viel für Sie. Was auch absolut verständlich ist. Ich glaube, die Ärzte hier sind ganz gut, immerhin leb ich noch, also vielleicht sollten Sie…“ Er war immer noch sehr ruhig, aber seine Hände, seine Finger, die sich in seine Decke gekrallt hatten, sprachen eine andere Sprache. Agasa lächelte milde, schüttelte aber ebenfalls den Kopf. „Shinichi, ich weiß, dass klingt unglaublich - Ai und ich haben es dir ja gesagt, du wirst es nicht glauben; es ist auch nicht… nötig, dass du es gleich glaubst, aber bald solltest du es tun, denn dieser Umstand hängt damit zusammen, dass du hier bist…“ Die Fürsorge, die Ruhe in der Stimme des alten Mannes zerrte an Shinichis Nerven. Wie konnte dieser Mann, den er eigentlich für recht vernünftig gehalten hatte, zusammen mit dieser Geisterbahnversion eines Kindes solche Behauptungen aufstellen…! Er schaute kurz die Wand an, atmete dann einmal tief durch, ehe er sich wieder umblickte, dem alten Mann in seine bebrilltes Gesicht sah. „Nein. Sie müssen sich irren, das glaube ich nicht. So etwas ist nicht möglich, das geht doch gar nicht! So etwas gibt es nicht.“ Er griff sich an den Kopf, als ein leises Pochen einsetzte, hörte auf, den Kopf zu schütteln. Der Professor warf Ai einen fragenden Blick zu. „Glaub mir, es ist wahr. Das ganze ging schon fast drei Jahre so. Du wurdest geschrumpft, durch ein Gift, so wie sie. Wie Ai.“ Shinichi starrte ihn an. „Unmöglich. Sagen Sie, wie hätte ich das aushalten können? Gefangen im Körper eines Kindes?! Wie würde sie’s denn aushalten, dieses Mädchen hier? So ein Gift kann es nicht geben. Das wäre eine wissenschaftliche Sensation, davon hätte ich sicher schon…“ Er driftete ab, verdrehte die Augen, griff sich an die Stirn. Ai schaute ihn geschockt an. Shinichi über diese Dinge sprechen zu hören war wirklich paradox. „… lassen wir das.“ Er atmete entnervt aus. „Fakt ist, sowas gibt es nicht. Ich weiß nicht, warum, aber mein Verstand, und den hab ich noch, sagt mir, dass Menschen älter werden, nicht jünger, egal was man ihnen für Substanzen verabreicht. Sie werden nicht jünger. Sie machen sich offensichtlich einen Spaß aus meiner Situation… ich hätte eigentlich gedacht, Sie wollen mir tatsächlich helfen, aber…“ „Aber das wollen wir!“ Ai schluckte, schaute ihn mit drängendem Blick an, merkte, wie sie sich fast ärgerte über seine Verbohrtheit. „Das wollen wir doch. Du musst uns das einfach glauben, du musst uns einfach vertrauen, glaub mir, es ist die Wahrheit. Und es war für dich nicht einfach, und ist es nicht für mich. Du hast schrecklich gelitten, du hast…“ Sie verstummte, als er den Ausdruck in seinen Augen bemerkte. Er war wie versteinert. Herrgott, Shinichi, du weißt es doch… sonst würdest du mich nicht so ansehen…! Er blinzelte, und der Ausdruck in seinen Augen war weg; stattdessen wanderte sein Blick von Agasa zu Ai, hin und her. Schließlich räusperte er sich. „Ich dachte, ich bin der, der nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Was fällt euch ein, mir so einen Stuss-…“ „Das ist die Wahrheit, Shinichi.“ Agasas Stimme klang ernst. Ernüchternd. Shinichi hielt inne, schaute dem alten Mann ins Gesicht. War der gute Prof senil? Wo war er hier? In einem Horrorfilm? Waren sie denn alle verrückt geworden? Agasa holte tief Luft. Er schaute bedrückt aus, fiel ihm auf. Der alte Herr war sehr betrübt. So sah eigentlich kein Lügner aus. Auf einmal fühlte er sich schrecklich nackt. Er wusste nicht warum, aber er hatte das Gefühl, dass sie in seinen Augen etwas lesen konnten, das ihm nicht bekannt war. Sie wussten mehr über ihn als er über sich selber. Er war allein. Er war ausgeliefert. Verletzt. Entwurzelt. Und er war… Agasa schluckte, dann streckte er die Hand aus, griff über die Decke, berührte ihn am Arm. „Hör zu, ich kann verstehen, dass du das nicht glauben kannst. Es ist ja auch kaum zu glauben. Fakt ist- du bist Detektiv, ein richtig guter sogar. Du bist brillant. Und du hast vor etwa zwei Jahren deine Nase in einen Fall gesteckt, der sich als weit größer herausgestellt hat, als er anfangs den Anschein hatte. Du wurdest erwischt, als du Zeuge zwielichtiger Geschäfte wurdest - man hat dich niedergeschlagen und wollte dich töten. Mit Gift. Mit einem ganz neuen, völlig unbekannten Gift. Es hat dich nur nicht getötet. Es hat dich geschrumpft. Da du nun nicht tot warst, musstest du dich verstecken, denn die Gefahr bestand, dass sie dich und die, die dir etwas bedeuten, töten, wenn herauskommt, dass du noch lebst. Du nanntest dich Conan Edogawa. Er wurde deine zweite Identität. Nun ist es so, dass sie dich wohl gefunden haben, weswegen du-“ Shinichi schüttelte den Kopf, wandte den Blick ab. „Das kann nicht wahr sein… so- so was gibt es nicht…“ „Doch.“ Agasa schluckte, schaute ihn an. „Doch.“ „Und warum bin ich dann jetzt kein Kind mehr - wenn ich doch vor ner Woche angeblich noch eins war? Eine Wunderheilung, oder wie? Und überhaupt - wie soll das vonstattengehen- wie soll man einen erwachsenen Menschen zehn Jahre in der Entwicklung zurückwerfen können, das ist unmöglich-… und wer sind sie, von denen Sie immer reden? Wo war ich dann, als ich ein kleiner Junge war, hm? Bei meinen Eltern? Wie haben die den drauf reagiert? Wo sind sie eigentlich? Haben Sie auf all diese Fragen auch eine Antwort?!“ Er fing an zu husten, bekam kaum noch Luft. Während seiner letzten Worte war er immer weißer im Gesicht geworden - was beachtlich war, war er doch ohnehin schon weiß wie das Kopfkissen, gegen das er sich wieder drückte. Er atmete heftig, hustete weiter - merkte, dass seine Lungen nicht ganz so wollten wie er. Agasa schluckte. Das waren alles durchaus berechtigte Fragen, aber die jetzt alle zu beantworten, das würde dauern. Und er hatte das Gefühl, dass Shinichi jetzt aber eher wieder Ruhe brauchte. Allerdings… Etwas… musste noch gesagt werden. Die Antwort auf eine Frage stand noch aus. „Die… die dir das Gift gegeben hatten, sind auch Schuld an all dem hier. Sie wollten dich… töten, Shinichi. Der Schuss war ein Mordversuch.“ Shinichis Kopf fuhr herum, dann starrte er ihn an - seine Augen weit offen, sein Blick unmöglich zu deuten. Dann wandte er den Kopf ab, sagte nichts mehr. Mord… Lautlos formten seine Lippen das Wort. Ai schaute ihn nur an, merkte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Ihn so hilflos, so… verlassen… zu sehen war schrecklich. Agasa stand auf, reichte ihm ein Glas Wasser. Man merkte, es nahm ihn mit, brachte ihn an die Grenzen seines Verstands. Er wusste nicht, inwieweit ihre Worte in ihm etwas zum Klingen gebracht hatten, er sah nicht so aus, als würde er nicht fühlen, dass ihn das Ganze betraf… dass es wahr war… - aber er wurde nervös. Er fühlte sich sichtlich unwohl, regte sich auf, stresste sich. Und das konnte er jetzt eigentlich nicht gebrauchen. Es war wichtig, dass Shinichi sich beruhigte. Damit er gesund wurde. Sein Gedächtnis wiederfand. Stattdessen verwirrten sie ihn noch mehr. Brachten ihn gegen sich auf. Er ahnte, dass Shinichi misstrauisch jedem gegenüber war - er war verletzt, viel hätte nicht mehr gefehlt, um ihn zu töten, und das wusste er. Aber er wusste, im Gegensatz zu ihnen allen nicht, wer ihm das angetan hatte. Und ihnen glaubte er nicht. Nicht völlig, zumindest. Er musste ihnen wieder vertrauen, vorher brachte alles gute Zureden nichts. Aber zuerst brauchte er Ruhe. Darum ließen sie ihn wohl jetzt besser allein. Der alte Mann warf dem kleinen Mädchen, welches gerade von seinem Bett wieder heruntergerutscht war, einen Blick zu - sie nickte. Sie teilte also seinen Gedanken. Agasa zog einen Zettel hervor, schrieb ihm seine Telefonnummer auf. „Wir gehen jetzt, Shinichi. Denk darüber nach, schlaf ein wenig. Wir kommen morgen wieder. Wenn du etwas brauchst- dann ruf einfach an. Jederzeit. Wenn du reden willst- ruf an. Du kannst uns vertrauen, auch wenn es dir schwer fällt, das weiß ich. Das ist nur allzu nachvollziehbar.“ Er nickte schwer, dann wandte er sich um und ging. Shinichi hüstelte, trank einen großen Schluck Wasser. Irgendwie glaubte er diese Sache, dass er Detektiv war. Dass er sich in Schwierigkeiten gebracht hatte - das beantwortete die Frage, wie er mit einer Schussverletzung im Krankenhaus gelandet war. Aber dass er geschrumpft worden war, dass diese Ai - dieses kleine Mädchen eigentlich so alt wäre wie er - nein. Shinichi ließ sich wieder in die Kissen zurücksinken, atmete langsam aus. Das konnte nicht sein. Er wusste nicht, was er denken sollte. Hatte keine Ahnung, was er glauben sollte. Aber eines wusste er sicher- beruhigter als vorher war er nicht. Eher das krasse Gegenteil. Er schluckte, starrte die Decke über sich an, krallte eine Hand in die Decke über seiner Verletzung. Einer Schussverletzung, wie er nun wusste. Mord… ein… Mordversuch… Man wollte mich umbringen… Ich soll… ein kleiner Junge gewesen sein… Tot… ich sollte… …sterben… Kapitel 21: Kapitel 3: Wissen ----------------------------- Hallo! Vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! *freu* Ehrlich, Dankeschön! Mit leichter Verspätung hier also der zweite Teil des Kapitels, das ihr letzte Woche gelesen habt- wie ihr nun wohl verstehen werdet, wäre das alles in einem Kapitel WIRKLICH zu viel geworden :D Ich wünsche viel Vergnügen beim Lesen, mfG, eure Leira :D _______________________________________________ Kapitel 3: Wissen Langsam wurde es ihr einfach zu viel. Diese Unwissenheit machte sie rasend, trieb sie an den Rand des Wahnsinns, und die Art, wie man mit ihr umging, regte sie mittlerweile wirklich auf. Sie war ruhig geblieben, als der Professor sie wieder und wieder angelogen hatte; sie hatte das Spiel brav mitgespielt, in den letzten Tagen, obwohl sie doch besser wusste, dass etwas nicht stimmte. Es machte sie wütend und auch traurig, dass man ihr so wenig anvertraute… ihr so wenig vertraute… und offenbar auch zutraute. Diesen Zustand würde sie nun nicht mehr länger dulden, sie hatte es jetzt satt. Shinichi lag angeschossen im Krankenhaus, zwar lebte er, aber schlimm genug, dass es so hatte enden müssen. Sie wollte nun wissen, was eigentlich passiert war. Sie wollte wissen, was sie offensichtlich nicht hatte wissen dürfen, so lange Zeit. Was man ihr bewusst vorenthalten hatte. Und deshalb stand sie nun in ihrem Hotelzimmer, mit entschlossen in die Hüfte gestemmten Händen und starrte diesen überaus schweigsamen FBI-Beamten an, der alle ihre Fragen bis jetzt erfolgreich ignoriert hatte. Seit ein paar Minuten hatte sie ihn mit Fragen gelöchert, zuerst ruhig, dann zusehends wütender – langsam war sie mit ihrem Latein am Ende, aber lange noch nicht bereit, aufzugeben. Sonoko stand hinter ihr, in gebührendem Abstand – sie hatte Ran selten so zornig gesehen. Die holte Luft, dann setzte sie erneut an. „Hören Sie… Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir hier noch fast einen Tag festsitzen!“ Akai nickte, schaute sie gelassen an. „Ja.“ „Und Sie wissen sehr viel mehr über diesen Fall, den Shinichi bearbeitet hat, als ich.“ „Ja.“ „Dann will ich, dass Sie mir jetzt endlich erzählen, was los ist! Ich halt das nicht mehr aus, bis morgen Nachmittag! Bis er es mir selber sagt, will ich nicht warten! Was spricht denn dagegen, dass Sie es mir jetzt schon erzählen, dann bin ich nicht ganz so unvorbereitet, dann… es ist doch egal, ob ich es jetzt schon weiß oder nicht, nein… es ist besser, sie sagen es mir jetzt, dann kann ich ihm die Geschichte vielleicht etwas leichter machen…“ Der schwarzhaarige Mann seufzte, zog an seiner Zigarette. „Es steht mir nicht zu, darüber zu reden, so einfach ist das. Das ist seine Sache.“ „Sagen Sie, haben Sie mir denn eigentlich zugehört? Ich muss es jetzt wissen, ich kann nicht mehr, ich… ich mach mir Sorgen, und er ist noch nicht ansprechbar und… morgen ist noch so weit weg…“ Ran fuhr sich mit ihren Händen müde über ihr Gesicht; Akai musste sich eingestehen, dass sie wirklich nicht nur mitgenommen aussah… sie war es auch. Die Sorge fraß sie auf, und das nicht erst seit gestern. „Wäre… ginge es um jemanden, der Ihnen viel bedeutet, würden Sie nicht auch sofort alles wissen wollen, was sie irgendwie in Erfahrung bringen können? Um die Unwissenheit zu beseitigen… und sich zu überlegen, wie Sie der Person helfen können? Ich bitte Sie… ich bitte Sie, sagen Sie mir doch… was… was ist mit Shinichi passiert…?“ Die Wut war etwas gewichen, aber ihre Stimme war immer noch drängend, ihre Entschlossenheit immer noch grenzenlos. Der Mann seufzte, schaute sie mitfühlend an, zumindest soweit es ihm möglich war. „Hör zu, Kleine, ich weiß…“ „Nennen Sie mich nicht Keine! Ich heiße Ran! Ran Môri!“ „Ich weiß.“ Akai schaute unbestimmt in ihr kreideweißes Gesicht – sah die Sorge in ihren Augen. Die Angst. Es kam ihm so bekannt vor… das Gesicht einer jungen Frau, die unendliche Angst hatte, um das Leben dessen, den sie liebte. Er stöhnte unwillig auf, ließ den Kopf nach hinten fallen. Warum ließ er sich von ihr so weichklopfen? War es wirklich… diese Ähnlichkeit zu Akemi? Oder etwas anderes? War er sentimental geworden in den letzten Jahren? Er wusste es nicht. Langsam, widerwillig, bewegte er seinen Kopf wieder nach vorne. „Na schön. Aber du erklärst ihm dann, warum ich ihm unbedingt zuvorkommen musste. Eigentlich wäre es seine Aufgabe… und sein Recht.“ Sie nickte, kniff die Lippen zusammen. Sonoko neben ihr tat es ihr gleich. „Das Risiko geh ich ein.“ „Ich werde dir aber nicht alles sagen… gewisse Details weiß ich selber nicht, da musst du jemand anderen nerven. Kudô selber, beispielsweise. Oder diesen alten Professor.“ Ran machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich will wissen, was letzte Woche los war und warum. Können Sie mir das sagen?“ „Ja.“ „Gut. Mehr will ich fürs erste auch gar nicht wissen.“ „Dann setzt euch.“ Er deutete auf das Bett. Ran und Sonoko ließen sich gehorsam nieder. Akai räusperte sich, zog eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus seiner Jackentasche, sah sie nicht an, als er zu reden begann. „Shinichi Kudô arbeitet nunmehr… seit fast drei Jahren an einem Fall, der auch das FBI und die CIA beschäftigt. Es geht hierbei um eine japanische Verbrecherorganisation, deren Kontakte und Geschäfte bis in die Vereinigten Staaten reichen.“ Akai räusperte sich kurz. Ran schluckte. „Nun kam es, dass er vor ziemlich genau einer Woche… durch Umstände, die dir wohl der Professor näher erklären sollte, oder noch besser, Kudô selber… in die Hände derer geriet, gegen die er ermittelte. Dem Syndikat war es gelungen, seine Tarnung endlich aufzudecken, wenn auch… zufällig; demzufolge war es hocherfreut, ihn nun endlich in seinen Fängen zu wissen. Man wollte ihn verhören, und dann töten, das war der Plan. Er sollte ihnen sagen, wie viel wir, also das FBI wissen; und wo eine Verräterin der Organisation sich versteckt, zu der er Kontakt hat. Wie du… dir wohl denkst, hat er auch… unter Folter nicht ein Wort gesagt.“ Akai schluckte, studierte Rans Gesichtsausdruck aufmerksam. „Folter…?“, flüsterte sie leise, merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Sonoko griff vorsichtig nach ihrer Hand. „Welche Art von… von Folter…?“, hakte Ran nach, wusste nicht, ob sie es eigentlich wirklich wissen wollte. Der FBI-Agent seufzte. „Diese Organisation verfügt über ein gewisses Gift. Ein Stoff, der… injiziert in die Blutbahn…“ Ran japste nach Luft. Er brach ab, schaute sie ernst an. „Hör zu, das ist nichts für dich, du erträgst es nicht. Lass gut sein, freu dich, wenn du ihn am Leben wiedersiehst und frag nicht mehr weiter…“ „Doch!“ Sie atmete schnell, schaute ihn stur an. „Doch! Ich muss das wissen! Wenn er es ertragen kann, dann kann ich doch wohl ertragen, davon zu hören. Reden Sie weiter.“ Der Mann zögerte, kniff die Augen zusammen. „Na los! Reden Sie!“ Ran starrte ihn an, ihre Augen glänzten fiebrig, aber nicht minder entschlossen. Akai schüttelte den Kopf. „Du bist ein dummes Mädchen.“ „Bin ich nicht.“ Der schwarzhaarige Mann seufzte, spielte mit seiner Zigarettenschachtel. Ihr fester Wille, ihre Stärke, imponierte ihm. „Nein, bist du nicht, da hast du wohl Recht.“ Er warf ihr einen kurzen Blick aus seinen hellen, grünen Augen zu. Ran erwiderte ihn, auf ihrem Gesicht ein bitterernster Ausdruck. „Erzählen Sie’s mir. Bitte.“ „Gut, wenn du es so haben willst...“ „Will ich.“ Ran nickte ruckartig. Ich will wissen, was du durchgemacht hast… Shinichi… Sie biss sich auf die Lippen. Akai räusperte sich kurz. „Dabei handelte es sich um ein… Gift, das schreckliche Schmerzen verursacht, sie nennen es ironischerweise Wahrheitsserum, weil normalerweise jeder, der einmal in den zweifelhaften Genuss kam, singt wie ein Vogel… redet wie ein Buch, und zwar die Wahrheit, alles, was man hören will, nur um der zweiten Injektion zu entgehen. Er nicht. Er hat nicht geredet. Demzufolge… als man merkte, dass man bei ihm nicht weiterkam… wollte man ihn töten. Allerdings… hielt der Boss der Organisation es für klüger, ihn am Leben zu lassen. Ihn… in die Organisation zu holen. Als Mitglied.“ Ran schluckte, nickte. Sie merkte, wie sie sich langsam wieder beruhigte, fasste, und war stolz auf sich. Gut so, Ran. Sonoko zog die Augenbrauen hoch. „Er kann doch nie im Leben ja gesagt haben?“ Akai starrte zu Boden, puhlte eine Kippe aus seiner Zigarettenpackung, steckte sie sich an und legte das Päckchen neben sich auf den Tisch. „Doch, genau das hat er. Er ist eingestiegen.“ Blauer Rauch begann, in Schwaden durch das Zimmer zu ziehen. „WAS?!“ Sonoko war aufgesprungen, starrte den Mann ungläubig an. In Rans Gesicht stand pures Entsetzen, Enttäuschung, Verwirrung und… Angst. „Hören Sie, das glaub ich nicht! So ein verdammter Moralapostel wie er ist, schließt er sich bestimmt nicht einer Mörderbande an! Sie kennen ihn vielleicht nicht, aber der Knabe hat so hohe Moralvorstellungen, dass er fast ein Heiliger ist! Shinichi Kudô…“ Sonoko redete sich in Rage. Ran saß neben ihr, stumm, starr, merkte, wie aus ihr alles Leben zu weichen drohte, als vor ihren Augen ihr Bild von einem Menschen zerbrach, den sie zu kennen geglaubt hatte. Den sie gerade wegen seiner Einstellung so sehr geschätzt hatte, ihm so sehr vertraut hatte. Dann rissen sie die nächsten Worte des Agenten aus ihrer Lethargie. „Ich kenne ihn besser, als du denkst, weil er mit uns zusammengearbeitet hat, Fräulein. Und er ist eingestiegen. Sie hatten ein ziemlich gutes Argument, um ihn zu überzeugen.“ Ran schaute müde auf, seufzte ihn an. „Welches?“ „Dein Leben.“ Sonoko fiel aufs Bett. Ihre Knie hatten einfach so nachgegeben. Akai nickte langsam, zog an seiner Zigarette; helloranges Glimmen ließ die Spitze kurz leuchten, ehe sich die Glut weiter in den Tabak verzog. „Sie wissen von dir. Sie wissen… was du für ihn bist, ich meine, das sollte dir klar sein… dass du ihm viel bedeutest. Er kennt keine Grenzen, bei dem, was er für dich zu tun und zu ertragen bereit ist und das hat man ausgenutzt, um ihn für ihre Sache zu verpflichten. Sie drohten ihm, dich zu töten, wenn er nicht einsähe, was er zu tun hätte. Sein Leben gegen deins; seinen Willen, seine Seele, seinen Verstand… ihn… gegen deine Freiheit, gegen deine Gesundheit… gegen dich. Das war der Deal. Er ist ihn eingegangen.“ Ran schlug sich die Hand vor den Mund, ihre Augen waren aufgerissen, langsam beugte sie sich nach vorn, keuchte, atmete schwer. „Deshalb haben wir dir auch nichts gesagt… damit du dich nicht einmischst… damit du in Sicherheit bist, einigermaßen, und ihm nicht unter Umständen noch mehr Ärger machst, als er schon hatte. Und deshalb bin ich hier… um dich vor ihnen zu beschützen.“ Sonoko strich ihr über den Rücken, seufzte leise. Sie hatten Recht gehabt, offensichtlich. Mit allem Recht gehabt. Shinichi steckte in gewaltigen Schwierigkeiten. „Was…?“ Langsam schaute das blonde Mädchen auf. „Was kam dann…?“ Akai schaute von der einen zur anderen, kniff die Lippen zusammen, nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. „Man hat ihn angelernt. Oder hat es zumindest versucht. Er sollte dabei sein, bei einem Drogendeal; der allerdings ist geplatzt. Shinichi bekam heraus, dass das Mitglied… Gin war sein Name, sie haben dort alle Alkoholika als Decknamen… nach dieser Verräterin her war… und er ist ihm nach, um sie zu retten. Etwas, das ihm auch gelungen ist, für das er allerdings am gleichen Abend noch bezahlen durfte. Gin nahm ihn mit zu einem der Klienten des Deals, auf Geheiß der Führungsebene der Organisation, und schoss dessen Tochter an, ließ ihm die Schuld in die Schuhe schieben. Man wollte seinen sozialen Tod, bevor man ihm sein Leben nahm.“ Ran schaute langsam auf. „Die Zeitung.“, wisperte sie. Akai nickte langsam. „Ja. Die Zeitung. Wäre alles nach Gins Plan gelaufen, wäre gestern in der Zeitung gestanden, dass Shinichi Kudô ein Mörder geworden ist. Nun war die junge Frau gottseidank nicht tödlich verletzt; und dem Boss lag nicht viel daran, einen berühmten Detektiv in seinen Reihen zu haben, der unter Mordverdacht steht oder auch nur wegen Körperverletzung gesucht wird, das war viel zu riskant für die Organisation. Also setzte er ein paar Hebel in Bewegung und stellte die Sache richtig. Warum der Aufwand, wissen wir nicht. Offensichtlich liegt dem Boss etwas an Kudô… offensichtlich kennt er ihn, denn er weiß Bescheid über ihn, gut sogar, und wohl auch über dich; anders können wir uns all diese Handlungen nicht erklären. Ihn zu töten wäre so viel einfacher gewesen.“ Ran nickte langsam. Jetzt machte das alles Sinn. „Und dann…?“, fragte sie langsam. „Dann… folgte gestern der zweite Coup…“ Ran schluckte. Das Zögern des Agenten machte ihr Angst. „Er hätte jemanden töten sollen und hat sich geweigert, warum, wissen wir nicht. Es ist etwas seltsam, bedenkt man, dass er damit dein Leben riskiert hat; aber anscheinend hatte er auf einmal Grund zur Annahme, du wärst sicher, was du ja warst... ich denke, wäre er sich dessen nicht bewusst gewesen hätte er das nicht getan, er hätte… dein Leben nicht riskiert. Er hätte wohl versucht, es irgendwie anders zu lösen… denn ein Mörder… ist er eigentlich auch nicht.“ Ran schaute ihn an, wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Das wurde ihr auch abgenommen, als Akai weitersprach. „Gestern hätte man ihn eigentlich töten müssen, er hatte ja eklatant gegen einen Befehl verstoßen, aber ihm gelang die Flucht, wir wissen immer noch nicht, wie genau. Man fand ihn, wie du weißt, angeschossen auf einer Landstraße in Tottori. Er wurde operiert, ist stabil, aber ob er schon geredet hat, weiß ich nicht. Mehr kann ich dir jetzt auch beim besten Willen nicht sagen… die ganze Geschichte, und glaub mir, es fehlt noch so einiges… musst du dir von ihm erzählen lassen. Von ihm selber.“ Die Oberschülerin schaute ihn lange an. Ihre Lippen waren fast blutleer, ihre Hände zitterten, ihr Atem ging flach. Erste Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen, ihrem Kopf schwirrte es, tausend Fragen tauchten auf und verschwanden wieder. Sie verstand nicht, konnte kaum glauben, was Shinichi für sie getan hatte. Sie wollte es auch nicht glauben, irgendwie… sie wollte nicht wahrhaben, dass er sich so aufopferte für sie, sie wollte einfach nicht… dass er sich so etwas antat. Wegen ihr. Das war nicht richtig, in ihren Augen. Er hat das für mich getan… nur für mich… warum… warum? Ihr wurde fast schlecht, Schuldgefühle breiteten sich in ihr aus, stechend, bohrend - immer mehr Tränen folgten den ersten, sie schluchzte auf, gequält. Shinichi, warum lässt du zu, dass man das mit dir macht?! Wegen mir? Ich… „Hör zu…“ Akai beugte sich langsam vor. Ran schaute ihn an, merkte, dass sich seine Lippen bewegten, aber nahm seine Worte kaum wahr. … will das nicht. Ich will das nicht! „Du kannst dich beruhigen. Er ist jetzt in Sicherheit. Und wenn er schon wach ist, dann weiß er jetzt, dass du es auch bist. Es wird alles wieder… in Ordnung.“ Sonoko schaute sie besorgt an. „Ran, hast du gehört? Es wird alles wieder gut?“ Ran nickte abwesend. Akai blickte ihr forschend ins Gesicht, zog an seiner Zigarette, stieß dann den Rauch rücksichtsvoll zur Seite aus, seufzte. „Du solltest versuchen, ein wenig zu schlafen.“ Das blonde Mädchen streichelte ihr über ihr Haar, versuchte, sie etwas zu beruhigen. „Er hat Recht. Du siehst… grauenhaft aus. Schlaf ein wenig…“ Mit sanfter Gewalt drückte sie sie aufs Bett, zog ihr ihre Schuhe aus. „Aber…“, murmelte Ran kraftlos. „Kein Aber.“ Die blonde Oberschülerin schüttelte den Kopf. „Du hast Schlaf bitter nötig. Und außerdem vergeht die Zeit dann schneller.“ Sie lächelte ihr zu, strich ihr über die Stirn. „Wenn jemand anruft, weck ich dich.“ Ran seufzte, nickte dann langsam… machte die Augen zu und merkte, wie ihre Glieder auf einmal bleischwer wurden. Ein paar Sekunden später schlief sie tief und fest, auf ihren Wangen immer noch nasse Spuren. Akai und Sonoko schauten sich nur wortlos an. Agasa trat auf den Gang, ging Heiji, den Kindern und Jodie entgegen. Sie schauten ihn an, und allein sein Blick schien nichts Gutes zu verheißen. „Er leidet unter retrograder Amnesie. Definitiv.“ Agasa hatte die Lippen geöffnet, aber es war Ais sachliche Stimme, die von unten herauftönte. Der alte Professor hatte keinen Ton hervorgebracht, räusperte sich betroffen, nickte nur. Heijis Kinnlade klappte nach unten, ein leises Ächzen verließ seine Lippen. „Amne… Amne… Amne…“, fing er an zu stottern. „Amnesie. Das ist der medizinische Fachbegriff für Gedächtnisverlust.“, klärte Ai ihn mit trockener Stimme auf. „Ich weiß, was das is!“, herrschte Heiji sie an, schluckte dann, schaute sie entschuldigend an. „Aber verdammt… das kann er doch jetz‘ gar nich‘ brauchen… das muss ihn fertig mach’n, nich‘ mehr zu wissn…“ Er war bleich geworden. „Was.. was weiß er denn nicht mehr? Und wieso? Because of the concussion?“, hakte Jodie ein. „Alles.“ Agasas Stimme klang rau. „Er hat keine Ahnung, wer er ist. Wo er ist. Was passiert ist. Wer wir sind. Wer…“, seine Stimme wurde leise, „… Conan ist. Seine Vergangenheit, seine Gegenwart… sein ganzes Leben… alles weg. Und ja. Ich denke, ein wesentlicher Grund wird die schwere Gehirnerschütterung sein.“ Heiji stöhnte auf, strich sich die Haare aus der Stirn, wandte sich ab. Die Kinder schauten Agasa verstört an. „Und jetzt?“ „Jetzt muss er erst einmal hierbleiben. Und ich würde sagen… wir lassen ihn für heute in Ruhe. Ai und ich… haben… haben…“ „Wir haben ihn für heute schon genug gestresst.“, vollendete das kleine Mädchen den Satz des Professors. Jodie schien sich mit dem Gedanken nicht besonders anfreunden zu können, nickte dann aber widerwillig. „Schön. Dann gehen Mr Osaka und ich zu den Môris und zur Polizei und setzen die davon in Kenntnis, dass unser wichtigster Zeuge keine Aussage machen kann. Und James… und Shuichi müssen es auch wissen. Er ist mehr in Gefahr denn je, wenn er nicht weiß, vor wem er sich in Acht nehmen muss. Wir müssen die Bewachung wohl verdoppeln. Und… es wird wohl Zeit, dass sie kommt.“ „Ran…?“ Heiji schluckte, schaute Jodie an. „Ja, Shuichi wollte ohnehin mit ihr herkommen, aber es ahnte wohl keiner, dass… nun, vielleicht kann sie ihm helfen. Sie kennt ihn… schließlich schon lange. She knows him best. And they are lovers, after all. Love’s… such a strong emotion…“ Agasa nickte langsam. „Ja. Das ist… eine gute Idee. Ich werde seine Eltern informieren…“ „Und wir werden Conan suchen!“ Agasa und Ai schauten sich an; dann tauschten sie einen kurzen Blick mit Heiji und der FBI-Agentin. „Ja… wir… werden dann noch Conan suchen.“ Unendlich schwer gingen Agasa die Worte über die Lippen. Heute… heute würden sie es ihnen sagen. Es hatte keinen Zweck mehr, sie nun noch länger anzulügen. „Aber zuerst musst ich noch seine Eltern anrufen.“ Die Kinder nickten widerwillig, setzten sich auf die Bank. Heiji und Jodie warfen ihm einen mitfühlenden Blick zu; dann verabschiedeten sie sich und machten sich auf ihren Weg. Shuichi Akai fuhr hoch, als sein Handy klingelte. Unwirsch grummelnd kramte er in seiner Jackentasche danach, ließ dabei Ran nicht aus den Augen, die immer noch schlief, aber durch das penetrante Trillern des Telefons unruhig wurde, sich ein wenig bewegte. Ein leises Murmeln verließ ihre Lippen. Endlich fand er es hob unter Sonokos wachsamen Blick ab. „Was gibt’s?“ „Er war wach.“ Es war James; und er klang etwas verstört, soweit Shuichi es heraushören konnte. Seine Stimme klang besorgt. Akai runzelte die Stirn. „Nun. Das sind doch gute Nachrichten- oder nicht?“ Ein lautes Seufzen rauschte an seinem Ohr. „In diesem Fall nicht. Jodie war im Krankenhaus, hat ihn nicht gesprochen, der Professor war bei ihm, hat sich als sein Großvater ausgegeben… er hat es als erster erfahren und die Ärzte haben es uns mittlerweile auch bestätigt-…“ „Was denn?“ Langsam wurde Akai ungeduldig. Er war es nicht gewohnt, dass James Black so um den heißen Brei herumredete. „Ist er nach dem Aufwachen ins Koma gefallen oder was?“ Sonoko fuhr auf. „Nein. Er ist stabil.“ James Black schluckte. „His disease is of other nature. Mr Holmes has lost his memory.“ Akai blinzelte. Dann hob er langsam die Hand, griff sich an die Stirn. „Retrograde Amnesie?“ Sonoko blinzelte, schaute ihn an. Ihre Blicke trafen sich. „Ja. Shinichi Kudô weiß nicht einmal mehr, wer er ist, wie er heißt. Wie alt er ist. Wer wir sind, geschweige denn, was überhaupt passiert ist. Da muss etwas… vorgefallen… sein…“ „Dass ihn so sehr aus der Bahn geworfen hat, dass sein Verstand sich weigert, sich daran zu erinnern…?“ „Yes. He has lost a pretty amount of blood and suffers from a concussion, and… das kann unter Umständen der Grund für eine Amnesie sein. Auch. Alles andere ist Spekulation… Das sagen die Ärzte zumindest. Wann kommt ihr nach Tokio?” Shuichi trat an den Tisch, kramte die Flugtickets aus einem Stapel Papiere. „Morgen Nachmittag.“ „Well. Then, we’ll fetch you. Ruf an, wenn ihr angekommen seid.“ „Sicher.“ Akai seufzte, legte auf, schaute das blonde Mädchen an, das vor ihn getreten war. Sie war kreideweiß im Gesicht, ihre Augen warten angstvoll geweitet. „Körperlich ist er stabil soweit. Er war auch… wach. Aber er hat…“ „Sein Gedächtnis verloren.“ Sonoko hauchte die Worte nur, drehte sich um, schaute zu Ran, bemerkte Akais Nicken aus den Augenwinkeln. „Mein Gott… ausgerechnet das… Das… das wird hart für sie…“ Wenn der, den du liebst, sich nicht an dich erinnert… Der, der dich doch liebt, nicht mehr weiß, wer du bist… Und du dir wohl die Schuld dafür geben wirst, dass er jetzt… durchmacht, was auch du schon erlebt hast… Ran schlummerte immer noch, hatte nichts mitbekommen. „Sollen wir sie wecken… es ihr gleich sagen?“ Sonokos Stimme zitterte. „Nein.“ Akai bezog wieder Stellung auf seinem Stuhl, steckte sich eine Zigarette an. „Nein…“ Er nahm einen tiefen Zug, stieß den Qualm langsam aus. „Lass sie schlafen. Sie wird jedes Quäntchen Kraft, dass sie hat, nötig haben, wenn sie bei ihm ist. Die nächsten Tage werden nicht einfach werden… da kann sie jede ruhige Minute, die sie jetzt noch in Unwissenheit verbringen kann, gut gebrauchen.“ Er seufzte, zog ein weiteres Mal an seiner Zigarette. „Die Schlacht ist noch lange nicht vorbei. Es fängt gerade erst an… und wir haben denkbar schlechte Karten in diesem Spiel.“ Die blonde Oberschülerin nickte, strich sich fahrig über ihre Haare, setzte sich dann wieder neben ihre Freundin aufs Bett, griff nach Rans Hand. Akai schaute an die Decke, beobachtete die Formen, die der Rauch bildete, ohne sie wirklich zu beachten. Seine Gedanken waren woanders. Dir bleibt auch nichts erspart, was… Kudô? „Kudô?“ Yusakus Stimme schallte ihm aus dem Hörer entgegen. Agasa schluckte, biss sich auf die Lippen. Er hatte sich keine Sätze zu Recht gelegt. Er wusste nicht, was er sagen sollte. „Hallo?“ Wie sollte er seinen Eltern beibringen, dass ihr Sohn sich nicht an sie erinnerte…? „Wer ist da? Ich lege gleich wieder auf-…“ Erst jetzt reagierte Agasa. „Yusaku!“ Erschrocken klammerte er sich an den Hörer. „Hiroshi?“ Yusaku Kudô merkte, wie seine Knie weich wurden. Er schaute um sich; keine Yukiko in Sicht. Langsam ging er mit dem Telefon in die Küche, ließ sich auf einen Stuhl nieder. „Hiroshi, rufst du an wegen… wegen…“ Er merkte, wie Nervosität in ihm hochkroch. Ja, er wusste, dass er lebte. Aber er hatte keine Ahnung, wie es ihm ging. Wie es Shinichi ging, nach diesem katastrophalen Tag gestern… „Ja. Ich ruf an wegen Shinichi. Ich war heut im Krankenhaus.“ Er klang auf einmal völlig gefasst. „Sagt mal, warum seid ihr noch nicht hier?“ „Wie geht es ihm?“ „Yusaku…!“ „Hiroshi, wie geht es ihm!?!“ Yusaku schrie ins Telefon. Seine Nerven lagen blank und er konnte jetzt gerade wirklich keine Diskussion gebrauchen… er hatte heute Morgen schon mit Yukiko darüber geredet, dass er nicht ins Krankenhaus wollte. Klarerweise hatte sie ihn nicht verstehen können. Er strich sich die Haare aus der Stirn. Es gab zwei Gründe, warum er nicht wollte… konnte… Grund eins war: Yusaku Kudô hatte Angst. Ja… Angst. Angst vor der Reaktion seines Sohns, wenn er seinem Vater gegenüber trat… nach diesem verheerenden Gespräch, nach diesem schrecklichen Abend. Er hatte Angst, dass er sich schon in den nächsten fünf Minuten bei Meguré im Wagen finden würde – auf dem Rücksitz. Hatte Angst vor der Enttäuschung, dem verletzten Ausdruck in Yukikos Augen, die er in ihnen würde lesen können, sobald sie erfuhr, was er ihr all die Jahre vorgemacht hatte… sobald sie erkannte, dass er der Schauspieler war, nicht sie… Er schluckte schwer. Ihm war erst heute aufgegangen, was für ein erbärmlicher Feigling er war. Er hatte Angst… Er fürchtete sich vor den Reaktionen seiner Familie, seiner Freunde. Er hatte all die Jahre so sorgsam sein Geheimnis gehütet… er wollte nicht, dass es sein Leben zerstörte. Nun stand alles kurz vor dem Abgrund, und das machte in gereizt. Und deshalb… so sehr er sich auch um Shinichi sorgte, unter die Augen treten konnte er ihm nicht. Der zweite Grund war… dass er Angst hatte, sie direkt zu ihm zu führen. Er holte Luft. Aber Professor schien zumindest noch nichts zu wissen… also hatte ihn Shinichi noch nicht verraten…? Er beruhigte sich etwas. „Hiroshi, wie geht es ihm denn nun? Hast du mit ihm gesprochen?“ „Ja. Er war wach. Ich hab… mit ihm gesprochen.“ Erneut trat Schweigen an. Yusaku schloss die Augen, atmete tief durch. „Und… wie geht es ihm? Was sagt er?“ „Er sagt nicht viel.“ Hiroshi Agasa räusperte sich. „Um genau zu sein… gibt es wohl auch nicht viel, über das er reden könnte.“ Der Autor öffnete die Augen. Er wandte sich um, sah Yukiko auf sich zukommen, schluckte, winkte sie dann näher. „Wie meinen Sie das, Professor?“ Yusaku hörte den alten Mann am anderen Ende der Leitung schlucken. „Professor?!“ Seine Stimme wurde drängend, ohne dass er es eigentlich beabsichtigte. Agasa holte tief Luft. „Er leidet unter retrograder Amnesie.“ Yusaku verstand im ersten Moment gar nicht, was er hörte. Erst nach und nach begriff er, schaute in Yukikos fragende Augen, griff zögernd nach ihrer Hand. „In… inwiefern? Hat er nur… die letzte Woche…?“ Lange war es still in der Leitung, ehe Agasa wieder etwas sagte. Diese Verzweiflung, diese flehende Hoffnung in Yusakus Stimme hatte er noch nie gehört. Die Stimme des alten Mannes krächzte. Er hustete, dann setzte er neu an. „Nein, Yusaku, nicht nur letzte Woche. Er hat alles vergessen. Er weiß nicht mal mehr seinen eigenen Namen. Er hat mich und Ai nicht erkannt. Er hat einfach… einfach alles vergessen, was es zu vergessen gibt, für ihn. Euch auch.“ Langsam dämmerte Yusaku, was das alles bedeutete. Seine Hände wurden kalt, tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Wortlos drückte er das Telefon, aus dessen Hörer leise die Stimme des Professors („Hallo? Yusaku? Bist du noch dran…???“) drang, Yukiko in die Hand, die sich meldete, und die dann ebenfalls erbleichte. Es dauerte nicht lang, bis ihr die ersten Tränen aus den Augenwinkeln perlten, ihre Lippen zu zittern begannen. Er wandte sich ab. Shinichi wusste nichts mehr. Er konnte ihn nicht verraten. Irgendwie konnte ihn das nicht erleichtern. Was… was soll ich jetzt machen? Sie werden dich suchen, sobald sie erfahren, dass du noch lebst… Und ich bin der Erste, den sie verdächtigen werden… ich weiß nicht, ob ich euch dann schützen kann… Er warf seiner Frau einen kurzen Blick zu. Obwohl… so ohne Gedächtnis war Shinichi keine Gefahr für die Organisation… zumindest nicht momentan. Allerdings bezweifelte er, ihn schützen zu können, allein deswegen… unter Umständen würde Shinichi sich schneller erinnern, als ihnen lieb sein konnte. Aber… Er würde es… auf sich zukommen lassen müssen… Er war immer noch der Boss. Immerhin. Was das wert war, würde sich noch herausstellen. Und nicht zu vergessen… die Tatsache, dass Shinichi nicht mehr wusste, wer er war… würde zumindest den Umgang mit ihm erleichtern, ehe er eine Lösung gefunden hatte. Er hatte keine Ahnung, ob diese Amnesie auf Dauer war… er befürchtete, dass dem wohl nicht so war und schalt sich im gleichen Atemzug einen schlechten Vater… wer war er, dass er seinem Sohn ein Leben ohne Identität wünschte! Verdammt. Aber… fürs erste… erinnerte sich Shinichi an nichts… und das war vielleicht gar nicht mal so schlecht. Er war wirklich ein miserabler Vater, dass er darin Vorteile sehen konnte… Unwillig verzog er die Lippen, fuhr dann erschrocken herum, als sie ihn ansprach. „Wann fahren wir ihn besuchen, Yusaku?“ Der Autor schluckte. Die Frage überforderte ihn. Yukiko schaute ihn verwirrt an. „Ich… ah…“ „Der Professor meint, dass er wohl seine Ruhe braucht, aber dass es vielleicht doch nicht schlecht wäre, wenn wir kämen…“ Ihre Stimme schwankte. Sie umklammerte mit beiden Händen das Telefon. Er sah ihr an, dass sie lieber jetzt als gleich bei ihrem Sohn wäre. „Ich denke, wir sollten ihn sich ausruhen lassen, heute.“, presste er dann hervor. Es brach ihm das Herz, als er sah, wie sich in ihrem Gesicht Enttäuschung und Verwirrung ausbreiteten. Fakt war, er wusste nicht, was er hätte tun sollen, im Krankenhaus. Was er ihm hätte sagen sollen. Wie er sich hätte verhalten sollen. Fakt war, er fürchtete den Anblick, weil er wusste, wer Schuld an Shinichis Zustand war. Er selber nämlich. Und außerdem… gab es einen Ort, an den er jetzt erst einmal dringender hinmusste. „Aber… Yusaku…?“ „Sag ihm, er kann ihm ausrichten, wir kommen bald.“ „Yusaku…?!“ Sie starrte ihn an, eine Mischung aus Vorwurf und Bitte lag in ihren Zügen. Er schüttelte den Kopf. „Ich kann ihn heute nicht besuchen.“ „Aber…?“ Unglauben lag in ihren Zügen. „Herrgott, ich bin schuld, dass es so weit gekommen ist! Ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen… ihn nicht so allein lassen sollen mit all dem Zeug… dem Fall… Conan…“ Er starrte zu Boden, schaute dann wieder auf. „Ich kann ihm so nicht unter die Augen treten. Versteh das bitte.“ Damit drehte er sich um, griff sich seine Jacke und verließ fast fluchtartig das Haus. Es stimmte… neben der ganzen anderen Problematik machte ihm das noch besonders zu schaffen… er schrieb es seinem Versagen zu, dass es soweit überhaupt gekommen war. Dass Shinichi überhaupt gefasst worden war. Dass er diese Woche hatte erleben müssen… Hinter ihm fiel die Tür zu. Yukiko blieb stehen, wie vom Donner gerührt, hob langsam das Telefon wieder an ihr Gesicht. In Kogorô Môris Wohnung hatte in der Zwischenzeit die Neuigkeit die Runde gemacht; Heiji hatte sie ohne Umschweife ins Bild gesetzt. Vor ein paar Sekunden hatte er seinen Bericht beendet und nun herrschte Stille in der kleinen Küche, man konnte fast sehen, wie die Anwesenden die Nachricht verarbeiteten, die Zahnräder in den Köpfen fast rattern hören, bis- „Er hat… was…?!“ Kogorô und Meguré, der, wie sich herausgestellt hatte, gerade mit Môri über die neuesten Entwicklungen in ihrem Fall geredet hatte, schauten Heiji ungläubig an, der gerade vom Professor abgesetzt worden war. „Ja. Sein Gedächtnis verloren. Amnesie nennt man das. Retrograde Amnesie, um genau zu sein.“ „Ich weiß, was das ist!“, brummten die beiden Männer synchron, schauten sich dann etwas verwirrt an. „Und er hat wirklich alles vergessen…?“, fragte Eri in die nun eintretende Stille hinein. Sie befand sich ebenfalls in der Wohnung ihres Mannes, schließlich… ging das Schicksal von Shinichi und damit auch das ihrer Tochter nicht an ihr vorbei. Sie hatte sich Sorgen gemacht, und das wohl zu Recht. Heiji nickte langsam, schaute Rans Mutter, die er heute zum ersten Mal kennengelernt hatte, unbehaglich an. Eri Kisaki war eine toughe Frau, der man nichts vormachen konnte, das war ihm schon bei der Begrüßung klar geworden. „Ja. Das sagt zumindest der Professor. Der hat mit ihm heut schon geredet. Muss… muss furchtbar gewesn sein…“ „Das ist in der Tat ungünstig…“ Die Rechtsanwältin setzte sich auf einen Stuhl, schlug ihre Beine übereinander, seufzte und massierte ihre Schläfe. „Die arme Yukiko. Das muss schrecklich für sie sein. Was muss er sich auch… immer in solche Schwierigkeiten bringen…“ Ein bitteres Lächeln huschte ihr über die Lippen, dann sah sie auf, seufzte. „Nun gut, wenigstens lebt er noch.“ Kogorô und Meguré nickten zustimmend. Rans Vater stand von seinem Stuhl auf, auf dem er bis jetzt gesessen hatte, ging mit auf dem Rücken verschränkten Armen im Zimmer auf und ab, dachte offensichtlich nach. Abrupt blieb er stehen, warf Heiji einen fragenden Blick zu. „Weiß Ran…?“ „Ich glaub, noch nich‘. Der Prof wollt sie aber noch anrufen.“ Heiji ließ sich langsam auf einen Stuhl sinken. Dann fuhr er wieder hoch. „Verdammt! VERDAMMT! Warum auch… wenn wir ihn früher gefundn hättn… wir hätten ihn vorgestern nicht mehr zu diesen Verbrechern fahren lassen dürfen! Ich…“ Kogorô trat auf ihn zu, packte ihn an der Schulter, drückte ihn hart auf die Sitzfläche des Stuhls und holte ihm ein Becherchen Sake. „Beruhig dich und überleg lieber, wie du ihm jetzt helfen kannst.“, brummte der Detektiv unwirsch. „In die Vergangenheit zu denken bringt nichts.“ Heiji starrte in das kleine Gefäß, sah den Mann an, nickte langsam; dann stürzte er den Alkohol hinunter. Verdammt, Kudô… Meguré stand nun auch auf, tippte sich an seinen Hut. „Ich… werde dann wohl auch gehen. Auch wenn er sich nicht erinnert… ich fürchte, um eine Befragung wird er nicht umhin kommen, und wir müssen eine Untersuchung einleiten…“ Er seufzte schwer. „Das muss alles in die Wege geleitet werden… mit dem FBI muss ich wohl auch noch telefonieren… die wollten sich ohnehin melden, sagst du?“ Meguré warf Heiji einen fragenden Blick zu. Der Oberschüler nickte, ohne ihn anzusehen. „Gut.“ Der Kommissar knetete unbehaglich seine Hände. „Nun… dann… wir sehen uns. Môri.“ Er nickte seinem ehemaligen Kollegen zu. „Eri, war schön, dich mal wieder zusehen.“ Meguré warf der Rechtsanwältin ein kleines Lächeln zu. „Danke, für mich ebenfalls, Herr Kommissar.“ Sie lächelte zurück, aber die Sorge in ihren Augen blieb. „Nun, ich denke, sie werden ihre Tochter bald wohlbehalten wiederbekommen. Es gibt ja jetzt keinen Grund mehr, sie noch auf Izu zu halten…“ Das Ehepaar stimmte durch ein kaum merkbares Kopfnicken zu. „Heiji. Bis dann.“ Der Osakaer hob flüchtig die Hand, starrte immer noch auf den Boden, seine Miene wie versteinert. Es war für alle ersichtlich, dass in ihm die Schuldgefühle nagten. Meguré seufzte, dann drehte er sich um, verließ die Wohnung. Agasa hängte das Telefon ein, Verstörtheit war in seinen Zügen zu lesen. Er hatte Yukiko noch beruhigen wollen, die ihm unter Tränen erklärt hatte, warum sie heute nicht mehr kommen würden und warf einen Blick auf das kleine Mädchen neben ihm. „Was glaubst, du… wer…?“ Ai wandte ihren Kopf, starrte aus dem Fenster. Der Himmel zog sich zu. Heute Nacht würde es wohl regnen. „Ich meine… wer… ist er? Der Boss…? Denn nur… an seinem Handeln liegt es, dass es so weit gekommen ist.“ Ai wurde bleich. „Ich weiß es nicht. Wirklich… nicht…“ Agasa schaute sie durchdringend an, dann kniff er die Lippen kurz zusammen. „Es muss jemand sein, der ihn kennt. Er hat ihn immer wieder gerettet… nur weil er noch am Leben ist, konnte er sein Gedächtnis verlieren. Und ich denke… wir werden… den Boss da finden…“ „Wo ihm sein Gedächtnis verloren gegangen ist?“ Ihre Stimme klang leise. Das kleine Mädchen seufzte schwer, biss sich auf die Lippen. Dann schoss ihr eine andere Frage durch den Kopf. „Was sagen eigentlich die Kudôs? Wann kommen sie ihn besuchen?“ Agasa seufzte betrübt. „Morgen. Sie- sie sind ein wenig besorgt. Nun, eigentlich sind sie sehr besorgt, und sie haben wohl auch Angst, wohl vor allem Yusaku, wie er auf sie reagieren wird, wo er sie nun doch… nicht mehr kennt. Ich wollte es ja selber kaum glauben. Außerdem haben sie ein schlechtes Gewissen. Sie denken, sie haben als Eltern versagt, ihn im Stich gelassen. Besonders Yusaku macht sich Vorwürfe, weil er ihn nicht rechtzeitig gefunden hat. Weil all das passieren musste…“ Ai öffnete die Beifahrertür des Käfers, in dem die Kinder sie bereits erwarteten. Das rotblonde Mädchen warf ihnen einen ernsten Blick zu; dann wandte sie sich wieder an den Professor. „Ihr Sohn ist ihnen so unähnlich.“ Agasa stieg ein, wartete, bis sie neben ihm Platz genommen hatte, schaute sie ernst, vielleicht ein wenig verärgert an. „Warum sagst du so etwas? Du kennst sie doch kaum, du hast kein Recht-…“ Ai schaute ihn aus ihren blaugrünen Augen wütend an. „Sie sagten, sie würden sich Vorwürfe machen, weil sie denken, ihn im Stich gelassen zu haben?“ Agasa nickte fest. Das war die Tatsache- Yukiko hatte am Telefon wie am Boden zerstört geklungen. „Ja.“ „Und was, Professor, tun sie dann jetzt, bitte? Sagen Sie mir, was machen sie anderes, als ihn allein zu lassen, jetzt, wo er sie braucht, wie nie zuvor? Wo sind sie jetzt?! Sie sollten hier sein! Sie sollten schon seit gestern hier sein! Vorwürfe machen können sie sich später auch noch!“ Sie atmete schwer, hatte sich in Rage geredet. „Er ist nicht so ein Feigling. Er würde nicht kneifen. Er hat noch nie gekniffen. Die letzte Woche hat das noch mehr gezeigt, als wir es ohnehin schon wussten.“ Der alte Mann blinzelte, ließ den Motor an. Ai drehte den Kopf, starrte stur aus dem Fenster, die Krankenhausfassade hoch, suchte das Zimmer, in dem er nun bleiben musste. Agasa kam nicht umhin, ihr Recht zu geben. Obwohl der Shinichis Eltern verstand, musste er sich eingestehen, dass Ais Argumente nicht von der Hand zu weisen waren. Es stimmte. Nach einer halben Stunde Fahrt hielten sie neben ihrem Zeltplatz an. Er war mit den Kindern, er wusste nicht warum, hierher gefahren, um es ihnen zu sagen. Nun standen sie alle um den alten Mann geschart und schauten ihn abwartend an. „Wollen wir dann los…?“ Ayumi war ungeduldig. Genta und Mitsuhiko nickten zustimmend. Agasa schüttelte den Kopf. Das rotblonde Mädchen schaute den alten Mann fragend an. Der Professor schluckte hart, dann räusperte er sich. „Setzt euch.“ Die drei Kleinen schauten ihn fragend an, taten aber wie geheißen. „Hat man Conan etwa gefunden?“ Ai drehte sich um, schaute in die Richtung, aus der das Rauschen des Meers an ihre Ohren drang. Laut und grollend hörte es sich an, wütend, ja... Kurz zögerte sie noch… dann ging sie. Sie konnte hier nicht bleiben, konnte nicht sehen, wie heute noch eine Welt in Trümmer fiel, wo sie heute doch schon den Scherbenhaufen einer Existenz gesehen hatte. Der Professor schaute ihr nach, ließ sie aber wortlos ziehen. „Ai, wo gehst du hin?“ Ayumis Stimmchen schallte ihr hinterher- doch Ai ging einfach weiter, drehte sich nicht um. Das brünette Mädchen schaute zu ihm auf, ihre Augen dunkel vor Sorge und Verwirrung. „Was ist mit Ai? Wo geht sie hin? Und was ist nun mit Conan?“ Agasa seufzte, kratzte sich am Hinterkopf. „Sie muss ein wenig ihre Ruhe haben. Also- Conan…“ Er stockte. Die kleinen Gesichter schauten ihn mit einer Mischung aus Erwartung und Sorge an, ihre großen Augen unverwandt auf das faltige, betrübt aussehende Gesicht ihres Wahlgroßvaters gerichtet. „Was ist mit Conan?“, fragte Mitsuhiko langsam. „Er wurde doch entführt? Hat man ihn gefunden? Was machen wir dann noch hier…?“ Agasa starrte sie an, schien seine Worte gar nicht zu hören. Langsam hob er den Kopf, schaute in die Richtung, in die Ai… Shiho… verschwunden war, wusste, woran sie dachte, was sie so besorgte und mitnahm. Das Rauschen des Meeres drang aus der Ferne an seine Ohren, der Wind fing sich in seinen Haaren. Dann blickte er wieder auf die Kinder, sah Ayumi zu, wie sie sich eine Haarsträhne, die ihr eine Bö ins Gesicht geblasen hatte, aus dem Mundwinkel zog. Sie war noch so jung. Sie waren alle noch jung. Sie waren Kinder. Auch Shiho und Shinichi waren noch so jung… auch mit neunzehn sollte man nicht das erleben, was sie durchmachten, erst recht nicht durch eine solche Hölle gehen müssen, wie Shinichi es derzeit auferlegt war. Seine Mundwinkel verzogen sich, und er merkte, wie ihn die Sorge, das Mitgefühl überrannten. Die ganze Zeit, all die Tage war er zu angespannt gewesen, um sich einmal zu sammeln, einmal durchzuatmen; zu groß die Angst, dass man Ai auch noch schnappte, oder dass Shinichi tot war… es war alles so viel gewesen, die Last so erdrückend, die Sorge so schwer, die Angst so unglaublich allgegenwärtig… Was hatte Shinichi durchgemacht, der diese Gefühle Tag für Tag hatte empfinden müssen… jeden Tag genauso rastlos, weil ihn die Sorge umtrieb, die Furcht um alle, die er liebte nicht schlafen ließ, manchmal ziellos, weil nichts vorwärtsging… hoffnungslos, weil einfach nichts zu funktionieren schien… kein Weg in Aussicht, kein Lichtschimmer am Horizont… Agasa hatte es erfahren, in den letzten sieben Tagen. Shinichi hatte es vergessen. Und nun saß er hier, und sollte diesen Kindern sagen, dass ihr Freund eigentlich kein Grundschüler mehr war, dass er sie angelogen hatte, betrogen hatte, er, Conan - den sie so angebetet hatten, auf den sie so große Stücke hielten, dem sie so loyal waren… Conan. Conan, an den Ayumi ihr kleines Herzchen gehängt hatte, ihre erste Liebe verschenkt an ein Trugbild… Shinichi konnte man nicht verantwortlich machen dafür, er hatte selber gelitten, sich selber gehasst, aber das würde das, was auf dieses Gespräch folgen würde, nicht besser machen. „Professor?“ Gentas dunkle Stimme klang an sein Ohr. Dann spürte er Ayumis kleine Hände auf seinem Knie. „Professor… weinen… weinen Sie…?“ Ihre Stimme zitterte. Agasa fuhr hoch, seine Augen waren tatsächlich glasig, und er merkte erst jetzt, dass ihm tatsächlich eine Träne über die Wange lief. „Ist was mit Conan, Professor? Ist er… ist er…“ Ihre Lippe begann zu zittern, und sie stand selber gefährlich nahe davor, in Tränen auszubrechen. Er lächelte, wischte den Tropfen weg, tätschelte dem kleinen Mädchen den Kopf, das ihn sorgenvoll anschaute. „Nein, es ist schon… schon gut, Ayumi.“ Er seufzte tief. „Das, was ich euch jetzt sagen werde, tut mir im Namen aller… Betroffenen sehr leid. Wir… werden Conan nicht mehr finden…“ Seine Stimme verlor sich. Die Kinder sahen ihn schockiert an, das war zu erwarten gewesen. „Bevor ihr etwas Falsches denkt, Kinder… Conan ist nicht tot. Wenngleich… er fast gestorben wäre. Conan… hat nie existiert, wie auch Ai… nicht wirklich existiert.“ „Aber…! Ai ist doch…!“, wollte Mitsuhiko einwerfen, doch Agasa schnitt ihm mit einem schweren Kopfschütteln das Wort ab. „Conan Edogawa wie auch Ai Haibara sind Decknamen. Ais echter Name lautet Shiho Miyano… und Conan… Conan…“ Er schluckte. „Conan wurde gestern Abend im Regen auf der Landstraße gefunden, mit einer Schussverletzung, angeknacksten Rippen, Bronchitis und einer Gehirnerschütterung… und liegt jetzt mit retrograder Amnesie im…“ Seine Stimme verlor sich. Mitsuhiko sprang auf. Er hatte im Gegensatz zu Ayumi und Genta sofort verstanden, wen der Professor meinte. „Nein.“ Immer wieder schüttelte er den Kopf. „Nein!“ Er schrie ihn an, Wut flackerte in seiner Stimme auf. „Mitsuhiko.“ Agasa wollte ihn an der Hand nehmen. „Nein! Das geht nicht! Er ist neunzehn! Er ist…“ „Shinichi Kudô, genau.“ Ayumis Kopf fuhr hoch, Genta verschluckte sich an einem Bonbon, das er sich gerade in den Mund gesteckt hatte. „Was?“ Ayumi schaute den Professor verschreckt an, zu geschockt, um in Tränen auszubrechen, während Mitsuhiko Genta auf den Rücken hämmerte, bis der das Bonbon wieder ausgespuckt hatte. Hechelnd lag der dickere Junge auf dem Boden, während Mitsuhiko schwer atmend den Professor anstarrte. „Aber das ist nicht möglich.“ Agasa schaute ihn betrübt an. „Ja, das sagt er selber heute auch. Eigentlich ist es auch unmöglich… ich wollts an dem Tag, als er als Grundschüler… zum zweiten Mal als Grundschüler vor mir stand, auch nicht glauben… aber ihr könnt Ai fragen, es stimmt. Wie das vonstattenging will ich euch erzählen, aber ihr solltet euch dazu wirklich setzen.“ Mitsuhiko setzte sich neben Genta, der sich langsam wieder aufsetzte und ein neues Bonbon aus seiner Tasche fischte. Ayumi, die auch auf ihren Füßen stand, schwankte, starrte den Professor an. „Aber…!“ Es klang fast wie ein Wimmern, und es brach ihm das Herz. „Ich weiß.“ Der alte Mann konnte ihr Herz fast brechen hören, als er sie an sich zog, und sie kurz in seinen Armen wiegte. Genta und Mitsuhiko starrten ihn an; vor allem in Mitsuhiko kochte langsam wirklich der Zorn hoch. „Sagen Sie, Professor, was haben Sie drei sich eigentlich gedacht? Uns so anzulügen! Das tut man doch nicht! Freunde lügt man doch nicht an! Vor allem… was hat er sich dabei gedacht?!“ „Wir… er und Ai und ich… haben es getan, um euch zu schützen. Ihr habt gesehen, was sie mit ihm angerichtet haben. Ich kann euch nur sagen, dass das, was ihr gesehen habt, als wir ihn ins Krankenhaus gebracht haben, gerade mal die Oberfläche der Verletzungen, körperlich wie geistig, ist, die er in den letzten drei Jahren, vor allem aber in der letzten Woche ertragen hat, um euch… uns alle… in Sicherheit zu wissen. Das ist nie aus böser Absicht geschehen, das… müsst ihr einfach glauben.“ Seine Stimme klang schwer, sein Gesicht war gezeichnet von Gram und Erschöpfung. Sie starrten ihn nur an, sprachlos. Ayumi ließ sich langsam in seinen Schoß sinken, schniefte leise; und dann begann der Professor zu erzählen. Redete, leise und ruhig und wurde nicht unterbrochen, bis die drei Kinder die erschütternde Geschichte kannten… die ganze Geschichte kannten… von dem Patienten in Zimmer 365, der nicht mehr wusste, wer er war - die Geschichte von Shinichi Kudô alias Conan Edogawa. Ai stand am Strand, wo vor einer Woche noch er gestanden hatte, schaute aufs Meer. Doch diesmal schien es nicht friedlich, geheimnisvoll - es schien wie ein wütendes Monster, wie ein Ungeheuer, bereit, sie alle zu verschlingen. Sie zu vernichten. Wellen türmten sich auf, leuchteten wie Feuer im Glanz der Sonne, die das erste Opfer der alles verschlingenden Bestie zu werden schien. Sie fröstelte. Keine leichte Brise, sondern ein aufziehender Sturmwind zerrte an ihr, riss an ihren Haaren, ihrer Kleidung, wollte sie umdrücken, sie sich Untertan machen. Und sie stand da, schloss die Augen, und wünschte, es gelänge ihm. Sie war gefasst geblieben, den ganzen Tag. Bei Verstand geblieben. Hatte versucht zu helfen, wo es ging. Nun ging es aber nicht mehr weiter. Schuldgefühle machten sich in ihr breit, mehr denn je. Sie fragte sich, warum es ihn getroffen hatte. Warum nicht sie? Sie hatte auch diese Reisegruppe getroffen, sie hatte auch diesen Ausflug mitgemacht. Was hatte ihn verraten? War es wirklich nur dieses Telefongespräch gewesen? Warum war sie nicht auch gefangen genommen worden, warum… warum er? Und warum hatte er sie nur gerettet… vielleicht wär es nie soweit gekommen… wenn er… Brav gewesen wäre… Sie wussten mittlerweile, was er getan hatte… beziehungsweise, was nicht. Sie wussten, dass man ihn zum Boss gebracht hatte, und dass er dann geflohen war. Aber was sie nicht wussten, war, was beim Boss passiert war. Was auf der Flucht passiert war. Was ihn so zerstört hatte, dass er sich daran nicht mehr erinnern wollte. Sie mochte kaum glauben, dass eine simple Gehirnerschütterung allein Schuld daran war. Sein Anblick ging ihr nicht aus dem Kopf. Wie er da gelegen hatte, im Krankenbett, als sie gegangen waren. Immer wieder sah sie sie, die Leere in seinen Augen - Augen, die die Leere in seinem Inneren widerspiegelten, Augen, die Panik und Verzweiflung und Schrecken verrieten - und Furcht. Furcht, vor seinem eigenen Unwissen - Furcht vor denen, die ihm das angetan hatten. Furcht vor jedem, der seinen Weg kreuzte, denn sie alle könnten ihm das angetan haben, nach seiner Sicht der Dinge. Er konnte so gut wie keinem trauen. Sie war auch nicht unbedingt vertrauenserweckend gewesen, als sie ihn zur Äußerung seiner Beobachtung gezwungen hatte. Aber sie mussten ihn überzeugen, dass es stimmte. Dass er Conan gewesen war. Dass es Leute gab, die ihn als solchen kannten - dass es Leute gab, die ihn töten wollten, weil er existiert hatte. Dass er in Gefahr war. In großer Gefahr. Mit dieser Erzählung hatten sie wohl das zarte Band des Vertrauens, das er knüpfen hatte wollen, ziemlich strapaziert. Denn er wollte vertrauen. Er wollte wirklich. Sie hatte es ihm angesehen - er wollte wirklich. Er suchte verzweifelt nach jemanden, dem er trauen konnte - nach einem Fixpunkt, einem festen Parameter, anhand dessen er ausmachen konnte, wer sein Freund und wer sein Feind war. Suchte nach Informationen. Er suchte nach seinem Leben. Und er hatte Angst. Angst vor der Einsamkeit. Angst vor der Leere in seinem Kopf, das war das letzte Bild gewesen, das sie von ihm gesehen hatte; so tapfer und gelassen er sich auch gegeben hatte, er war immer noch ein guter Schauspieler, aber wie immer… hatten seine Augen nicht mitgespielt. Er hatte niemanden mehr. Nicht einmal sich selbst. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie er jetzt wohl im Bett lag und an die weiße Wand starrte, ein perfektes Ebenbild seines Gedächtnisses - ein paar Kratzer, Flecken hier und da, aber ansonsten blank. Eine Sturmbö griff nach ihr, drückte mit kalten Händen gegen sie. Sie ließ sich in den Sand sinken, starrte mit blicklosen Augen in die Ferne. Sie sprach nicht, als sie mit Agasa und den Kindern nach Hause fuhr. Genta, Ayumi und Mitsuhiko waren sehr, sehr still geworden. Immer wieder warfen sie Ai, die vorne neben dem Professor saß, besorgte wie ängstliche Blicke zu. Auch Ai war kein kleines Mädchen mehr, das wussten sie nun. Wie sie zu einem kleinen Mädchen geworden war, wussten sie jetzt auch. Ayumi schaute aus dem Fenster. Sie dachte an Conan - und fing nun ebenfalls wieder zu weinen an. Sie dachte an den Streit, von vor gut einer Woche. Dachte an seine Worte. „Ran ist eine erwachsene Frau, ich bin ein kleiner Junge! Ich kann sie gar nicht lieben, Ayumi, selbst wenn ich es wollte! Also lass mich in Frieden, meine Gefühle gehen dich nichts an.“ Er war Shinichi gewesen. Und er liebte Ran. So sehr. So sehr, dass er sein Leben für sie aufgegeben hatte. Nur für Ran, sein ganzes Leben, mit allem, was dazugehörte. Er hatte sie geliebt… schon immer. Und Conan - als Conan war ihm das nicht mehr möglich gewesen. Er durfte nicht mehr. Und darunter hatte er gelitten - unter diesem Umstand und der Tatsache, dass Ran ihren Shinichi vermisste - und er doch nicht kommen konnte. Nicht bei ihr sein konnte. Und dann kam auch noch sie und machte ihm das Leben schwer. Ihre erste große Liebe war nichts weiter als eine Illusion gewesen, eine Täuschung - und langsam keimte in ihr die Erkenntnis, dass das Leben manchmal schrecklich ungerecht war. Und sie war wütend. Wütend auf Conan und auch auf Ai, die sie so lange im Ungewissen gelassen hatten, auch wenn es zu ihrem Schutz gewesen war. Er hätte es viel einfacher haben können, hätte er ihr von Anfang an gesagt, dass er zu alt für sie war. Stattdessen hatte er es soweit kommen lassen. Und Ai - Ai hatte zugesehen, wie sie sich blamiert hatte. Nicht nur, dass ihre Liebe nie erwidert werden würde - noch dazu hatte sie sich vor allen lächerlich gemacht. Verzweiflung stieg in ihr hoch. Sie schämte sich. Sie war ihm zu nahe getreten, viel zu nahe. Sie hatte ihn sicher genervt. Sie war für ihn bestimmt nur ein dummes, kleines Kind gewesen. Und doch tat er ihr Leid. Denn er - er befand sich irgendwie in der gleichen Situation wie sie. Auch er hatte jemanden geliebt, der für ihn unerreichbar war. Und nun wusste er nicht einmal das mehr. Er hatte alles vergessen… alles wofür er gekämpft hatte… hatte er verloren. Er hatte Ran verloren, denn sie war… für ihn jetzt genauso fern wie als Conan… Weil Shinichi weg war. Kapitel 22: Kapitel 4: Neuer Tag, neues Spiel ---------------------------------------------- Hallo! Vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Entschuldigt bitte die Pause letzte Woche, ich habs nicht auf die Reihe gekriegt, ein neues Kapitel zu posten. *sichschämt* Ich muss sagen, ich bin mir mit diesem Kapitel nicht wirklich grün. *seufz* Und auch den Titel finde ich noch nicht wirklich passend; ich hoffe dennoch, dass es euch einigermaßen gefällt, und wem ein passenderer Titel einfällt- immer her damit. :D Viele Grüße, eure Leira :D ______________________________________________________ Kapitel 4: Neuer Tag, neues Spiel Als Ran an diesem Morgen die Augen aufschlug, schien durch ihr Fenster die Sonne, kündigte von einem Tag mit herrlichstem Urlaubswetter, wie geschaffen, um ihn am Strand zu verbringen, badend im Meer, sorgenfrei und fröhlich… Sie blinzelte ins Licht, atmete tief ein und aus. Dann merkte sie sie, wie die Welt langsam wieder trüber wurde, die Sonne sich verdunkelte. Ran schluckte, starrte an die Decke, konnte auf der weißen Fläche fast den Film sehen, der in ihrem Kopf gerade angelaufen war. Die gestrigen Ereignisse erschienen ihr klar vor Augen, es war, als würde sie jedes einzelne Wort hören. Sie blinzelte, schluckte, merkte, dass sich ein Kloß in ihrem Hals gebildet hatte. Shinichi… Heute würde es endlich nach Hause gehen. Heute würde sie ihn sehen. Endlich die ganze Geschichte erfahren. Ein leises Seufzen verließ ihre Lippen, langsam streckte sie sich, drehte sich auf die Seite – und schaute geradewegs in die Augen von Shuichi Akai, der wie festgeklebt immer noch auf seinem Stuhl saß und schon wieder rauchte. Durch das offene Fenster strömte ein wenig Seeluft herein, vertrieb die graublauen Schwaden in eine Ecke. „Du bist wach.“, stellte er dann lapidar fest. Ran nickte geistesabwesend, schaute sich um. „Wo ist Sonoko?“ „Ihren Freund suchen. Wir zwei fliegen heute heim, sie kommen morgen nach. Deshalb müssen sie das Zimmer noch umbuchen, weil dieses hier ja auf dich läuft.“ Ran schluckte. „Weiß man schon… haben Sie… etwas von…“ Weiter kam sie nicht, weil eine gedämpfte Klingeltonmelodie an ihr Ohr drang. Sie fuhr hoch, dann eilte sie durchs Zimmer zu ihrer Handtasche, die über dem Stuhl hing, kramte eilig ihr Handy ans Tageslicht, klappte es auf- und seufzte enttäuscht. Es war die Festnetznummer von Professor Agasa, die auf ihrem Display blinkte, ihr damit verriet, wer ihr Anrufer war. Sie hatte gehofft, und das konnte man ihr ansehen, es wäre Shinichi. Zögernd hob sie ab, versuchte ihre Enttäuschung von sich zu schieben und legte einen freundlichen Tonfall in ihre Stimme. Sie versuchte es zumindest. „Hallo Professor…“, meldete sie sich schließlich, strich sich müde die Haare aus den Augen. „Hallo Ran.“ Agasa seufzte tief. „Wie geht es dir denn heute? Hast du etwas schlafen können?“ Er hielt es für das Beste, sie vorsichtig in das Gespräch zu führen. „Ja, es ging, ich war… auch ziemlich müde. Wie geht es denn Shinichi?“ Der alte Mann schluckte. „Ich hab vom Krankenhaus nichts gehört, und ich nehme an, keine Nachrichten sind… nicht unbedingt schlechte Nachrichten, wenn auch keine guten Nachrichten… Aber wo wir gerade über ihn reden…“ Unsicher brach er ab, merkte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. „… da gibt es noch etwas, was ich dir sagen muss, aber zuerst muss ich wissen… was hat er dir erzählt, Akai? Ich meine… weißt du schon…“ Es war ihm unangenehm, diese Frage zu stellen, aber er musste wissen, wieviel sie schon wusste, und wie viel er ihr noch erzählen musste. Ran schluckte, tappte zurück zum Bett, ließ sich darauf sinken. „Was ist mit Shinichi? Sie sagten doch gerade… oder verschweigen Sie mir noch etwas?“ Ihre Stimme klang plötzlich um Längen wacher- und auch um einiges verstimmter, als gerade eben noch. Agasa seufzte. Es war klar, dass sie nicht besonders glücklich war, als Letzte von allem erfahren zu haben. „Zuerst meine Frage, Ran, Was hat dir der FBI-Agent erzählt?“ „Schön.“ Ran verzog genervt das Gesicht, als sie einen Blick zu Akai warf, der regungslos an seiner Zigarette sog und keine Miene verzog. „Wie er sagt, lange nicht alles. Ich weiß, was letzte Woche…“, allein der Gedanke daran verursachte ihr ein mulmiges Gefühl, „passiert ist, und ich weiß, dass er sich mit ziemlich gefährlichen Verbrechern angelegt hat… Professor, wie geht es ihm denn jetzt? Ich hatte eigentlich gehofft, dass er selber anruft…“ Sie zögerte kurz. „Oder geht es ihm so schlecht…? Sie sagten doch, seit gestern hätte sich nichts… und dann wollen Sie mir doch was sagen… was ist denn nun los?!“ Agasa stutzte. Offensichtlich wusste sie noch nichts von Shinichis Amnesie… dann war es tatsächlich an ihm, sie darüber aufzuklären. Davor galt es aber zuerst noch etwas anderes herauszufinden. „Ran… Was weißt du von Conan…?“ Ran zog verwundert die Augenbrauen hoch. „Von Conan? Nichts? Ist der etwa auch verschwunden? Professor?“ Panik kroch in ihr hoch, ließ ihre Stimme zittern. Der alte Mann seufzte. „Nein. Der… der ist nicht verschwunden… nicht… in diesem Sinne zumindest.“ Verwirrung machte sich in ihr breit. „Wie darf ich das verstehen, Professor Agasa…?“ „Nun. Er hat… mit Shinichis Fall etwas zu tun. Aber das erklär ich dir, wenn du da bist. Das ist eine lange Geschichte.“ Ran atmete tief durch. Ein ungutes Gefühl kroch in ihr hoch, langsam wurde sie wirklich nervös. „Professor, wie meinen Sie das? Ich meine… warum kann mir das Conan nicht selber erzählen? Oder Shinichi?“ Agasa schaute zu Ai, die neben ihm stand. Sie befanden sich noch bei Agasa zu Hause, wollten bald ins Krankenhaus fahren; aber vorher wollte er Ran gesagt haben, was sie erwartete, wenn sie nach Hause kam. Zuerst einmal das. Dann… Conan. Conan konnte warten. Aber Shinichi zu erleben, wie er momentan war, würde ein Schock sein, auf den sie zumindest ein wenig vorbereitet sein musste. Und man war es ihr schuldig, ihr Zeit zu geben, damit fertig zu werden. Es ihr zu erzählen und anschließend mit ihr ins Krankenhaus zu fahren wäre doch unter Umständen ein wenig viel für sie, die momentan ohnehin unter Strom zu stehen schien. Ganz davon abgesehen, dass Ran wütend sein würde, dass sie es erst so spät erfuhr. Es ging ja nicht um irgendwen… es ging um Shinichi. Allein, dass sie es heute erst erfuhr und es nicht schon seit gestern wusste, würde sie wohl wütend genug machen. „Shinichi…“, fing er also an, seine Stimme heiser und krächzend. Er hielt inne, räusperte sich. Ai warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu. „Ja?“ Irgendwas an der Art des Professors, mit ihr zu reden, machte ihr Angst. Und irgendwas an dem Blick, mit dem Shuichi Akai sie gerade bedachte, auch. „Shinichi kann dir momentan da wahrscheinlich… nicht wirklich weiterhelfen…“ Seine Stimme klang immer noch kratzig. Ran drehte sich kurz um, als sie hinter sich Geräusche hörte. Die Tür ging auf, und Sonoko trat ein, gefolgt von Makoto. Akai bedeutete den beiden unmissverständlich, zu schweigen. „Warum nicht…?“, fragte sie drängend. „Warum…“ „Shinichi…“, begann Agasa von Neuem, unterbrach sie. Ran schwieg, biss sich auf die Lippen. „Shinichi ist… wie du ja… vielleicht weißt, in die Hände dieser Verbrecher gefallen und hat… in der letzten Woche ziemlich viel mitgemacht.“ Seine Stimme klang behutsam, vorsichtig. Ai nickte ermunternd. Nur immer weiter so. „Ja…“, murmelte Ran langsam. „Das weiß ich. Er hat… hat mich beschützt.“ Ihre Stimme bebte. Hat sich fast umgebracht für mich… „Genau.“ Agasa seufzte. „Wie du wohl auch weißt… Irgendwann ist es ihm gelungen, zu entkommen, und auf der Flucht wurde er…“ „Professor…?“ „Auf der Flucht muss etwas passiert sein- etwas, dass…“ Ran fing an zu zittern, merkte, wie ihre Fingern kalt wurden, diese Kälte langsam über ihre Arme nach oben in ihren ganzen Körper kroch. „Man hat ihn angeschossen, das weißt du… aber das ist nicht das Schlimmste. Er hat sein Gedächtnis verloren, Ran. Er weiß nicht mehr, wer er ist…“ Jetzt war es raus. Agasa atmete hörbar aus, im Gegensatz zu Ran, die scharf einatmete. Sie war kalkweiß geworden, ihre Lippen blutleer. „Er hat…“ Ran hing am Telefon, wurde von Sekunde zu Sekunde immer bleicher. „Er hat was…?“ Agasa schluckte. Er wusste genau, diese Frage war nur rhetorisch… war nur Ausdruck des Schocks, der sich in ihr breitmachte. „Sein Gedächtnis verloren.“, wiederholte er nichtsdestotrotz geduldig, mit gewollt ruhiger Stimme. Er wollte sie nicht zusätzlich aufregen, gleichzeitig wusste er, wie gering seine Chancen diesbezüglich waren, erfolgreich zu sein. Ran kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder, ihr Blick fiel geradewegs hinaus durch das Fenster, sie sah die Sonne, das Meer, den Strand, diese fast absurd fröhlich-bunten Sonnenschirme… Sein Gedächtnis… Verloren… „Retrograde… Amnesie… wie… wie…?“, presste sie schließlich hervor. Ihre Stimme zitterte, brach, kippte weg. Sie starrte an die Decke, schloss die Augen erneut, atmete durch. „Wie du damals, ja.“ Der Professor sprach es sehr behutsam aus. Ran kniff die Augen noch fester zusammen, ließ ihre Hände sinken, atmete heftig. Langsam senkte sie den Kopf, starrte auf den Boden, war so überwältigt von dieser Neuigkeit, dass sie ganz vergaß, den Professor zu fragen, woher er das wusste- und seit wann. Ihr schossen stattdessen wirre Bilder durch den Kopf, Gefühle, Gedanken… aus ihrer Zeit des Vergessens. Sie japste nach Luft, presste ihre Finger gegen ihre Lippen, versuchte, sich unter Kontrolle zu halten und merkte doch, wie ihr das immer schwerer fiel. Langsam hob sie das Handy wieder an ihr Ohr, merkte, wie Sonoko hinter sie trat und sie aufs Bett zog. „Wie geht es ihm…?“ „Ran, du weißt doch…“ „Ja, eben…“ Ihre Worte waren kaum mehr als ein leises Hauchen. „Das ist es eben, Professor, ich… ich weiß…“ Eine Träne rann ihr über die Wange, und sie wischte sie hastig weg. Professor Agasa schluckte hart, fuhr sich mit seiner alten Hand über die Stirn, wischte sich den kalten Schweiß von seiner Haut. Er wusste, wie sehr sie das jetzt mitnahm. „Er… hat sich gut im Griff… aber es… es macht ihm zu schaffen. Er… er erinnert sich wirklich an gar nichts und… ich meine, du weißt, wie es ist, seinen Namen von anderen zu lernen und…“ Ran schluchzte leise auf, kurz nur, dann hatte sie sich wieder im Griff. Sie wollte sich nicht hinreißen lassen; sie wollte stark sein, dazu war sie fest entschlossen. Sonoko schaute sie musternd an, Sorge war in ihren Augen zu lesen. Der Gedanke daran, dass er jetzt dasselbe durchmachte wie sie; ein Fremder in seiner eigenen Welt war, wie sie seinerzeit, nahm sie sichtlich mit. Sie fühlte mit ihm, sie fühlte wie er und gleichzeitig wagte Rann offenbar nicht daran zu denken, wie es sein würde, wenn sie ihm gegenüberstand und sie diese Leere in seinen Augen sehen würde… diese Leere, die sie damals in sich gefühlt haben musste, und von der alle berichteten, sie hätten sie… in ihren Augen gesehen. Sie selbst hatte sie gesehen. Ran schluckte, fasste sich ein wenig. Langsam stand sie auf, schritt ein wenig im Raum auf und ab. „Weiß man schon… wie… wie die Heilungschancen sind? Und wie… wie konnte das passieren? Warum… ich meine- Warum… Wie konnte das passieren? Wie konnte das passieren?!“ Agasa seufzte schwer. „Nein, weiß man… leider noch nicht. Und… wie genau es passiert ist, weiß man auch noch nicht, aber man schätzt, dass die Amnesie schockbedingt oder Folge der Gehirnerschütterung ist, die er sich zugezogen hat. Hör zu Ran- ich kann dir nicht alles am Telefon erklären. Soweit ich unterrichtet bin, fliegst du heute los. Ja?“ Ran nickte. Dann fiel ihr auf, dass Agasa ihr Nicken wohl nicht sehen konnte. „Ja… wir sollten heute Nachmittag oder so da sein. Ich weiß leider nicht die genaue Uhrzeit.“ Sie schluckte, rang mit sich, ehe sie sprach. „Professor… weiß er denn… weiß er denn wirklich… überhaupt nichts mehr?“ Der alte Mann schluckte schwer. Sie hörte ihn in den Hörer pusten, als er tief durchatmete. „Er weiß nicht mal mehr seinen eigenen Namen, Ran, wie ich schon sagte - den weiß er von mir. Er weiß gar nichts mehr über sich, über die, die ihn kennen, seine Freunde, seine Familie. Er hat keine Vergangenheit mehr. Er ist verletzt, und weiß nicht, wer ihm das angetan hat. Er weiß, er hat Feinde, aber er würde sie nicht erkennen, stünden sie vor ihm. Das alles… ist ihm sehr bewusst, und das… macht ihm wohl zu schaffen, auch wenn er, wie gesagt, sich gut unter Kontrolle hat. Du kennst ihn. Man sieht ihm selten an, wie’s in ihm aussieht, aber das kann selbst er nicht gut verstecken.“ Ran fing an zu zittern, merkte wie ihre Welt sich zu drehen begann. Ihr wurde schwindlig, immer mehr erfasste sie, was das alles bedeutete. Für ihn. Und… für sie selbst. Alles vergessen… Der Professor konnte nur ahnen, wie es ihr jetzt ging; in welchen Zustand sie seine Worte versetzt hatten. „Also… wir sehen uns. Ruf mich an, wenn ihr da seid.“ Der Professor schluckte. „N- natürlich…“ Sie legte auf, starrte auf ihr Handy. Sonoko legte ihr eine Hand auf die Schulter. Als Ran sich nicht bewegte, trat sie vor ihre Freundin, als sie sah, in welcher Verfassung ihre Freundin war. „Ran? Ran, Süße… das wird schon wieder… ich meine, das war gestern, vielleicht ist heute schon alles wieder im Lot…“ Ran stutzte, schaute sie an. Und erst jetzt begann sie darüber nachzudenken, wie viel Zeit eigentlich schon vergangen war. Ihr Tagesrhythmus war durch diese sich aneinander reihenden Hiobsbotschaften total durcheinander geraten, und sie hatte ja nicht gefragt… sie hatte nicht gefragt, wann der Professor eigentlich bei ihm gewesen war. „Gestern?“ Sonokos Augen wurden groß, als sie bemerkte, dass sie sich verplappert hatte. „Ich- äh… meinte…“ Akai strich sich müde über die Augen, seufzte resigniert. Makoto stand neben ihm und verstand nur Bahnhof. Ran hingegen verstand nun ganz genau. Sie war aufgestanden, ihre Augen huschten von Sonoko zum FBI-Agent und wieder zurück. Tränen strömten über ihr Gesicht, aber sie wusste nicht mehr, ob aus Verzweiflung oder Wut. „Gestern, verdammt?! Ihr wusstet es seit gestern und habt mir nichts gesagt!?“ Sonoko seufzte, schaute dann betreten zu Boden. „Als du schliefst… rief… ein FBI Agent an. Er…“, sie nickte zu Akai hin, dessen Miene weiterhin bewegungslos war, „hat erfahren, und damit ich auch, was Sache ist. Dass Shinichi unter einer retrograden Amnesie leidet. Wir… wollten dich nicht wecken, wir dachten, du erfährst diese Nachricht noch früh genug, du hättest ohnehin nichts tun können und dir nur noch mehr Sorgen gemacht. Ich mein, ich weiß doch, wie dich das erschüttert… du warst selbst mal amnestisch und nun betrifft es Shinichi, der… so viel für dich getan hat, den du…“ Sie biss sich auf die Lippen. „… doch… so sehr liebst… Ran. Ich konnte mir doch denken, dass dich das quälen würde, und deshalb…“ Ran schaute von ihr zu Shuichi und wieder zurück, atmete dann gepresst ein und aus, massierte sich kurz die Schläfen. „Ich muss sofort nach Hause.“ Sie drehte sich um, zog ihren Koffer heran, wollte packen, merkte, dass er schon gepackt war und stand perplex davor. „Ran…?“ „Ich muss heim…!“ Sonoko zog sie an sich. „Ran, jetzt verlier nicht den Verstand… du darfst doch heute heim… in ein paar Stunden fliegt ihr, und dann bist du bei ihm im Krankenhaus, beruhig dich… das wird schon wieder…“ Ran schluckte, biss sich auf die Lippen, merkte, wie sie unkontrolliert zu zittern begann. „Ich weiß es doch… aber du musst durchhalten…“, murmelte Sonoko leise, streichelte ihrer besten Freundin über den Rücken. „Shinichi…“, wisperte Ran fuhr sich durch die Haare. Dann drückte sie Sonoko langsam weg von sich, schaute zu Boden, schlang ihre Arme um ihren Oberkörper. „Ich ahnte ja, dass er in Schwierigkeiten steckt dass er in Gefahr ist, aber das…“ Sie rieb ihre Oberarme, wie als ob sie fröre. „Das… Er hat alles vergessen… jede Erinnerung weg…“ Ihr Blick wurde starr. „Ran?“ Sonoko schaute sie bestürzt an. Auch Akai war näher getreten, musterte sie aufmerksam. „Das ist alles meine Schuld…“ Sonoko packte Ran an den Schultern, schüttelte sie sacht, nahm dann ihren Kopf in beide Hände, zwang sie, sie anzusehen. „Ran!“ Ran hob den Blick schaute ihre Freundin an, sekundenlang; dann brach es aus ihr heraus. „Verdammt, er hat das wegen mir getan! Verstehst du?! WEGEN MIR! Weil er mich beschützen wollte, dieser Idiot, weil sie ihn erpresst haben, mit mir, verdammt, warum…“ Ran schrie, riss sich los, wollte sich nicht beruhigen, um keinen Preis. „Wie konnte er?! Wie kann man sowas nur machen, und dann wegen mir…!“ „Ran!“ Sonoko streichelte ihr übers Gesicht, aber Ran schlug ihre Hand weg, schüttelte vehement den Kopf. „Weißt du, wie das ist?! Alles vergessen zu haben, niemanden mehr zu kennen…“ Ihre Stimme verlor sich. „Weißt du wie das ist, wenn man sich… einfach nur noch leer fühlt, weil nichts mehr da ist? Kein Bild. Kein Name… kein… Gefühl… einfach nichts mehr da ist…“ Ihre Lippen begannen zu zittern. „Ich hatte dich vergessen. Meine Eltern vergessen. Und ich hatte den Menschen vergessen, von dem ich glaubte, ihn nie vergessen zu können… ich hatte ihn vergessen…“ Sonoko schluckte schwer. „Ich weiß.“ Zaghaft strich sie ihr eine Strähne hinters Ohr. „Ran, ich weiß doch…“ „Damals…“ Rans Stimme war nach wie vor leise. „Damals passierte mir das, weil ich gesehen habe, wie man Sato fast umgebracht hatte… dass er das nun… fühlen muss, diese Leere… diese Kälte, diese Verwirrung, Sonoko…“ Langsam hob sie den Kopf, schaute ihre Freundin verzweifelt an. „Ihm ist das wegen mir zugestoßen. Und ihm ist so viel mehr passiert als mir, er musste mehr sehen, mehr tun und mehr aushalten, und ich wette, er ist fast froh, dass er es vergessen hat, auch wenn er es jetzt nicht weiß, und diese Leere die Hölle sein muss für ihn. Wäre ich nicht, hätte er das nie gemacht… dann hätten die das nie mit ihm machen können…!“ Sonoko zerriss es fast das Herz, als sie in Rans Augen sah, wässrig, rotgeädert- ihre Hände zitterten wie ihre Lippen, ihre Haare waren wirr. „Das ist meine Schuld! Der hätte so etwas doch nie mit sich machen lassen, was meinst du, was das für ihn gewesen sein muss, ein Verbrechen… dieser Zeitungsartikel… warum, verdammt nochmal, hat er das getan?! Warum hat er das getan…“ Ihre Stimme stürzte ab. Abrupt hielt sie inne, schaute Sonoko mit großen, glasigen Augen an. Ihre Freundin nickte nur. „Weil er dich liebt, Ran. Ich… sagte es doch schon…“ Sonokos Stimme war leise, kaum mehr als ein Wispern. „Er liebt dich…“ Ran schwieg, in ihrem Kopf fuhren ihre Gedanken Karussell, drehten sich beständig um eine zentrale Mitte. Er hatte das für sie getan. Und das wollte sie so nicht. Dass er so viel durchgemacht und ertragen hatte, konnte sie kaum fassen. Es ging über ihren Verstand, weil sie nicht wollte… weil sie nicht wollte, dass er sich so quälte, wegen ihr. Dass er alles tat, was man von ihm verlangte, nur um sie zu retten, und nichts anderes hatte er getan. Er hatte sich für sie aufgegeben, nach allen Regeln der Kunst. Sonoko starrte sie erschüttert an. „Das musst du akzeptieren, du wirst es nicht ändern können. Es war seine Entscheidung.“ Akais Stimme klang erstaunlich sachlich, immer noch; keiner von ihnen hatte bemerkt, dass er aufgestanden war und sich den beiden Mädchen genähert hatte. Nun schaute er Ran ernst an; sie schaffte es nur ein paar Momente, seinem Blick stand zu halten, dann ließ sich langsam wieder aufs Bett sinken, hielt sich den Kopf. „Er hat eine Entscheidung getroffen, die er für richtig hielt. Da kannst du nichts dagegen tun, das ist allein seine Sache.“, meinte Akai trocken, trat noch einen Schritt näher. „Aber wenn es dir hilft… würde ich sagen, wir fahren jetzt zum Flughafen. Vielleicht können wir ja mit jemandem für einen früheren Flug tauschen.“ Er seufzte, drückte seine Zigarette aus. „Ihr werdet dann morgen nachkommen.“ Der letzte Satz war an Sonoko gerichtet, die nur bestätigend nickte. Dann half sie Ran, ihr Gesicht einigermaßen frisch zu machen, damit sie nicht ganz so verheult aussah, begleitete sie hinunter zum Hoteleingang, sah, wie sie ins Auto stieg und blickte ihnen hinterher, bis sie um die Kurve verschwunden waren. Sie merkte, wie Makoto hinter sie trat und sie in die Arme nahm. Leise seufzte sie, ließ sich gegen ihn sinken, hielt sich fest - und kam nicht umhin, sich zu fragen, wann dieses Gefühl, diese selbstverständliche Geste unter Liebenden… Ran und Shinichi teilen durften. Währenddessen saß Ran im Taxi, rührte sich nicht, sagte nichts, auch nicht, als sie eincheckten und schließlich im Flugzeug saßen; sie blieb stumm, starrte blicklos in die Ferne. Vergessen… Auch sie war heute durch den heraufdämmernden Morgen geweckt worden. Yukiko Kudô hatte sich langsam aus dem Wohnzimmersessel erhoben, in dem sie offensichtlich eingenickt war, als sie auf ihren Mann gewartet hatte; irritiert hatte sie um sich geblickt, bis ihr die Erinnerung an den vergangenen Tag wieder ins Gedächtnis kam. Sie wussten nun, dass Shinichi unter einer Amnesie litt. Nun stand sie am Fenster im Wohnzimmer, mit einer Tasse Kaffee, und schaute in den Garten. Müde strich sie sich über die Stirn, schob mit ihren Fingerspitzen ihre Locke zurück, vergebens; sie sprang sofort wieder in ihre ursprüngliche Form zurück. Shinichi hatte sein Gedächtnis verloren und Yusaku war darüber zu aufgewühlt gewesen, als dass er ihn hätte gleich besuchen können. Sie verstand ihn ja, sie… konnte ja nachvollziehen, was diese Nachricht für ihn bedeutet hatte, sie… fühlte ja ganz ähnlich. Aber sie wollte zu Shinichi, lieber jetzt als gleich. Yusaku schämte sich wohl… machte sich Vorwürfe, sicher. Er hatte ja damals Interpol einschalten und Shinichi aus dem Fall rausholen wollen, aber nachdem sich Shinichi davon nicht erbaut gezeigt hatte, hatte ihr Mann ihrem Sohn seinen Willen gelassen… und sah nun, was er damit angerichtet hatte. Dass das ein Fehler gewesen war. Yukiko seufzte, massierte sich ihre Schläfen. Sie hätte alles gegeben, um ihn zu besuchen, gestern. Nachdem aber ihr Mann ebenfalls neben sich stand… in seiner Weise… und offenbar auch Unterstützung bedurfte, hatte sie sich schweren Herzens dazu entschlossen, doch noch hier zu bleiben. Um Shinichi kümmerten sich bereits der Professor und die Ärzte. Und bald, bald auch sie selbst. Aber sie hatte geglaubt, Yusaku hatte ihren Beistand mindestens ebenso nötig, wenn er wieder kam. Apropros. Wo ist er eigentlich? Sie stand auf, langsam, immer noch etwas schlaftrunken und ging zum Fenster, öffnete es und blickte hinaus in den Garten. Auf dem Gras glitzerte der Tau wie tausend Diamanten, die Luft roch frisch, fast wie gewaschen. Tief atmete sie ein, dann wieder aus, merkte, wie sie langsam immer wacher wurde. Dann fiel ihr Blick in ihre Auffahrt; das Auto war immer noch weg. Sie runzelte ihre Stirn, presste ihre Lippen zusammen. Yusaku war offenbar noch immer nicht hier- oder schon wieder weg? Die ehemalige Schauspielerin drehte sich um, ging in den ersten Stock hinauf, bis sie vor ihrem Schlafzimmer angekommen war; unsicher drückte sie die Klinke hinunter, trat ins Schlafzimmer und sah genau das, was sie erwartet hatte. Zwei gemachte Betten. Die Decken lagen genau so, wie sie sie gestern gefaltet hatte, und auf Yusakus Bett war immer noch der Abdruck zu sehen, den sie gestern verursacht hatte, als sie am Morgen mit ihm geredet hatte, und sich dabei auf seine Bettkante niedergelassen hatte. Er war also die ganze Nacht weg gewesen. Und immer noch nicht zurück. Ob sie wollte oder nicht, diese… Entdeckung fügte sich nahtlos in sein Verhalten der letzten Tage ein. Sein ständiges Verschwinden und wieder Auftauchen, seine Kurzangebundenheit in den letzten Tagen, und nun sein Zögern, seinen Sohn zu besuchen. Yusaku, was ist los mit dir? Wo steckst du? Langsam fuhr sie sich mit ihren Fingern durch ihre Locken. Irgendetwas verheimlichte ihr ihr Ehemann, dessen war sie sich langsam sicher. Mit diesem beunruhigenden Gedanken leerte sie ihren Kaffee entgegen aller Gewohnheit in einem Zug aus. Sie würde jetzt ins Bad gehen, und sich frisch machen; und dann würde sie ein Taxi rufen und ins Krankenhaus zu fahren. Egal, was Yusaku tat oder nicht tat; sie würde jetzt ihren Sohn besuchen. Mit ihrem Mann würde sie dann ein Gespräch führen, wenn er wieder auftauchte; dass er das würde, daran hegte sie keinen Zweifel. Denn auch, wenn er offenbar ein Geheimnis hatte, so… zweifelte sie nicht daran, dass er sie liebte. Sie… und Shinichi auch. Ehe sie allerdings ihren Plan in die Tat umsetzen konnte, gewahrte sie im Augenwinkel eine Bewegung. Sie wandte den Kopf und stellte fest, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Gerade eben war Yusaku in die Auffahrt ihres Hauses eingebogen. Nun. Yukiko stellte ihren Kaffeebecher auf dem Wohnzimmertisch ab, machte sich auf den Weg zur Haustür. Sie wollte Antworten. Jetzt. Auch er war nach einer für ihn eher unruhigen Nacht an diesem Morgen wieder aufgewacht. Wie am Vortag auch schien die Sonne - und wie tags zuvor wusste er auch heute nicht, wer er eigentlich war. Shinichi seufzte. Er hatte die letzte Nacht überaus schlecht geschlafen. Alpträume hatten ihn in den paar Stunden, in denen er in Morpheus’ Armen gefangen gewesen war, heimgesucht - er wusste hinterher nicht mehr, von was er geträumt hatte - was er aber wusste, war, dass er nicht mehr einschlafen wollte. Jedes Mal war er schweißgebadet und zitternd aufgewacht - egal was es war, was ihn heimsuchte, es musste schrecklich sein. Also beschloss er, sich diese Tortur zu ersparen und wach zu bleiben. Hatte den Rollladen hochgezogen und sich den Sonnenaufgang angesehen. Und war wach geblieben. Mit dem Ergebnis, dass er am Ende war, körperlich wie seelisch. Ihm war heiß, er fieberte wohl. Unruhig drehte er sich um; dann stieg er aus dem Bett und fiel fast hin, konnte sich gerade noch an der Wand abfangen, als seine Beine unter ihm nachzugeben drohten, sich kurz alles um ihn drehte. Als das Schwindelgefühl schließlich wieder nachgelassen hatte, die Welt sich gnädigerweise dazu entschlossen hatte, sich wieder mit der normalen Rotationsgeschwindigkeit um die eigene Achse zu drehen, versuchte er es erneut, viel langsamer diesmal - tastete sich an der Wand entlang zum Waschbecken, um sich etwas frisch zu machen. Er drehte den Hahn auf, klatschte sich eine Ladung eiskaltes Wasser ins Gesicht, trank dann ein paar kleine Schlucke. Das Gespräch mit Agasa und dieser Ai ging ihm nicht aus dem Kopf. Zögernd hob eine Hand vor Augen, schaute sie sich genau an. Stellte sich vor, sie wäre kleiner. Eine Kinderhand. Schaute auf, in den Spiegel - sah ein Gesicht, an das er sich nicht erinnern konnte. Versuchte sich vorzustellen, wie dieses Gesicht - sein Gesicht - als neunjähriger aussah. Es gelang ihm nicht. Konnte das denn wahr sein? Und wie ging es an, dass er alles vergessen hatte? Sein ganzes Ich, aufgelöst in Nichts… Er schluckte hart. Er wusste nicht, wer er war. Wo er hingehörte. Sein Spiegelbild starrte ihn an, ein Fremder in seinen Augen. Langsam umklammerte er mit seinen Fingern den Waschbeckenrand, immer fester, biss seine Knöchel weiß gegen seine Haut stachen, biss sich auf die Lippen und konnte doch seinen Blick nicht von der Reflexion im Spiegel wenden. Dieser junge Mann, der ihn ansah… die Schramme an der Wange, der blasse Teint… das alles war ihm fremd. Diese Augen, diese Lippen, dieser Mund… er konnte sich nicht an sich erinnern. Er atmete aus, versuchte, nicht zu schreien, als es ihn überkam, diese Gefühl von Hilflosigkeit, von Ohnmacht von… Einsamkeit. Ruckartig wandte er den Kopf ab, schaute in das weiße Waschbecken, kniff die Augen zusammen, keuchte. Es war Wahnsinn. Es brachte ihn um den Verstand, nicht zu wissen, wer er war… und was mit ihm passiert war. Shinichi atmete schwer, versuchte, sich wieder zu fangen - dann drehte er den Wasserhahn nochmal auf, klatschte sich eine weitere Ladung Wasser ins Gesicht, wankte zurück zum Bett, sah nicht noch einmal in den Spiegel. Kraftlos sank er auf die Matratze, legte sich wieder hin und starrte die weiße Decke über sich an, versuchte, die Leere in seinem Hirn mit weißer Fläche zu füllen. Dann ging die Tür auf - er fuhr hoch, hoffte, dass es wieder der alte Professor war, denn er wollte ihn etwas fragen - stattdessen war es nur eine Schwester. Hinter ihr erschien der Arzt, der ihn auch gestern schon behandelt hatte. „Guten Tag, Herr Kudô. Wie haben Sie geschlafen?“ „Miserabel.“ „Können Sie sich…?“ Er brauchte den Satz nicht weiter zu formulieren. Ein Blick in das immer noch leicht nasse Gesicht seines Patienten sagte ihm, dass dessen Gedächtnis immer noch so blank gewischt war wie tags zuvor. Er seufzte. „Schwester Yonnehara wird sie zur Computertomographie bringen. Wir wollten uns Ihren Kopf noch einmal etwas genauer ansehen, wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Kudô.“ Shinichi seufzte, schaute aus dem Fenster. „Wenn Sie glauben, dass es was bringen könnte…“ Der halbe Tag war damit komplett verplant. Die Wartezeiten, die verschiedenen Anläufe, bis er das Bild mal nicht verwackelt hatte, die ganzen anderen Untersuchungen und Tests, denen er sich unterziehen hatte müssen, damit man abschätzen konnte, wie sehr sein Gedächtnis beziehungsweise sein Gehirn tatsächlich Schaden genommen hatte und wie die Heilungschancen standen- das alles schien Ewigkeiten zu dauern und irgendwann hatte er auch die Nase voll. Er behielt Haltung, nichtsdestotrotz… und er war erleichtert, als er endlich für heute entlassen war. Irgendwann gegen drei Uhr nachmittags schob man ihn wieder zurück in sein Zimmer - und er wusste nun, dass er Computertomographien nicht mochte. Dieses ewige Stillhalten in dieser engen Röhre, um sich herum das ‚Klack- Klack- Klack’ des Geräts… Und er war müde. So unendlich müde. Er konnte sich an nichts erinnern, wusste es also nicht mit Bestimmtheit - aber er wagte zu behaupten, dass er sich noch nie mieser gefühlt hatte. Und noch nie erschöpfter. Shinichi schaute sich um, als man ihn durch die Gänge rollte. Er hasste Krankenhäuser. Für seinen Geschmack starben hier zu viele Leute. Über allem schien dieser Hauch des Todes zu liegen, der Odem des schwindenden Lebens wehte durch die weißen Gänge mit den Linoleumböden- der Sensenmann wandelte durch die Zimmer, machte seine ganz eigene Visite, auf der Suche nach denen, die ihn auf seiner Reise ins Jenseits begleiten würden. Und er hasste es, wie ein kleines Kind behandelt zu werden, im Rollstuhl durch die Gegend geschoben zu werden, von einer Schwester, die ihn behandelte wie einen Grundschüler und glaubte, ihm die Welt erklären zu müssen. Verdammt, er wusste doch, dass es Aufzüge gab! Er wusste auch, wozu sie gut waren und wie man sie bediente. Das Gleiche galt für elektrisches Licht und die Toilette, praktisch alles, was der redseligen Schwester einfiel. Sie schien das nicht zu bemerken- sondern plapperte weiter vor sich hin, erklärte ihm die Funktion einer Isolierkanne. Sie raubte ihm den letzten Nerv. Er kannte das doch alles… Allein wusste er nicht, wer er war. Er konnte in dieser Welt leben, weil er wusste, wie sie funktionierte- aber sie war ihm dennoch unbekannt. Fremd. Seine Geschichte war ausgelöscht. Retrograde Amnesie… Er schluckte. Momentan werteten die Ärzte die Aufnahmen aus - und ihn brachte man zurück. Als sie sein Zimmer fast erreicht hatten, sah er, dass er Besuch bekommen hatte. Kapitel 23: Kapitel 5: Besuch ----------------------------- Hallo, meine lieben Leserinnen und Leser! An dieser Stelle möchte ich mich zuerst sehr bei euch entschuldigen, dass euch einfach so eine Woche länger hab warten lassen... leider muss ich euch ankündigen, dass ich mal wieder nicht für ein regelmäßiges Update garantieren kann... Ich möchte betonen: Diese Fic pausiert nicht. Diese Fic wrid nicht abgebrochen. Allein der Laderyhthmus wird leider ein unregelmäßiger sein. Das tut mir ehrlich Leid...! *sichschämt* Dann möchte ich mich noch sehr herzlich bei allen Kommentatoren bedanken! Vielen lieben Dank, dass ihr euch die Zeit nehmt, mir zu kommentieren! In diesem Sinne... viel Spaß beim Lesen, bis hoffentlich bald, eure Leira :) ______________________________________ Kapitel 5: Besuch „Wo warst du?“ Sie hatte ihn immerhin bis in die Küche kommen lassen, ehe sie sich vor ihm aufstellte und ihre Arme verschränkte, um ihn zur Rede zu stellen. Ihre blauen Augen hielten ihn fest, ihr Mund war ein wenig verkniffen, etwas, dass er von seiner Frau kaum kannte. Yukiko war sauer, auch wenn sie sich gut im Griff hatte - ihren schwelenden Ärger, gepaart mit ihrer Besorgnis um ihren Sohn und wohl neuerdings auch um ihren Ehemann, merkte man ihr nur allzu deutlich an. Yusaku seufzte, fuhr sich mit einer unbestimmten Geste über die Augen, schwieg. Ihm fiel einfach keine passende Lüge ein, mit der er seine Abwesenheit erklären konnte. Eigentlich hatte er ja vorgehabt, vor Tagesanbruch wieder da zu sein, nur leider… leider hatte ihm sein alter Ego, Cognac, einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Fahndung nach Shinichi lief auf Hochtouren, nachdem man seine Leiche immer noch nicht gefunden hatte. Und nun stand sie da, und war sauer. Sie wollte zu Recht wissen, wo er gestern gewesen war. Und er wusste keine Antwort. „Yusaku, verdammt, wo bist du gewesen? Und wohin fährst du eigentlich in letzter Zeit immer, wenn du nachdenken musst…?“ So wie sie es aussprach, klang das Wörtchen „nachdenken“ ungemein spöttisch in seinen Ohren. „Yukiko hör mal…“ „Nein!“ Sie schüttelte ihren Kopf, wobei ihre Locken flogen, wippten, ehe sie wieder zur Ruhe kamen. „Nein, Yusaku, du hörst jetzt mal zu.“ Sie seufzte, drehte sich um, strich sich mit einer Hand ihre Haare aus der Stirn, während sie ihren anderen Arm immer noch um ihren Körper geschlungen hielt. „Unser Sohn liegt angeschossen und unter Gedächtnisverlust leidend im Krankenhaus. Wir waren ihn bisher nicht besuchen. Warum? Warum, verdammt?“ Sie wandte sich um. „Ich konnte verstehen, dass du dich schlecht fühlst. Dass du denkst, du hättest ihn im Stich gelassen. Ich konnte auch gerade noch verstehen, dass du ein bisschen nachdenken musstest. Aber…“ Sie trat näher, baute sich erneut vor ihm auf. Er schluckte. „Ich kann diese Geheimniskrämerei langsam nicht mehr ausstehen! Nicht nur dass Shinichi es nicht für nötig hielt und hält uns jemals zu sagen, wenn er Ärger hat; nun haust du noch ständig ab und hast offenbar auch irgendwelche Geheimnisse von mir, die du mir dann mit irrationalen Entschuldigungen erklären willst. Denn, wenn du wirklich so viele Schuldgefühle hättest, Yusaku, weil du ihn allein gelassen hast, dann, warum- warum- sind wir nicht gestern schon hingefahren, zu ihm, um ihn endlich einmal nicht allein zu lassen? Aber gut, du musstest nachdenken.“ Sie knurrte das Wort fast. „Versteh ich ja gerade noch. Aber wo warst du die ganze Nacht?!“ Yusaku starrte sie an, merkte, wie ihm langsam immer heißer wurde. „Nimm deine Tasche, wir fahren ihn besuchen. Jetzt gleich.“ Sie starrte ihn an. Er starrte zurück, ehe er den Blick abwandte und in die Eingangshalle ging. Yukiko schaute ihm hinterher, ehe sie ging, um ihre Handtasche zu holen, und kam nicht umhin, festzustellen, dass er ihrer Frage bewusst ausgewichen war, und zwar mit dem einzigen Ablenkungsmanöver, das immer zog… Shinichi. Yusaku schluckte, als er die Tür seines Wagens öffnete und sich auf den Fahrersitz sinken ließ. Er ahnte, was Yukiko dachte und er wusste, dass diese Diskussion noch lange nicht beendet war. Aber er brauchte Zeit, um sich etwas einfallen zu lassen, und die Wahrheit- die Wahrheit konnte er ihr einfach nicht sagen. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, jetzt zu Shinichi zu fahren. Er war nicht vorbereitet, in keiner Weise. Einerseits war er innerlich überhaupt nicht gewappnet gegen das, was ihn erwartete, im Krankenhaus. Und zweitens hatte er keine Zeit gehabt, irgendwie sicher zu stellen, dass er sie nicht direkt zu ihm führen würde. Zwar wusste außer dem Triumvirat und Vermouth keiner um seine Identität in der Schwarzen Organisation… keiner außer ihnen wusste, wo er wohnte. Aber wer konnte in diesen Zeiten schon sicher sein, dass dem so blieb. Er hatte Angst, dass er sie direkt zu ihm führte. Allerdings, und das konnte er nicht ausschließen, waren sie vielleicht schon da; und wenn sie das waren, dann wurde es höchste Zeit, dass Shinichi da weg kam. Nun. Er würde sich überraschen lassen müssen und die Augen offenhalten. Shinichi stutzte. Der Professor war wieder da. Und mit ihm Ai, dieses komische Kind, aber diesmal waren sie nicht allein; hinter ihnen standen drei weitere Kinder. Das waren bestimmt diese Kinder, die mit auf dem Ausflug gewesen waren. Sie alle starrten ihn ängstlich an. Und mitleidig. Vielleicht sogar ein wenig böse. Verwirrung machte sich in ihm breit. Wenn ich mich doch wenigstens ein wenig erinnern könnte… Kurz bevor sie die Tür erreicht hatten, stand er auf - kümmerte sich nicht weiter um den Protest der Krankenschwester, ging zur Tür, machte sie auf und bedeutete seinem Besuch mit einem Nicken, einzutreten. Er wollte nicht so schwach erscheinen. Er fühlte sich zwar so - aber er wollte nicht, dass man es ihm allzu deutlich ansah. Er hasste das. Hinter sich schloss er die Tür, tappte zum Bett und ließ sich darauf nieder. Sie alle schauten ihn erwartungsvoll an. Er seufzte, dann warf er dem Professor einen Blick zu. Der alte Mann räusperte sich. „Wie geht’s dir heute?“ Shinichi zog die Beine aufs Bett. „Was genau wollen Sie wissen? Wenn Sie interessiert, ob ich über Nacht eine Eingebung hatte - nein. Nein, leider nicht - oder nein, Gott sei Dank nicht? Ich weiß seit gestern ehrlich gesagt nicht mehr, was ich denken soll.“ Er schaute ihn prüfend an. „Können Sie’s denn beweisen?“ Agasa starrte ihn an. Etwas war heute anders als gestern. Er war heute etwas anders als gestern. „Beweisen, dass du Conan warst?“ Shinichi nickte nur, zog dann langsam seine Bettdecke hoch. Agasa schüttelte bedauernd den Kopf. Ai schaute ihn an, zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. „Eigentlich nicht. Da du dich an nichts erinnern kannst, wird es dir nicht reichen, wenn wir dir nur Bilder zeigen, von Conan und von dir als Grundschüler, weil du keine Vorstellung von dir selber hast. Und es wird dir nicht reichen, wenn dir jeder sagt, dass du Conan warst, inklusive deiner Eltern, weil du momentan keinem richtig kennst und vertrauen willst.“ Der Professor zog sich einen Stuhl heran. „Das stimmt nicht ganz.“ Shinichi seufzte. „Ich will schon. Allein das mit dem Können ist so eine Sache…“ Er lächelte bitter. „Wissen Sie, ich habe nachgedacht, und ich finde das meiste eigentlich ziemlich… plausibel. Es… erklärt viel.“, murmelte Shinichi leise, ließ seinen Blick aus dem Fenster schweifen. „Die Sache mit dieser Organisation, der Mordversuch… meine… detektivischen Ambitionen, das alles erklärt, wie ich hierherkomme. Nur die Sache mit Conan nicht. Das klingt einfach zu abenteuerlich, seien Sie mir nicht böse, auch wenn ich mir andererseits wieder nicht vorstellen kann, dass Sie mich anlügen. Deswegen hab ich gefragt, ob Sie’s beweisen können, aber wenn das offensichtlich nicht der Fall ist…“ Ai warf dem Professor einen schrägen Blick zu. Der fing ihn auf, wandte dann ruckartig den Kopf ab, schaute stur in die andere Richtung. Das rotblonde Mädchen schluckte, dann krabbelte es aufs Bett, ließ die Füße über die Kante baumeln. Wir haben einen Beweis, Professor. Das wissen Sie. Shinichi seufzte, warf ihr einen musternden Blick zu - stutzte dann, als ein weiteres Mädchen, ein brünettes, süßes Ding, ebenfalls auf sein Bett kletterte und ihn ansah. Er blinzelte - dann wandte er sich wieder dem Professor zu. „Sagen Sie – sind sie das?“ Er nickte in Richtung der Kinder, musterte sie kurz. Der alte Mann nickte. „Ja, das hier sind Ayumi, Genta und Mitsuhiko, die du als Conan in der Grundschule-…“ Er bemerkte seine hochgezogenen Augenbrauen. „Nun gut, lassen wir das fürs erste. Du bist jedenfalls mit ihnen befreundet. Sie wissen nun, was passiert ist und wollten unbedingt mitkommen, um dich zu besuchen.“ Shinichi ließ seine Augen von einem zum anderen schweifen - bekannt kam ihm jedoch keines der Kinder vor. Shinichi warf ihnen einen betroffenen Blick zu, merkte, wie sich seine Lippen verkniffen und bemühte sich, ein irgendwie geartetes Lächeln aufzusetzen. Lächeln, irgendwie. Nicht merken lassen, dass ihn das doch traf… denn irgendwie… glaubte er es. Wenn er in ihre unschuldigen, zweifelnden, aber doch entschlossenen Gesichter blickte, glaubte er, dass sie ihren Freund suchten, gesucht hatten, mal dahin gestellt, ob er es wirklich war… ob sie ihn in ihm gefunden hatten. Das waren Kinder. Sie sollten wohl eigentlich gar nicht hier sein… das hier war wohl nicht gerade die Art Sache, mit der sich kleine Kinder wie sie auseinandersetzen müssen sollten. Mit so etwas sollten sie nicht konfrontiert werden… mit Mordversuchen und retrograden Amnesien. Er holte Luft, merkte, wie sein Versuch, zu lächeln, langsam fruchtete. „Das… ehrt mich. Aber ich fürchte, ich hab da ein Problem.“ Er seufzte, das Lächeln rutschte von seinen Lippen; nachdenklich rieb er sich mit seinen Fingern die Stirn. „Ich weiß nicht… sollte ich mich entschuldigen? Bei euch?“ Er warf dem Professor einen fragenden Blick zu. „Wenn das mit Conan stimmt, dann sollte ich das wohl… dann wäre eine echte, aufrichtige Entschuldigung für dieses Monstrum von einer Lüge mehr als angebracht… aber ich… ich kanns einfach nicht glauben…“ Unbestimmt ließ er seinen Blick von einem zum anderen wandern, schluckte. „Und deshalb wär auch eine Entschuldigung nicht aufrichtig… ich hoffe, ihr vergebt mir das… Sollte ich mich mal daran erinnern, tatsächlich solchen Bockmist gebaut zu haben, dürft ihr aber mit einer formvollendeten Entschuldigung rechnen.“ Er lächelte hilflos. „Lädst du uns dann ein zum Essen?“ Genta starrte ihn an, mit seinen Gedanken ganz klar bei Aal auf Reis. Mitsuhiko stieß ihm seinen Ellenbogen in die Rippen. Der dickliche Junge stöhnte auf, warf ihm einen wütenden Blick zu. „Was denn? Ich finde, ein gutes Essen entschuldigt fast alles-…“ „Natürlich.“, seufzte Shinichi. „Wenn ich mich erinnere, lad ich euch zur Wiedergutmachung zum Essen ein.“ Die drei Kinder jubelten, allerdings nur kurz; zu schnell dämpfte die Gegenwart ihre Vorfreude. Es wusste ja keiner, ob diese Zukunft, die sie sich wünschten, je eintreffen würde. „Sagen Sie…“, begann Shinichi schließlich, nach ein paar Sekunden unangenehmer Stille. Agasa, der gerade seinerseits eine Frage stellen wollte, hielt inne. „Ja?“ „Wissen Sie, was passiert ist?“ Shinichi schluckte. „Letzte Woche. Nach meiner… Entführung. Meinem… Verschwinden. Wie auch immer. Wo war ich? Was hab ich da gemacht, was hat man mit mir gemacht, ich meine- es muss doch einen Grund geben, weshalb...“ Der junge Detektiv hatte seinen Blick abgewandt, studierte die weiße Wand vor ihm. „Das hier muss doch seine Ursache haben, irgendwo. Man verliert doch nicht einfach so sein Gedächtnis, dazu noch so… gründlich.“ Zynismus schwang in seiner Stimme, er versuchte gelassen zu klingen, und Ai wunderte sich, dass sie ihm seine Gelassenheit sogar fast abkaufte. Agasa blickte in forschend an. „Du wurdest enttarnt, bei unserem Ausflug, das weißt du. Ein Organisationsmitglied hat dich entführt, und du bist wohl geflohen, als man dich töten wollte. Auf der Flucht dann…“ Shinichi starrte ihn an. „Das ist alles? Man hat mich ne Woche eingesperrt? Warum hat man mich nicht gleich erschossen, wo doch anscheinend alles darauf hinauslief?“ Der alte Professor schaute ihn unbehaglich an, merkte, wie der junge Detektiv ihn musterte, wusste, er würde sich nicht ohne Antwort zufrieden geben. Aber Shinichi… das willst du jetzt noch nicht wissen… oder doch? „Sie verheimlichen mir doch etwas.“ Er stellte es mit sehr sachlicher Stimme fest. Der weißhaarige Mann schluckte. „Unter Umständen.“ „Warum?“ „Shinichi…“ Agasa rang mit sich. „Das ist nicht wichtig, jetzt…“ Shinichi schüttelte bestimmt den Kopf. „Das ist Schwachsinn, das wissen Sie. Für mich ist alles wichtig, ich muss alles wissen, weil ich nämlich nichts mehr weiß! Wie soll ich mein Gedächtnis wieder bekommen, wenn man mir nicht sagt, was genau passiert ist? Und außerdem ist es nicht fair, wenn alle anderen mehr über mich wissen als ich selbst. Das ist… kein gutes Gefühl. Also bitte…“ Der junge Mann schaute ihn eindringlich an. „Ich bitte Sie…! Sagen Sie’s mir, ich werd schon klar kommen damit, irgendwie. Alles ist besser als das hier!“ Professor Agasa seufzte, nahm seine Brille ab und wischte sich über seine Augen. „Nun gut. Wahrscheinlich hast du Recht, aber ich sage dir… Es wird dir nicht gefallen. Deshalb ist es wichtig, dass du gut zuhörst….“ Die Blicke aller Anwesenden im Raum richteten sich auf ihn. Ai wusste, was jetzt kam. Und wenn sie in die Gesichter der Kinder schaute, dann waren wohl auch an ihnen die Nachrichten nicht vorbeigegangen. Ein gewisser Artikel in einer gewissen Zeitung. Der Professor schaute die Kinder kurz an, dann wandte er sich an Ai. „Wollt ihr nicht vielleicht für alle Kuchen holen gehen?“ Ai kapierte sofort. Sie sprang vom Bett, zog dabei Ayumi mit sich. „Sicher. Ich denke, ein bisschen Zucker könnte uns allen guttun.“ Ehe die Kinder große Proteste beginnen konnten, hatte Ai sich das Portemonnaie des Professors aushändigen lassen, und die Kinder vor sich her nach draußen gescheucht. Shinichi hatte während alledem nichts gesagt; jetzt allerdings fokussierte er den alten Mann musternd. „War es denn… so schrecklich?“, fragte er dann langsam. „War es so schlimm, dass Sie den Kindern diese Geschichte nicht antun wollten?“ Agasa schaute ihn stumm an, wiegte seinen Kopf nachdenklich, ehe er sprach. „Es ist für einen Erwachsenen schon schlimm zu hören, und ich denke wirklich nicht, dass die Kinder das wissen müssen. Für dich wird das jetzt auch nicht leicht, aber gut… du wolltest es so, und wahrscheinlich muss es wohl auch sein. Allerdings haben wir keine Zeit für Details, heb dir die Fragen für später auf, wenn die Kinder weg sind.“ Der junge Detektiv nickte ernst. Die Stimme des Professors klang gefasst, als er schließlich nach mehrfachem Räuspern ansetzte. „Du weißt, du wurdest von Mitgliedern dieser Organisation entführt. Was ich dir jetzt erzähle weiß ich von einer Insiderin, einer Undercoveragentin, die für die CIA arbeitet.“ Shinichi nickte. „Also. Sie haben dich da… ungefähr einen Tag behalten. Dann hat man dich dem sogenannten Triumvirat vorgeführt; das Triumvirat bildet zusammen mit dem Boss die herrschende Macht der Organisation. Nun. Man hat dich unter Folter verhört…“ Seine Stimme versagte, als er in Shinichis Gesicht blickte, der sich unwillkürlich eine Stelle an seinem rechten Unterarm berührt hatte, wo wohl zweifellos noch immer ein Hämatom zu sehen war. „Weiter?“ „Du hast keine Informationen preisgegeben. Daraufhin wollte man dich töten, du warst ja jetzt nicht mehr von Nutzen, eher das Gegenteil… eine Gefahr, eine Last.“ Agasa geriet ins Schwitzen. „Dazu kam es aber nicht. Der Boss widersprach dem Beschluss des Triumvirats, er… hatte andere Pläne für dich. Er wollte… er wollte, dass du einsteigst.“ Shinichis Mimik schien unbewegt. „Lassen Sie mich raten. Ich bin eingestiegen.“ „Ja.“ Agasa nickte, bewunderte ihn für diese Ruhe, mit der er diese Nachricht auffasste. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber vielleicht nicht ganz diese… Gelassenheit, konnte man es fast schon nennen. „Woher weißt du das?“ Shinichi schaute ihn an, ein bitteres Lächeln huschte ihm über die Lippen. „Es fällt Ihnen so derart schwer, mir diese unangenehme Nachricht zu überbringen, dass eigentlich der Schluss, wie meine Entscheidung ausgefallen sein könnte, nur der sein konnte, dass ich zugesagt habe. Ich bin ein Mitglied der Schwarzen Organisation gewesen.“ Der Professor schaute ihn etwas bedrückt an. „Dein Deckname war Armagnac.“ Shinichi nickte langsam. „Es scheint einleuchtend. Hätte ich nein gesagt, wär ich jetzt tot.“ „So ist es.“ Shinichi kniff die Lippen zusammen, schien angestrengt nachzudenken, wahrscheinlich, das zumindest vermutete Agasa, versuchte er, herauszufinden, was er in dieser Woche getan hatte. Versuchte sich zu erinnern, ob irgendetwas vorgefallen war, das… Seine Augenbrauen waren zusammengerutscht, seine Stirn zeigte eine leichte Denkerfalte. Dann seufzte er, schüttelte frustriert den Kopf. „Sie sagten, eine Woche etwa…?“ Agasa nickte langsam. „Ja, etwa eine Woche warst du da.“ Shinichi biss sich kurz auf die Lippen, dann fixierte er den Professor mit seinen blauen Augen, blickte ihn starr an, merkte doch, wie sein Puls nach oben schoss, als er die Frage stellte, die ihn so sehr beschäftigte. „Hab ich… wissen Sie, ob ich…“ Er atmete durch, wischte sich unwillig über die Stirn, riss sich dann sichtlich zusammen. „Habe ich in dieser Woche eine Straftat begangen? Ein Verbrechen?“ Der Professor schüttelte den Kopf. „Nein. Soweit wir wissen, nicht.“ Ein erleichtertes Seufzen verließ seine Lippen, müde hob er die Hand, strich sich erneut über sein Gesicht, auf die eine einzelne Schweißperle getreten war, dann rieb er sich die Schläfe, massierte sie mit zwei Fingern. „Aber das kapier ich nicht… irgendetwas stimmt da doch nicht.“ Der Professor schaute ihn fragend an. „Was?“ Shinichi seufzte, starrte auf die Bettdecke, ließ seine Hand sinken. „Ich kann mir nicht vorstellen… ich meine… bestand denn eine Aussicht, dass ich da schnell wieder rauskomme?“ „Nein.“ Agasa schüttelte langsam sein Haupt. „Eher das genaue Gegenteil, Shinichi.“ „Das heißt, ich wurde ein Mitglied, ohne die Hoffnung, je raus zu kommen… blickte einer Karriere in einem Verbrechersyndikat entgegen, einer Zukunft, die wohl von Mord, Raub, Anschlägen und Erpressung gezeichnet sein würde…?“ Der junge Detektiv warf ihm einen Blick aus dem Augenwinkel zu. „Lachen Sie jetzt bitte nicht, aber irgendwie will mir das nicht in den Schädel. Sie versuchen gerade, mir zu erklären, dass ich lieber ein Verbrecher… ein Mörder, womöglich… geworden wäre, als zu sterben? Ich… ich schätz mich so aber selber gar nicht ein… lieg ich denn da so kolossal daneben? Ist mir echt das nackte Überleben wichtiger, als die Umstände, wie ich lebe? Der Preis dafür? Ich meine, ich kann jetzt leicht sagen, dass ich lieber gestorben wäre als mir mein Leben mit dem Leben anderer zu erkaufen… ich weiß es ja nicht besser…“ Der alte Professor berührte ihn am Unterarm, brachte ihn so dazu, zu schweigen und ihn wieder anzusehen. „So war das nicht. Du bist nicht wegen deinem eigenen Leben eingestiegen, und nein, du schätzt dich da ganz und gar nicht falsch ein… du bist ein Mensch mit unglaublich hohen Wertvorstellungen und moralischem Anspruch, gerade an dich selbst. Diesen Preis für dein Leben hättest du nicht gezahlt.“ Shinichi schluckte, starrte ihn an, seine Augen unbewegt. „Aber…?“ „Aber du warst bereit, dir ein anderes Leben damit zu erkaufen.“ Shinichis Kopf fuhr ruckartig hoch, sein Mund wurde schlagartig trocken. „Was meinen Sie damit?“ Seine Stimme klang ungewöhnlich scharf. Agasa sah ihn an, seufzte lautlos. Man sah ihm an, dass er sich denken konnte, was man ihm jetzt sagen würde, und es schien ihm jetzt schon nicht zu gefallen. „Nun, wie du dir wohl denken kannst, hat man dich erpresst. Der Grund, warum du dem Deal zu gestimmt hast, war nicht dein eigenes Leben zu retten, sondern das einer anderer Person zu schützen.“ Man hörte, wie er pfeifend die Luft einsog. Ein paar Sekunden war außer dem Geräusch seiner heftigen Atmung und dem leisen Singen der Vögel vor dem Fenster nichts zu hören, dann… „Wen? Wer war diese Person? Sie? Oder diese Ai?“ Er klang drängend, seine ganze Haltung sprach von Anspannung und Nervosität. „Nein, nicht Ai, obwohl du sie wohl auch geschützt hast; du weißt ja, sie ist ein Ex-Mitglied der Organisation, hat dieses… nun, Gift, an das du nicht glaubst, weiterentwickelt, maßgeblich, und gilt seit ihrer Flucht als Verräterin… aber sie war es nicht, für den du dein Leben eingetauscht hast.“ Agasa holte Luft. „Man hat dir gedroht, eine gute Freundin von umzubringen, wenn du nicht einsteigst. Du hast als Conan die letzten drei Jahre bei ihr gewohnt.“ Er überging Shinichis missvergnügten Gesichtsausdruck, seufzte. „Eine gute Freundin?“ Seine Stimme klang zweifelnd. „Ja.“ Agasa nickte langsam. „Ihr Name lautet Ran Môri, sie ist in etwa so alt wie du … du hast bei ihr die letzten drei Jahre gewohnt…“ „Ran?“ Agasa hob den Kopf. Seine Stimme hatte fragend geklungen. „Kommt dir der Name bekannt vor?“ Hoffnung schwang in seiner Stimme mit. Shinichi schüttelte traurig den Kopf. Auf seinen Zügen lag Resignation. „Nein. Nicht bekannt…“ …aber vertraut. „Du kennst sie schon ewig. Sie ist… ein wirklich nettes, freundliches, liebenswertes Mädchen. Ihr seid schon lang sehr gut befreundet. Eigentlich seid ihr so was wie…“ Und dann passierte etwas, was Agasa verblüffte. Shinichi beugte sich vor, hielt ihm den Mund zu. „Sagen Sie’s mir nicht, bitte. Ich würde sie das… ich würde gern selber mit ihr reden. Wenn wir uns schon so lange kennen, dann wird wohl wenigstens sie mich irgendwann besuchen… und dann würde ich gern selber mit ihr reden.“ Agasa nickte langsam, beobachtete, wie Shinichi sich die Worte für seine nächste Frage zurecht legte. „Also wegen ihr… bin ich… eingetreten?“, murmelte er dann langsam, schleppend kamen ihm die Worte über die Lippen, in Gedanken war er bereits schon ganz woanders. Und sie ist nur eine gute Freundin? Das kann ich kaum glauben… Ich meine… wie wichtig muss mir ein Mensch denn sein, wie groß… wie stark die Bindung, dass ich das mache… dass ich zulasse, dass man mein Ich zerstört? Ist es… Liebe… liebe ich sie denn…? Würde ich… für die, die ich liebe, mein Leben aufgeben…? „Ich finde das unfair.“ Genta schnaubte, als er beladen mit ein paar in Papier eingeschlagenen Kuchenstücken neben Mitsuhiko und Ayumi hertrabte, die Becher mit Kaffee und heißer Schokolade trugen. Ai ging ihnen allen voran, seufzte. „Versteht das doch einmal, bitte. Das ist einfach nichts für kleine Kinder. Shinichi ist fast zwanzig und hat über diese Erlebnisse wohl sein Gedächtnis verloren.“ Sie drehte sich um, warf den dreien einen schrägen Blick zu. „Ihr seid grad mal halb so alt. Außerdem ist das seine Leben, seine Sache, seine Geschichte. Er würde nicht wollen, dass ihr die Details hört, das müsst ihr respektieren, und wenn ihr euch seine Freunde nennt, dann sollte das für euch kein Problem darstellen.“ Sie seufzte, vergrub sinnierend ihre Hände in den Taschen ihrer Tunika, war mit den Gedanken fast schon woanders. „Außerdem - ihr müsst einfach auch nicht alles wissen.“ Damit schwieg sie, gestattete es ihrem Kopf, sich den Dingen zuzuwenden, die sie dringender beschäftigten als ein paar neugierige Kinder. Er hatte sich langsam zurücksinken lassen, als Agasa ihm den Rest dieser Woche erzählt hatte. Er war blass geworden, ja. Sein Gesicht wie versteinert, seine Augen blicklos – er starrte auf die Wand und schien sie doch gar nicht wahrzunehmen. Nun war der alte Professor mit der Geschichte fertig und Shinichi lag im Bett, seine Lippen leicht geöffnet, einerseits wohl vor Entsetzen, andererseits, um ihm das Atmen zu erleichtern – und das war auch nötig. Seine Pulsfrequenz war in die Höhe geschossen, und dem hatte sich sein Atemrhythmus angepasst. Ansonsten war es still. Schon seit einem ziemlich langen Augenblick. Und dieser zog sich weiter, wie Kaugummi, der unter der Schuhsohle kleben geblieben war, so zumindest kam es Agasa vor, der sich fragte, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, sich von Shinichi breitschlagen zu lassen und ihm die ganze Geschichte am Stück zu erzählen. Dann ließ ihn das Rascheln des Kissens hochfahren und bemerkte, dass Shinichi sich aufgesetzt hatte und ihn anschaute. „Das ist heftig.“, murmelte er dann. Agasa nickte matt. „Und das alles in einer Woche… kein Wunder, dass sich mein Gedächtnis verabschiedet hat.“ Shinichi lachte hohl, schüttelte dann den Kopf. „Ich fass es nicht. Wie kann ein Mensch sich allein in so ne Scheiße reiten…“ Der alte Mann zog die Augenbrauen hoch. „Wird dir bestimmt wieder einfallen.“ Shinichi wandte ihm den Kopf wieder zu. „Witzig.“ Er verzog kurz genervt das Gesicht, dann wurde er wieder ernst. „Und Sie sagen, er ist jemand, den ich kenne? Ich lebe noch, weil mich der Boss dieser Organisation persönlich kennt? Es ist jemand aus meinem Umfeld?“ Er stützte sich auf die Ellenbogen. „So ist es.“ „Nicht gut.“ Shinichi stemmte sich weiter hoch, schob das Kissen zurück und lehnte sich dagegen, nun in einer etwas aufrechteren Sitzposition. Er hob die Hände, begann sich die Schläfen zu massieren, als er nachdachte. „Das ist nicht gut. Nein, eher schlecht.“ Ein leiser Seufzer entfloh seinen Lippen. „Denn das heißt, es könnte potentiell jeder sein, den ich kenne. Auch Sie.“ Der Professor zuckte kurz zusammen, nickte dann aber. „Leider wahr, ja. Auch wenn ich dir gern versichere, ich bin es nicht, aber beweisen kann ichs dir nicht.“ Im nächsten Moment ging die Tür auf, und die vier Kinder traten ein, bis auf Ai alle mit sehr missvergnügtem Gesicht, und wild entschlossen, sich lautstark Luft zu machen, doch erstarrten, als sie sahen, was für ein Anblick sich ihnen bot. Shinichi saß im Schneidersitz auf seinem Bett, seine Ellenbogen auf seine Knie gestützt, seine Hände gefaltet, wobei sein Kinn auf den Spitzen seiner Daumen ruhte und seine ausgestreckten Zeigefinger seine Lippen berührten. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck tiefster Konzentration, dass sie alle verstummen ließ und ihnen jeden Mucks verbot. Ai starrte ihn an. Irgendwo tief drin in dir, da fühlst du es. Es ist da. Und du weißt das. Du bist noch da… Sein Blick schien gedankenverloren, es war klar, dass er gerade intensiv über etwas nachdachte; dann wurde er sich gewahr, dass er beobachtet wurde, blinzelte, versuchte, nicht mehr ganz so weggetreten zu wirken, wenn ihn auch doch der Gedanke noch beschäftigte… dass er den Boss persönlich kannte. Gut kannte. Er versuchte stattdessen ein Lächeln, schaute die Kinder fragend an. „Kuchen?“ Ai nickte. „Ja.“ Sie zerrte Genta hoch, der es sich mit der Kuchentüte bereits auf dem Boden bequem gemacht hatte, und bedeutete ihm unmissverständlich, den Kuchen so aufzuteilen, wie es gedacht gewesen war; nämlich für sechs Personen je ein Stück, nicht sechs Stücke für eine Person. Ayumi drückte ihm lächelnd einen Becher Tee in die Hand, während Agasa ihn eher etwas skeptisch anblickte. „Darfst du den trinken?“ Shinichi warf ihm einen gelassenen Blick zu, setzte sich den Becher an die Lippen. „Mir egal, wenn nicht.“ Wenige Augenblicke später saß die ganze Bande dann auf seinem Bett und krümelte die Decke voll; er nahm es hin, lehnte sich etwas erschöpft zurück. Einzig Ai hatte sich einen Stuhl neben den Professor gezogen und darauf Platz genommen; ihre Beine schwebten ein gutes Stück über dem Boden. Shinichi schaute sie an, war sich offenbar nicht gewahr, dass er sie anstarrte; er wurde sich dessen erst dann bewusst, als Agasa ihn ansprach, hob den Kopf hastig und erhaschte einen Blick in Ais mysteriös lächelndes Gesicht. Der Professor hatte seinen Kuchen bereits gegessen und schaute ihn nun seinerseits fragend an. „Gibt es noch etwas, das du wissen willst?“ Shinichi stellte seinen leeren Becher auf den Nachttisch. Den Kuchen hatte er kaum angerührt, reichte ihn schweigend an Genta weiter, als er dessen sehnsüchtigen Blick bemerkte; der machte sich begeistert darüber her, und beachtete den empörten Blick Ayumis und Mitsuhikos missbilligendes Räuspern nicht im Geringsten. „Gibt es denn noch etwas, das ich wissen sollte? Über mich?“ Er grinste säuerlich. „Natürlich… das solltest du auch wissen.“ Agasa nickte. Shinichi seufzte, griff sich kurz an den Kopf, massierte sich mit Zeige- und Mittelfinger seine Schläfe. „Sind meine Eltern eigentlich - immer noch in den Staaten? Ich meine… lassen sie sich auch mal blicken?“, Er starrte auf seine Hände, wusste gar nicht, warum er das eigentlich fragte. Es konnte ihm doch eigentlich egal sein - er würde sie wohl genauso wenig kennen wie diese Kinder hier, oder den alten Mann. Aber er glaubte, sich besser zu fühlen, wenn die beiden Menschen, denen er seine Existenz auf dieser Erde verdankte, bei ihm waren. Wenn er wüsste, dass es noch andere gab, die sich sorgten. „Was deine Eltern anbelangt… sie sind schon in Tokio. Sie werden… sie werden wohl auch bald kommen…“ Shinichi atmete langsam aus. „Nun, man kann es ihnen nicht verdenken, oder…? Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wüsste ich, mein Sohn kennt mich nicht mehr…“ „Das ist es nicht, was sie abhält, zu kommen…“ „Also wollen sie nicht.“ Shinichi hob den Blick, schaute ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen durchdringend an. „Das darfst du nicht denken!“ Agasa klang entsetzt. „Sie denken, sie haben dich im Stich gelassen. Sie machen sich Vorwürfe, weil es so weit gekommen ist… Sie bleiben nicht aus Desinteresse fern…!“ Shinichi schüttelte den Kopf sacht, ließ sich gegen sein Kopfkissen sinken. „Na Klasse - und haben die auch schon mal gedacht, was sie in diesem Moment tun? Gerade eben lassen sie mich nicht im Stich, oder wie? Eine seltsame Logik haben die beiden, das muss man ihnen lassen…“ Er wandte den Blick ab. „Meinetwegen brauchen sie auch gar nicht kommen, wenn es ihnen so zuwider ist. Oder wenn sie solche Angst haben. Sie müssen sich das wirklich nicht antun.“ Sein Gesichtsausdruck verriet Trotz, seine Stimme klang bitter. Agasa starrte ihn an. Dann beugte er sich vor, griff nach seinem Arm, drückte ihn- versuchte, so mitfühlend wie möglich zu klingen, als er sprach. „Sag so was nicht.“ Shinichi blinzelte, schaute ihn verwirrt an. „Sie sorgen sich um dich. Es ist nur leider für sie auch nicht einfach - aber sie werden schon noch kommen, für dich da sein. Glaub mir.“ Der Oberschüler presste die Lippen aufeinander, seufzte leise. Eine Weile war es still im Raum. „Und du weißt echt gar nichts mehr?“ Genta war näher getreten. „Genta!“ Mitsuhiko zischte ihn wütend an, warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Ich frag ja nur. Ich meine, damals bei Ran…“ „Damals bei Ran…?“, hakte Shinichi nach. Agasa warf Genta einen strengen Blick zu. „Das soll sie dir selber sagen, was damals bei ihr war.“ Er schluckte. „Sie ist bereits auf den Weg hierher. Sie sollte schon im Flugzeug sitzen… soweit ich das von Jodie heute Morgen erfahren habe.“ Agasa seufzte, um die eingetretene Stille im Zimmer zu füllen, knetete seine Hände, fuhr sich dann durch seine weißen Locken. „Nun, ich nehm an, Heiji wird dann morgen auch kommen… er bemüht sich gerade mit der Polizei und dem FBI, deine letzten Stunden zu rekonstruieren, um herauszufinden, wo dein Gedächtnis auf der Strecke geblieben ist…“ Agasa lächelte hilflos. „Heiji?“, murmelte Shinichi. „Also ein Freund, ja?“ Der alte Professor nickte. „Ja, ein Freund von dir, er ist in deinem Alter. Heiji und Ran…und Ai… sind wohl deine besten Freunde, du hattest nicht viele, eigentlich… hauptsächlich die zwei… abgesehen von…“ Er warf einen unsicheren Blick auf die Kinder, lachte dann unbeholfen. „Nun, wenige, aber dafür sehr gute. Er ist ein Schülerdetektiv wie du. Soll ich ihn fragen, wann er kommt?“ Er strich sich gedankenverloren über den Bart. Shinichi nickte nur - damit drehte sich der Professor um, verließ das Krankenzimmer. Genta hüpfte auf den Stuhl, auf dem gerade noch Agasa gesessen hatte, Mitsuhiko nahm auf dem Bett Platz. Alle starrten sie ihn erwartungsvoll an. Ein paar Sekunden lang spannte sich das Tuch des Schweigens über dieses Szene; keiner wagte es, ein Wort zu sagen, obwohl allen nur zu viele Fragen auf den Lippen brannten. Schließlich war Shinichi es selbst, der die Stille durchbrach. Die Frage um Conan Edogawa bereitete ihm langsam wirklich Kopfschmerzen. „Könnt ihr es glauben? Ich meine, bis auf dich…“ Er warf Ai einen prüfenden Blick zu. „Bis auf dich, Ai, seid ihr ja alle normale Kinder, oder? Könnt ihr diese Geschichte mit Conan glauben? Kann das denn wahr sein?“ Er massierte sich die Schläfen. Es wollte ihm nicht in den Kopf. Mitsuhiko starrte ihn an. „Willst du - willst du eine ehrliche Meinung? Shin… Shinichi?“ Shinichi hob den Kopf. „Sicher. Ich würde nicht fragen, wollte ich keine.“ Mitsuhiko straffte die schmalen Schultern. „Ich wollts gestern selbst nicht glauben. Aber jetzt, wo ich es sehe… wo ich den Vergleich habe…“ Er schluckte. „Du bist Conan. Du warst Conan. Du wirst immer Conan sein - denn du und Conan Edogawa, ihr seid ein- und dieselbe Person. Das merkt man sofort. Wir wissens auch erst seit gestern, wie gesagt… aber… es ist so verdammt offensichtlich, eigentlich…“ Er schluckte, schaute in die Runde - der dicke Junge nickte entschlossen, und auch das brünette Mädchen schaute ihn an, signalisierte ihre Zustimmung durch ein leichtes Kopfnicken. Ai rührte sich nicht. Sie schaute nur in seine Augen, sah diesen Willen, das alles zu verstehen, aber in diesem Fall, und das war schon fast tragisch… war es ausgerechnet sein Verstand, die Logik, die er so verehrte, die ihm versagte, die Wahrheit zu glauben. Das ist wirklich traurig, Kudô. Und gefährlich… Denn wir sind in Gefahr. Du bist in Gefahr… … mehr noch als ich, denn du kennst die Gesichter deiner Dämonen nicht mehr. Agasa seufze, dann wählte er Heijis Nummer, die er vorsorglich eingespeichert hatte. Es läutete genau zweimal- dann hob der junge Detektiv des Westens ab. „Hattori?“ „Hallo, Heiji. Ich bins, Hiroshi Agasa- es geht um…“ „Shinichi?“ Heiji merkte, wie ihm die Luft wegblieb. Sein Puls beschleunigte sich. „Ja. Um Shinichi… ich wollte fragen, ob du…“ Heiji schloss die Augen, atmete tief durch. „Wie geht‘s ihm? Was hat er gesagt? Geht’s ihm heut besser als gestern? Wann kann ich ihn besuchen? Weiß er vielleicht wieder was, wir könnt‘n hier wirklich…“ „Heiji.“ Agasa unterbrach ihn. „Er erinnert sich immer noch an nichts. Wie läufts bei euch?“ „Schlecht.“ Heiji seufzte, wandte sich kurz um, warf den drei Polizisten und den zwei FBI-Agenten am Konferenztisch einen kurzen Blick zu. „Die Polizei hat ihn gesehn, an dem Abend, wissense…“ Der alte Mann stutzte. „Was?“ „Ja. Sie… wollten wohl die Hände nicht länger in den Schoß legen, und da sie wussten, dass Akai auf dem Weg zu Ran war, beziehungsweise schon bei Ran angekommen war, dachten sie, sie könnten es riskieren, zum Ort des Deals zu gehen. Dort haben sie sie gesehn. Einen großen Blonden, einen untersetzten Mann mit Hut und Sonnenbrille, eine Frau mit langen, blonden Locken und… ihn.“ Heiji schluckte. „Sie haben beobachtet, wie der Deal vonstattenging. Der erste Klient wurde wohl ohne Zwischenfall abgefertigt, aber beim zweiten stimmte wohl etwas mit der Bezahlung nicht. Und da hat Shinichi… sie bemerkt. Und Gin auch.“ Der Professor seufzte. „Weiter?“ „Die Polizei hat also gewusst, dass sie aufgeflog‘n war, und deshalb verhielt sie sich ruhig. Allerdings schien Gin… so heißt der große Blonde… ihm unbedingt… er…“ Heiji schluckte. „Meguré, Sato und Takagi sagen, Gin wollte, dass Shinichi den Klienten erschießt, weil off’nbar was mit dem Geld nicht stimmte.“ Agasa fing an zu husten, bekam sich nur mühevoll wieder ein. „Ja…?“, krächzte er dann fassungslos. „Ja. Es muss `n ziemliches Theater gegeben haben. Shinichi hat sich wohl zuerst geweigert, sie müssen ziemlich gestritten haben und…“ „Zuerst?!“ Agasa war weiß geworden. „Bitte sag mir jetzt nicht, dass Shinichi jemanden getötet hat…“, flüsterte er drängend ins Telefon, warf einen unsicheren Blick auf die Tür, hinter der Shinichi im Bett lag und von nichts mehr eine Ahnung hatte. „Nein.“ Agasas langes Seufzen blockierte für Sekunden durch lautes Rauschen die Leitung. Der Oberschüler schluckte. „Nein, keine… keine Sorge. Sato sagt, es habe ausgesehen, als hätte Shinichi… er wär weggegangen, ein paar Schritte, wohl weil ihm die Situation zu viel geworden is‘. Dann isser er auf einmal stehengeblieben, wie angewurzelt und hat sich nich‘ bewegt. Sie denkt, dass er entweder jemanden gesehen hat oder ihm irgendetwas eingefallen is‘. Auf jeden Fall isser laut ihr wieder zurückgekommen, hat den Schalldämpfer der Waffe abgeschraubt und in die Luft geschossen, damit provoziert, dass die Gasse binnen Sekunden voller Leute war. Die Organisation musste fliehen. Und ich schätz‘, man hat ihn dann zum Boss gebracht. Er hat einen Befehl verweigert. Eigentlich hat er damit Rans und sein Todesurteil unterschrieben, er kann nich‘ gewusst haben, dass wir vorsorglich Akai zu Ran geschickt hatten… ich denke, er muss sich aus irgendeinem Grund sicher gewesen sein, dass Ran nichts passiert, wenn er sich weigert… ich kann mir das anders nich vorstellen, er würd nie… nie Rans Leben gefährden, Professor!“ Agasa atmete langsam aus. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. „Du denkst, für Ran würde er töten?“ Heiji atmete scharf ein. „Ich… weiß nich. Ich hab mir vorgestellt, was ich machen würd, in seiner Situation, ich habs versucht, echt. Und ich weiß es immer noch nich‘ …“ „Also denkst du, denkt ihr, er hat jemanden oder etwas gesehen, das ihm versichert hat, Ran wäre in Sicherheit.“ Der Professor erlöste Heiji von der Pflicht, seinen Satz zu Ende zu führen. „Ja.“, bestätigte der junge Detektiv. „Aber. Heiji… er hat damit doch sein eigenes Todesurteil…“ „Unterschrieben, ja. Ich denke, dass war ihm… egal.“ Heiji starrte an die Decke. „Ich denke, ihm gings nur um Ran… Ich denke, er kennt den Boss… persönlich, und schon länger, aber wusste es nicht. Ich denke, wirklich, was wir schon alle vermuten, is wahr… der Boss is unter uns. Und als er das erkannte, und damit wusste, dass Ran in Sicherheit is‘, hat er das Handtuch geworfen.“ Ein langes Seufzen entfloh Agasas Kehle. „Wahrscheinlich… aber auch das weiß er nicht mehr. Er weiß nur, was er sieht, und das ist, dass er fast umgebracht wurde. Ich denke, er vertraut mir einigermaßen - schließlich hab ich ihn her gebracht. Nun ist es wichtig, dass er wieder lernt, wer seine Freunde sind… “ „Ich bin morgen da.“ Heiji schluckte, hatte den Hinweis sofort verstanden. „Heute muss ich hier noch helfen, aber morgen hält mich nichts mehr davon ab! Darauf könnense Gift nehmen.“ Zum ersten Mal huschte ein kurzes Lächeln über Agasas Lippen. „Lieber nicht. Bis später, Heiji.“ Agasa holte Luft, legte dann auf. Heiji hielt sein Handy noch lange in der Hand, starrte aufs Display. Schließlich steckte er es kopfschüttelnd wieder ein, schloss sich der Runde im Konferenzraum wieder an. Er hielt seiner Frau die Türe auf, als sie das Krankenhaus betraten, warf dabei unauffällig einen Blick in ihr Gesicht. Yukiko war kreidebleich, ihre Lippen fast blutleer. Er sah ihr an, dass sie sich zermürbte, sich Vorwürfe machte und sorgte. Und dass sie sich fürchtete. Sie strahlte Sorge und Angst ab, wie die Sonne Wärme und Licht. Und sie war misstrauisch. Er wusste, auch wenn sie das Thema auf der Fahrt hierher nicht angesprochen hatte… es war noch lange nicht vom Tisch. Er fragte sich, ob man ihm auch etwas ansah… seine Sorge… und dieses etwas, das ihn von Innen her auffraß, in ihm nur schwarze Ödnis, Finsternis und Kälte zurückließ. Yusaku seufzte, strich sich übers Gesicht. Er hatte Angst. Angst, in dem Ausmaß, dass er nicht mehr wusste, wo sie anfing, und wo sie endete. Sie umgab ihn, war in ihm, beherrschte sein Denken, sein Handeln- sein ganzes Sein. Yusaku Kudô wusste, er wandelte momentan auf ziemlich dünnem Eis in der Organisation. Das Triumvirat war misstrauisch und ließ ihn das spüren, auch wenn er sich wie immer gab und scheinbar ohne Gnade die Jagd auf seinen Sohn organisierte. Er fühlte sich verfolgt, musste mit Gewalt den Drang unterdrücken, sich ständig umzusehen und in jedem Menschen, der seinen Weg irgendwie kreuzte, einen Spitzel der Organisation zu entdecken. Und dennoch… die Augen musste er offen halten. Er durfte nicht verraten, wo Shinichi war. Nicht durch Worte, nicht durch Taten. Denn sonst wäre er tot. Genauso wie Yukiko. Stockend atmete er aus, fuhr sich nervös über sein Gesicht. Das durfte nicht geschehen; seine Familie durfte nicht das Opfer dieser Organisation werden. Sein Sohn durfte nicht das Opfer seiner eigenen Feigheit werden. Seiner Unfähigkeit, seiner Furcht. Und nicht zu vergessen… die Angst vor dem, was ihn erwartete, was er sehen würde, wenn er das Krankenzimmer seines Sohns betrat. Shinichi hatte sein Gedächtnis verloren… sein eigener Sohn würde ihn nicht mehr erkennen. Diese Erfahrung würde den letzten Rest der väterlichen Beziehung zu seinem Sohn, die noch nicht durch Schuld zerfressen war, vernichten. Er würde einen jungen Mann finden… beraubt seiner Identität, bar jeder Ahnung, was und wie ihm geschehen war. Der Gedanke, der ihm dabei zudem Unbehagen bereitete, war, was passieren würde, wenn Shinichi sich wieder erinnerte. Wenn die Bilder, die Worte, die Gefühle jener Tage ihren Weg zurückfanden… Wenn er wieder klarkommen musste, mit dem, was er erfahren hatte. Wieder ein Wissen besaß, dass er, und so viel war ihm anzusehen gewesen, nie erlangen hatte wollen. Denn dann war er vor eine Entscheidung gestellt, bei der er in jedem Fall nur verlieren konnte. Mit jedem Ausgang dieses Prozesses würde Shinichi sich miserabel fühlen. Verriet er seinen Vater, wurde er damit neben seinem Richter auch zu seinem Henker, mehr oder weniger. Er unterzeichnete sein Todesurteil mit seiner Aussage gegen ihn. Damit, das wusste Yusaku, würde Shinichi nur schwer leben können. Oder ließ er ihn laufen und machte sich zum Komplizen seiner Verbrechen? Ein Zustand, der für ihn genauso schwer erträglich war, für ihn, den Moralisten, den Verfechter der Gerechtigkeit und der Wahrheit par excellence. Einerseits hoffte er, Shinichi würde es schaffen, die Organisation zu zerstören… andererseits hoffte er, er würde sein Gedächtnis doch bloß nie wieder bekommen. Dann könnte er nämlich noch mal von vorne anfangen. Das wäre die Chance für ihn, Dinge ungeschehen zu machen… die Gelegenheit, das Buch neu zu schreiben. Der Vater zu sein, den er verdiente, dafür Sorge zu tragen, dass sich diese Ereignisse nicht wiederholten. Yusaku stöhnte auf, zog sich die Brille von der Nase, wischte sich mit einer Hand fahrig über seine Augen, sein Gesicht, merkte, wie seine Hand leicht feucht wurde vom kalten Schweiß, der sich auf seiner Stirn gesammelt hatte. Was dachte er denn da… er wollte ein schöneres, leichteres Leben auf Kosten seines Sohns?! Was für ein miserabler Vater er doch war. Shinichi war in Gefahr. Solange er sich nicht erinnerte, noch mehr als ohnehin schon. Er konnte doch nicht wirklich glauben, dass man ihn jetzt in Ruhe ließ, nur weil er nicht mehr wusste, wer oder was die Schwarze Organisation war? Er konnte doch nicht wirklich wollen, dass er dieser Gefahr ausgesetzt war? Nur damit er selbst sich besser fühlte?! Nein… Man würde die Chance nutzen, ihn so hilflos vorzufinden. Man würde bestimmt nicht darauf warten, dass er sein Gedächtnis wiederfand und zur Polizei petzen ging. Und deswegewar das Umschreiben, die Neufassung dieser Geschichte nicht drin. Die alte Geschichte musste ihren Weg zurück auf die blankgewischten Seiten finden… Buchstabe für Buchstabe musste sie zurückkehren, nur dann… nur dann war für diese Geschichte auch ein… leidlich positives Ende anzunehmen. Nur damit… könnte der Protagonist dieses Drama auch überleben. Yusaku presste sich den Handballen gegen die Stirn. Verdammt…! Solange das aber nicht der Fall war- die Seiten weiß und jungfräulich waren… musste er auf ihn aufpassen. Er musste ihn beschützen. Und deshalb war wichtig, dass er das Vertrauen seines Sohnes erlangte. Natürlich waren die Voraussetzungen hierfür optimal; er war seit knapp zwei Tagen im Krankenhaus und seine Eltern hatten nicht mal angerufen. Yusaku lächelte säuerlich. Egal was er anstellte, er machte momentan einfach alles falsch. Dann zuckte er zusammen, als Yukiko seine Hand drückte. „Was meinst du? Wie wird er reagieren?“ Ihre Stimme klang leise, unsicher, und er wusste genau, was sie für eine Antwort hören wollte. Sie wollte beruhigt werden. Aber genau das konnte er nicht… ihr die Sicherheit zu geben, die sie wollte, dazu fehlte ihm in diesem Moment die Macht. Er versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen, was ihm, wie er feststellte, schwer fiel, schüttelte dann unter großer Anstrengung den Kopf. „Ich weiß es nicht, Yukiko.“ Er fühlte sich so schuldig. Wenn sie nur wüsste, dass ihr Ehemann es war, der Boss der Organisation war, die ihrem Sohn das angetan hatte… Dass er selber wohl einen nicht unwesentlichen Anteil zu verantworten hatte, was den Gedächtnisverlust von Shinichi betraf… Yusaku schluckte schwer, räusperte sich, versuchte, nicht zu nervös zu werden und konnte doch nicht verhindern, dass sein Puls zu rasen anfing. Yukiko schaute ihn beunruhigt an, warf dann einen kurzen Blick auf ihre Umgebung, ehe sie sich wieder ihm zuwandte. „Ich meine… wird er uns vertrauen? Wird er tief in sich drin wissen, dass wir ihm nichts Böses wollen? Er kann uns doch nicht ganz vergessen haben… wir sind doch seine Eltern…!“ Yusaku blieb fast die Luft weg. Krampfhaft versuchte er, sich seine Betroffenheit, sein Schuldgefühl nicht ansehen zu lassen, als er langsam den Kopf schüttelte. Wenn er mir nicht vertraut, könnte ich es ihm nicht übel nehmen…wenn er sich an mich nicht erinnern will, auch nicht. Ich bin… ja schließlich nicht mehr sein Vater. Welchen Grund hätte er, mich nicht einfach zu vergessen… „Ich weiß es nicht, Yukiko. Frag mich nicht. Bitte.“ Er presste die Worte mühselig hervor. Sie schaute ihm in die Augen und erschrak. Noch nie waren sie so dunkel gewesen- noch nie waren so betrübt gewesen und nie, noch nie war so viel Sorge in ihnen zu lesen gewesen. „Tja… wir sind seine Eltern. Du bist seine Mutter… ich sein… sein Vater. Wir werden sehen, was er nun von uns hält. Eine objektivere Meinung von unserem Sohn über uns werden wir nie bekommen.“, murmelte er. Der Zynismus in seiner Stimme war kaum zu überhören. Dann waren sie vor seiner Tür angekommen. Kapitel 24: Kapitel 6: Black Visitors ------------------------------------- Hallo! Ja, ein paar von euch werden nun erstaunt die Augen aufgerissen haben, als sie den Titel dieser Geschichte auf einmal wieder in der Vorschauliste gesehen haben... Traut euren Augen, es gibt mich noch! ;) Wie ich versprochen hatte, breche ich nicht ab. Allerdings bin ich immer noch sehr im Stress, also seid mir so gnädig und erwartet nicht jede Woche ein Kapitel... das denk ich, ist noch nicht in meinen Möglichkeiten, momentan. Versprecht euch auch von diesem Kapitel nicht zuviel... im Prinzip wird hier viel Organisatorisches abgewickelt; was sein muss, muss sein, ohne das geht's nicht. Das Kap, in dems richtig spannend wird, bzw. die zwei Kapitel, die's sein werden, oder drei, kommen erst noch; das eine oder andere vielleicht versteckt in einem Osterei :) Nun denn, ich bitte gnädigst um Vergebung für derart inakzeptabel lange Wartezeiten (ich kanns euch nachfühlen, ich hasse es eigentlich auch, zu warten -.-) und hoffe, die Warterei hat sich wenigstens einigermaßen gelohnt und die nächsten Kapitel entschädigen einigermaßen. In diesem Sinne wünsche ich euch einen recht schönen Sonntag und widme mich wieder meinen Prüfungsvorbereitungen - und dem einen oder anderen Absatz fürs nächste Kapitel. Mit sehr freundlichen Grüßen, Eure prüfungsgeplagte Leira PS: Es mögen noch ein paar Fehler drin sein; das weiß ich; ich werde in den nächsten Tagen mal die ganze Fic Korrektur 'überfliegen'. Sollte ein gravierender Logikfehler drin sein, möchte man mich aber gern darauf aufmerksam machen. ________________________________________________________________________ Kapitel 6: Black Visitors „Yusaku? Yukiko?“ Sie drehten sich um, als sie die Stimme hörten, sahen einen rundlichen, kräftig gebauten Mann mit grauweißen Locken, der sich ihnen eilenden Schrittes näherte. Professor Agasa. Er winkte hektisch; die beiden Kudôs blieben stehen, warteten, bis er bei ihnen angekommen war. Offenbar war er gerade um die Ecke gewesen um zu telefonieren, denn sie sahen, wie er sein Handy ausschaltete und wieder in seiner Jackentasche verschwinden ließ. „Hallo, Hiroshi.“, murmelte Yukiko leise, drückte kurz die Hand des alten Mannes, und ließ sich von ihrem alten Freund kurz in die Arme nehmen, seufzte, schloss kurz die Lider. „Danke, dass du da warst.“, murmelte sie leise, wischte sich mit zitternden Fingern über die Augen. Yusaku schluckte, nickte ihm nur zu. Agasa schaute kurz von einem zum anderen. „Keine Ursache.“ Seine Stimme klang erstaunlich sachlich; ungewöhnlich sachlich für Agasa. Allerdings wussten die Eheleute genau, woher die Nüchternheit in seiner Stimme rührte. „Aber mich würde interessieren, was euch denn abhielt.“ Er zwirbelte sich kurz seinen Bart, sein Blick verlor sich auf dem bleigrauen Linoleumboden des Klinikums, in dem sich kalt die Neonröhren der Decke reflektierten – und auch die gespensterhaft anmutenden Gesichter von Yukiko und Yusaku Kudô. Er holte Luft, schüttelte dann langsam den Kopf, lächelte entschuldigend. „Oder nein, sagt es mir nicht… es geht mich eigentlich ja nichts an. Das ist eine Sache zwischen euch und eurem Sohn.“ Der alte Mann räusperte sich. „Aber es wurde Zeit, das wisst ihr. Shinichi hat schon nach euch gefragt, und euch muss klar sein, dass ihm etwas seltsam vorkommt, dass ihr...“ „Schon verstanden, Hiroshi.“ Yusaku war seinem alten Freund ins Wort gefallen, lächelte den alten Wissenschaftler müde an. „Das wissen wir. Es ist meine Schuld, und ich bin mir meines Verhaltens bewusst.“ Er seufzte, Unbehagen spiegelte sich auf seinem Gesicht. „Nun gut, dann… gehen wir.“ Mehr sagte Agasa nicht- und mehr musste auch nicht gesagt werden. Er trat einen Schritt nach vorn und öffnete die Tür. „Sie werden ihn bald gefunden haben, wenn sie nicht schon wissen, wo er ist.“ Meguré schaute von Jodie zu James, dann zu Takagi und Sato. Sie saßen zusammen an einem kleinen Konferenztisch, vor ihnen Tassen dampfenden Kaffees und haufenweise Notizblätter. Anspannung lag in der Luft, fast knisternd, greifbar; eine Atmosphäre vergleichbar mit der Luft vor einem Gewitter, drückend, elektrisiert, unheilschwanger. Heiji, der zum Telefonieren kurz auf den Gang getreten war, betrat den Raum wieder, in der einen Hand eine Schachtel Gebäck, die er noch kurz in der Kantine geholt hatte, in der anderen Hand eine Tasse Kaffee. Umständlich setzte er sich wieder, spürte die Blicke der anderen auf ihm haften. Und tatsächlich war es auch Meguré, der ihn ansprach, noch ehe er richtig Platz genommen hatte. „Was sagt der Professor? Er war es doch, mit dem du telefoniert hast? Wie geht’s Kudô?“ Der Kommissar schaute ihn erwartungsvoll an. Heiji schüttelte bedauernd den Kopf. „Gibt noch nich‘ viel zu sagen. Sein Gedächtnis hat er noch nich‘ wieder.“ Der Oberschüler seufzte. „Ansonsten scheint‘s ihm verhältnismäßig gut zu gehen, ich mein… so gut’s jemandem gehen kann, der nich‘ mal mehr weiß, wie er heißt.“ Er verzog das Gesicht. „Bis auf die Amnesie erholt er sich aber wohl… ganz gut. Er redet auch mit ihnen und stellt Fragen, aber erinnern kanner sich halt noch an nix.“ Langsam nippte er an seinem Kaffee. „Die Theorie, dass er nur deshalb den Befehl verweigert hat, weil er ahnte, oder wusste, wer der Boss is und dass der Ran nix tun würd‘, stützt unsere Theorie, dass ihn wer mächtiges aus der Organisation kennt.“, bemerkte er dann sachlich, wechselte damit abrupt das Thema. „Jemand hat versucht, ihn zu beschützen… bis dahin, bis… zu diesem Moment, kannte er die Person wohl selber nich‘. Aber in der Gasse, da bin ich mir sicher, da isses ihm aufgegangen. Deshalb hat er sich geweigert. Er hätt‘ nie im Leben Rans Leben riskiert, ohne nich‘ ne Sicherheit zu haben. Er wusste… wer der Boss is‘. Er weiß‘ wer’s is‘, und es is‘ jemand aus seinem Bekanntenkreis. Wir hätten den Fall in diesem Augenblick gelöst, wenner sich nur erinnern könnt‘.“ Seine Stimme klang genervt, allerdings spiegelte sich noch im selben Moment ein Hauch von Schuldbewusstsein auf seinem Gesicht, der dann einem Ausdruck von offensichtlicher Frustration Platz machte, als er sich mit einem lautem Aufseufzen nach hinten fallen ließ, sich an die Stirn griff, mit der Hand übers Gesicht fuhr. „Ich mein, er kann nix dafür, aber es echt zum Mäusemelken, was hier passiert, Ironie pur. Es könnt‘ in diesem Augenblick schon alles vorbei sein…“ Er seufzte erneut. Takagi tat es ihm gleich, während sich alle anderen betretene Blicke zuwarfen. Tatsache war, das was Heiji ansprach, hatte ihnen allen ebenfalls schon im Kopf herumgespukt, schließlich war das eine nicht zu übersehende Tatsache. Sie waren so nah dran- und gleichzeitig unendlich weit entfernt von der Lösung dieses Falls. Und unter ihnen weilte ein Großkrimineller, dem man es nicht ansah, was er veranstaltete, wenn er gerade nicht für das Gute kämpfte. Die Situation schien wirklich absurd. Das Schicksal hatte einen wahrlich seltsamen Sinn für Humor. „Tja, das Leben ist kein Ponyhof.“, murmelte Sato langsam, nicht ohne sarkastischem Unterton und verzog ihre Augen zu Schlitzen – in ihren Zügen zeichnete sich aber immer noch der für sie so typische Kampfgeist ab. „Unser Problem ist aber zusätzlich noch das, dass, wer immer es ist, er nicht die Jagd auf ihn verhindern konnte, soweit wir es wissen, nicht wahr, Mr Black?“ Der Angesprochene nickte nachdenklich. „Ja. Ich bekam einen Anruf von unserer Informantin, dass er flüchtig wäre und man ihn bereits hetze. Wer immer es ist, dieser Boss… he’s not almighty, obviously.“ „And therefore he cannot prevent him of being hunted down. Er wird die Jagd nach ihm nicht verhindern können. Und was passiert, wenn sie ihn gefunden haben, darüber müssen wir nicht reden, denke ich.” Jodie fischte sich einen Keks aus der Schachtel. „That’s, what it looks like, and that’s what it is. Die Organisation besteht nicht nur aus dem Boss… und sie wird sich nicht so einfach zerstören lassen. Sie können sich denken, dass er in einem Krankenhaus ist, und ich bin mir sicher, sie werden ihn wesentlich schneller gefunden haben als damals Hidemi. By the way… wo bleibt Kir eigentlich? Wollte sie nicht auch noch kommen?“ Sie biss in ihren Keks, seufzte leise, wischte sich die Krümel vom Mund. „Sie sollte wirklich bald auftauchen, schließlich ist das hier auch kein Kaffeekränzchen, auch wenn es danach aussieht.” Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie ihren Keks fertig aß. Black warf ihr einen ernsten Blick zu. „Das weiß Kir bestimmt auch.“ Die blonde Agentin beugte sich vor. „Yeah, sure. But… Ai… oder Shiho ist immer noch in Gefahr, und dass Kudô es ist, liegt auf der Hand, genauso auch Ran. Wir haben Wachen postiert, unsere Leute unters Personal gemischt. Wir haben Späher in der Nähe des Klinikums und im Wald, probably this hospital is better secured than Fort Knox. We cannot do much more, without more information, but...“ Kogorô räusperte sich. „Reicht das aus…?“ Er schaute ernst in die Runde; an Jodies Gesicht blieb sein Blick haften. Sie seufzte, fuhr sich durch die Haare. „That’s what I wanted to say.“ Kogorô seufzte leise, strich sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen Bart. „Was ist mit Ran? Und diesem Akai?“, murmelte er dann fragend. Diesmal war es James, der ihm antwortete. „Die beiden kommen bald, in ein paar Stunden, wohl. Ich hoffe, die Organisation wartet noch so lange bis Shuichi wieder da ist, ehe sie ihren Coup landen wollen. I’d rather like to have him here, when it begins…“ James Black wischte sich über sein altes, faltiges Gesicht, während Môri in seine Kaffeetasse stierte; längst schon stieg kein Dampf mehr daraus auf, auch wenn der Becher noch fast voll war. Meguré schaute von seinen Notizen, mit denen er sich die letzten zwei Minuten beschäftigt hatte, auf. Black fing seinen Blick auf, legte die Fingerspitzen seiner Hände aneinander. „Sie haben auch Beamte zu den Kudôs und zum Professor entsandt, ja?“ „Ja. Allerdings ist der Professor ja momentan mit Ai unterwegs.“ Dann ging die Tür zum Konferenzraum erneut auf, und eine junge Beamtin betrat das Zimmer. „Kommissar Meguré, diese Frau sagt, sie wäre eine Hidemi Hôndô und würde von Ihnen erwartet… und sie hat noch jemanden mitgebracht.“ „Das ist richtig. Bringen Sie sie rein.“ Der Kommissar unterdrückte ein erleichtertes Seufzen und nickte nur, woraufhin die junge Frau das Zimmer verließ, und dabei den beiden Besucherinnen den Weg frei machte. Hidemi trat als erstes ein, nickte zur Begrüßung und setzte sich auf eine einladende Geste Megurés. Dann fiel der Blick er Runde auf die Frau, die der CIA- Agentin gefolgt war - eine hochgewachsene, schlanke, bildschöne Frau mit blonden Locken betrat das Zimmer wie die Bühne eines Theaterstücks. Für einen kurzen Moment schien die Szene wie eingefroren; dann riss ein lautes Krachen sie alle wieder in die Wirklichkeit zurück. Jodie war so heftig aufgesprungen, dass ihr Stuhl umgefallen war. Jetzt stand sie da, starrte die blonde Frau an, ihre Haare wirkten fast wie elektrisiert. Im Gegensatz zu ihrem letzten Aufeinandertreffen im Garten der Kudôs war hier und jetzt nichts da, das ihre Aufmerksamkeit anderweitig beanspruchte. Sie sah nur Vermouth. „What is this woman doing here?!“ Jodie ließ ihren Blick nicht von der blonden Frau, als sie langsam wieder Herrin ihrer Sinne wurde, ärgerte sich im Stillen, dass diese Person es jedes Mal schaffte, sie so aufzuregen. Allerdings, das musste sie sich eingestehen, hatte sie wohl jeden Grund dazu, Vermouth so sehr zu hassen, dass ihr ihre Anwesenheit stets den Wunsch nach Vergeltung aufkeimen ließ. „Ah, happy to see me, darling, aren’t you?“ Vermouths Stimme klang kühl und nüchtern, aber in ihren Augen glitzerte ein vergnügtes, angriffslustiges Funkeln. Dass es nicht unbedingt Freundschaft war, das diese beiden Frauen verband, war für jedermann offensichtlich; fast alle anderen saßen stocksteif auf ihren Stühlen, hochgeschreckt von Jodies Ausruf, beobachteten die beiden Frauen wie Zuschauer eines Theaters, bis auf Heiji und James Black, die dem Ganzen mit mehr Abgeklärtheit begegneten. „Jodie!” James hatte sich als erster gefasst, sofern er jemals fassungslos gewesen war; der Brite erhob sich, stellte den Stuhl wieder zurecht, drückte seine junge Agentin wieder auf die Sitzfläche, hielt sie fest, und bedeutete ihr so unmissverständlich, dass dies weder der Ort noch die Zeit waren, um ihre Differenzen mit der Mörderin ihres Vaters zu klären. Die junge Agentin funkelte die Blondine finster an, ihre Haltung war verspannt, mühevoll wandte sie sich ab, stierte auf die Tischplatte und stürzte dann ihren Kaffee in einem Zug hinunter. Vermouth lächelte ein dünnes, aber doch überlegen anmutendes Lächeln, in ihren blauen Augen glänzte immer noch Amüsement, ihre gelassene Haltung ein Zeichen purer Überlegenheit. Sie war die grande dame und die femme fatale in Personalunion, sie war der Star ihrer Runde - von dem Moment, in dem sie den Raum betreten hatte, strahlte eine Souveränität aus, die einer Königin würdig gewesen wäre. Und sie wusste das. „Vermouth. What an extraordinary honour.“ Blacks sonore Stimme durchbrach die Stille; mit seiner ihm eigenen Distanziertheit und britischer Contenance schaute er die blonde Frau reserviert an, ließ Jodie dann los, trat zu Vermouth und rückte ihr einen Stuhl zurecht. Sharon Vineyard alias Vermouth setzte sich elegant, schlug die Beine übereinander und warf ihr goldenes Haar über ihre Schulter. „Still the old gentleman, James?“ Sie warf ihm ihr strahlendstes Lächeln zu, ihre karmesinroten Lippen perfekt geschwungen, ihre Zähne weiß und makellos wie Perlen. Er lächelte ein dünnes Lächeln, das sich unter seinem Schnauzbart regelrecht zu verstecken schien, und das längst nicht bis in seine Augen kroch. „Some things never change. Mutig von dir, hier aufzutauchen, meine Teuerste.“, bemerkte er dann nur, ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken, ohne jedoch den Blick von ihr zu wenden. Die drei Polizisten schauten die Schauspielerin perplex an; Heijis Hand schwebte irgendwo zwischen der Keksschachtel auf dem Tisch und seinem geöffneten Mund in der Luft; er war gerade dabei gewesen, sich ebenfalls einen Keks einzuverleiben, als der unerwartete Besuch gekommen war, und seine Aufmerksamkeit beansprucht hatte. Nun ließ er die Hand sinken, lächelte verhalten. „Schön, Sie mal kennenzulernen, Mrs. Vineyard. Shinichi hat mir schon viel von Ihnen erzählt.“ „Mr. Hattori, I suppose.“ Sie lächelte mysteriös, neigte elegant ihr Haupt, nickte kurz. „Quite right.“ Heiji grinste, stopfte sich nun endlich das Gebäckstück in den Mund. Allerdings waren bei Weitem nicht alle Personen im Raum so gelassen; Jodie war immer noch leichenblass um die Nase und es war ihr anzusehen, dass sie enorm an sich halten musste, um sich unter Kontrolle zu halten. „Was willst du hier, Vermouth?“, fauchte sie gepresst. „Na, wer wird denn so unhöflich sein?!“ Die Blondine wandte sich ihr zu, das Lächeln auf ihren Lippen war verschwunden. „I don’t understand your behavior, sweetheart. Wo ich doch diesmal auf eurer Seite bin. On cool guys side, that is.“ „Must be his side. Auf meiner wirst du nämlich nie sein.“ „Quite possible, darling.“ Sharons Blick verfinsterte sich, langsam verschränkte sie ihre Arme vor der Brust, ließ die blonde FBI-Agentin nicht aus den Augen. Meguré wurde es nun zu bunt, was deutlich daran ersichtlich war, dass die Spitzen seines Schnauzbarts zu zucken anfingen, und zwar im Rhythmus der pochenden Ader in seiner Schläfe. Während Sato den Neuzugang misstrauisch einer genauen Musterung unterzog und Takagi und Môri ob so viel Glamour wie geblendet schienen, stand er nun auf. „Darf ich fragen wer Sie genau sind, nach all den Namen, die gerade schon fielen? Und was Sie hier wollen, wäre, nebenbei bemerkt, auch nicht uninteressant. Wir hatten eigentlich nur unsere Informantin erwartet.“ Er warf Hidemi einen kurzen Blick zu, wandte sich dann wieder zu Sharon, schaute sie ernst an, mit all der Autorität, die er zusammenkratzen konnte angesichts einer so blendend schönen Frau. „Ich bin hier, weil ich Shinichi helfen will. Und weil ich mich erkundigen wollte, wie es ihm geht, nachdem man mich kaum ins Krankenhaus lassen wird…“ And as he’s not talking to me since the day before yesterday… I’ve got no other way to get some information… „Und woher sollen wir wissen, dass Sie vertrauenswürdig sind, Miss…”, begann Takagi. „Mrs, darling. It’s Mrs. Mrs Vineyard.“ „Vineyard?“ Takagis Augen wurden groß. Er hatte doch gewusst, die Frau kam ihm bekannt vor. „Die Vineyard? Chris Vineyard, die Schauspielerin?“ „No, dear.“ Sharon schüttelte lächelnd ihr goldgelocktes Haupt, beugte sich vor, stand auf und stützte sich lächelnd mit beiden Händen auf den Tisch, fixierte Takagi mit ihren eisblauen Augen. „Not Miss Vineyard, I told you. Not Miss Chris Vineyard… It’s Mrs Vineyard. Mrs Sharon Vineyard… oh, dear, would you try not to look so surprised, please…? Gather yourself, man. After all, you know cool kid - cool guy, I mean.” Sie verzog ihre rotgeschminkten Lippen zu einem spöttischen Lächeln, lachte leise, ließ sich wieder zurück in ihren Stuhl gleiten. „Sehen Sie mich nicht so ungläubig an, sie kennen doch das Mysterium von Shinichi Kudô… und von Shiho Miyano. Da sollte Sie mein Erscheinungsbild nicht so überraschen.“ Sie schlug aufreizend langsam ihre Beine wieder übereinander, wippte kurz mit ihren in schwarzen Lederstiefeln steckenden Füßen. „Also… darf ich jetzt erfahren, wie es ihm geht? Pretty please? Ich denke, es wird nicht gefährlicher für ihn, wenn Sie mir ein paar Infos geben, sonst hätte mich unsere liebe Kir kaum mitgebracht. Ganz davon abgesehen, dass Ihnen ohnehin das Wasser bis zum Hals steht, nehme ich an, sonst würden Sie ja nicht in dieser lauschigen Runde mit so ernsten Gesichtern beieinander sitzen.“ Sharon schaute den Kommissar erwartungsvoll an. „Wir wollten eigentlich eher erfahren, wie weit Ihre Organisation mit der Suche ist, Mrs Vineyard.“, murmelte Sato schnippisch. „Keinesfalls sind wir hier die Auskunft.“ Die junge Polizistin hielt dem musternden Blick Sharons stand. „Tough girl.“ Sie lächelte. Heiji hingegen schaute sie an, räusperte sich, fuhr sich kurz über die Stirn, als sich in seinem Kopf eine Erkenntnis manifestierte. Dass sie diese Frage stellte, konnte eigentlich nur eines bedeuten... „Sie haben in der Organisation noch keine Ahnung? Was mit Shinichi is‘?“ Seine Frage zog die Aufmerksamkeit aller auf ihn. Sharon und Hidemi schüttelten den Kopf synchron. „Nein, so ist es leider auch nicht… seit... circa einer Stunde wissen wir, in welchem Klinikum er liegt. Aber wir wissen nicht, wie es ihm geht.“, murmelte Hidemi. „Sie wissen was?!“ In Megurés Gesicht spiegelte sich das Entsetzen. James schaute sie ebenfalls alarmiert an, auch wenn er sich deutlich besser beherrschte, man ihm den Schock nicht so sehr ansah. „Fahr fort.“, murmelte er dann langsam. „Gin hat herausgefunden, dass er im Haido Central Klinikum liegt. Zimmer 365. Das Triumvirat weiß bereits Bescheid… und ich brauche wohl nicht erzählen, was gerade geplant wird.“ Kirs Gesichtszüge verrieten ihre Unruhe. Jodie ließ sich zurücksinken, fuhr sich mit ihren Händen übers Gesicht, ehe sie sprach. „Wir müssen ihn sofort da rausholen und woanders unterbringen.“ „No.“ Seltsamerweise war dieses eine, schlichte Wort von zwei Personen synchron ausgesprochen worden; von James und Sharon. Die beiden starrten sich nur kurz an; dann gestikulierte Sharon in die Richtung des FBI-Agenten, der ihr kurz gentlemanlike zunickte, bevor er zu sprechen begann. „Nein, er bleibt, wo er ist. Wir sind im Nachteil gegenüber der Organisation… der einzige Trumpf, den wir haben, ist er. Es gefällt mir zwar nicht, aber solange wir nichts in der Hand haben, sind wir angreifbar. Wir können ihn da nicht rausholen, ohne ihn zu gefährden. Sie sind uns voraus, offensichtlich, ich schätze, die ersten eurer Leute sind schon eingetroffen um das Gebäude zu beschatten. Gelänge es uns, sie zu hindern, ihm etwas anzutun, ein paar… Festnahmen zu machen, könnten wir in ihr Hauptquartier gelangen. Ich weiß, das könnten wir auch so.“ Er würgte Heiji ab, der gerade einen entrüsteten Einwurf hatte machen wollen. „Wenn wir Hidemi bäten, uns zu sagen, wo es ist. Ich weiß. Aber wenn es uns nicht gelingt, sie dann zu ergreifen, sie mit einem Schlag zu vernichten, was leider nicht sehr wahrscheinlich ist, im Augenblick… dann könnte unter Umständen Hidemis Leben in Gefahr sein. Sie sitzt ohnehin… auf einem wackeligen Stuhl, wenn ich mich nicht irre. Außerdem ist das Sache der CIA, uns steht nicht zu, dass wir uns...“ „Lieber gefährden Sie seins?! Sie wissen, wie’s ihm geht! Sie können ihn nich‘ als Lockvogel benutzen, er weiß doch nich mal, vor wem er weglaufen soll!“ Heiji war aufgestanden, sein Gesicht weiß vor Wut und Fassungslosigkeit, seine Augen starr auf den FBI-Agenten gerichtet. Er bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren, aber das hektische Auf und Ab seines Brustkorbs verriet nur zu deutlich, wie gern er dem Mann vom FBI seine Meinung so richtig gegeigt hätte. Meguré, Sato und Takagi starrten ihn an. Langsam ging auch ihnen auf, wie gut die beiden Detektive wirklich befreundet waren. Das war allerdings nichts gegen die verdutzten Gesichter, die Vermouth und Kir machten. „What do you mean, he doesn’t know…? He knows most of us perfectly well after his week as Armagnac… und er weiß auch, wo das Hauptquartier ist, logischerweise ist er ja von dort geflohen. Und nein, bevor ihr auf die Idee kommt, I won’t tell you either; I've got my reasons not to tell you, and you can't make me, I'm not working for you. Außerdem wage ich aber zu behaupten, ihr könntet mich da drin noch brauchen, falls euer Plan schiefgeht, so ihr denn mal einen habt. Aber warum fragt ihr ihn nicht? Ist er noch bewusstlos?” Sie zog eine Augenbraue hoch. „Und was meintest du nun? Warum weiß er nicht…?“ Sharon schaute ihn fragend an, merkte, wie sich in ihren Gedanken eine Ahnung zusammensetzte, wurde langsam blass, merkte, wie ihr Herz bis zum Hals schlug. No! Heiji ließ sich auf den Stuhl zurücksinken, starrte seine Hände an. „Shinichi hat sein Gedächtnis verloren. Er leidet unter retrograder Amnesie…“ Es war Takagi, der sich nun zu Wort gemeldet hatte. „Er besitzt kein Wissen mehr über die Zeit vor vorgestern Abend. Er wusste nicht mal seinen Namen. Folglich… weiß er auch nicht mehr, wer ihr seid. Wo das Hauptquartier ist.“ Er ließ seinen Blick zwischen Sharon und Hidemi hin und her wandern. Die beiden Frauen starrten sich an; dann wandte sich Sharon an James Black. „That’s not true.“ „It is.“ Black schaute ihr fest in die Augen. „Egal was ihr gemacht habt, egal was auf seiner Flucht passiert ist, es hat dafür gesorgt, dass er alles vergessen hat, was er je gewesen ist oder erlebt hat. Literally everything.“ Sharon wandte langsam den Kopf ab, fixierte mit ihren Augen einen Punkt jenseits der Tischplatte, als in ihrem Kopf die Gedanken rasten. Ihr Teint war auf einmal sehr bleich geworden. „Forgotten… everything forgotten…? Not one… single memory left…?“ Sie blickte auf, sah in die Runde. Schaute in lauter erstaunte Gesichter, und konnte sich denken, dass sie deshalb so überrascht waren, weil sie so… emotional reagierte. Tatsächlich zitterte ihre Stimme, ihre Hände krampften sich um die Tischplatte. Cool guy is no more… Dear god… How must you feel… a stranger in this world, more innocent than a mere child… A stranger in your own body again… An empty head… only filled with… so much nothingness… Sie schluckte, riss sich zusammen. „Under these cirucumstances… sollten wir ihn nicht als Köder gebrauchen. Er ist in der Tat in viel zu großer Gefahr.“, wisperte sie. „Doch.“ James schluckte. „Das ist die einzige Möglichkeit. Ich gehe davon aus, dass selbst wenn wir ihn verlegen, wir ihn ohnehin nicht heil an einen anderen Ort brächten.“ Kir nickte. „Das ist anzunehmen, ja.“ Sie sah auf, schaute in die Runde. „Im Prinzip rechnet man bei uns eher damit, dass ihr ihn sofort da rausholt. Dementsprechend ist alles postiert... ihr kriegt ihn nicht mal aus dem Krankenhaus raus, nicht persönlich und zu Fuß, nicht verkleidet… und auch nicht mit einem Krankenwagen. Ich denke… nicht als Lockvogel, aber… ganz allgemein ist es sicherer, wenn er bleibt wo er ist, nur durch geprüftes Personal versorgt wird, noch strenger bewacht wird und… am besten kein Krankenhausessen mehr bekommt.“ Sie lächelte müde. „Die wollen ihn tot sehen. Egal wie, nur tot. Und sie werden jedes Mittel versuchen- weil ihnen einfach jedes Mittel Recht ist.“ „Verdammte Scheiße.“, fluchte Heiji lautlos. Meguré starrte auf den Tisch vor ihm; sein Kaffee wurde langsam kalt. „Wir brauchen einen Plan.“, murmelte er dann leise. „Und zwar schnell.“ „Ich denke…“, wagte Miwako Sato sich zu Wort zu melden, „dass alle Einheiten zu verstärken und in Alarmbereitschaft zu versetzen… ein guter erster Schritt wäre.“ Jodie, James, Takagi und Meguré nickten. Heiji schrak auf, als sein Handy, das er vor sich auf dem Tisch abgelegt hatte, zu brummen anfing und vom Vibrationsalarm getrieben über den Tisch wanderte. Er griff danach, hob ab, lauschte der Stimme am anderen Ende, wobei ein erstaunter Gesichtsausdruck auf seine Züge schlich; als er sprach, geriet er ins Stottern. „Oh, ah… hi, Ran? Ihr… ihr seid hier? Jetz‘ schon? Ich mein wir… hatten später mit euch - Du kannst den Prof nich‘ erreich‘n… der… der wird wohl noch im Krankenhaus sein… da hat er bestimmt das Handy aus.“ Er seufzte, schaute dann fragend in die Runde, seine Lippen formten ein lautloses „Was jetz‘?“; es war ihnen allen klar, dass Ran überall hindurfte, jetzt – nur nicht ins Krankenhaus. Und das war aber bestimmt der Ort, an dem sie lieber jetzt als gleich sein wollen dürfte. Jodie stand auf, warf ihrem Vorgesetzten einen kurzen Blick zu, der offensichtlich den gleichen Gedanken gefasst hatte. „Ich hol die beiden ab. She cannot visit him just now, she would be in far too much danger. I’ll take her home, I think, Mr Mori, es wäre gut, wenn sie daheim auf ihre Tochter aufpassen würden.” Kogorô nickte, erhob sich. „Schon unterwegs.“ Jodie griff nach ihrer Handtasche, nicht, ohne noch einen kurzen Blick zu Sharon zu werfen. „Sag ihr, ich hol sie und Akai. Ich bin in einer halben Stunde da.“, wandte sie sich zu Heiji, der es sofort weitergab. Als er das Telefonat beendet hatte, war Jodie schon längst gegangen. Sie durften keine Zeit verlieren. Absinth hatte die Hände vor seiner Brust verschränkt, saß lässig zurückgelehnt in seinem Stuhl; mit ihm am ovalen Tisch saßen Rum und Cachaça, über ihnen hing eine blaugraue Dunstwolke, der Duft von schwerem Zigarrentabak lag in der Luft. „Heute Abend ist er fällig. Diesmal entkommt er uns nicht. Das alles… ist viel zu gut geplant.“ Er lächelte selbstzufrieden. Rum nickte. „Ja. Unsere Leute sind bereits als Personal eingeschleust… es wird schnell gehen. Sie verschaffen Gin und Wodka Zutritt zu seinem Zimmer, lenken die Wachen und das FBI ab… und dann…“ Er grinste dünn, formte mit einer Hand eine Pistole, zielte in die Luft und tat so, als würde er abdrücken. „Alle sind auf Position… sie haben keine Chance, ihn raus zu schleusen. Innerhalb einer Viertelstunde wird der Coup gelaufen sein… Kudô wird tot sein… und Cognac kann dagegen nichts tun oder sagen.“ Cachaça nickte, nahm einen Schluck aus seinem Glas, einem großen, bauchigen Weinglas, das er vor sich stehen hatte, legte dann seine Fingerspitzen aneinander, neigte sich nach vorn. „Mon dieu… wir sind brillant. Der Boss wird nur erfahren, dass seine Anordnung, seinen Sohn zu eliminieren, ausgeführt worden ist…“ Er ließ sich zurück sinken, schaute an die Decke. „C’est si simple. Wie einem Kind seinen Lolli wegzunehmen…“ Die anderen beiden nickten nur, sehr zufrieden mit sich und ihrem Plan. Im Zimmer war es still. Als die Tür sich geöffnet hatte, hatten sie sich alle umgewandt, in Erwartung, den Professor zu sehen und Neuigkeiten von Heiji zu hören; allerdings war er nicht allein gekommen. Hinter ihm stand das Ehepaar Kudô, nun schon seit ein paar Sekunden. Und die Stille dehnte sich aus. Der Professor schaute unbehaglich von Shinichi, der fast ohne zu blinzeln seine Eltern anstarrte, zu Yusaku, der nach ein paar Augenblicken den Blick gesenkt hatte, und Yukiko, die mittlerweile so blutleer im Gesicht geworden war wie ihr Sohn, trat dann ein paar Schritte vor, mit dem festen Vorsatz, die Situation zu lockern. Er versuchte, ein freundliches Lächeln aufzusetzen, strich sich über seinen Bart, dann über seinen Bauch – eine offensichtliche Geste der Unsicherheit. „Heiji kommt erst morgen, weil er sich noch mit der Rekonstruktion deiner letzten Woche beschäftigen muss… aber du hast trotzdem Besuch.“ Shinichi hatte seinen Blick von seinen Eltern losgerissen, als der Professor zu reden angefangen hatte, nickte nun kurz. Der alte Mann kniff die Lippen zusammen, trat noch ein wenig mehr zur Seite, um dem Ehepaar Kudô mehr Platz zu machen, stellte sich dann leicht schräg hinter sie. Ais Augenbrauen wanderten langsam nach oben, ihr war die Anspannung im Zimmer nicht entgangen; dann stutzte sie kurz, als sie merkte, wie sich ihre Nackenhärchen sträubten. Unwillig griff sie sich an den Hals, schluckte, strich sich kurz unter die Haare. Sie war übersensibel, das war es bestimmt. Hier war bestimmt keiner von ihnen… in der Nähe. Dann merkte sie, wie der Professor und die Kudôs unsichere Blicke austauschten. Sie schaute zu Shinichi, der alles andere als gelassen und freudig erregt zu sein schien; seine Haltung verriet Anspannung, auch wenn er dagegen ankämpfte, sich das anmerken zu lassen. Der Professor sah ihn an, eindringlich, bevor er sprach. „Das… sind deine Eltern, Shinichi. Und wir wollen nicht stören, deshalb gehen wir jetzt wohl besser - bis morgen… gute Besserung.“ Er drückte kurz seine Schulter, winkte die Kinder aus dem Zimmer, zog hinter Ai, die die Letzte war, die Tür wieder ins Schloss, überließ die Familie damit sich selbst. Shinichi schaute ihnen hinterher, war fürs erste sprachlos, musste seine Lage erst einmal sondieren. Seine Eltern waren da. Und langsam wurde ihm klar - er wusste nicht, was er erwartet hatte. Nicht das, wohl. Draußen vor der Tür blieb Ai stehen, sah Agasa lange an. „Sie haben ihn vorhin angelogen, Professor.“, bemerkte sie dann leise. Ihre Stimme klang ernst, ihre Augen ruhten scheinbar gelassen auf seinem Gesicht, doch er konnte sehen, wie es in ihr brodelte. Ein Sturm unterhalb der Wasseroberfläche. „Denken Sie, in seiner Situation ist das eine gute Idee?“ Die Anklage und die damit verbundene Kritik waren unüberhörbar. Genta, Mitsuhiko und Ayumi, die in Gedanken versunken vorangegangen waren, und sich nur leise unterhalten hatten, fuhren herum, gaben erstaunte Laute von sich. „Professor?!“ Mitsuhiko trat näher. „Was meint Ai denn damit?“ Er schaute ihn durchdringend an; genauso durchdringend, wie auch Ayumi und Genta hinter ihm den alten Mann fixierten. Der Professor war sichtlich rot im Gesicht geworden, wischte sich über die Stirn, auf die urplötzlich Schweißperlen getreten waren. „Ich…“ Er wandte sich ab, knetete seine Hände, schaute zu Boden. „Professor?“ Ayumi schaute ihn fragend an, dann glitten ihre Blicke zu Ai. Irgendetwas lief hier doch… etwas, von dem sie noch nichts wussten. Das rotblonde Mädchen stand da, die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihn nur weiterhin starr an, in ihren Augen ein unergründlicher Ausdruck, ihr Gesicht regungslos. „Sie wissen, ich würd’s tun für ihn. Wir können es ihm beweisen, wir können es ihm so viel leichter machen… und ich würds tun…!“ Der Professor schüttelte den Kopf, biss sich auf die Lippen. „Denkst du, daran hab ich nicht gedacht?!“ Er klang aufgebracht. Mitsuhiko, Genta und Ayumi betrachteten die Szene, beobachteten und versuchten herauszufinden, worum es eigentlich ging. Der alte Mann rang sichtlich mit sich. „Ich weiß, dass wir den besten Beweis hätten, den man ihm liefern kann. Aber ich will nicht, dass du das tust.“ „Einen Beweis?“ Nun war es Genta, der näher trat. „Für Conan? Man kann das beweisen?“ Er drehte sich langsam um, fixierte das kleine Mädchen mit den Augen eines alten Mannes, ein Blick voller Schwermut und Sorge. „Glaub nicht, mir liegt nicht genug an ihm. Aber mir liegt auch was an dir… Ai.“ Agasa schluckte. „Ich meine, dass du das Risiko nicht eingehen solltest, vielleicht glaubt er uns auch so; wenn wir es ihm nur lange genug erzählen… ich hatte heute das Gefühl, wir haben ihn fast soweit…“ „Die Zeit haben wir aber vielleicht nicht, er muss es jetzt wissen, was ist wenn…“, unterbrach sie ihn und wurde ihrerseits wieder vom alten Erfinder unterbrochen. „…und ich glaube einfach nicht, dass dieser Anblick ihm irgendetwas Gutes tut… er traumatisiert ihn noch viel mehr, denke ich...“ Ai bedachte ihn mit einem trotzigen Blick. „Ich denke, er ist doch auf dem Weg, es uns zu glauben…“ Seine Stimme verlor sich. Er steckte seine Hände in seine Hosentaschen, schaute zu Boden. Das kleine Mädchen trat näher. „Wird er nicht. Er wird uns nicht glauben. Er will. Aber er kann nicht... und sie wissen, warum er nicht kann. Weil er ist, wie er ist. Er kann nicht…“ Ihre Stimme klang leicht melancholisch, ein winziges, bitteres Lächeln lag auf ihren Lippen. „Wie könnte er auch… Professor, wie könnte er denn…? Dieser Wahrheitsfanatiker, der ohne einen Beweis doch fast nichts glaubt. Und Sie müssen zugeben, Sie waren auch nicht leicht zu überzeugen. Wie sollte dann er es sein- ich meine, gerade er!“ „Ich will nicht, dass du das Risiko eingehst.“, wiederholte er stur. „Nicht nur, dass es eine körperliche Belastung ist, was, wenn sie dich sehen?“ „Was, wenn sie ihn sehen und er nicht weiß, wer sie sind! Er muss es wissen! Es glauben, in allen Einzelheiten, weil er sonst nicht versteht, was alles passiert ist, welche Tragweite das alles hat! Er wird die Reaktionen der anderen nicht verstehen, nicht deuten können, wenn er nicht weiß, wer er war. Und vielleicht- vielleicht erinnert er sich auch wieder… wenn er… wenn er es sieht. Haben Sie daran schon einmal gedacht? Es könnte gut sein, dass er sich dann wieder an alles erinnert!“ „Und vielleicht stirbst du auch bei der Einnahme! Das war es dann wert! Verdammt, er sollte es uns auch ohne Beweis glauben! Und was meinst du, was ich mir anhören darf von ihm, wie ich zulassen konnte, dass du das Zeug nimmst, wegen ihm, und es dich umgebracht hat! Nein!“ Agasa war laut geworden und die Kinder starrten ihn an, mit offenen Mündern. So kannten sie ihn gar nicht- nie hatten sie ihn schimpfen hören, oder gar ausrasten. Nun stand er da, atmete heftig, gestikulierte wild. „Im Übrigen erstaunt es mich, dass gerade du mit dieser Argumentation kommst, Ai! Du bist doch sonst immer so vernünftig, du hast doch das Gegengift auch nie gern rausgerückt, du weißt doch, wie gefährlich es ist…“ „Das ist etwas anderes… Professor, solange er nicht an Conan glaubt, wird ihm im Puzzle seiner Erinnerung dauerhaft ein Teil fehlen. Ein Teil, ohne das er die andere Information nicht entschlüsseln kann… vielleicht bekommt er seine Erinnerung ohne dieses Teil nie wieder! Und überhaupt, warum regen Sie sich so auf… ihm haben Sie’s auch nie verboten!“ „Weil er noch nie auf mich gehört hat, Ai, verstehst du nicht?!“ Er gestikulierte hilflos, schaute sie betroffen an. „Ich versteh dich ja, ich versteh, was du meinst, aber denkst du nicht…?“ Sie wandte ihren Blick ab, schaute gegen die Wand, schüttelte dann langsam den Kopf. „Es ist mein Leben.“ Diese vier Worte kamen unglaublich langsam über ihre Lippen. „Es ist mein Leben, und dass ich es überhaupt noch habe, verdanke ich Shinichi- ich bin es ihm schuldig, alles zu tun, was in meiner Macht steht, damit er seins auch wiederbekommt.“ Damit drehte sie sich um, schritt von dannen. Agasa hetzte ihr hinterher, hatte sie bald eingeholt; die Kinder folgten ihm auf dem Tritt. „Das kannst du nicht tun!“ „Wovon reden die überhaupt?“, murmelte Genta fragend. Ai seufzte, blieb stehen. Es hatte keinen Zweck, es ihnen nicht zu sagen; herausfinden würden sie es sowieso, sie waren ohnehin schon so tief drin in der Sache… Kurz schloss sie die Augen, schaute dann jeden von ihnen eingehend an. „Wie ihr wisst, hab ich das Gift entscheidend entwickelt, deswegen kenne ich mich auch aus damit, und hab in den letzten Jahren ständig nach einem Gegenmittel geforscht. Nun… es gibt ein temporäres Gegengift, soweit bin ich gekommen. Nähme ich es, würde ich wieder erwachsen, für ein paar Stunden. Dann kann er… sehen, was passiert. Sehen, wie aus Shiho wieder… Ai wird. Vielleicht erinnert er sich dann. Und wenn nicht, weiß er wenigstens, was aus ihm geworden ist und dass alles stimmt…“ Ihr Blick verlor sich. Agasa schüttelte immer noch den Kopf. „Es ist zu gefährlich.“, murmelte er. Ayumi schluckte. „Sie kann dabei sterben…?“, wisperte sie ängstlich. Der alte Erfinder nickte. „Verdammt, Kudô hätte auch sterben können, er hat‘s auch genommen, öfter als einmal…“, fauchte Ai ungehalten. „Ja, weil er es für Ran getan hat…“ „Und ich tu’s für ihn! Was ist da anders?!“ Agasa stockte, genauso wie die Kinder; kurz schien die Szene eingefroren zu sein, dann ergriff der alte Professor wieder das Wort. Ai schluckte, ballte ihre kleinen Fäuste, merkte, wie es in ihr wühlte, und hasste das Gefühl. Der Professor schaute sie starr an. „Du weißt, worum es geht, Ai. Er hat es zu ihrem Schutz getan, auch wenn... er es vielleicht mit ein paar anderen Gründen verknüpfen konnte." Er seufzte leise. "Aber der Hauptgrund dafür war, dass er nicht auffliegt. Dieser Grund ist hier nicht gegeben. Ihr seid schon aufgeflogen. Aber du fällst als Shiho viel mehr auf als als Ai. Allein, weil Ai wesentlich kleiner ist und deshalb leichter übersehen wird, und mit etwas Glück haben sie dein Kindergesicht nicht so gut in Erinnerung…“ „Aber ich würde es doch trotzdem zu seinem Schutz tun. Damit er weiß, was los ist, wie ernst die Lage ist! Damit er sich erinnert! Oder wenigstens… neu lernt.“, warf Ai ein, bemühte sich um sachliche Argumente, bereute es, gerade so emotional geworden zu sein. Ihr war viel zu spät aufgegangen, wie ihre Aussage noch deutbar gewesen war, und das schlimmste war... ganz von der Hand zu weisen war die zweite Interpretation ihrer Hilfsbereitschaft in dieser Hinsicht leider auch nicht. Aber das ging keinen was an. Die aufgebrachte Stimme des Professors riss sie allerdings wieder aus ihren Gedanken, ehe sie weiter grübeln konnte. „Nein!“ Agasa atmete heftig. „Und das ist mein letztes Wort!“ „Sie haben das nicht zu entscheiden.“ Traurig lächelnd blickte sie auf. „Ihre Sorge ehrt Sie, aber Sie haben… über diese Entscheidung keine Macht.“ Ihre Stimme klang bedauernd, fast. Damit ging sie. Die anderen folgten ihr schweigend. Kapitel 25: Kapitel 7: Eltern und ihre Kinder I ----------------------------------------------- Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser! Mit diesem Kapitel folgt eine Szene in dieser Geschichte, auf die ihr wohl schon gewartet habt - und mit der ich lang gerungen habe. Im Prinzip seit letztem Jahr, als es mit der langen Pause der Geschichte anfing; glaubt also nicht, ich habe es mir leicht damit gemacht. Das Ding wurde geschrieben, umgeschrieben, teilweise gelöscht, umgeworfen, nochmal umgeschrieben, Teile verschoben, versetzt… es hat gegoren auf meiner Festplatte und ist gereift, und ich hoffe, es trifft den Kern der Sache jetzt… nämlich die Antwort auf die zentrale Frage, wie Shinichi und seine Eltern miteinander umgehen, wenn sie sich zum ersten Mal nach Shinichis Flucht wieder sehen. Wie reagiert er? Wie reagiert seine Mutter, und vor allem, wie reagiert sein Vater? Ich hab mir echt den Kopf schwer darüber zerbrochen, hab nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben und versucht, nicht OOC zu werden. Ich will mich nicht rechtfertigen, aber ihr sollt doch wissen, dass dieses Kap wohl mitunter einer der schwersten Brocken in dieser Geschichte ist. In diesem Sinne wünsche ich euch viel Vergnügen mit Shinichi und seinen Eltern. Nächste Woche folgt dann ein Kapitel mit Ran, soviel sei verraten. Ich wünsche euch schon einmal ein frohes Osterfest, viel Schokolade und bunt verzierte Eier, wunderbares Wetter und gutes Essen ^-^ Liebe Grüße, bis die Tage, Eure Leira ___________________________________________________________________ Kapitel 7: Eltern und Kinder I Eine Zeitlang passierte gar nichts; niemand sagte etwas, niemand bewegte sich, als Eltern und Sohn sich mit Blicken abtasteten, als sähen sie sich das erste Mal. Zumindest für einen in diesem Raum mochte das stimmen. Shinichi erkannte sie nicht. Soviel war offensichtlich. Offensichtlich war allerdings auch, was er durchgemacht hatte, was für Folgen diese Woche für ihn gehabt hatte. Die Spuren, die diese Tage hinterlassen hatten, sprachen eine deutliche Sprache - sie sahen die Kratzer in seinem Gesicht, wussten um die Schusswunde, die unter seinem Pyjama versteckt war, und obwohl sie nicht unvorbereitet gekommen waren, versetzte ihnen Shinichis Anblick doch einen Schock. Man sah es ihm einfach zu deutlich an, was er ertragen hatte; und am allerdeutlichsten war der Blick in seine Augen. Yusaku merkte, wie es ihm eisig den Rücken hinablief. Er konnte aus all diesen Zeichen auf seinem Körper die Geschichte rekonstruieren, die sie erzählten. Das war auch kein Kunststück; er war ja dabei gewesen. Er hatte diese Geschichte mitgeschrieben. Und der Protagonist dieses Romans saß vor ihm in seinem Bett, herausgefallen aus seiner Geschichte, hineingeworfen in ein neues Buch, in eine Storyline, mit der er nichts anfangen konnte. Sie war ihm fremd. Er war sich selbst fremd. Und sie alle waren Fremde für ihn. Niemandsland. Dann riss seine Stimme ihn aus seinen Gedanken. „Sie sind also meine Eltern, ja?“ Shinichi klang selbstbewusster, als er tatsächlich war, und das wussten sie alle drei, aber keiner ließ sich dieses Wissen anmerken. Noch dazu war es mehr als die Stimme, diese aufgesetzte Gelassenheit, die er verbreiten wollte, das den beiden Kudôs auffiel… es war die Anrede, die die ehemalige Schauspielerin und den Schriftsteller eiskalt erwischte, sich wie ein Schlag in die Magengrube anfühlte. Shinichi siezte sie; allerdings, so ehrlich war Yusaku sich einzugestehen, sollten sie sich nicht wundern. Etwas anderes war kaum zu erwarten gewesen. Er seufzte, trat vor, hob die Hände, wollte etwas sagen; zögerte, weil er nicht genau wusste, was er eigentlich sagen sollte, ließ seine Arme wieder sinken, verschränkte sie dann ungelenk vor der Brust, stierte zu Boden. „Ja, so sieht… es aus.“, murmelte er schließlich langsam, rieb sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger, verschob dafür seine Brille, als er mit seinen Fingern unter die Fassung langte. „Hm.“ Shinichi setzte sich etwas weiter auf, zog seine Decke etwas höher, ließ dabei die zwei nicht aus den Augen. „Ich will Ihnen jetzt keine Vorwürfe machen aber… Sie… haben sich Zeit gelassen.“ Er wandte den Blick langsam ab, starrte auf seine Füße, die sich als zwei hügelige Gebilde unter der Bettdecke abzeichneten, wandte sich ihnen nicht wieder zu, als er fortfuhr. „Aber reden wir nicht davon, Sie hatten sicher Ihre Gründe, und ich kanns ja verstehen… es muss verletzend sein, und ungewohnt, verwirrend… wenn einen der eigene Sohn nicht mehr erkennt. Das alte Professorchen war schon so… erschrocken, als er mich sah, und ich ihn nicht wieder erkannte. Wie muss das erst für Sie beide sein...“ Seine Stimme verlor sich. „Es muss ein Alptraum sein, und Sie fühlen sich sicher irgendwie… hilflos. Wahrscheinlich wissen Sie nicht, wie Sie damit umgehen sollen, aber…“ Ein sehr schiefes Grinsen huschte über seine Lippen, seine Blick verlor sich kurz auf der weiß getünchten Wand hinter ihnen, blieb an einem kleinen, schwarzen Strich hängen, den wohl ein Gummirad eines Krankenhausbettes knapp oberhalb des Bodens auf der Wand abgerieben hatte. „Ich kann Sie beruhigen, ich weiß es auch nicht. Ich kann das ja nachvollziehen… es ist wohl mindestens genauso erschreckend, keinen mehr zu kennen, nicht einmal mehr sich selbst, das… treibt einen in den Wahnsinn.“ Er lächelte bitter, warf ihnen einen kalkulierenden Blick zu. Fragte sich innerlich, woher er die Gleichgültigkeit nahm, denn eigentlich interessierte es ihn brennend, warum seine Eltern ihn so lang allein gelassen hatten, gerade jetzt… gerade jetzt, wo er sie wirklich brauchen konnte. Wo er jeden brauchen konnte, der ihn seinem alten Leben ein Stückchen näher bringen konnte. Eigentlich wollte er wirklich wissen, warum sie nicht sofort gekommen waren, als sie gehört hatten, wie es um ihn stand. Der Gedanke daran war seltsam, aber er fragte sich doch, was Eltern davon abhielt, ihren schwer verletzten Sohn zu besuchen. Ihren schwer verletzten, amnestischen Sohn. Aber er schwieg, hatte beschlossen zu warten, früher oder später würde er es herausfinden. Er konnte es ja nachvollziehen, schließlich war die Situation für ihn mindestens genauso schräg… was soweit ging, dass er nicht wusste, wie er sie anreden sollte, denn du und Papa, dazu konnte er sich nicht überwinden. Er kannte sie ja schließlich gar nicht. Bis er also wieder einigermaßen wusste, wer die beiden waren, und wer er eigentlich war, wollte er versuchen, seine Identität zu rekonstruieren, sein Leben nachzubauen, zu lernen über sich und alle anderen - und ein Streit und Anschuldigungen brachten ihn dabei kaum weiter. So ein gleichgültiges Verhalten, das er ihnen bis gerade eben noch unterstellt hatte, war angesichts der Tatsache, dass die beiden nun da standen wie das personifizierte schlechte Gewissen und die Sorge in ihren Gesichtern ihn fast ansprang, mehr als seltsam, und deshalb wohl der Grund dafür… kein einfach nachzuvollziehender. Sorgen gemacht hatten sie sich doch offensichtlich, er konnte es in ihren Augen lesen. Die letzte Woche war nicht nur für ihn die Hölle gewesen. Da steckte mehr dahinter, und bestimmt würde man ihm das heute nicht alles sagen, aus welchem Grund auch immer. Der naheliegendste war wohl, dass man ihn nicht überfordern wollte. Damit musste er sich abfinden, auch wenn es ihn nervte. Deshalb war er zu dem Schluss gekommen, dass es fürs erste wohl tatsächlich angebrachter wäre, die Lage zu sondieren, die Wogen zu glätten und irgendwie… irgendwie überhaupt mal auf die Beine zu kommen. Vielleicht sprach man dann mehr mit ihm, wenn man ihm glaubte, dass er die volle Wahrheit aushalten konnte. Er seufzte, versuchte dann, ein Lächeln auf seine Lippen zu zwingen. „Nun… das ist dann wohl der Status Quo. Ich schätze, wir fangen bei Null an und arbeiten uns hoch - wie oft hat man schon die Chance dazu, eine neue Seite anzufangen, unvorbelastet und neu.“ Yusaku schaute ihn ernst an, in seinen Ohren konnte er fast sein Blut rauschen hören, so schnell war sein Puls bei Shinichis letztem Satz in die Höhe geschossen. Er war beeindruckt von so viel Selbstbeherrschung, die sein Sohn an den Tag legte, und doch gleichzeitig stellte sich bei ihm das Schamgefühl wieder ein, das ihn schon befallen hatte, als er selbst an diese Option gedacht hatte. Einfach neu beginnen, eine neue Geschichte… ohne die Vergangenheit, ohne dieses Wissen, das klang verführerisch, so unglaublich verlockend… und es schien in diesem Moment so einfach, so nah, so greifbar. Es wäre so einfach… Aber auch wenn es jetzt noch so einladend klang, einfach von vorn zu beginnen - was sie nichtsdestotrotz wohl auch tun würden, für den Anfang zumindest, denn eine andere Wahl hatte er nicht, und damit keiner von ihnen; so blieb doch immer der Gedanke in seinem Hinterkopf, was passieren würde, wenn sich Shinichi eines Tages wieder an alles erinnerte. Und der Tag würde kommen. Musste kommen. Dieser Gedanke piekte wie ein Steinchen im Schuh, der bei jedem Schritt verrutschte, lange in einer Position steckte, wo man ihn nicht spürte… um einem schon beim nächsten Schritt seine spitze Kante in die Fußsohle zu bohren. Und damit war jeder Traum von einem Neuanfang von vorneherein zum Scheitern verurteilt, denn die Vergangenheit würde sie einholen, unvermeidlich, unerbittlich, und alles zunichtemachen, was je zwischen ihnen als Vater und Sohn gewesen war, und wieder sein würde, in den nächsten Tagen… vielleicht Wochen. Der Untergang war nicht aufzuhalten. Dann bemerkte Yusaku, wie sich seine Frau neben ihm bewegte, schaute sie fragend an. Ihr Blick war starr, all die Zeit, die sie jetzt hier waren, hatte sie sich nicht gerührt, fast hatte es den Anschein gehabt, als habe sie neben ihm das Atmen aufgehört, als sie ihren Sohn erblickt hatte. Nun kehrte das Leben zurück in sie, ihr Blick immer noch unverwandt auf Shinichi geheftet, aber nun lag in ihm etwas Drängendes. Der Schock war offensichtlich gewichen. Yukiko… „Shinichi…“ Leise kroch sein Name über Yukikos Lippen, als sie schließlich die Courage fand, zu sprechen. Shinichi wandte ihr seinen Kopf zu, er hörte ihre Stimme, eine Stimme, die ihm genauso unbekannt war wie ihr bildhübsches Gesicht, stutzte, als ihr Blick sich traf. Was genau sie tun sollte, wusste sie nicht; sie überlegte nicht mehr, sie handelte. Yukiko schaute ihn an, dann kam sie näher, nicht eilig, aber bestimmt, ließ sich auf die Bettkante sinken und nahm ihn in die Arme, atmete langsam aus, presste ihre Augen zusammen und versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken, als langsam die Angst von ihr abfiel. Ihr Sohn war hier, er lebte, er war wieder er selbst. Sie merkte, wie eine Welle ungeheurer Erleichterung über sie hinwegrollte, als sie seinen Pyama unter ihren Fingern spürte, drückte ihn an sich. Das Schlimmste war vorbei. Alles was jetzt noch nicht in Ordnung war, würde sich auch wieder einrenken, Hauptsache, er war wieder da… und lebte. Er erstarrte unwillkürlich, ein leichtes Gefühl von Unwohlsein keimte in ihm auf, gepaart mit etwas, das er nicht näher identifizieren konnte. Überraschung, Erschrecken machte sich auf seinem Gesicht breit. Er roch ihr Parfum, irgendetwas mit Sandelholz – warum wusste er, dass das Sandelholz war, verdammt? – spürte ihre Haare an seinem Gesicht, seinen Hals, sie kitzelten seine Haut. Yukiko fühlte seine Reaktion, ließ ihn aber nicht los, wartete ab, ruhig. Ließ vielleicht ein bisschen lockerer, atmete einmal tief durch, um wieder Herrin über ihre Gefühle zu werden, aber hielt ihn immer noch fest. Dann fang an, Shinichi… fangen wir an, uns kennen zu lernen. Ich bin deine Mum. Er wusste nicht, wie lang es dauerte, wusste nicht, wie lang sie so saßen, als er merkte, dass sich irgendetwas verschob, in ihm; ein kleines Stückchen des großen Trümmerhaufens in seinem Kopf langsam an seinen Platz zu gleiten schien, wenn auch widerstrebend; ein winzig kleines Teilchen fand zurück an seinen Ort in diesem Puzzle, in dem kein Teil mehr zum anderen zu passen schien. Es war zu früh, um zu sagen, dass er ihr vollends vertraute und glaubte, aber irgendetwas war nun anders. Ein Gefühl von Vertrautheit begann sich breitzumachen und er wusste nicht, woher es kam. Er kannte diese Frau nicht, es war ihm, als hätte er sie nie zuvor gesehen, aber die Art, wie sie seinen Namen ausgesprochen hatte, die ruhige Selbstverständlichkeit, die sie ausstrahlte, konnten nicht von ungefähr kommen. Die Art, wie sie mit ihm umging, als hätte sie ihr Leben lang nicht anders gehandelt, als würde sie ihn kennen. Das kann kein Zufall sein. Sie musste seine Mutter sein, anders konnte er sich dieses seltsame Gefühl von Verbundenheit nicht erklären. Auch wenn er sich an nichts erinnerte, auch wenn nichts wirklich greifbar war, er spürte doch langsam, dass es etwas gab, das sie verband. Er beruhigte sich langsam, entspannte sich ein wenig, atmete leise seufzend auf - dann schob er sie doch ein wenig weg von sich, wollte etwas sagen, aber sie schüttelte den Kopf. Ihm war etwas heiß geworden, Verwirrung machte sich in ihm breit. Yukiko lächelte ihn sanft an. „Ich weiß schon. Du konntest das nie leiden.“ Shinichi schaute auf, in sein Gesicht trat ein fragender Ausdruck. „Was?“ „Wenn ich dich in den Arm nehme, mein Lieber… du kannst das schon lang nicht mehr wirklich ausstehen, was verständlich ist - du bist ja schließlich schon erwachsen.“ Sie tippte ihm spielerisch auf die Nase, seufzte. „Da will man nicht mehr von seiner Mummy in den Arm genommen werden. Nicht, dass ich mich davon abhalten lasse, es trotzdem zu tun. Du bist… mein Sohn. Das wirst du immer bleiben.“ Ein schelmisches Lächeln umspielte ihre Lippen, das allerdings schnell leichtem Bedauern Platz machte. „Du wirst jedes Mal rot… schon seit du ein Teenager bist. Was eigentlich selbstverständlich ist, ganz normal.“ Sie berührte kurz seine Wange. Er schluckte. „In der Regel ärgere ich damit gern, weißt du, wenn auch diesmal… das nicht der Fall ist. Und du motzt mich dann jedes Mal an. Aber gerade in dieser Situation muss es dir fast noch peinlicher sein, als es das ohnehin immer ist. Es tut mir leid, ich hätte wohl... vielleicht ein wenig umsichtiger sein müssen, aber du musst verstehen, ich…“ Ein entschuldigender Ausdruck schlich auf ihre Züge. Shinichi schüttelte den Kopf. „Ist schon… ist schon gut. Wie soll ich mich denn an etwas erinnern, wenn Sie nicht die sind, die Sie immer waren? Lassen Sie sich… mal nicht von alten Gewohnheiten abhalten. Seien Sie… einfach ganz Sie selbst, das hilft mir am Meisten. Auch wenns peinlich werden sollte.“ Er schaffte es, tatsächlich zu grinsen. Yukiko erwiderte es, wobei ihr die Anrede ihres Sohns nicht entgangen war. Shinichi sprach sie immer noch mit „Sie“ an. Yusaku war diese Tatsache ebenfalls nicht entgangen. Er seufzte auf, ließ sich gegen die Tür sinken, spürte das kalte Plastik in seinem Rücken. „Bitte… lass das „Sie“ gut sein, Shinichi. Auch wenn wir in deinen Augen kaum mehr als Fremde sind… du solltest uns nicht siezen.“ Seine Stimme klang ruhiger, als er sich fühlte, und er war stolz auf sich; er hatte sich fabelhaft unter Kontrolle, wie es schien. Wenigstens sich hatte er noch unter Kontrolle, wenn ihm schon alles andere entglitt. Shinichi wandte den Kopf zur Tür, sein Blick traf den seines Vaters. „Ich weiß nicht, was seltsamer ist, euch zu siezen, oder zu duzen, aber gut, ich versuchs.“ Er schluckte, versuchte es zumindest, denn sein Hals schien auf einmal wie ausgedörrt, was an der Frage liegen konnte, die er nun zu stellen hatte, kroch ihm nur widerwillig über die Lippen, weil ihm bewusst war, wie verletzend sie war. „Aber wie soll ich dann zu euch sagen…? Ich meine, ich hoffe, ihr versteht das, ich will euch nicht beleidigen, aber… ich glaub euch ja, dass ihr seid, wer ihr behauptet zu sein, aber es ist einfach… seltsam. Ich kenne euch doch nicht.“ Auch wenn ich gern glauben möchte, dass ich es tue… Yukiko schluckte schwer, ihre Miene scheinbar unbewegt, obwohl es in ihr wühlte. Es war klar gewesen, dass er nicht gleich zu Mutter und Vater zurückkehren würde, und dennoch traf es sie hart. Mit ihm auch noch abzusprechen, wie er sie anreden konnte, war für sie nicht leicht zu ertragen. „Ich weiß nicht, Shinichi…“ Sie lächelte hilflos. „Vielleicht versuchen wir, die Namen mal außen vorzulassen und du duzt uns einfach…“ Yusaku und Shinichi schauten sie an. „Okay. Probieren wir das mal.“ Der junge Patient nickte gedankenverloren, seine Augen nicht von seinem Vater abwendend; merkte, wie Anspannung und Nervosität erneut in ihm aufkeimten, und mit ihnen ein weiteres Gefühl, das noch nicht richtig zu Tage treten wollte… es dümpelte unter der Oberfläche, gerade genug, um nicht greifbar zu sein, aber doch spürbar, sichtbar - und das machte ihn stutzig. Shinichi schluckte, schalt sich im nächsten Moment in Gedanken einen Dummkopf. Das hier waren seine Eltern. Wenn er ihnen nicht vertrauen konnte, wem, um alles in der Welt denn dann? Er atmete durch, versuchte, diese Gedanken über unidentifizierbare Gefühle zu verdrängen, sie abzuschütteln und schob es auf seine überreizten Nerven, dass ihm sein Gespür einen Streich spielte. Die Situation war schließlich auch angespannt genug, da konnte sowas schon passieren. Ich sollte mich wirklich beruhigen… „Na schön, also… wie ihr vielleicht… mittlerweile mitbekommen habt, kann ich mich leider nicht an euch erinnern. Wenn ihr mir also vielleicht etwas über…“ „Sicher. Frag nur.“ Yusaku war langsam näher getreten, hatte sich auf den Stuhl gesetzt, der neben seinem Bett stand. Shinichi starrte ihn an, perplex ob der Unterbrechung, rieb sich dann den Nacken, unwillkürlich, als er merkte, wie sich kurz seine Nackenhärchen aufgestellt hatten. Dann nickte er kurz, ehe er seinen Kopf zu seiner Mutter wandte. Yukiko versuchte ein aufmunterndes Lächeln, aber er sah, wie sehr sie sich zwang. Wie sehr sie wirklich litt, dass er sie nicht erkannte, wie bitter das wirklich für ihn war. „Also, wenn ihr vielleicht etwas über uns erzählen könntet, wäre mir wohl schon sehr geholfen…“ Yusaku zog sie die Brille von der Nase; fahrig wischte er sich übers Gesicht, durch die Haare, setzte sich dann die Brille wieder auf und schaute ihn weiterhin wortlos an. „Du erinnerst dich also wirklich an gar nichts mehr? Ich meine…“, murmelte Yukiko fragend. Shinichi schüttelte erneut den Kopf, stumm. Jodie saß im Auto und lenkte es durch den Verkehr. Neben ihr hatte Shuichi Akai Platz genommen, im Fond saß Ran, schaute aus ausdruckslosen Augen aus dem Fenster, ihren Kopf gegen die Scheibe gelehnt. An ihren Augen zog die Welt vorbei, in schnellen Schlieren aus Farben und Lichtern. Langsam schloss sie die Augen, atmete aus. Die Anspannung hatte sie umfangen wie enge Ketten, sie nicht mehr losgelassen, seit sie aus dem Flieger gestiegen waren. „You are… pretty early.“, murmelte Jodie schließlich, ohne die Augen vom Verkehr abzuwenden. „Wir rechneten erst in zwei, drei Stunden mit euch.“ „Wir konnten die Karten tauschen mit eine jungen Pärchen. Sie…“ Akai warf einen ernsten Blick über den Rückspiegel nach hinten zu Ran, die von ihrem Gespräch vorne nichts wahrzunehmen schien. „Hielt es fast nicht mehr aus… sie hatten Mitleid mit uns, als sie erfuhren… was los ist.“ Er seufzte, zog an seiner Zigarette, die er sich kurz nach dem Einsteigen angezündet hatte. „Und wie sieht’s aus?“ Jodie biss sich auf die Lippen. Sie musste ihm jetzt irgendwie erklären, ohne dass Ran es erfuhr, dass Shinichi gerade in Lebensgefahr schwebte, weil dieses ganze verdammte Klinikum schwarz war vor Mitgliedern der Organisation, dass das ganze Krankenhaus wohl von ihnen wimmelte, sie durch alle Gänge und Flure schlichen und darauf warteten, ihn zu töten… und sie ihn deswegen jetzt noch nicht sehen durfte. Nicht einmal in die Nähe des Krankenhauses gelangen sollte. „Unverändert.“ Sie hüstelte, griff sich an den Hals. „Ich fahr dich am besten erst mal nach Hause Ran, du wirst erschöpft sein von der Reise, von… den letzten Tagen überhaupt… I guess…“ Shuichi warf ihr einen überraschten, leicht fragenden Blick zu, was bei ihm einer einzelnen hochgezogenen Augenbraue bei ansonsten unbewegter Mimik entsprach; Jodie wandte ihm ihr Gesicht kurz zu, formte mit ihren Lippen einen lautlosen Satz. They’re back in the game. Shuichi nickte, er hatte sofort verstanden, was sie ihm sagen wollte… und damit auch, warum sie Ran zuhause abliefern wollte. Die entrüstete sich allerdings, durch diesen einen Satz scheinbar aus ihrer Trance schlagartig erweckt, bereits auf der Rückbank, machte ihrem Protest lautstark Luft. „Mir geht’s gut, ehrlich! Ich will zu ihm ins Krankenhaus! Sie sagten doch-“ „Oh, sure, of course. But I think, a few hour’s rest…” „Nein!” Ran lehnte sich nach vorn, umgriff Jodies Kopfstütze, in ihrem Gesicht stand Sorge, Ungeduld und ein wenig Wut. „Ich will ins Krankenhaus.“, flüsterte sie. Ihre Stimme klang scharf und entschlossen, und weder Jodie noch Shuichi zweifelten daran, dass sie genau das war. Entschlossen. „Jetzt.“, fügte Ran an. Jodie biss sich auf die Lippen. „I think, this is not a good idea. Du solltest dich wirklich zuerst etwas ausruhen. Das wird dir viel abverlangen, Ran, ich denke wirklich…“, versuchte sie zaghaft, wusste doch, dass es keinen Sinn machte, was sie sagte. Davon würde Ran sich nicht abhalten lassen, Shinichi zu sehen. Genauso wie er sich nie davon würde abhalten lassen, Ran bei was auch immer beizustehen. „Ich weiß selber, was gut für mich ist. Ich denke, es ist gut für mich, jetzt endlich zu ihm zu kommen, nachdem sie mich über eine Woche im Unklaren gelassen haben. Und ich denke, mir geht es noch lang nicht so schlecht wie Shinichi. Ich will ins Krankenhaus, das ist mein letztes Wort. Sie können mich nicht zwingen, etwas anderes zu tun. Und überhaupt…“, ihre Stimme wurde leise, „Sie haben es mir doch versprochen. Sie haben gesagt, dass jetzt alles gut wird, dass es vorbei ist.“ Ihr Blick traf den Akais, dann ließ sie sich zurück gegen die Sitzbank sinken. Akai zog an seiner Zigarette, stieß aufreizend langsam den Rauch aus, lächelte verhalten. Jodie warf ihm einen bösen Blick zu, rang weiter nach Worten. Dann kam ihr eine Idee… sie war gemein, das wusste sie, aber wohl die einzige Lösung. Das einzige Mittel, um Rans Aufmerksamkeit abzulenken, war er… war Conan. Ran wusste ja noch nichts… und es wurde Zeit, das zu ändern. Allerdings würde diese Aufgabe nicht ihr zuteilwerden, und einen letzten Dienst würde Conan ihr noch erweisen müssen, ehe er endgültig zu Shinichi werden durfte. „Darling, you should go home. Ich denke, Conan braucht deine Aufmerksamkeit genauso dringend.” Akai fing an zu husten, als er einen Zug Rauch verschluckte, warf ihr jedoch einen bewundernden Blick zu. Ran hob den Kopf, auf ihrem hübschen Gesicht ein fragender Ausdruck. „Conan? Was ist mit Conan? Geht es ihm nicht gut?!“ Verwirrung und Sorge schwangen in ihrer Stimme, sehr zur Beruhigung Jodies. Ihr Plan ging auf. „Ja, so könnte man es ausdrücken. Also was hältst du davon… ich fahr dich zu deinem Vater, du siehst nach Conan… und sagen wir, so gegen Abend hole ich dich dann ab und bring dich ins Krankenhaus…? Is that a deal?“ Ran drehte sich zu den beiden Agenten, sichtlich hin- und hergerissen zwischen der Entscheidung für Shinichi oder Conan. Sie biss sich auf die Lippen, in ihrem Kopf kreisten die Gedanken darüber, wem sie Priorität geben sollte. „Shinichi…“ „Geht es… gut soweit. As far as I know, the professor’s with him, and probably his parents. Er ist in besten Händen. Und er erwartet dich ohnehin erst später, ihr seid ja doch früher gekommen als erwartet.“ Jodie lächelte ermutigend, wusste, worauf Ran hinauswollte. Sie wollte eine Entscheidungshilfe, denn wenn eins klargeworden war, dann war es die Tatsache, dass sie ihr beide unglaublich wichtig waren, sowohl Shinichi, als auch Conan. Bald schon würde sie diesen Spagat nicht mehr machen müssen. Jodie unterdrückte ein bedrücktes Seufzen, meißelte stattdessen das Lächeln fester auf ihre Lippen. „Conan braucht dich dringender. Glaub mir… Shinichi wird das verstehen. He’s cared about.“ Drive to hell, Jodie. Betraying a loving girl like that is disgusting… but it is too dangerous for her, near him, just now... Ein wenig drehte sie ihren Kopf, erhaschte Shuichis Profil in ihren Augenwinkeln. Seine Augen waren halb geschlossen, er zog an seiner Zigarette – und nickte. Du tust das Richtige. Es ist viel zu gefährlich für sie da… wenn es stimmt, was du sagst, und sie wieder im Spiel sind. Ran hingegen schaute aus dem Fenster, ihre Stirn gegen das Glas gelehnt, in ihrem Kopf kreisten immer noch die Gedanken, fielen übereinander, überschlugen sich. Sie wünschte, sie könnte sich zweiteilen, und wusste doch, das konnte sie nicht. Ran wollte unbedingt zu Shinichi, jetzt gleich, aber wenn Conan sie auch brauchte? Um Shinichi kümmerte man sich… er war außer Lebensgefahr… Was mit Conan los war, wusste sie gar nicht… Sie seufzte, auf der Glasscheibe bildete sich ein weißer Fleck, als sie beschlug. Shinichi? Conan…? „Ich meine… ein… ein bisschen, wenigstens…“ Yukiko starrte ihn bittend an. Er merkte, dass langsam ihre Fassade zu bröckeln anfing, der Schein, für ihn stark zu sein, in dem Maße, wie ihre Stimme begann, brüchig zu werden. „Irgendetwas muss doch da sein…?“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Nein, wie ich sagte… es tut mir Leid, aber momentan ist da Nichts - oder zumindest nicht… viel.“ Die Röte war ihm wieder etwas ins Gesicht geschossen, als er an gerade eben dachte, an dieses seltsame Gefühl. Ein schüchternes Lächeln schlich sich auf seine Lippen, verschwand allerdings so schnell wieder, wie es gekommen war. Yukiko entging das nicht; sie merkte, wie sich ihre Mundwinkel langsam nach unten zogen, es war ihr, als könne sie seine Zerrissenheit fast am eigenen Leib fühlen. Sie ahnte, was in ihm vorging. Glaubte zu wissen, was er fühlte, wie dünn die Bindung war, die momentan zwischen ihnen bestand, so dünn, dass er noch nicht daran glauben mochte. Es würde dauern, bis es wieder so werden würde... wie es einmal gewesen war. Wenn es jemals wieder so weit kommen würde, hieß das. Wenn er sich wieder erinnerte. Dann riss seine Stimme sie aus ihren Gedanken. Sie beobachtete ihn, als er sprach, merkte, dass Yusaku es ihr gleichtat. Wie es ihm ging, konnte sie nur vermuten, aber sie schätzte, es ging ihm wohl ähnlich wie ihr. Ihr Sohn war wieder da, und gleichzeitig wohl weiter von ihnen entfernt, als er es jemals gewesen war. Die Distanz zwischen Amerika und Japan war angesichts dieser Situation nicht der Rede wert. Das hier überstieg alle diese räumlichen Dimensionen um ein Vielfaches. „Es ist zumindest noch nichts Greifbares. Eine… Ahnung, vielleicht, aber ihr wisst doch sicher, wie vage sich solche Ahnungen manchmal anfühlen können.“ Shinichi strich sich über die Augen, und zum ersten Mal sah man ihm nun seine Müdigkeit deutlich an. „Außerdem... ihr solltet euch das eigentlich nicht so zu Herzen nehmen, das ist sicher nichts Persönliches, ich kann mich ja nicht mal an mich erinnern, insofern…“ Er versuchte, locker zu klingen, sie zu beruhigen. Yukiko schluckte, biss sich auf die Lippen. „Sicher.“ Er nickte, warf ihr dann einen aufmunternden Blick zu; zumindest wollte er das. „Und wenn es dich… beruhigt, ich hab nicht vor, den Rest meines Lebens so zu verbringen.“ Gedankenverloren begann er sich die Schläfe zu massieren. Sie seufzte, drückte seine Finger, kurz. Er schaute auf, ihre Blicke trafen sich. „Was ist denn das Letzte, woran du dich erinnern kannst?“ Shinichi seufzte, fuhr sich durch die Haare. „Leider nicht sehr viel. Meine Erinnerung setzt erst ab dem Zeitpunkt ein, als mich dieser ältere Herr fand… der Professor. Ich weiß nicht, was davor war. Wie es dazu kam. Wer mir das angetan hat…“ Unwillkürlich presste er sich einen Handballen auf die Stirn. „Und das macht mich wahnsinnig! Ehrlich…“ Die Frustration in der Stimme seines Sohns löste bei Yusaku einen leichten Schauer aus, der ihm fast aufreizend langsam über den Rücken rann, dabei jedes Härchen, das ihm im Weg stand, aufstellte. Er war die ganze Zeit schon unter Strom, hatte keine ruhige Minute mehr, und nun, wo er sah, wie schlimm es wirklich stand, um Shinichi- Wie wehrlos, wie unsicher er war… Was er getan hatte… Die Szene im Büro stand ihm lebhaft vor Augen, als sie sich angeschrien hatte... und immer wieder sah er ihn durch das Haupttor in den Wald hetzen, wohl wissend, dass er um sein Leben lief. Überlebt hatte er, sein Leben hatte er mitnehmen können, aus dieser Hölle... etwas anderes hatte er scheinbar zurückgelassen. Seine Erinnerungen waren auf der Strecke geblieben, irgendwo auf seiner Flucht. Yusaku wusste nur zu gut, wie das alles hatte kommen können... der Schock, zu erfahren, dass sein eigener Vater der Boss einer Verbrecherorganisation war, die Angst um das eigene Leben, die Verletzungen, der Sturz, die Tage und Ereignisse, die in dieser Nacht gemündet hatten... Eigentlich war eine Amnesie nur die logische Konsequenz aus alledem. Die Gedanken daran ließen ihn fast den Verstand verlieren, aber er hielt sich zurück, riss sich zusammen. Er wollte ja sein Vertrauen zurückgewinnen, und das würde nicht einfach werden, und ein sichtbar angegriffenes Nervenkostüm, verbale Ausrutscher, eigene Unsicherheit würden dazu nicht eben beitragen. Er hatte ihn am Leben wieder; er musste ihn jetzt beschützen, und dafür war es wichtig, dass er ihm vertraute. Und dafür musste er stark sein, väterlich, vertrauenswürdig. „Das ist wirklich nicht sehr viel...“ „Nein, ist es nicht, ich weiß.“ Shinichi neigte seinen Kopf leicht schräg, schaute ihn lange an. „Deprimierend wenig, wenn wir ehrlich sind.“ Der Zynismus in seiner Stimme war unüberhörbar. Der Schriftsteller ballte seine Fäuste, entspannte sie wieder, ballte sie erneut. Shinichi entging diese Geste nicht. „Ich kann verstehen, wenn das hier unangenehm ist für… euch.“, meinte er langsam, seine Stimme klang fast entschuldigend. Yusaku strich sich über den Bart, schüttelte den Kopf, schob seine Hand, als er sie nicht weiter zu beschäftigen wusste, in seine Hosentasche. „Das ist es nicht. Es ist… seltsam. Ich kann nicht leugnen, dass es schwer zu ertragen ist, zu wissen zu wissen, was mit dir passiert ist, und das wir es zugelassen haben.“ Er lächelte humorlos, merkte, dass seine Hände eiskalt geworden waren. „Der Gedanke, dass wir praktisch Fremde für dich sind, dass du uns neu kennen lernen musst, dass du uns neu vertrauen musst… das ist…“ Der Schriftsteller brach ab. Yukiko beobachte ihn; ein Gefühl hatte sie beschlichen, das Gefühl, das das, worüber ihr Mann hier zwischen den Zeilen sprach, mit seinen Ausflüchten der letzten Tage zu tun hatte; aber noch konnte sie nicht herausfinden, worin die Verbindung lag. „Ich hab das Gefühl, ich hätte einen furchtbaren… Fehler gemacht und dich in letzter Zeit im Stich gelassen. Zu wissen, was dir alles zugestoßen ist, ist Folter. Und ich hab das Gefühl, es ist meine Schuld, dass es soweit überhaupt kommen konnte…“ Jedes einzelne Wort kam so unglaublich schwerfällig über seine Lippen, und er ahnte, dass er mehr sagte, als gut für ihn war. Das hinderte ihn allerdings offenbar nicht daran, es trotzdem zu sagen; das schlechte Gewissen, das Schuldgefühl waren einfach zu übermächtig. Ja… das ist es. Ich hab dich im Stich gelassen… Shinichi schaute ihn abwartend an, spürte, dass da mehr war, dass hinter diesen Worten mehr steckte, als nur die Entschuldigung oder die Sorge eines Vaters. Er studierte genau die Mimik seines Gegenübers, aber tat sich schwer, den Grund für dieses Geständnis zu finden. Sicher aber war… das Schuldgefühl, das er auch offen zugab, plagte ihn tatsächlich. Es war echt. „Warum?“ Das Wort kam schneller über seine Lippen, als er gedacht hatte. Yusaku schaute ihn überrascht an, und fand ihn. Den Ausdruck in Shinichis Augen, wenn er etwas auf der Spur war. Oder jemandem. "Warum denkst du das?" Aber so leicht wird das diesmal nicht werden, mein lieber Sohn. Sag mir, was soll ich dir sagen… Verdammt, soll ich dir sagen, dass ich tatsächlich schuld bin, dass du nun… nicht mehr weißt, was passiert ist? Dass du nichts mehr über dein Leben weißt, über dich? Soll ich dir sagen, dass du wegen mir vorgestern Nacht fast gestorben wärst… dass du wegen mir letzte Woche durch die Hölle gegangen bist…? Dass ich dir das eingebrockt habe? Willst du das…? Hilft es dir? Langsam seufzte er, schaute ihn an. Nein, das nicht. Nicht vor Yukiko, zumindest… Allerdings wusste er nicht, wie lange er Shinichi die Geschichte verschweigen können würde… wenn er nicht bald von selbst sein Gedächtnis wieder fand. Irgendwie musste er dafür sorgen, dass Shinichi seine Erinnerungen wiederbekam. Und zwar schleunigst. Das hier war kein Zustand, in dem er sein sollte, das hatte er endgültig begriffen. Shinichi entging das kurze Aufflackern von Schrecken und Unsicherheit auf dem Gesicht seines Vaters nicht. Verwirrung machte sich kurz in ihm breit, als er sich fragte, wie er das nun zu deuten hatte. Klar, er war selbst auch ein Stück weit betroffen, über das, was sein Sohn erlebt hatte. Der Gedanke war naheliegend, schließlich war er ja sein Vater. Aber reichte das aus, um sich derart Vorwürfe zu machen? Oder wegen einer so simplen Frage zu erschrecken? Er unterdrückte ein Aufseufzen, blickte seinem Vater stattdessen forschend ins Gesicht. Irgendwie hatte er nicht das Gefühl, dass ihm diese Frage heute beantwortet werden würde. Was es auch war, er würde sich gedulden müssen, um den Grund zu erfahren, warum sein Vater sich so schuldig fühlte. Shinichi hatte keine Ahnung, wie sehr er wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Stattdessen zog er nur die Augenbrauen hoch, als er sprach, klang seine Stimme zwar etwas unwirsch, aber er versuchte, nicht unfreundlich zu klingen. „Ich hab mittlerweile einiges gehört und hab trotzdem noch leidlich alle Tassen im Schrank, ich ertrage es, wenn man mir unangenehme Wahrheiten erzählt. Aber wenn ihr wollt, beschränken wir uns gern auf den Teil… den… privaten Familienteil… oder so. Aber bitte redet doch jetzt endlich mal mit mir, wenn ihr mir helfen wollt…! Und entschuldigt euch nicht ständig... das hilft mir leider nicht viel weiter.“ Er kratzte sich am Hinterkopf. „Ich meine, darüber weiß ich wohl noch weniger als über die Geschehnisse der letzten Woche, und darüber wird mir auch keiner so gut berichten können wie ihr, also… reden wir vielleicht einfach über… uns?“ Yukiko lächelte tapfer. „Natürlich.“ Yusaku nickte langsam, holte tief Luft, atmete durch, straffte die Schultern. „Nun, die Eckdaten wirst du ja kennen, mittlerweile, von Hiroshi… ich bin Schriftsteller, deine Mutter war Schauspielerin. Wir haben zusammen bis zu deinem dreizehnten Lebensjahr in unseren Haus in Beika gewohnt… dann wollten wir beide, Yukiko und ich unbedingt in die Staaten. Du hast dich geweigert, und wir… verstanden, dass du hier besser aufgehoben bist, wir wollten dich nicht zu etwas zwingen, das du nicht wolltest. Du wolltest bei deinen Freunden bleiben, die Schule hier machen, wir dachten… du packst das, du warst schon immer so selbstständig, du brauchtest keine Hilfe. Und außerdem war Hiroshi ja da…“ Yusaku schluckte, warf seiner Frau einen kurzen Blick zu. „Kurz gefasst, wir haben dich allein gelassen. So gesehen… waren wir wohl nicht die mustergültigsten Eltern. Du warst einfach unglaublich selbstständig, du passtest auf dich auf, du brauchtest uns nicht, und wir… wir ergriffen die Chance. Wir waren beide noch so jung, als du auf die Welt kamst, ich schätze, ich wollte die Welt sehen, meine Chancen im Ausland ergreifen. Wir waren schon immer reiselustig, eigentlich... dachten wir auch, du kämst mit. Aber du wolltest nicht. Deine Argumentation war sicher schlüssig, du wolltest die Schule nicht wechseln, du hattest Freunde hier, das war dein Zuhause.“ Er seufzte, strich sich über die Stirn, die er in tiefe Falten gelegt hatte. „Ich kann mir heute nicht erklären, warum mir das so wichtig war, die Reise in die Staaten, das Leben in Los Angeles. Wichtiger als du.“ Shinichi sagte nichts, schaute ihm abwartend ins Gesicht, kam aber nicht umhin, Erstaunen darüber zu empfinden, was für eine Antwort eine in seinen Ohren harmlose Bitte zu Tage brachte. Er hatte nur um Information gebeten, und nun standen hier vor ihm zwei praktisch Fremde und leisteten Abbitte. Andererseits hätte er es mittlerweile wohl vorhersehen können. „Natürlich haben wir uns ab und an blicken lassen bei dir, und wir pflegen auch ein gutes Verhältnis, denke ich. Keine großen Dramen, keine nennenswerten Streitereien. Und eigentlich solltest du auch wissen, dass du mit jedem Mist, den du baust, zu uns kommen kannst. Aber…“ Das Gespräch bewegte sich rasant in eine andere Richtung als geplant. Yusaku geriet ins Schwitzen, bei dem Gedanken, in welches Fährwasser sie gleich kommen würden; welche Schlüsse würde sein amnestischer Sohn daraus ziehen, dass sie ihn allein gelassen hatten? Nach den letzten Tagen…? Yukiko bewegte sich ein wenig, strich sich eine Locke hinter ihr Ohr. „... das hast du nicht. Du kamst nicht zu uns." Sie schluckte schwer. "Wir erfuhren über alles, was du aushecktest, in jede Schwierigkeit, in die du während der letzten Jahre gerietest, als letzte, oft, als die Gefahr schon vorbei war. Du hast es uns nicht gesagt. Das… das sagt eigentlich alles, nicht? Ich dachte, wir wären Eltern, die sich kümmern. Ich dachte, du würdest zu uns kommen, wenn du Schwierigkeiten hättest… aber genau das… genau das hast du nicht getan. Wir… wissen nicht warum. Eigentlich... muss ich gestehen, seit den letzten Ereignissen stelle ich mir diese Frage immer wieder, aber ich finde die Antwort darauf nicht.“ Ihre Unterlippe bebte, aber sie riss sich zusammen. Shinichi merkte, wie sich in seinem Nacken die Haare aufstellten. „Nun, ich momentan auch nicht… leider.“ Das war allerdings seltsam, da stimmte er mit ihr überein. Was für eine Beziehung verband sie drei, wenn sie ihn einfach zurückließen, und er ihnen so wichtige Sachen offenbar nicht sagte? Es hatte den Anschein, als hätte er schon öfter mit gefährlichen Situationen zu kämpfen gehabt, warum... hatte er das seinen Eltern nicht gesagt? Egal ob nun Conan existierte, oder nicht. Die Organisation war real, soviel stand fest, und offensichtlich hatte er seinen Eltern alles darüber verschwiegen, bis es nicht mehr ging. Warum? „Ich denke, wir waren keine große Hilfe als Eltern. Denn auch diesmal… erfuhren wir wieder als letzte, was eigentlich passiert war. Dass du weg warst… dass man dich entführt hatte. Die Sache mit… Armagnac.“ Ihre Stimme klang nüchtern. Sie drehte den Kopf, schaute ihn entschuldigend an, in ihren Augen lag leises Flehen. „Ich… Shinichi, ich… es…“ Shinichi schüttelte den Kopf, stumm, und seine Mutter brach ab. „Was geschah dann?“, fragte er nur kurz, mit leiser Stimme, kam nicht umhin, sich immer mehr zu wundern, was er für ein schräges Verhältnis zu seinen Eltern gehabt haben musste. Das leise Räuspern seines Vaters brachte ihn zurück in die Gegenwart, riss ihn aus seinen Gedanken. „Du warst in Gefangenschaft, das hat man dir vielleicht gesagt. Wir saßen zu Hause und haben… gehofft, dass man dich findet, mehr konnten wir nicht tun, und selbst das… Shinichi… versuch, dich doch mal zu erinnern… was ist passiert, letzte Woche? Was ist auf der Flucht…“ Er wusste, er wagte sich weit vor. Er wusste, er konnte sein Leben ruinieren, jetzt gleich, vor Yukiko und in diesem Zimmer, wenn Shinichi sich erinnerte… und zu reden anfing. Aber alles war besser als das. Alles war besser als einen Sohn zu haben, der nichts mehr über sich wusste. Der für sich selbst nicht existierte. Dessen Leben verschwunden war und ihn allein zurückgelassen hatte. Shinichi zog die Augenbrauen etwas zusammen. „Was meinen Sie eigentlich, was ich die ganze Zeit tue…? Ich denke an nichts anderes mehr…“ Yusaku schaute ihn an, erkannte die Erschöpfung, die wachsendende Frustration in seinen Augen. Langsam schüttelte er den Kopf. „Ich weiß doch.“, er seufzte. „Und bitte...“, fügte er an, „Sag nicht Sie zu mir.“ Shinichi presste die Lippen aufeinander, schaute seinem Vater ins Gesicht. „Ich versuch es, seit ich weiß, was los war, mehr denn je, aber - ich kann mich an nichts erinnern… zumindest jetzt nicht.“ „Du musst verstehen, ich halte es einfach für enorm wichtig, dass du dich schnell erinnerst… weißt du?“ Der Schriftsteller schluckte, strich sich über die Stirn. „Weiß ich doch auch… diese Ai war ziemlich deutlich, als sie die Organisation beschrieben hat. Und der Professor hat seinen Bericht über diese Woche auch nicht wirklich geschönt.“ „Dann weißt du, dass es wichtig ist.“ Der junge Detektiv nickte langsam. „Sicher. Aber ich kann nicht, jetzt. Ich würde doch auch gern wissen, was war -… Ich habs versucht, ich meine, ich stelle Fragen, ich versuche, zu rekonstruieren was gewesen ist, so ist es ja nicht… Ich liege stundenlang wach und denke nach, aber da ist nichts- es ist… einfach nichts mehr da. Ich weiß doch, dass ich ein Leben hatte, ich kann doch sehen, was passiert ist, aber ich kann mich einfach nicht daran erinnern…“ Shinichi hielt inne, wandte den Blick ruckartig ab, biss sich auf die Lippen. Er versuchte sich also zu sammeln, holte erst einmal Luft, atmete tief durch, bevor er fortfuhr. „Ich kann es nicht verstehen, ich weiß doch, dass ich einen Namen, eine Identität hatte, ich weiß doch, dass ich wer gewesen bin… aber in meinem Kopf ist nichts! Nicht ein Bild, nicht ein Wort, nicht ein… Gefühl. Da ist… nichts. Ich komm nicht ran.“ Immer mehr Verzweiflung stieg in ihm hoch, man sah es ihm an. Er seufzte, massierte sich die Schläfen, als ein leichtes Pochen in seinem Kopf eingesetzt hatte. „Oder will ich mich nicht erinnern? Vielleicht will ich auch gar nicht, vielleicht hält mich mein Unterbewusstsein davon ab, sabotiert mich, ich weiß es nicht … Vielleicht wars einfach zu viel, diesmal, ich meine, wenn ich mir mich so ansehe, wenn ich so darüber nachdenke, was man mir gesagt hat, über meinen Aufenthalt in dieser Organisation, und mein Leben davor, als… als…“ Er stöhnte auf, hielt sich den Kopf, presste seine Handballen gegen seine Schläfen, kniff die Augen zu. „Sehr erinnernswert scheint mir das nicht, ich, meine…“ Ein bitteres Lächeln hatte auf seinen Lippen Platz genommen, als er seinen Blick auf seine Hände heftete, die auf seiner Bettdecke lagen. „Natürlich weiß ich, dass das keine Lösung ist, es wär eher unglaublich dumm. Ich kann ja nicht weglaufen, ich sollte mich wirklich erinnern, bevor meine Erinnerungen mich einholen, und vollenden, was sie beim ersten, zweiten oder dritten Mal nicht geschafft haben.“ Seine Stimme troff vor Zynismus, und fasst schaffte er es, seine Frustration und seine Angst vor dem wenn nicht zu überdecken damit. Yukiko hob die Hand, drückte Shinichis Schulter, biss sich auf die Lippen. Ihre Blicke schweiften unbeständig zwischen Vater und Sohn hin und her. Yusaku starrte ihn nur an, sein Gesicht zu einer Maske erstarrt. Er sah immer noch so schrecklich schuldig aus. Ja… er sah schuldig aus. Yukiko wusste, dass er sich seit Tagen vorwarf, dass er besser aufpassen hätte müssen, aber er… hatte doch nichts tun können! Hätte doch auch nichts tun können… Das dachte sie zumindest. „Yusaku?“, murmelte sie dann leise. Das Verhalten ihres Mannes gab ihr Rätsel auf. Er spürte diese Ohnmacht in sich, ein selten gekanntes Gefühl für jemanden, dessen Leben eigentlich immer nach Plan lief, und das er jede Sekunde bisher perfekt unter Kontrolle gehabt hatte; und doch merkte er gerade jetzt, dass in seinem Leben eigentlich schon lang nicht mehr er selbst alles unter Kontrolle gehabt hatte. Aber das Leben seines Sohns hatte in seinen Händen gelegen, und er konnte nicht behaupten, es gut verwaltet zu haben. Er hatte in den letzten Tagen Shinichis Leben so gründlich ruiniert, wie es wohl kein anderer je gekonnt hätte, nicht einmal er selber. Er hatte versucht, ihn zu jemandem zu machen, der er nie war, und auch nie hätte sein können, und das nur, weil er ihm helfen hatte wollen. Er hatte falsch geholfen. Anstatt, dass er sich selber gegen die Organisation gestellt hätte… versucht hätte, reinen Tisch zu machen mit Yukiko… und dann zur Polizei, zum FBI zu gehen, und endlich diesen Kasten in die Luft gejagt hätte, der ihm sein Leben zerstörte, langsam, aber beständig, seit er zwanzig war… hatte er den Schwanz eingekniffen, war feige gewesen und hatte versucht, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen, um seinem Sohn das Leben zu retten… und damit seinen Sohn gegen den größtmöglichen Widerstand ankämpfen lassen, den es für ihn gab - gegen sich selbst. Er hatte den Kampf nicht kämpfen wollen. Shinichi hatte nie jemand anders sein wollen als er selbst, und er zahlte jetzt den Preis dafür… er hatte sich selbst verloren. Es wurde Zeit, dass er endlich was richtig machte. Er musste Shinichi in Sicherheit bringen. Man wusste bestimmt schon, dass er noch am Leben war, und man würde alles dran setzen, um das zu ändern. Wenn sie nicht schon unterwegs waren. Er ahnte nicht, wie Recht er hatte. Yusaku schluckte hart, fuhr sich dann langsam mit den Fingern durch die Haare. Dann atmete er tief durch, schaute Shinichi ernst an. Als er sprach, war seine Stimme gesetzt und leise. „Entschuldige.“ Er hatte seinen Sohn betrogen und verraten, und in diesem Moment tat er es wieder, und er betrog und belog zudem Yukiko- er selber hatte einen Fehler gemacht und er hörte nicht auf damit, Fehler zu machen. Aber das zuzugeben…? Er konnte es nicht. Nicht jetzt. Yukiko alles beichten, Shinichi erzählen, was vorgefallen war, was ihm passiert war, wieso und wer daran schuldig war? Nicht jetzt. Nicht, wo er in so einem Zustand steckte, nicht mehr wusste, wer er war und was Sache war, nicht, wo die Lage so brandgefährlich war. Nicht, bevor er nicht wieder die Kontrolle hatte, über diese Organisation, die er seit Jahren führte. Vorher war es zu gefährlich. Er musste sie einschätzen können, und genau das konnte er momentan nicht. Überhaupt hatte er das Gefühl… dass es zu einer Umkehr längst zu spät war. Er hätte beichten sollen, als er noch kein Blut an den Händen hatte. Als er noch nicht versucht hatte, aus seinem Sohn einen Mörder zu machen. Hier war jetzt nichts mehr auszurichten, er musste überlegen, wie er weiter vorgehen konnte. Seine Aufgabe war, sich darüber Gedanken zu machen, wie er in der Organisation weiter vorgehen konnte, wie er seinen Sohn schützen konnte... möglicherweise doch endlich das Ende dieses Syndikats einleiten konnte. Er hatte den Karren an die Wand gefahren, eigentlich gab es nur eine logische Konsequenz. Deshalb gab es für ihn hier eigentlich nur eine Wahl an diesem Punkt. Er räusperte sich, strich sich über seinen Bart. „Wir gehen jetzt besser wieder, du scheinst ja doch recht erschöpft zu sein, und das Treffen mit uns war sicher anstrengend. Morgen früh sind wir wieder hier, versprochen. Wir nehmen dir was mit aus deinem Zimmer, vielleicht hilft dir das… versuch dich auszuruhen. Schlaf gut.“ Diesmal stutzten Yukiko wie Shinichi gleichermaßen. Resignation war aus Yusakus Stimme zu hören gewesen; und resigniert sah er auch aus. Und das war es auch, was er fühlte. Resignation. Er hätte nicht ihn die Entscheidung treffen lassen dürfen, damals, als sie von Conan erfahren hatten... Shinichi hatte die richtige Entscheidung doch nicht treffen können, nicht in dem Alter, nicht mit dieser maßlosen Überzeugung von sich selbst, diesem Vertrauen in sich und seinen Fähigkeiten. Er hätte entscheiden müssen. Ja, er hatte damals zu leicht aufgegeben. Er hätte dem Ganzen einen Riegel vorschieben müssen, als noch alles kaum angefangen hatte… aber er hatte sich breitschlagen lassen… Stolz auf seinen brillanten, begabten Sohn und der eigene Hochmut, dieses grenzenlose Selbstvertrauen, das ihm weisgemacht hatte, er hätte das alles im Griff- seinen Sohn im Griff… hatten ihn die Dinge nicht klar sehen lassen. Es hatte immer funktioniert, an einen Fehler im System, an eine Ausnahme, an einen Zwischenfall… hatte er nie gedacht. Die Erkenntnis, was hier lief, und wie gefährlich das war, war ihm nach und nach gekommen, doch solange Shinichi lebte, offenbar klarkam und neben ein paar bitteren Augenblicken und miesen Tagen auch zumindest ein paar glückliche Momente hatte, hatte Yusaku geschwiegen, und ihn machen lassen. Nun erkannte er, dass das ein Fehler gewesen war; sein Fehler als Vater. Er hatte ein Spiel gespielt, dessen Risiken und Regeln er nicht genau kannte, dessen Mitspieler unberechenbar waren. Shinichi schluckte, riss ihn mit seinen nächsten Worten aus seinen Gedanken. „Da hast du wohl Recht.“ Er hatte seinen Vater während alldem beobachtet, und war zu dem Schluss gekommen, dass er wohl heute keine Antwort mehr auf seine Fragen erwarten durfte. Dann konnte er sich genauso gut selbst mit seinen Fragen auseinandersetzen. „Ich seh euch dann morgen. Ich verlass mich drauf, dass ihr auch kommt.“ Shinichi versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen, in seinen Augen ein analysierender Blick. „Gut.“ Yusaku nickte ihm kurz zu, streckte dann die Hand nach seiner Frau aus, die immer noch wie versteinert auf der Kante seines Bettes saß. „Yukiko, kommst du?“ Yukikos Unmut war ihr ins Gesicht geschrieben; sie wollte nicht schon wieder gehen, das war offensichtlich. Sie machte keine Anstalten, seiner Bitte Folge zu leisten; eher noch schien sie sich wirklich zu fragen, was hier gerade vor sich ging, ließ sich dann aber wortlos von ihrem Mann nach draußen ziehen, wo sie kurz vor der Explosion stand. „Yusaku, was sollte das?! Warum sind wir gegangen? Wir hätten bleiben sollen…“ Sie war fassungslos, entsetzt- er hörte es an ihrer Stimme, sah es ihr an. Er blieb stehen, atmete schwer, starrte blicklos auf den Boden vor seinen Füßen. „Er wollte es doch…“ „Aber erst, nachdem du es vorgeschlagen hattest! Wir hätten bleiben sollen, wir hätten…“ „Sei still, ich bitte dich!“ Yukiko stutzte, starrte ihn ungläubig an, holte dann tief Luft. „Sag mal, wie redest du mit mir? Was ist überhaupt in dich gefahren, was…“ Er starrte an die Wand neben der Tür, schüttelte den Kopf. „Hör bitte auf, jetzt. Wir wären heute ohnehin… nicht mehr weitergekommen.“ Sie starrte ihn an. „Du bist wütend, weil du zusehen musst, wie er leidet… weil du nicht helfen kannst, nicht weißt, was du tun sollst.“ „Ja.“ Auch. Mehr sagte er nicht. „Aber Yusaku… du bist sein Vater. Wenn ihm einer helfen kann, dann doch du; oder wir... Yusaku…“ Er warf ihr einen langen Blick zu, seufzte schwer; dann drehte er sich um und ging. Sie folgte ihm, schweigend. Kapitel 26: Kapitel 8: Eltern und ihre Kinder II ------------------------------------------------ Mesdames, Messieurs, voilà! Das nächste Kapitel dieser immer länger werdenden Geschichte. An dieser Stelle möchte ich mich aber vor allem mal bei allen Lesern und vor allem den tapferen Kommentarschreibern bedanken- ehrlich, es ehrt und freut mich sehr, dass ihr mir über diesen langen Zeitraum treu geblieben seid, und ich hoffe, es lohnt sich auch weiterhin für euch! Ich wünsch euch viel Spaß beim Lesen und verbleibe mit dem Hinweis, dass es das nächste Kap wohl erst in zwei, zweieinhalb Wochen geben wird (ihr wisst ja, Prüfungen, ne?), eure Leira :) _____________________________________________________________________________ Kapitel 8: Eltern und ihre Kinder II Noch ein Vater musste sich an diesem Tag mit seinem Kind auf eher unangenehme Weise auseinandersetzen, wenn auch ungleich anders, als Yusaku Kudô – und zwar Kogorô Môri. Der schlafende Meisterdetektiv, ein Titel, der in seinen Ohren mittlerweile vor Ironie nur so troff, wartete schon seit ein paar Minuten wie auf glühenden Kohlen sitzend auf die Ankunft seiner Tochter Ran. Er hatte sich beeilt, um noch vor ihr hier zu sein, um den Schein zu wahren, dass nichts Schlimmes passiert war, dass sie im Krankenhaus nicht gebraucht wurde… und um ihr die denkbar unangenehmste Tatsache über ihren Freund darzulegen, nämlich die Sache mit seinem Alter Ego Conan - und das wollte was heißen, neben der Konkurrenz an schlechten Nachrichten und Wahrheiten über Shinichi Kudô in den letzten Tagen. Die große Lüge in diesem Gefüge an Lügen und Ausflüchten, das Fundament dieses Hauses, die Basis dieses Systems, ohne die alles zusammengebrochen wäre. Conan. Und dieser Punkt tat besonders weh. Nun war sie seit ein paar Minuten hier, seine Ran, sein Mausebein, und schaute ihn erwartungsvoll an, in ihrem jungen, sehr mädchenhaften Gesicht eine Mischung aus Sorge und Anspannung. Kaum verwunderlich. Kogorô sah die Zeichen in ihrem Gesicht, konnte sich einigermaßen lebhaft vorstellen, wie die letzten Tage, besonders die letzten Stunden, für sie gewesen sein mussten. Für seine Tochter, Ran, dieses zarte, mitfühlende Wesen… die für andere immer mindestens so litt, wie sie selber. Schon am Schicksal Fremder nahm sie oft mehr Anteil, als gut für sie war, und bei weitem mehr, als nötig; das, was sie in diesen Stunden aber für Shinichi empfand, die Art, das Ausmaß, in dem sie sein Leid teilte, schienen Kogorô schier ungeheuerlich. Jetzt saß er also in einem Sessel seiner Tochter gegenüber, die auf dem Sofa Platz genommen hatte - und das eigentlich so bequeme Polster des Möbels fühlte sich immer noch an wie ein rundes Duzend rotglühender Kohlen unter seinem Allerwertesten. Schweiß trat ihm langsam auf die Stirn, je länger er in Rans blasses Gesicht schaute, in ihre azurblauen Augen, die Eris auf so frappierende Weise ähnelten, und in ihnen die Frage las, die sie beschäftigte, seit er sie aufs Sofa komplimentiert hatte. Was geht hier vor? Langsam wischte sich der Detektiv eine Schweißperle von der Schläfe. Er kam nicht umhin, sich einzugestehen, dass er außerordentlich erleichtert gewesen war, als er die Tür aufgemacht hatte, und seine Tochter in seine Wohnung hatten ziehen können. Ihm fiel mehr als nur ein Stein vom Herzen - ein Fels, ein Steinschlag, eine Gerölllawine… Er war sich der Albernheit der Metaphern, die durch seinen Kopf geisterten, bewusst, aber es gab… es gab keinen Ausdruck, der das Ausmaß dieses Gefühls erfassen konnte, als er die Tür zugemacht hatte, die Außenwelt, die Gefahren ausgesperrt hatte und Ran in die Arme nahm, ihren schmalen Körper an sich drückte, und merkte, wie sehr Vater er doch war. Wie unglaublich er an seiner Tochter hing. Die Agents hatten sich schnell verabschiedet, er wusste, was ihre Aufgabe für den heutigen Abend war; aber er hatte sich gehütet, etwas zu sagen, das Ran hätte aufhorchen lassen können. Sie brauchte Ruhe. Eigentlich. Und sie sollte sich etwas erholen können, bevor sie die Wahrheit erfuhr, und bevor… sie ihm gegenübertrat. Ein Blick in ihr Gesicht hatte ihm gezeigt, wie sehr es sie mitnahm, und wie weit sie schon wieder in die Vergangenheit eingetaucht war, in die Zeit… als ihr Gedächtnis verloren war. Allerdings schien sie anderer Meinung zu sein, was die Sache mit dem sich Ausruhen und Erholen betraf, das hatte sie ihm recht deutlich gezeigt. Ja, Ran war wieder zuhause. Jemand anderes war das nicht… jemand, dessen Anwesenheit so selbstverständlich geworden war, dass selbst ihm das Haus ohne ihn leer vorkam; und das, obwohl er die Wahrheit kannte. Ran kannte sie nicht. Noch nicht. Und dementsprechend hektisch war sie, zehn Minuten nach ihrer Ankunft, von einem Zimmer ins nächste gelaufen, kaum dass sie ihren Koffer abgestellt hatte und in ihre flauschigen Hauspantoffeln geschlüpft war. „Wo ist Conan? Miss Starling…“, hatte sie begonnen, als Kogorô sie schließlich vor seinem Schlafzimmer abgefangen hatte, nachdem sie schon in der Küche und im Wohnzimmer nach ihrem Mitbewohner gesucht hatte. Ihre Blicke waren suchend an seiner Schulter vorbei in sein Zimmer gehuscht, bevor er die Tür zugemacht und langsam den Kopf geschüttelt hatte. Vorsichtig hatte er sie mit sich gezogen, zurück ins Wohnzimmer geführt, wo er sie auf das Sofa drückte, war nicht auf ihre Fragen eingegangen und auch nicht auf ihre verwirrten Blicke. Es war wohl tatsächlich nicht so weit her mit dem Ausruhen... mit seinen Plänen, sie sich zuerst etwas erholen zu lassen, bevor er ihr die zweite oder dritte Hiobsbotschaft innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden erzählen musste. Offenbar sollte es gleich geschehen. Ein Blick in Rans fragendes und zugleich Antwort forderndes Gesicht ließ keinen anderen Schluss zu. Kogorô hatte er geseufzt, war eine halbe Minute hinter dem Sofa auf- und abgetigert, auf der Suche nach Worten, um ihr den Sachverhalt zu erklären, hatte sich durch die Haare gefahren mit den Fingern, mehrmals, als könne er dadurch seine Denkprozesse ankurbeln, und sich über seinen Bart gestrichten, eine Geste der Hilflosigkeit, der Ratlosigkeit, die jeder zu deuten wusste, der den Detektiven besser kannte; so auch Ran. Und entsprechend war ihre Unruhe gewachsen. Dann hatte er sich ihr gegenüber in die Sofakissen sinken lassen, die sich immer noch anfühlten wie kleine, runde, harte, sehr heiße Kohlebriketts. Es wurde nicht besser, egal, wie viel Zeit verging. Was er ihr jetzt zu sagen hatte, würde kein Spaziergang werden, für sie nicht, und für ihn nicht. Langsam hob er den Kopf, schaute sie aus müden Augen an. Ran starrte ihn mit kaum verhohlener Ungeduld an, in ihren blauen Augen immer noch dieser Ausdruck von Sorge und auch Ungnädigkeit – denn nur wegen einem war sie hier, wegen Conan; hätte man ihr nicht gesagt, der Junge brauche sie, hätte man sie nicht so sehr beunruhigt, indem man ihr nur so vage Antworten gegeben hatte, wäre sie längst bei ihm. Bei Shinichi. Der Gedanke piekte Kogorô wie eine kleine Stecknadel an eine unangenehme Stelle, er merkte doch, wie sein Ego etwas litt, wie seine väterliche Seite nun doch wieder etwas Groll gegen diesen Kerl hegte, der in Rans Leben, egal was er verbockte, einsam und allein die erste Geige spielte. Es war klar, wer momentan bei Ran Priorität hatte, und irgendwie schmerzte das doch. Er war nicht mehr der einzige Mann im Leben seines kleinen Mädchens, und das war hart für ihn. Härter, als er gedacht hatte, wenn er ehrlich zu sich war. Er war auf die Ersatzbank gesetzt worden, wenn auch wohl nicht absehbar sein würde, ob Shinichi den Posten als number one noch bekleiden würde, nach der Geschichte, die er, Kogorô, seiner Tochter nun zu erzählen hatte. Er zog die Augenbrauen hoch, merkte, wie er ins Grübeln gekommen war, schreckte erst wieder auf, als Ran ihn mit leicht genervter Stimme in die Gegenwart zurückriss. „Paps, wo ist nun Conan?“ Sie hatte ihre Arme vor ihrer Brust verschränkt, saß angespannt auf der Kante des Sofas, versuchte souverän zu wirken, und wirkte doch einfach nur kribbelig und besorgt, egal, wie sehr sie sich zu beherrschen versuchte. Ihre Nervosität und auch ihr Unmut waren merklich gestiegen; zuerst hatte sie sich breitschlagen lassen, nicht zuerst zu Shinichi, sondern zu Conan zu fahren, und nun war Conan offensichtlich nicht hier? Was ist hier los? Hört denn dieses Spielchen mit mir nie auf… sagt mir doch einfach mal endlich mal die Wahrheit, bitte…! Kogorô Môri seufzte matt, seine Augen wichen ihrem Blick auf, stierten blicklos auf einen Quadratzentimeter grauen Teppichs, der den Boden bedeckte. Krümel des letzten Abendessens hatten sich unter dem Tisch in den langen Haaren verfangen; ein Zeichen der Abwesenheit Rans. Ein Zeichen des Chaos‘ der letzten Tage. „Conan…“, murmelte er dann langsam. „Weißt du, Conan ist nicht hier.“ „Paps?“, hörte er sie fragend murmeln. Ihre Unruhe wuchs noch mehr, soweit das noch möglich war, das spürte er. „Das kann doch jetzt nicht wahr sein, ich bin nur hier wegen ihm, sonst wäre ich doch… ich wollte doch ins Krankenhaus.“ Ihre Stimme klang nicht ganz so scharf, wie er erwartet hatte, viel eher verwirrt. „Ist etwa Conan auch im Krankenhaus, jetzt? Was ist denn nun mit ihm…?“ Kogorô blickte auf, sah die Erschöpfung in Rans Augen, die Sehnsucht danach, endlich zur Ruhe zu kommen, und gleichzeitig das Wissen, dass das sobald nicht der Fall sein würde; nicht, solange es ihm nicht besser ging. Nicht, so lange es Shinichi nicht gut ging. Er ahnte das, und deshalb konnte er nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Nein. Das konnte er nicht, das brachte er einfach nicht übers Herz. Conan Edogawa war Shinichi Kudô… Mausebein. Ihr das einfach so hinzuwerfen, das schaffte er nicht. Also versuchte er es anders. „Was… weißt du über Shinichi?“ Ran zuckte zusammen, merkte, wie ihr Schuldgefühle sie erneut zu überrennen drohten. „Dass er ein furchtbarer Dummkopf ist…“, wisperte sie leise, merkte, wie ihre Fingerspitzen kalt und taub wurden. Sie warf einen Blick darauf, unwillkürlich, bemerkte, dass sie unter ihren Fingernägeln blau angelaufen waren, fing an, ihre Finger zu kneten, gab es aber auf, als sie weitersprach, nach kurzem Zögern. „Und dass er wohl einiges ausgefressen haben muss, wovon er mir natürlich mal wieder nichts erzählt hat.“ Sie massierte sich die Schläfe, auf ihrem Gesicht spiegelte sich Unmut. „Aber es geht doch jetzt nicht um Shinichi, eigentlich. Conan…!“, begann sie erneut, wurde allerdings von ihrem Vater unterbrochen. „Sie haben dir erzählt, was letzte Woche los war, ja? Wie es ihm geht? Warum er im Krankenhaus ist?“ Kogorô schaute sie betrübt an. Es war ihr anzusehen, wie unerträglich der Gedanke für sie war, was er für sie getan hatte. Was er für sie aufgegeben hätte. Dein Leben, Shinichi. Für sie. Er starrte seine Tochter an, die ihm gegenübersaß… und lebte. Ganz und gar unversehrt war. Weil jemand gut auf sie aufgepasst hatte. Die Wut auf ihn, auf das ganze Schmierentheater, das er abgezogen hatte, zwickte zwar immer noch wie ein kleiner Stein im Schuh, verbreitete immer noch einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund… mal ganz davon abgesehen, dass es seinem Ego mächtig zu schaffen machte, nicht der Detektiv zu sein, für den ihn die Welt und er selbst sich gehalten hatten, aber… Tatsache war, niemand wusste, wie diese Geschichte ausgegangen wäre, hätte Shinichi von vorneherein anders gehandelt. Hätte er sich nicht so entschieden, wie er es getan hatte. Niemand wusste, ob diese Sache jemals anders handhabbar gewesen wäre, als er mit ihr umgegangen war und immer noch umging. Shinichi Kudô hatte ja Conan Edogawa nicht zum Spaß erschaffen, das war ihm klar geworden. Und so war er über seinen Schatten gesprungen, hatte gesehen, was hinter der ganzen Farce steckte… hatte seine eigene Wut über seine non-existente Karriere zuerst einmal zurückgestellt. Nicht vergessen, aber für den Moment hinter Wichtigeres zurückgestellt. Sie ist dir wirklich viel wert, nicht wahr? Ihm die Leviten lesen konnte er auch noch, wenn er soweit wieder fit war, um sich zu verteidigen; und das Donnerwetter würde noch kommen, das hatte sich Kogorô fest vorgenommen. Kogorô Môri wäre nicht Kogorô Môri, würde er diesen Westentaschendetektiven ungestraft davonkommen lassen. Abgesehen davon, dass er weit weg war von Westentaschenformat, gestand er sich leise seufzend ein. Shinichi Kudô war gut, in dem, was er tat, ein sehr überlegter Mensch, prinzipiell ein brillanter Denker, wenn er nicht einfach einmal in seinem Leben viel zu neugierig war, viel zu erpicht darauf, diese Welt ein bisschen gerechter zu machen, besser. Wenn nicht gerade die Pferde mit ihm durchgingen und er sich überschätzte. Aber das… das war die Jugend. Es gab Leute, die überschätzten ihre Fähigkeiten auch noch im Alter. Môri seufzte schuldbewusst, merkte, wie ihm etwas heiß wurde. So ein Fehler würde Shinichi nicht noch einmal passieren… denn Shinichi Kudô war nicht mehr der Teenager, als der er sie verlassen hatte - Conan hatte ihn erwachsen gemacht. Shinichi war heute weit davon entfernt, impulsiv zu handeln, soviel war klargeworden; alle Reaktionen innerhalb der letzten Woche, alle Entscheidungen, waren die Folge eines Ziels, das stets vor seinen Augen geschwebt hatte: die zu schützen, die er liebte. Um jeden Preis. Keinen Fehler mehr zu machen, kein weiteres Risiko einzugehen. Und dementsprechend hatte er entschieden, wenn eine Entscheidung, eine Wahl gefordert wurde. Der schlafende Meisterdetektiv hegte keinen Zweifel, dass man Ran getötet hätte, hätte er nicht eingelenkt. Wahrscheinlich würde sie nicht einmal mehr hier sitzen, hätte er vor einer Woche schlicht und ergreifend „Nein“ gesagt, und sich danach erschießen lassen. Ein Schicksal, das wohl weitaus gnädiger gewesen wäre, als das, was auf sein „Ja“ gefolgt war. Sie bedeutet dir tatsächlich so viel wie mir… Und du willst ihr nicht wehtun. Das will ich auch nicht… Und dennoch… du hast es schon getan, und du wirst es wieder tun, jetzt, auch wenn du es nicht weißt. Auch wenn du es nicht persönlich machst… Sondern ich einmal mehr als dein Werkzeug funktionieren muss. Als dein Sprachrohr. Ein bitteres Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Ja, in der Tat, Conan hatte sie immer noch fest in seiner kleinen Kinderhand. Schließlich räusperte er sich, strich sich noch einmal kurz über seinen Bart, ehe er seiner Tochter in die Augen sah, neu ansetzte. „Hör zu, Ran, das… ist jetzt ein wenig kompliziert. Das… das was mit Shinichi passiert ist, hat nämlich… auch mit Conan zu tun. Also… behalt das im Hinterkopf, ja, wenn ich dir erzähle, was mit Conan passiert ist.“ Er versuchte, ihr einen ermutigenden Blick zuzuwerfen. „Denk dran… was er getan hat, für dich, bevor du ihn verurteilst.“ Ran starrte ihn nun bass erstaunt an. „Pa-paps?“ In Gedanken fragte sich, warum er das tat, und er konnte ihr Erstaunen nur zu gut nachvollziehen. Glasklar, dass sie das verwirren musste, dass er sie um Nachsicht hinsichtlich der Verfehlungen ihres Freundes bat. Es musste sie wundern, wie es auch ihn wunderte, dass er ihn jetzt auch noch in Schutz nahm, wo er ihm vor ein paar Tagen noch reichlich egal gewesen war, ihn eher noch lieber durch die Mangel gedreht hätte, und zwar schön langsam. Klar, er wollte nicht, dass der Junge starb, aber gut, er wollte generell nicht, dass Leute starben. Er war ein guter Mensch. Ja, das war Kogorô Môri wirklich. Er verzieh. Aber als er gehört hatte, was sich dieser Kerl auf seine Kosten geleistet hatte, und in welche Gefahr er sie alle gebracht hatte durch seine verdammte Neugier, da war ihm aufgegangen, dass auch er nicht alles verzeihen wollte. Ihn konnte auch keiner dazu zwingen. Gut, es ließ ihn nicht kalt, als man ihm erzählte, dass der Junge in dieser Organisation eingestiegen war, um Rans Leben zu schützen. Das war aber auch das Mindeste, was er tun konnte, in seinen Augen. Es wäre ja noch schöner, dass Ran für seine Dummheiten zu bezahlen hatte. Und dann hatte er ihn gesehen. Im Garten seiner Eltern, in seinem Zuhause, wissend, dass er hier nicht mehr hergehörte. Er hatte gesehen, was Shinichi wurde, was er aufgab, nur um seine Tochter in Sicherheit zu wissen, denn, soviel hatte er aus seinen Augen lesen können, er ekelte sich. Shinichi hatte sich vor sich selbst geekelt, verachtet, was er war; vor Armagnac. Für das, was man aus ihm machte. Er wäre lieber gestorben, als dieses Leben zu leben, diese Dinge zu tun, aber er ertrug es, für Ran. Ein Blick in diese Augen hatte genügt. Und jetzt saß Kogorô hier, und wusste, Shinichi hatte es verdient, dass Ran ihm verzieh. Dass sie ihm eine Chance gab, so er denn sein Gedächtnis eines Tages wiederfand. Weil sie nie wieder jemanden finden würde, der sie so unbedingt liebte wie dieser Kerl. Und weil er sie brauchte. Diese Taten hatten eigentlich alle nur eins bewiesen… dass er das tat. Er brauchte sie. Man schützte nur das so unbedingt, was man selbst am meisten brauchte. Er brauchte Ran, ob es ihm klar war oder nicht, ob er wollte, oder nicht. Deshalb war ihm ihr Leben so wichtig. Kogorô räusperte sich, widerstand dem Drang, sich eine Zigarette anzuzünden, um sich zu beruhigen. „Also… zurück zu… Conan. Ich hab es auch erst vor Kurzem erfahren und es wird… ein Schlag ins Gesicht sein für dich, so wie es auch einer für mich war… ich meine, ich weiß, wie sehr du den Knirps in dein Herz geschlossen hast… und ich gebe ja zu, ich mochte ihn auch…“ Ran wurde bleich, ihre Lippen begannen zu zittern. Der Detektiv starrte sie an, merkte, dass er die falsche Richtung eingeschlagen hatte. Offenbar glaubte sie nun etwas ganz anderes. „Ähhähäää… nein, nicht doch, so hab ich das nicht gemeint!“, versuchte er unbeholfen zurückzurudern, lachte humorlos. „Er ist nicht tot oder so, Mausebein…“ Das Mädchen schluckte, atmete langsam aus, merkte doch, wie Erleichterung über sie hinwegschwappte wie eine warme Welle; die Unruhe aber blieb. Kurz herrschte völlige Stille im kleinen Wohnzimmer der Môris; allein die Wanduhr tickte leise, aber beständig vor sich hin, zählte gewissenhaft die Sekunden. „Wo ist er dann aber?“, fragte sie leise. „Wo ist er, Paps? Ist er krank? Ist er in deinem Zimmer, dann lass mich doch zu ihm und mich um ihn kümmern …“ „Nein.“ Môri unterbrach sie. „Nein, in meinem Zimmer… ist er nicht. Und er ist auch nicht krank. Das heißt… indirekt schon.“ Er geriet ins Stottern. „Aber was…“, begann Ran, wurde aber ein weiteres Mal von ihrem Vater unterbrochen, der nun zunehmend ins Schwitzen geriet. „Er ist… er… wurde… entführt.“ Sein Puls begann zu rasen. Gut, dann würde er jetzt eben die Geschichte von vorne erzählen, so wie er sie auch erlebt hatte. „Entführt?!“ Ran wurde noch bleicher, als sie es ohnehin schon war. „Wann? Weiß die Polizei schon Bescheid? Und was hat das FBI damit zu tun und…“ „Mausebein, lass… lass mich ausreden und… unterbrich mich jetzt nicht, bitte.“ Der Detektiv schluckte, fuhr sich über die Augen. Er würde ihr das Herz brechen, gleich. Nun gut, genau genommen brach ihr jemand anderes das Herz. Viel besser machte das die Sache aber auch nicht. „Hör zu. Ja, die Polizei ist dran an der Sache. Es… verhält sich so… vor über einer Woche wurde… wurde Conan bei dem Campingausflug mit Professor Agasa entführt, von einer… Verbrecherorganisation…“ Ja, Môri, es geht doch. Immer weiter so, Kogorô, alter Knabe. Allerdings machte Ran ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie war aufgesprungen, starrte ihren Vater wütend an. Sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt, unwillkürlich. „VOR ÜBER EINER WOCHE?!?!“ Ihre Brust hob und senkte sich heftig, Zorn funkelte in ihren Augen. „Wann wolltet ihr mir denn Bescheid sagen!? Wieso habt ihr mich nicht informiert, ich wäre doch unverzüglich heimgekommen, ich…“ „Genau deswegen.“, murmelte der Detektiv niedergeschlagen. „Weil du unverzüglich heimgekommen wärst, und genau das wollten wir nicht. Wir wollten, dass du auf Izu bleibst. Weil du hier für dich und für ihn nur eine Gefahr gewesen wärst. Und jetzt setz dich bitte wieder, Ran…“ Kogorô war ebenfalls aufgestanden, schaute seine Tochter ernst an. „Das wichtigste kommt erst noch. Nämlich wo Conan jetzt ist, und wie man ihn gefunden hat.“ Ran schaute ihn verwirrt an, ließ sich aber wieder auf das Sofa sinken, gehorsam. Kogorô, der bis jetzt ihr gegenüber gesessen hatte, nahm nun neben seiner Tochter Platz. Unbeholfen nahm er ihre Hand in seine, realisierte, dass sie stutzte. Nur zu verständlich, schließlich… hatten sie so ein Gespräch noch nie geführt. Hatte er noch nie in dieser Weise ihre Hand gehalten. „Mausebein… es hat sich herausgestellt, dass… Conan mit dieser Organisation… schon länger zu tun hatte, weißt du. Seit… ein paar Jahren. Seit… seit Januar 1994, um genau zu sein.“ Er flüsterte die Worte fast, wartete ab. Wie er erwartet hatte, brachte das Datum in ihr eine Glocke zum Klingeln. „Da… haben wir ihn kennen gelernt. Und… Shinichi verschwand um die Zeit. Sein großer Fall, der begann da wohl so um den Dreh…“ Sie starrte nachdenklich in die Luft vor sich, biss sich geistesabwesend auf die Unterlippe. Er ahnte, dass es nicht mehr viel brauchte, bis sie eins und eins würde zusammenzählen können. Und er sollte Recht behalten. „Nun ist es so… diese Organisation mit der sich Conan angelegt hat, ist auch die gleiche, die Shinichi zu seinem… Zustand… verholfen hat.“ Er schluckte. Ran verkrampfte sich unwillkürlich, ihre Augen schienen unruhig hin und her zu huschen, fixierten keinen Punkt für lange Zeit, auf der Suche nach der Antwort, nach der Wahrheit… sie war ihr so nah. Sie konnte sie fast sehen. Sie wusste es, sie war keinen Fingerbreit mehr entfernt davon, und sie ahnte, dass sie sie tief in ihr drin schon lange gewusst hatte. Die Wahrheit… „Sie hatten beide Probleme mit der gleichen Organisation.“ Sie murmelte diese Feststellung, ihr Blick wieder ruhig, wandte sich ihrem Vater zu, um ihm eine Frage zu stellen, aber verstummte, als sie den bedrückten Gesichtsausdruck auf seinen Zügen bemerkte. „Ran, Conan… verschwand in dem Wald, in dem man Shinichi vor ein paar Tagen fand…“ Mehr sagte er nicht. Mehr war wohl auch nicht mehr nötig. Er sah das Zittern, das durch ihren Körper lief, spürte, wie sich ihre schlanken Finger um seine Hand krampften, als die Erkenntnis sie traf. Insgeheim fragte er sich, wie oft ihre Gedanken diesen Weg wohl schon gegangen waren, dass sie den Weg nun fast von allein fanden. Bis heute hatte jedes Mal jemand sie umgeleitet, von diesem Weg abgebracht oder zur Umkehr gezwungen… Diesmal fanden sie ins Ziel. Er wusste, wie niederschmetternd das war für sie… zu erfahren, dass die beiden Menschen, denen sie, neben ihm selber, wohl am meisten vertraut hatte, sie so hintergangen hatten. Shinichi Kudô und Conan Edogawa. Endlich ergab das alles einen Sinn. Endlich stimmte alles, sortierte sich von alleine ein. Ihr Blick wurde plötzlich seltsam starr, fixierte einen Punkt auf der gegenüberliegenden Wand, als vor ihrem inneren Auge eine wahre Flut an Bildern auf sie zu rollte, sich in ihrem Kopf ein Film abzuspielen begann, als endlich alle Szenen in die richtige Reihung fielen. Der Film über die Geschichte von Conan Edogawa… dargestellt von Shinichi Kudô. Conans Existenz war eine glatte Lüge gewesen, und der Mensch, der diese Lüge kreiert und verbreitet hatte, war niemand geringerer gewesen, als ihre heimliche Liebe, der Junge, den sie so anhimmelte, der ihr so viel bedeutete, an den sie glaubte. Egal welche Gründe er gehabt hatte, und egal, wie viel sie davon schon wusste, das jetzt zu erfahren, musste sie niederschmettern. Die Tatsache allein, dass er in der Lage war, sie so anzulügen, reichte völlig. Ran kniff die Augen zusammen, als sie merkte, wie sich in ihnen die Tränen sammelten, sie zu brennen anfingen. Gedanken schossen ihr durch den Kopf, Bilder, von Conan und Shinichi. Erinnerungsfetzen an all die Momente, wo sie so nah dran gewesen war… an denen sie ihm unterstellt hatte, Conan und Shinichi seien ein und dieselbe Person. All die Lügen, die er ihr immer aufgetischt hatte, um seine wahre Identität zu verheimlichen, die sie dazu gebracht hatten, an sich selbst zu zweifeln, nie jedoch an ihm. An einem von ihnen beiden. Es war ihr fast, als könne sie sie noch einmal hören, all die Dinge, die sie ihm anvertraut hatte, im festen Glauben, er wäre jemand anderes. In ihren Gedanken kreiste nur noch ein Satz, und sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Conan ist Shinichi. Sie hob die Hand presste sie auf ihre Lippen, wie als ob sie mit Gewalt ihr Aufschluchzen unterdrücken wollte, einsperren, irgendwie. Es gelang ihr nicht. Ihr ganzer Körper fing wieder an zu zittern, als es aus ihr herausbrach; die Wut, die Enttäuschung… und diese unbändige Angst. Sie war wütend auf ihn, wegen seiner Lügen, wegen seiner Täuschungen, und wütend, weil er sie so auflaufen hatte lassen, er hatte sie stets erzählen lassen… Dinge, die wie er gewusst hatte, eigentlich nicht für seine Ohren bestimmt gewesen waren. Und sie war enttäuscht, dass ausgerechnet er, für dessen Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit sie jede Lanze gebrochen hätte, es fertig gebracht hatte, sie so zu hintergehen. Ja… sie war maßlos enttäuscht. Aber am meisten hatte sie Angst, immer noch, weil ihr jetzt erst klar wurde, welche Ausmaße dieser Fall gehabt hatte. Was er für ein Leben geführt hatte; stets auf der Suche nach neuen Hinweisen von ihnen, um sein altes Ich wieder zu bekommen, um ihnen zuvor zu kommen, wenn sie etwas planten, um sie zu schützen, um aufzupassen, dass sie in Sicherheit waren. Er hatte wahrlich viel zu tun gehabt, die Verantwortung nicht nur für sein Leben getragen - sondern für alle, die in seiner Nähe waren. Sie wusste, was er durchgemacht hatte in der letzten Woche, als sich alles so zugespitzt hatte, wusste, sie waren immer noch her, hinter ihm. Aber das Allerbeängstigendste war – er wusste es nicht mehr. Er wusste weder wer er war, noch wer sie war, noch wofür er all das getan hatte. Wusste ja nicht einmal, was er getan hatte. Wer hinter ihm her war. Er war hilfloser, als Conan es je gewesen war, das war ihr klar. All diese Gefühle suchten ein Ventil, und die Anspannung der letzten Tage tat ein Übriges. Kogorô schaute sie traurig an, als er sah, wie seine sonst so starke Tochter den Kampf um ihre Selbstbeherrschung verlor, ihren Gefühlen nicht mehr standhielt und in Tränen ausbrach, haltlos zusammensackte. Er fing sie auf, zog sie an sich, streichelte ihr über den Rücken - und schwieg. Er wusste nicht, wie lange er sie im Arm gehalten hatte, bis sie sich einigermaßen wieder gefasst hatte. Er wusste auch nicht, was nun in ihr überwog, als sie aufstand, und sich unwillig die Tränen aus den Augenwinkeln wischte, sich ein Glas Wasser holte - ihre Wut, ihre Enttäuschung oder ihre Angst, ihre Sorge. Als sie wieder kam, schien sie etwas gefasster, hielt aber ihr Glas mit beiden Händen, als müsse sie sich daran festhalten, um nicht umzufallen. Ein absurder Gedanke, eigentlich, aber er schien so seltsam wahr. „Also… ist Conan nach seinem Aufenthalt in dieser… Organisation nun für immer fort und Shinichi liegt im Krankenhaus, seh ich das richtig?“, versuchte sie, zusammenzufassen, und dabei ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen. Kogorô nickte. „Ja. Mit einer Amnesie, wie du ja schon weißt.“ Sie schluckte hart, nippte an ihrem Glas. „Es war also diese Organisation, die ihn geschrumpft hat… und wieder hat wachsen lassen? Und… gefoltert und dazu gezwungen, bei ihnen… einzusteigen?“, fragte sie leise, weil sie merkte, dass ihre Stimme langsam brach; und sprach sie leise, hörte man das nicht so sehr heraus, und sie wollte jetzt nicht schon wieder schwach erscheinen. „Wie kommt das überhaupt, ich meine, welchen Sinn hat das, einen Menschen zu verjüngen und dann laufen zu lassen…?“ Kogorô seufzte. Zu früh gefreut. Der unangenehme Teil des Abends kam anscheinend doch erst noch. „Eigentlich sollte er dir das erklären. Aber da… wohl nicht absehbar ist, wann er dazu wieder in der Lage ist…“ Er massierte sich die Schläfen. Was ihm dieser Bastard heute mal wieder einbrockte… Ein unwilliges Knurren verließ seine Lippen, dann zündete er sich mit kalten Fingern eine Zigarette an. Ja, einer dieser Sargnägel war jetzt genau das richtige. „Setz dich mal wieder lieber hin, Mausebein.“, bemerkte er dann, wartete, bis Ran ihm gegenüber im Sessel versunken war und das Glas auf den Tisch gestellt hatte. Er nahm einen vorsichtigen ersten Zug, sehr darauf bedacht, dass der Rauch nicht in ihre Richtung zog. „Also, soweit ich das weiß, fing es an, als ihr zusammen auf dem… Jahrmarkt wart, diesem Vergnügungspark, wie hieß er doch gleich…“ „Tropical Land.“, murmelte Ran. „Ich wollte dahin. Unbedingt.” „Genau. Dort… wurde ja ein Verbrechen verübt, das er aufgeklärt hat… nicht wahr?“ Ran nickte bedächtig. „Genau. Der Fall mit der Perlenkette und der Klaviersaite.“ Sie schauderte kurz, konnte sich noch genau an den Abend im Park erinnern. An das Blut, an die Tränen, an diesen schaurigen Anblick… und an ihn, der auf so selbstverständliche Weise Herr der Lage gewesen war. Sie erinnerte sich an jedes Wort, das zwischen ihnen beiden gefallen war… und daran, welches Gefühl sie beschlichen hatte, als er sich von ihr verabschiedet hatte. Dann tauchte sie wieder auf, aus ihrer Gedankenwelt, als sie ihren Vater sich kurz räuspern hörte. Môri sammelte sich. „Genau. Und dann… dann… ist er wohl… sind dir zwei zwielichtige Gestalten aufgefallen…?“ Ran seufzte niedergeschlagen, ahnte, was jetzt kommen würde. „Ja. Ein großer blonder, und ein kleinerer, untersetzter Mann. Beide schwarz gekleidet, mit Hüten und Sonnenbrillen, eine sonderbare Aufmachung für einen Vergnügungspark, deshalb fielen sie mir auf. Ich denke, ihm waren sie auch nicht geheuer…“ Haben Sie ihm das angetan, waren das die Leute, die… „Was ihn nicht davon abgehalten hat, ihnen nachzulaufen.“ Er seufzte, versuchte, alles, was dieses kleine Mädchen ihm am Telefon erklärt hatte, Ai, die ihn noch schnell angerufen hatte, als sie erfahren hatte, dass er Ran aufklären musste, zu rekapitulieren. Ran starrte ihn an. „Er ist weggelaufen, ja… und das… war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hab… bis auf die paar Mal… aber wie ging denn das dann? Wenn er doch Conan war, wie konnte er dann…?“ Ran zog die Augenbrauen fragend hoch. Kogorô rieb sich die Stirn, merkte, wie die Spitze seiner Zigarette zu lang wurde und aschte sie hastig ab, ehe sie einen Brandfleck auf dem Teppich verursachenkonnte. „Eins nach dem anderen. Also, er ist diesen Leuten nach. Und wurde erwischt, von dem einen, als er dem anderen bei einem zwielichtigen Geschäft zusah. Er… sie haben ihn wohl niedergeschlagen, damit er nicht davonlaufen kann.“ Er merkte, wie es ihn schmerzte, als er seine Tochter zusammenzucken sah. Du liebst ihn wohl wirklich, Ran… trotz allem, was er dir angetan hat… „Sie… konnten ihn natürlich nicht laufen lassen. Erschießen konnten sie ihn aber auch nicht, weil ja noch zu viele Polizisten herumliefen, vom vorangegangenen Fall, Ran. Deshalb… haben sie an ihm ein… neuartiges Gift ausprobiert, die Ursache, warum er… schrumpfte. Und bevor du mich fragst, was das für ein Gift ist und woher ich das alles weiß, fragst du dieses kleine Mädchen, das beim Professor wohnt.“ „Ai?“, murmelte Ran fragend. „Ja, genau. Sie… ist nämlich wie er. Eine Geschrumpfte. Und von ihr weiß ich das alles. Sie… ist ein ehemaliges Mitglied der Organisation, sie hat das Gift entscheidend entwickelt, kennt sich damit aus... und kam daher rasch hinter sein Geheimnis.“ „A… aber…!“, begann Ran, wurde aber von ihrem Vater abgewürgt. „Nein, Ran, wir reden jetzt über Shinichi. Ai fragst du mal selber.“, er seufzte erschöpft, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, merkte, wie seine Zigarettenspitze schon wieder gefährlich lang geworden war und klopfte sie erneut in den Aschenbecher, ehe er den Glimmstängel einfach so wieder ausmachte. Ein gutes Mittel gegen Nervosität war das Ding heute auch nicht wirklich. „Nun. Also. Deine Frage, warum ein Gift, das Leute schrumpft? Ganz… ganz einfach.“ Er unterbrach sich. „Es sollte ihn nicht schrumpfen, Ran. Es war nicht dazu gedacht.“ Ein Blick in das Gesicht seiner Tochter trieb ihm das letzte bisschen Farbe aus dem Gesicht. Sie war bleich wie die Wand, und überdeutlich sah er in ihren Augen das Entsetzen, als sie sich vorstellte, was gewesen wäre… wenn. „Genau…“, sagte er leise, bestätigte ihre Ahnung, wagte fast nicht, sie anzusehen. „Es sollte ihn nie schrumpfen. Es sollte ihn umbringen. Leise, geräuschlos, sauber. Man hätte ihn erst am nächsten Morgen gefunden, und keiner hätte je herausgefunden, woran er starb, denn das Gift hätte sich sofort zersetzt. Es ist nicht nachweisbar.“ Ran, die während der Geschichte angespannt nach vorn gebeugt den Worten ihres Vaters gelauscht hatte, war nun kraftlos zurück gesunken. Ihr war kalt geworden, als ihr die Tragweite dieser Worte bewusst geworden waren. Unwillkürlich schlang sie ihre Arme um ihren Oberkörper. „Er… lebt nur noch, weil das Gift… nicht richtig gewirkt hat.“ Das war keine Frage sondern eine Feststellung. Kogorô beantwortete sie trotzdem. „Ja. Sie wussten nicht, dass er es überlebt hat, sie ließen ihn zurück, als sie es ihm verabreicht hatten, aus Angst vor der Polizei, wohl. Er… wurde Conan. Ihm… war klar, dass er einen Weg finden musste, wieder er selbst zu werden, deshalb… deshalb hatten er und der Professor die Idee, ihn hier unterzubringen. Damit er an Fälle… kommt. Sie haben uns deshalb nichts gesagt, damit wir nicht in Gefahr sind. Denn… schließlich dachte diese Organisation ja, er wäre tot. Hätte sie herausgefunden, dass er es nicht ist, hätte sie wohl jeden umgebracht, der mit ihm in Verbindung stand, und potentiell von ihr wusste. Diese… Organisation ist unheimlich groß, Ran. Je weniger Leute von ihm wussten, desto geringer war die Gefahr, dass sein Geheimnis an die Öffentlichkeit gerät und damit alle in den Fokus dieser Verbrecher bringt. Es… war ein guter Plan, bis… vor einer Woche eben… alles aufgeflogen ist. Sie haben seine Tarnung entdeckt, ihn entführt. Man hat ihm das Gegengift verbreicht, verhört und wollte ihn dann umbringen, nachdem seine…“, er lächelte bitter, „Umerziehung gescheitert ist. Ich denke… soweit bist du dann informiert.“ Kogorôs Atem hatte sich beschleunigt, in den letzten Minuten. Ran starrte ihn an, eine Träne rollte ihr über die Wange. Er wollte sie wegwischen, unterließ es aber. „Was ist mit… dem Giftmord, der Fall, als wir Heiji kennen lernten? Dem… Schulfest und… dem Fall mit dem Waldmenschen?“ „Ein temporäres Gegengift. Von Ai.“ Ran nickte gedankenverloren. Dann fuhr ihr Kopf hoch, verständnislos schaute sie ihren Vater an, der sich gerade wieder ein wenig beruhigte. Sie hatte es besser aufgenommen, als er erwartet hatte. Als sie redete, umspielte ein trauriges Lächeln ihre Lippen. „Aber eines verstehe ich noch nicht… wie konnte seine Tarnung denn auffliegen? Die war doch perfekt, eigentlich, wie du sagst… und er… verstand sich ja wirklich gut darauf, die Leute zu täuschen. Er hat doch mehr von seiner Mutter, als er zugeben würde…“ Sie versuchte sachlich, sogar etwas witzig zu klingen, und konnte doch den bitteren Unterton in ihrer Stimme nicht vertreiben. Als sie in das entsetzte Gesicht ihres Vaters blickte, stutzte sie jedoch. Ja, er sah wirklich entsetzt aus; und genau das war er auch. Warum stellte sie ihm genau diese Frage? Sie waren sich doch alle einig gewesen, Ran nie die Umstände für seine Enttarnung zu verraten. Nie. Auf keinen Fall. Und nun saß sie vor ihm, keine Stunde lang zuhause, und fragte ihn genau danach. Nein! „Mausebein, das… das ist nicht wichtig… es ist einfach passiert… ich meine… so genau weiß das wohl keiner…“ Er lachte hohl, nervös, so wie er es immer tat, wenn er verlegen war, ratlos, und das Thema wechseln wollte. Ran kannte dieses Lachen, und es bewirkte bei ihr genau das Gegenteil. Sie war alarmiert. Dass es nicht wichtig war, konnte er ihr nicht vormachen. „Paps, wie konnte seine Tarnung auffliegen?“ Sie schluckte, schaute ihren Vater starr an. Ihre Stimme hatte erstaunlich scharf geklungen, allerdings war von dieser Bestimmtheit in ihrem nächsten Satz nicht mehr das Geringste zu hören. „Jemand hat ihn verraten, nicht wahr?“, wisperte sie, merkte, wie ihre Stimme zu bröckeln anfing, räusperte sich. Ihre Hände krallten sich in den Stoff ihres Rocks, der Stoff, zum Zerreißen gespannt, knirschte leise. Ran blickte starr auf das Glas Wasser, das sie vor sich auf dem Tisch abgestellt hatte, ihre Gedanken rasten in ihrem Kopf, als sie ihre Schlussfolgerungen zog, „Anders kann es doch nicht gelaufen sein, er wird sich nicht selbst gestellt haben, damit hätte er doch nicht nur sich selbst gefährdet und welchen Nutzen hätte er davon gehabt? Er… er wurde verraten, nicht wahr?“ Kogorô starrte sie an, merkte, wie sein Puls nach oben raste. Als er nun sprach, war er nicht mehr Herr über sich. „Mausebein…“ Seine Stimme klang jämmerlich, es war unüberhörbar, wie gern er dieses Gespräch jetzt abgebrochen hätte. Ran hingegen wandte den Kopf, ihre blauen Augen suchten seinen Blick. „Er wurde verraten, nicht wahr?“, wiederholte sie leise. Ihre Stimme vibrierte, aber sie nahm es hin, sie wusste, es war nicht zu ändern, jetzt. Ihre Nerven lagen blank, die Angst, der Schock hatten sie fast überwältigt. Aber sie wollte die Wahrheit jetzt hören, endlich, die ganze Wahrheit. „Ja.“, murmelte er langsam, unfähig, etwas anderes zu sagen oder zu schweigen. „Jemand hat ihn tatsächlich verraten.“ Er schluckte, wischte sich mit seiner Hand über die Stirn, dann über die Augen, ehe er sie kraftlos in seinen Schoß sinken ließ, wandte dann mit Mühe doch den Blick ab und starrte an die gegenüberliegende Wand, wo das Regal mit seiner Yoko-Okino-Sammlung stand. Und damit lass es gut sein, Mausebein. Bitte. „Wer? Jemand, der sein Geheimnis kannte?“ Sie schluckte, schüttelte verwirrt, unwillig den Kopf, als ihr etwas anderes aufging. „Ich meine, das sind… seine Eltern, der Professor, diese Ai… so seltsam wie Heiji sich oft benommen hat, wusste er es sicher auch… aber ich kann nicht glauben, dass einer von ihnen Shinichi hinhängen würde…“ Der Detektiv schaute seine Tochter immer noch nicht an, als er sprach. „Ja, Heiji wusste es auch. Aber von ihnen war es keiner. Es war… eher… ein Unfall. Die betreffende Person wusste nicht, was sie machte, als sie es tat.“ Er wusste, er hätte sich etwas einfallen lassen müssen. Eine Ausrede. Eine Lüge. So wie Shinichi es getan hatte, die letzten Jahre, um Ran zu schützen. Er hatte gelogen, um sie zu schützen. Diese Lügen waren nicht gemacht gewesen, um jemanden zu verletzen… sondern um zu beschützen, um Leid fernzuhalten, Leid und Schmerz jeglicher Art. „Wie kann man das nicht wissen…? Ich meine… wie ist das zu verstehen?“ Sie wurde noch blasser, sofern das ging, ihre Lippen leicht violett, was ihrem Gesicht einen porzellanpuppenhaften, geisterhaften Touch verlieh und schaute leicht verständnislos ihren Vater an, der nun endlich den Kopf hob und sie anblickte. Kogorôs Gaumen war wie ausgedörrt, er schluckte, aber es gelang ihm kaum. Nun wusste er, erfuhr am eigenen Leib, wie viel Shinichi das wohl abverlangt hatte, diese Lügen, während der ganzen Zeit. Erst jetzt verstand er wirklich, was der Junge eigentlich getan hatte, als er ohne mit der Wimper zu zucken, in Perfektion und voll Überzeugungskraft dieses Theater für sie abgezogen hatte. Und er wusste, er hätte das Gleiche tun müssen, in diesem Augenblick. Er hätte lügen müssen. Wie er, für ihn. Für sie. Aber er konnte es nicht. Er sagte gar nichts, und sagte damit doch alles. „Ich…“ Das Wort hing im Raum, zitternd, verging nur langsam. „Ich wars…?“ Kogorô sah ihr Gesicht noch Stunden später deutlich vor sich, als sie verstand. Es hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt, unwiderruflich. „Mausebein…“, versuchte er hilflos, brach dann ab. Er hatte Angst, sie würde jeden Moment in Ohnmacht fallen oder in Tränen ausbrechen, eines von beiden, sah, wie ihre Lippen lautlos seinen Namen formten. Shinichi… Er konnte fast hören, wie sich ihr Puls beschleunigte, als ihr die grausame Wahrheit ins Gesicht lachte, ihr klar wurde, wer ihn verraten hatte. Dass sie es nicht besser gewusst hatte, es keine Absicht gewesen war, machte es nicht einfacher, das sah man ihr an. Ihre blauen Augen wurden groß, in ihnen ein Ausdruck, den er nie in der Intensität gesehen hatte in ihnen… und den er da auch nie hatte finden wollen. Schmerz. Schuld. Eine Mischung von beidem, und das wusste er, die sie um den Verstand bringen würde. Es war vorbei. Sie würde sich das nie vergeben. Shinichi, den sie so sehr liebte, lag im Krankenhaus, hatte die Hölle auf Erden hinter sich, und das, weil er sie liebte. Nun zu wissen, dass er im Grunde genommen für einen Fehler büßte, den sie begangen hatte, das war zu viel für sie. Auch wenn sie alle wussten, dass er sich den Ärger mit der Organisation erst eingebrockt hatte, Ran interessierte das momentan nicht. Sie dachte daran nicht. Und deshalb tat, als sie nun sprach, jedes leise Wort aus ihrem Mund in seinen Ohren unerträglich weh. Ihre Stimme zitterte, in ihr waren ihre Tränen schon zu hören. „Ich hab… ich hab ihn verraten…“ Es brach ihm das Herz, sie so zu erleben. Sie saß auf dem Sofa, ein Schatten ihrer selbst, sah ihn an mit einer Mischung aus Selbstvorwurf und Frage. Es war klar, dass sie nur noch eines wissen wollte – nämlich, wann sie den Fehler gemacht hatte, auch wenn sie es wohl schon ahnte. Er hatte Angst, sie zu zerbrechen mit jedem weiteren Wort und wusste doch, es war eigentlich zu spät, um noch irgendetwas zu ändern. Kogorô hörte sich sprechen, wie als ob ein Fremder spräche, fühlte sich wie ein stummer Beobachter der Szene, gelähmt, unfähig zu einer Reaktion. „Ein Mitglied der Organisation hat euer letztes Telefonat mitgehört.“ Kapitel 27: Kapitel 9: Versammlung ---------------------------------- Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser, die die Geduld hatten, auf die Fortsetzung dieser Geschichte zu warten - oder die hier neu gelandet sind. Wie auch immer, ich freu mich, wenn das hier noch jemand liest... Es tut mir Leid, dass es so lange dauerte (fast ein Jahr seit dem letzten Kapitel, wie ich grad beschämt feststellen musste), und ich schätze, ich habe eure Geduld auf eine harte Probe gestellt; allerdings hat sich in meinem eigenen Leben in den letzten Jahren einfach viel verändert - und zum Fanfictionschreiben braucht man Zeit. *seufz* Wie dem auch sei, es geht jetzt ohne Unterbrechung zu Ende (es sei denn, meine Festplatte kracht zusammen - ich sollte wohl doch mal ne Sicherungskopie machen) Ich darf euch vorwarnen - es kommt noch einiges an Lesestoff auf euch zu. Die Prozentangabe stimmt. Viel Vergnügen beim Lesen, ich hoffe, ihr werdet vom Rest der Geschichte nicht enttäuscht sein. Beste Grüße, eure Leira _________________________________________________________________________________ Kapitel Neun: Versammlung Jûzô Meguré stand in einem Krankenzimmer, das sie als Einsatzzentrale umfunktioniert hatten, und seufzte schwer. Soweit, so gut. Sein Blick schweifte durch die Runde, die sich in diesem Raum versammelt hatte. Es war schlicht unmöglich gewesen, leidlich unbeobachtet hier rein zu kommen. Mit Sicherheit wussten die bereits, dass sie hier waren; es lag nun an ihnen, der Organisation nicht auch noch zu verraten, hinter welchen Gesichtern und Masken sie sich versteckten, wo überall sie positioniert waren. Er bezweifelte, dass ihnen das erstens: umfassend und zweitens: lange gelang; aber es war ihnen ohnehin allen klar, dass im Laufe des Abends eine Entscheidung irgendeiner Art fallen würde. Sie hatten sie gesehen, ein paar… Mitglieder dieser Organisation. Sie waren auf einem Haus gegenüber des Krankenhauses, im Klinikum selbst wohl auch, gemischt unter die Besucher. Noch war es allerdings ruhig - sie alle warteten wohl nur auf einen. Auf den, der es wohl zu Ende bringen durfte, der den Auftrag ausführen würde. Auf Gin. Kurz zog er seinen Hut vom Kopf, strich sich mit der anderen Hand über die Haare, setzte dann seine Kopfbedeckung wieder auf. Er erkannte fast keinen seiner Mitarbeiter wieder, er musste gestehen, sie hatten alle ihre Sache gut gemacht. Im Zimmer vor ihm stand eine Schar von Ärzten, Schwestern und Patienten, bereit für den Klinikalltag – und sie alle schauten ihn erwartungsvoll an. „Meine Herren!“, begann er dann. „Und Damen.“, grinste Sato, die auf eine Ärztinnenrolle gepocht hatte, im Gegensatz zu Takagis und Chibas Vorschlag, doch die Schwesterntracht anzuprobieren. „Und Damen, natürlich, Danke, Inspektor Sato.“ „Oberärtzin Sato.“ „Natürlich.“ Nun huschte auch über Megurés sorgenvolles Gesicht ein leichtes Lächeln, das allerdings sofort wieder seine Lippen verließ. „Wir sind hier, weil wir eine Aufgabe zu erfüllen haben. Es ist davon auszugehen, dass heute ein Anschlag auf Shinichi Kudô verübt wird - der Junge wird den meisten von euch ein Begriff sein. Deshalb haben wir uns hier versammelt; in dieser Sache arbeitet die Polizei eng mit dem FBI zusammen, für alle also, die ihn noch nicht kennen…“ Meguré wandte sich kurz um, blickte James Black in die Augen, der schräg hinter ihm stand. „Dies ist Agent James Black vom Federal Bureau of Investigation. Ihr nehmt von ihm bitte genauso gewissenhaft Befehle an, wie von mir. Die Agents Akai und Starling sind gerade noch unterwegs, um Ran Mori sicher zu ihrem Vater zu bringen, Kogorô Môri, ebenfalls den meisten von euch bekannt.“ Die Menge vor ihm nickte synchron. „Gut. Nun.“ Er räusperte sich aufgeräumt, drehte sich dann um und trat zur Seite, gab den Blick auf ein Flipchart frei. „Der heutige Abend läuft folgendermaßen ab…“ Shinichi wusste nicht, wie lange er die Tür angestarrt hatte, nachdem sie hinter seinen Eltern ins Schloss gefallen war. In ihm herrschte ein Chaos, das er fast nicht ertragen konnte. Der Besuch seiner Eltern hatte in ihm mehr aufgewühlt als beruhigt und es gelang ihm nicht, auch nur einen einzigen, klaren Gedanken zu fassen. Nicht einen, so sehr er sich auch bemühte. Unwillig schloss er die Augen, massierte sich die Schläfen, versuchte durch das Ausblenden jeglichen optischen Reizes seinem Kopf ein wenig Ruhe zu verschaffen, die Gedanken, die sich im Kreis drehten und dabei noch Salti schlugen, etwas zu bremsen und zu ordnen – und merkte doch, wie wenig es ihm gelang. Die Reaktion seiner Eltern gab ihm Rätsel auf, ihr spätes Kommen beschäftigte ihn immer noch, auch wenn er sie teilweise verstehen konnte. Es war wohl berechtigt, dieses mulmige Gefühl bei dem Gedanken, einen Sohn zu treffen, der einen nicht mehr kannte… Es war wohl vergleichbar mit seiner Situation, Eltern zu treffen, die er nicht mehr kannte. Dennoch gab es doch auch Leute, die damit anders umgingen. Die versuchten, eine echte Hilfe zu sein. Wie der Professor. Ai. Die Kinder. Konnte es da denn sein, dass seine Eltern so viel weniger mit der Situation zu Recht kamen? Noch dazu, wo er sie doch in den vergangenen Jahren wohl hauptsächlich zu den großen Feiertagen gesehen hatte. Ein zynisches Lächeln huschte auf seine Lippen, blieb haften, selbst als er die Augen wieder öffnete, sich umwandte. Er sah sein Spiegelbild ihn aus der Fensterscheibe anstarren, und bemerkte bei der Gelegenheit erst, wie dunkel es doch schon geworden war. Die Nacht war in sein Zimmer geschlichen, unbemerkt, hüllte alles ein in ihr zwielichtiges Grau, das immer schwärzer wurde - eine Farbe, die ihm nicht unbedingt bei seinen Entscheidungen half. Es schien alles so wirr. So trüb. Das Lächeln erlosch, als ihm gewahr wurde, wie sehr er zu dem geworden war, das ihm die Glasscheibe zeigte- ein dunkler Schemen, ein transparenter Hauch von Nichts. Mühsam schlug er seine Bettdecke zurück und glitt aus dem Bett, tappte langsam zum Fenster, starrte durch seine Reflexion hinaus in die Nacht. Sie war bunt, stellte er fest, nicht so dunkel, wie er erwartet hätte; allerdings befanden sie sich in Tokio, und Tokio schlief wie die meisten Großstädte nie. Überall blinkte und blitzte es, Leuchtreklame, Fenster von Wohngebäuden, Autoscheinwerfer und Ampelanlagen erhellten die Nacht, so hell, dass kein einziger Stern zu sehen war, die wohl zusätzlich der Smog der Großstadt verhüllte. Langsam ließ er seinen Blick nach unten gleiten, auf die Welt direkt zu seinen Füßen. Es war erstaunlich viel Verkehr auf dem Krankenhausparkplatz, stellte er fest; allerdings hatte er keine rechte Ahnung, wie viel da normalerweise los war. Er seufzte sein Spiegelbild an, zuckte mit den Achseln und ließ die Rollläden herunter, öffnete einen Fensterflügel für etwas frische Luft. Kurz blieb er stehen, genoss den kühlen Windhauch, dann drehte er sich um, wanderte bedächtig zurück zu seinem Bett, ließ sich in die Kissen sinken. Frische Luft war bestimmt nichts Schlechtes, vielleicht half sie ihm beim Einschlafen. Vielleicht brachte sie eine Lösung, wie er mit seinen Eltern umgehen konnte, wie er seine Probleme lösen sollte. Shinichi seufzte, wälzte sich von einer Seite auf die andere, wartete, dass der Schlaf ihn übermannte, aber Hypnos wollte sich seiner nicht erbarmen. Er merkte, wie sich langsam seine Augen an die Dunkelheit im Zimmer gewöhnten, er die Einrichtung als bläuliche Silhouetten erkennen konnte, starrte an die Decke und fragte sich, wohin das alles führen würde. Er hörte nichts, außer sein eigenes, langsames Atmen und das gelegentliche Knistern des Stoffs, sowie ein paar hastige Schritte, wenn jemand draußen an seinem Zimmer vorbei ging- und hie und da eine aufgeregte Stimme, einen kurzen Ruf. Und seine Gedanken schwammen in seinem Kopf immer noch wie in einer dicken Suppe, langsam doch träger werdend, aber immer noch undefinierbar und kaum zu fassen. Er konnte nichts ausmachen, das aus der Masse stach, vielleicht abgesehen vom Professor und seinem Anhang, diesen Kindern, und dieser… Ai. Bald würde wohl auch mal die Polizei aufkreuzen, schließlich war er Opfer eines Mordversuchs und wohl Zeuge… eines… mehrerer?... Verbrechen gewesen. Ein bitteres Lächeln schlich über seine Lippen. Einen unnützeren Zeugen hatte es wohl kaum je gegeben. Müde strich er sich über die Augen, er merkte, wie alles an ihm nach Ruhe und tiefer Erholung schrie, aber schlafen konnte er nicht; dafür arbeitete es in seinem Kopf zu sehr. Was zynisch war, war doch nicht mehr viel in seinem Kopf, mit dem man überhaupt arbeiten konnte. Nichtsdestotrotz lag er da, wach, starrte an die graue Decke in seinem grauen Zimmer, merkte, wie der Wind immer mehr herbstliche Kälte mit ins Zimmer brachte und brütete über seinen Gedanken, die genauso grau und finster waren wie alles um ihn herum. Auch in ein anderes Zimmer war mittlerweile die blaue Stunde angebrochen- im wahrsten Sinne des Wortes. Die Dämmerung hatte sich in Rans Zimmer breit gemacht, tauchte alles in ein eintöniges Graublau, passend zu der Stimmung des Mädchens, das diesem Raum sonst so viel Leben und Farbe einhauchte. Kogorô seufzte, betrachtete Eri, die bei ihrer Tochter auf dem Bett lag und sie im Arm hielt. Unheimlich. Ja, das war der passende Begriff dafür, wie die Situation, wie seine Tochter gewirkt hatten, nachdem er diesen Satz geäußert hatte. Diesen einen, verdammten Satz. „Ein Mitglied der Organisation hat euer letztes Telefonat mitgehört.“ Immer wieder hallten seine Worte in seinem Kopf wieder, und er wusste, sie taten es auch in ihrem. Und dafür verachtete er sich, er hätte sie beschützen müssen, davor. Vor diesem unglaublichen Gefühl der Schuld, dass sie nun niederpresste und ihr fast die Luft zum Atmen raubte. Er hatte doch gewusst, wie sie reagieren würde. Er war doch ihr Vater, er kannte seine Tochter in- und auswendig; keiner kannte sie besser als er, mit vielleicht… einer Ausnahme. Ich hätte lügen müssen. Es wäre meine Pflicht als Vater gewesen, sie anzulügen, verdammt…! Ich hätte lügen müssen, wie du es getan hast. Als er ihr mitgeteilt hatte, dass ihr Telefonat Schuld war an seiner Misere, war sie auf einmal so still geworden. So unglaublich, unheimlich still. Und so blass. Kurz dachte er, ihm gegenüber säße ein Geist, nicht seine Tochter. Dann war sie aufgestanden, langsam, und in ihr Zimmer gegangen, fast schlafwandlerisch, ihre Füße schienen den Boden kaum zu berühren; sie hatte die Tür leise geöffnet und genauso leise geschlossen. Und war zusammengebrochen. Er hatte ihr knappe zwei Stunden gegeben, um sich zu beruhigen, hatte immer wieder vor ihrer Tür gestanden und gelauscht, immer wieder versucht, ihr gut zuzureden und hatte sich doch nicht getraut, in ihr Zimmer zu gehen. Die Tür war zu, und das hieß bei Ran ganz eindeutig nur eines: sie wollte allein sein. Immer, wenn gerade alles ruhig schien, hörte er sie wieder anfangen zu weinen. Ein Auf und Ab, ein dynamischer, sich ständig wiederholender Prozess, der ihm das Herz brach. Und Shinichi, das ahnte er, wenn er es wüsste, auch. Tatsache, der Junge wusste das nicht- er wusste ja momentan gar nichts mehr. Als es dann nach gut zweieinhalb Stunden immer noch nicht besser geworden war, hatte er Eri verständigt, weil er sich nicht mehr zu helfen wusste. Es gab einfach Situationen, da brauchte ein Mädchen seine Mutter. Dies war eine solche Situation. Eri war sofort gekommen, und seit einer Viertelstunde nun lag sie neben ihrer Tochter auf deren Bett und strich ihr durch die Haare, schweigend. Sie hatte nichts gesagt, als sie das Zimmer betreten hatte, und blieb auch weiterhin stumm. Sie wartete, bis Ran zu reden anfing, von selber. Sie war hier in keinem Gerichtssaal, es ging hier nicht darum, Fragen zu stellen und Antworten zu kriegen. Sie bedachte ihre Tochter mit einem langen Blick, konnte sich nur vorstellen, was in ihrem Kopf vorging. Was sie dachte, wie sie mit sich kämpfte, was sie durchmachte. Sie hatte Shinichi noch nicht gesehen, aber sie wusste, wie eine Amnesie aussah. Schaudernd dachte sie an die Zeit zurück, als ihre eigene Tochter sie nicht mehr erkannt hatte. Dass es nun Shinichi ähnlich ging, addiert zu all dem anderen, das ihm widerfahren war, musste Ran mitnehmen. Das… war wohl nur natürlich. Ran lag da, war langsam stiller geworden, schwieg ebenfalls, knetete nur das Kopfkissen mit verkrampften Fingern, hin und wieder geschüttelt durch ein heiseres, trockenes Schluchzen. In ihrem Kopf drehten sich immer wieder die gleichen Gedanken, immer und immer wieder tauchten die gleichen Worte auf, hallten in ihrem Schädel wieder wie Echos in einer Bergschlucht, nur, dass sie nicht verklingen wollten. Sie kehrten immer wieder. Es war ihre Schuld, dass er überhaupt in diese Situation gekommen war. Sie wollte mit ihm in diesen Park. Und ihr Telefonat war es gewesen, das ihn entlarvt hatte. „Ein Mitglied der Organisation hat euer letztes Telefonat mitgehört.“ Immer wieder klang dieser eine Satz in ihren Ohren. „Das ist alles meine Schuld.“, wisperte sie schließlich. Kogorô fuhr auf, horchte angespannt. „Ran…“ Eri schluckte, streichelte ihr sanft mit dem Daumen über die Schläfe. „Ran, nicht doch… du konntest es nicht wissen, du ahntest doch nichts, und ich bin mir sicher, er macht dir da keinen Vorwurf. Er hatte wahrscheinlich auch keine Ahnung, dass jemand euch belauscht, er hätte sonst nie so mit dir telefoniert, da bin ich mir sicher… ich meine, so wie er all die Jahre aufgepasst haben muss…“ Ran schloss kurz die Augen, dachte über die Argumente ihrer Mutter nach - dann schüttelte sie dennoch unwirsch den Kopf. „Das tut nichts zur Sache. Es… es ist meine Schuld, und er sollte mir Vorwürfe machen. Ich meine, ich konnte ja nicht aufhören, ich musste ja weiterbohren, er wollte dieses Gespräch doch gar nicht führen, er wollte nicht weiter drüber reden, er hat immer wieder versucht, vom Thema weg zu kommen, hat gesagt, er redet mit mir ein andermal- warum hab ich nicht auf ihn gehört, und gewartet und…“ Eine Träne perlte aus ihrem Augenwinkel, sie drehte sich auf den Rücken, entzog sich ihrer Mutter. Eri schaute sie stumm an, setzte sich auf, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können, kniff dann die Lippen zusammen. Sie kannte den Blick in den Augen ihrer Tochter nur zu gut. So sah Ran aus, wenn sie einen Entschluss fasste. „Ich werde ihn nicht besuchen.“, murmelte Rann dann leise, und man merkte, wie unendlich schwer ihr diese Worte fielen, wie es sie innerlich zerriss bei dem Gedanken an Shinichi. Eine Gänsehaut lief ihr über den ganzen Körper, stockend atmete sie aus. Tatsache war, nirgends würde sie gerade eben lieber sein, als bei ihm – endlich bei ihm. Wie viel sie noch vor ein paar Stunden dafür gegeben hätte, endlich zu Shinichi zu können, sich endlich ein Bild davon machen zu können, wie es ihm ging, sich um ihn zu kümmern, mit ihm zu reden, ihm Mut zu machen, sie wusste doch… wusste doch, wie es war, wenn man nichts mehr wusste. Wenn man nicht mal mehr sich selbst erkannte. Sie hatte versuchen wollen, wieder gut zu machen, was er für sie ertragen hatte, sie hatte… sie hatte einfach für ihn da sein wollen. Und nun bohrte da in ihr dieses Schuldgefühl, das zwar vorher auch schon da gewesen war, aber nicht in der Intensität. Jetzt, da sie wusste, wer er gewesen war, und dass er wegen ihr aufgeflogen war, wegen ihr erst überhaupt das alles ertragen hatte müssen- nicht nur für sie, weil er sie so sehr liebte, weil er sie in Sicherheit wissen wollte… sondern auch noch wegen ihr. Fest kniff sie die Augen zusammen, als sie merkte, wie sich neue Tränen in ihnen sammelten. Dann hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die sie ansprach, schaute sie aber nicht an. „Das musst du auch heute gar nicht… ruh dich ruhig aus, man kümmert sich um ihn… und morgen…“ Eri griff nach ihren Fingern, drückte sie. „Heute kannst du erst einmal ein wenig Ruhe finden, und dann…“ „Nein.“ Ran presste ihre Kiefer zusammen, schüttelte den Kopf. „Nein, das meinte ich nicht.“ Sie lächelte niedergeschlagen, traurig, setzte sich kurz auf, schaute ihrer Mutter ins Gesicht. Ihr Teint war kalkweiß, ihre Augen rotgerändert und feucht glänzend, ihre Haare standen wirr ab. Kogorô erschrak, und auch Eri ließ der Anblick nicht kalt; keiner von ihnen hatte ihre Tochter je so gesehen. Sie sah so zerbrechlich aus, und wirkte doch gleichzeitig, als wäre sie schon zerbrochen. Ran schluckte, kaute kurz auf ihrer Unterlippe, als sie mit bebenden Lippen zu sprechen begann. „Das war… nicht die feine englische Art von ihm, das weiß ich. Und ich könnte ihm dafür den Hals umdrehen, ich hab… ich hab ihm vertraut, verdammt! Und er hat das ausgenutzt, egal ob er wollte oder nicht, er hat… er hat dieses Vertrauen ausgenutzt. Aber er… er hat mich mit seinen Lügen wenigstens beschützt. Er hat mit unlauteren Mitteln ein hehres Ziel verfolgt. Immerhin.“ Sie schluckte, ihr Blick verlor sich. Langsam hob sie eine Hand, bemerkte, dass sie leicht zitterte, strich sich aber dennoch eine Strähne, die ihr in die Augen hing, hinters Ohr, vergrub dann ihre Finger wieder in ihrer Bettdecke. „Er wollte mir nicht wehtun, das weiß ich, ich habs… gemerkt, bei diesem dummen Telefonat. Er wollte alles, alles – nur mir wehtun, das wollte er nie.“ Kurz warf sie ihrem Vater einen Blick zu, dann stierte sie auf ihre geblümte Bettdecke, verkrampfte sich, fröstelte, schlang ihre Arme um ihren Körper und merkte doch, dass es nichts half. Die Kälte, die sie spürte, kam von Innen, aus ihr heraus. „Ich will ihn nicht mehr sehen, weil es nicht sein darf, dass er für mich so viel macht, so viel aufgibt, so viel riskiert und das trotz der Tatsache, dass ich ihn da überhaupt erst reingeritten hab. Er erträgt… so wahnsinnig viel für… mich. Das will ich nicht.“ Tränen strömten ihr über die Wangen. „Verdammt, das will ich nicht!“ Sie schluchzte, fühlte, wie es warm über ihre Wange lief. Eri schaute sie bestürzt an. „Ich hab lang im Flugzeug schon überlegt, wie ich ihm begegnen soll, wie ich ihm das erklären soll, oder ob ich ihn nicht einfach in Ruhe lassen sollte. Aber ich dachte, ich müsste ihm helfen, ich bin doch… seine Freundin, und er hat das für mich getan. Und ich… ich… er… er bedeutet mir so viel.“ Sie merkte, wie ihr heiß wurde, als sie ihren Eltern ihre Gefühle für ihren Sandkastenfreund gestand. Etwas unangenehm war ihr das, aber sie ahnte, dass es ohnehin schon jeder wusste. Ran schluckte, krallte ihre Finger in ihren Pullover. „Ich liebe ihn. Wirklich, das ist… keine Schwärmerei, das dachte ich lange. Aber das ist es nicht… und eben weil er mir so wichtig ist, wollte ich für ihn da sein. Wenn er mich braucht, wollte ich da sein für ihn.“ Ihre Stimme sank zu einem Flüstern. „Aber sagt mir… wie kann ich ihm jetzt noch unter die Augen treten, wenn ich weiß, ich bin schuld, und das auch noch doppelt? Ich hätte es beide Male verhindern können! Ich hätte ihn zurückhalten müssen im Tropical Land, ich hatte da schon so ein dummes Gefühl, und ich hätte aufhören müssen zu bohren, als wir telefoniert haben. Aber nein… ich hab beide Male das Falsche getan.“ Sie lächelte bitter. „Beide Male falsch entschieden. Und er hat meine Fehlentscheidung ausbaden müssen.“ Kogorô starrte sie an, trat näher. Auf seinem Gesicht lag ein finsterer, betrübter Ausdruck, ein ungewohntes Bild. „Aber Ran, das konntest du nicht wissen! Wie hättest du etwas verhindern können, verdammt, das musst du doch einsehen, dich trifft da keine Schuld! Er hat auch selbst entschieden, du…“ Ran schüttelte den Kopf, langsam. „Möglich, dass es vielleicht nicht allein meine Schuld ist. Aber ich hätte anders entscheiden können, weißt du. Ich hätte ihn an der Jacke fest halten können, ihn bitten, mich heimzubringen, so, wie ich es wollte. Ich wollte nicht, dass er geht. Ich wollte, dass er mich heimbringt.“ Sie schluckte. „Aber ich hab es nicht gesagt. Und ich hätte ihm zustimmen können, ein andermal über diese Sache zwischen uns zu reden, aber das hab ich nicht. Ich wollte es unbedingt gleich wissen, am Telefon. Dabei… redet man über solche Dinge doch eigentlich nicht am Telefon, und eigentlich… wollte ich so auch nie über meine Gefühle für ihn reden. Oder ihn dazu bringen, über seine zu reden. Aber das hab ich nicht, ich wollte Tacheles reden, gleich. Verstehst du?“ Sie zögerte kurz, wischte sich langsam die Tränen aus den Augen. „Ich… werde ihn nicht besuchen. Und ich will… nicht mehr seine Freundin sein, wenn ich ihn dazu bringe, dass er zulässt, dass man das mit ihm macht. Ich tu ihm nicht gut. Vielleicht bring ich ihm sogar Unglück.“ Ein Ausdruck von Kapitulation trat auf ihr Gesicht. Eri lächelte traurig, stand auf. „Das ist nicht allein deine Entscheidung, Ran. Und du weißt das auch. Wie du weißt, hat er einen Sturschädel, der deinem gewachsen ist. Außerdem…“ „Das ist mir egal.“ Ran unterbrach sie, biss sich dann auf die Lippen, drehte sich um, starrte die Wand an und schwieg. „… vielleicht schaut morgen die Welt schon anders aus.“, vollendete Eri stoisch ihren Satz, stand dann auf, zog Ran die Decke über die Schulter und küsste sie auf die Schläfe. „Verfahr dich nicht, Ran. Du könntest mehr verlieren, als dir lieb sein kann, wenn du noch einen Fehler machst, wie du es nennst. Du weißt, welchen ich meine.“ Damit ging Eri zur Tür, zog ihren Mann mit sich und schloss die Tür. Kogorô starrte sie gleichermaßen beunruhigt wie verwirrt an. „Denkst du das ist ihr Ernst?“ „Im Moment ist es das sicher.“, murmelte die Anwältin leise, ließ ihre Augen den Flur entlang wandern, blieb an einem paar kleiner Turnschuhe hängen, seufzte tief. Dann drehte sie ihren Kopf, schaute ihren Mann ernst an. „Im Moment überwiegt ihr Schuldgefühl sogar den Zorn, den sie hat, wegen seiner ganzen Lügerei. Tatsache ist, er hat es wirklich nicht aus böser Absicht getan, das ist ihr klar. Nur aber… sieht sie nicht, dass Shinichi selbst entschieden hat, was den Rest betraf. Wahrscheinlich rechnete er ja damit, dass sie ihn eines Tages finden, ich denke nicht, er gibt ihr die Schuld dafür… und er… hat ja selbst entschieden, trotz allem. Aber sie spricht ihm wohl gerade ab, selbst denken zu können.“ Ein sanftes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Ausgerechnet ihm. Ist das nicht Ironie?“ Er ließ sich gegen die Wand sinken, verschränkte seine Arme vor seiner Brust, erwiderte ihr Lächeln. „Schon paradox, ja.“, murmelte er. „Das Traurige ist, Kogorô… wäre diese Situation umgekehrt, dürftest du darauf wetten, dass Ran genau das Gleiche wie er tun würde… und er wohl genauso wenig einverstanden damit wäre, und ich muss gestehen, das macht mir Angst. Was diese beiden verbindet ist ungeheuerlich… groß. Und ich frage mich, wie wir das so lange nicht bemerken konnten.“ Kogorô seufzte, schaute auf den Boden. „Wir sind Eltern, Eri. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder erwachsen werden… Wir wollen es einfach nicht wahrhaben. Ich frage mich, ob Yukiko und Yusaku sich je Gedanken darüber gemacht haben, ob ihnen das aufgefallen ist. Und was mich betrifft…“ Ein schuldbewusster Ausdruck glitt über sein Gesicht. „Du weißt, was ich von ihm hielt. Das hat mich… furchtbar kurzsichtig gemacht, ich sah nicht… dass sie ihn liebt, also… dass es mehr war als bloße Schwärmerei, ich sah das lang nicht. Und ich sah in ihm nur einen dieser Jungen, der sich an meine Tochter ranmachen wollte.“ Er lächelte entschuldigend. „Wäre ja nicht so, als gäbs von der Sorte nicht genügend, das musst du zugeben. Ich hab mir nie die Mühe gemacht, ihre Beziehung mal zu überdenken, zu beobachten. Und das, obwohl sie sich doch schon von klein auf kennen.“ Langsam vergrub er seine Hände in seinen Hosentaschen. „Kaffee, Eri?“ „Sehr gern.“ Eri nickte langsam, folgte dann ihrem Mann in die Küche. Ein paar Straßen weiter, im Hause des Professors, war alles hell erleuchtet; es herrschte Aufregung, und die meiste Unruhe brachte wohl der Professor selber ins Geschehen, der seit Minuten nun gegen die Tür von Ais Labor trommelte. Hinter ihm standen Genta, Mitsuhiko und Ayumi, und schrien sich heiser. Der Professor hatte Ai verboten, es zu tun; das Gegengift zu nehmen. Sie hatte so getan, nach stundenlanger Diskussion, als hätte sie eingelenkt, allerdings nur, offensichtlich, um nach einer Entschuldigung auf die Toilette in ihrem Labor zu verschwinden und das Zeug doch zu schlucken. „Ai, verdammt, mach die Tür auf!“ Mitsuhiko atmete schwer; Genta neben ihm bekam kaum noch Luft. Sie hatten alle diesen Schrei gehört… nur diesen einen Schrei, und es war ihnen ein eiskalter Schauer über den Rücken geronnen. Sie alle hatten sofort gewusst, was passiert war, was sie… getan hatte. Und so standen sie nun seit geschlagenen fünf Minuten vor diesem Labor. „Ai, ich trete die Tür ein, ich meine das ernst!“ Agasa polterte mit beiden Fäusten gegen die Tür. Mein Gott, lass sie nicht tot sein, bitte, bitte, lass sie nicht tot sein, bitte… „Ai?“ Ayumis piepsiges Stimmchen übertönte die lauten Rufe der anderen kaum. „Ai!“ Tränen spiegelten sich bereits in ihren Augen, warteten darauf, über ihre Wangen zu rollen. Ayumi hatte Angst, soviel war klar. Agasa ließ die Arme sinken, warf ihr einen kurzen Blick zu, schaute dann wieder auf, starrte an die weiße Tür, als wolle er sie mit seinen Blicken durchbohren. „Shiho, du törichtes Mädchen… das wird er mir nie verzeihen, sollte er sich je erinnern...“, flüsterte er heiser, ungehört von allen anderen, ballte verzweifelt die Fäuste, wusste weder ein noch aus. Dann ging die Tür auf. „Was macht ihr für nen Krach? Gerade Sie, Herr Professor, sollten doch wissen, wie das abläuft…“ Genervt schaute sie ihn aus halbgeöffneten Augen an, gähnte, benahm sich betont gelassen. Ein Blick in Ayumis blasses Gesichtchen hatte ihr gezeigt, was hier draußen losgewesen war, während sie sich noch unter Qualen gekrümmt hatte; anschließend hatte sie sich wirklich beeilt, sich etwas frisch zu machen und sich etwas Passendes anzuziehen, aber sie war offenbar immer noch nicht schnell genug gewesen. Sie streichelte dem kleinen Mädchen übers Haar, dann ging sie an ihnen vorbei, die Treppe halb hoch, schloss den letzten Knopf ihrer Bluse, als sie merkte, dass ihr keiner folgte. Langsam drehte sie sich um, blickte in vier fassungslose Gesichter; ihnen allen stand der Mund offen, namenloses Erstaunen lag in ihren Blicken. Sie seufzte, verdrehte die Augen gen Himmel. „Kriegt euch wieder ein. Ich hab nur eine winzige Menge aus einer Kapsel genommen, die Wirkung hält also nicht so lang wie üblich. Wir haben wirklich keine Zeit zu verschenken, also was ist?!“ Damit stieg sie die Treppe empor, merkte, wie ihr nun auch endlich jemand folgte; Ayumi hatte schnell aufgeholt, schob ihre kleine Hand in ihre. Shiho schluckte, schaute auf das kleine Mädchen herab, das starr auf den Boden blickte, aber ihre Finger fest umklammert hielt. Ayumi. Die Fahrt ins Klinikum verlief schweigend, auch wenn Shiho dem Professor ansehen konnte, wie er auf seiner Zunge kaute. Er war ziemlich außer sich, das wusste sie; alles, was ihn davon abhielt, ihr tatsächlich seine Meinung zu geigen, war die Tatsache, dass die Kinder noch hier waren. Vor den Kindern riss er sich zusammen. Grundsätzlich war er ja ohnehin kein Mann des Streits, er war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen, er… war eigentlich stets die Ruhe selbst. Aber das hier ging selbst ihm zu weit, weil er, und das wusste sie, sich unheimliche Sorgen um sie machte. Allein, was mit Shinichi passiert war, reichte ihm eigentlich vollkommen… die Angst um sie, die Furcht davor, dass sie das Gegengift umbringen könnte oder einer von ihnen ihr etwas antat, jetzt, da sie so leicht zu erkennen war… Ihm war das gar nicht Recht, was sie da veranstaltete; daraus machte er keinen Hehl. Die drei Detective Boys waren wohl immer noch viel zu erschlagen von der Wahrheit; sie hatten zwar geglaubt, was der Professor ihnen über Shinichi erzählt hatte, aber das alles in echt und fast hautnah zu erleben war noch einmal etwas anderes. Mit Shiho… wurde auch Shinichi noch um ein ganzes Stück realer. Bei Shinichi und Conan war die Verwandlung nicht so unmittelbar geschehen… bei Shiho… beziehungsweise Ai, schon. Shiho wusste nicht, woran es lag, dass sie zunehmend unruhiger wurde; sie ahnte den Grund allerdings, als sie versuchten, auf den Krankenhausparkplatz zu fahren. Ein Polizist hielt den gelben Käfer des Professors auf. Shiho schluckte, versuchte, außer Sicht zu bleiben, während der Professor das Fenster herunterkurbelte. Sie hörte zwar jedes Wort mit, das gewechselt wurde, aber ihr war mittlerweile der Grund für ihre Nervosität sehr klar geworden. Sie waren hier. Sie schluckte, krallte ihre Finger in ihren Rock, schauderte. Verdammt…! Und so, wie ihr ein Schauer nach dem anderen über den Rücken lief, musste es geradezu wimmeln von ihnen. Unsicher blickte sie aus dem Fenster, biss sich auf die Lippen. Sie wusste, wo sie suchen musste, und sie wurde fündig. Auf dem Dach gegenüber; am Haupteingang. Und das war sicher nur ein Bruchteil derer, die hier waren. Unwillkürlich zuckte sie zurück, fuhr zusammen, presste sich gegen ihren Sitz, als wolle sie in den Polstern versinken, fing an zu zittern, konnte nicht verhindern, dass ihr Atem immer schneller wurde. Agasa bemerkte sie aus dem Augenwinkel. Shiho schüttelte langsam den Kopf. „Sparen Sie sich den Atem. Ja, sie hatten Recht, es ist gefährlich. Und nein, ich mache keinen Rückzieher. Jetzt sind wir hier, und jetzt zieh ich das auch durch. Gerade die Tatsache, dass sie hier sind, ihn… gefunden haben, beweist die Tatsache, dass er unbedingt schnellstmöglich sein Gedächtnis wiederhaben muss. Außerdem…“, sie biss sich auf die Lippen, fuhr dann leise wispernd fort, „bin ich lieber hier, als Däumchen drehend daheim, wenn ich weiß, er ist in Gefahr. Hier kann ich ihm vielleicht helfen... daheim nicht. Aber mit den Kindern sollten sie nicht da reinfahren. Ich steige hier aus.“ Sie setzte sich eine Sonnenbrille auf, setzte sich eine Mütze auf und zog sie tief ins Gesicht, schlug den Kragen ihres Mantels hoch. „Aber… willst du dir das nicht noch einmal überlegen? Du kannst das Gift ja noch einmal nehmen, später, und die Polizei hat hier doch alles im Griff…“, er nickte in Richtung Klinikeingang, wo Chiba, verkleidet als Arzt, eine Zigarette rauchte. Shiho lachte bitter. „Kommen Sie, Professor, Sie kennen die doch. Sie sitzen auf den Häusern gegenüber, sind unter den Ärzten, Schwestern und Patienten. Auch wenn die Polizei in einem Großaufgebot hier ist; das Klinikum befindet sich im Belagerungszustand, und das wird es bleiben, bis sie haben, was sie wollen. Wen sie wollen. Shinichi.“ Sie stopfte sich unwirsch ihre blonden Locken unter die Haube und schnappte sich die Tasche mit Ais Klamotten. „Rechnen sie in circa zwei Stunden mit mir.“ Dann stieg sie aus, schlug die Tür zu, ohne Agasa, der gerade zu einer Antwort ansetzen hatte wollen, zu Wort kommen zu lassen, und winkte den Kindern kurz zu. Dann lief sie los, geduckt im Schatten der Gebäude und parkenden Autos, hinein ins Krankenhaus. Sato stand an der Informationszentrale im zweiten Stock, schaute auf ihr Klemmbrett, auf dem keineswegs Informationen über ihren nächsten Patienten zu lesen waren; viel eher waren darauf Informationen zu lesen, die sich mit einer ganz anderen Art Patient befassten. In den letzten Minuten hatte sie höchst angespannt und aufmerksam jeden beobachtet, der an ihr vorbeigegangen war, und sich Notizen gemacht. Sie wusste, Yumi, die sich für diesen Einsatz freiwillig gemeldet hatte, da sie schon seit einiger Zeit versuchte, in die Mordkommission aufgenommen zu werden, die in ihrer Schwesterntracht in der Teeküche stand, tat das gleiche; noch dazu konnte sie gut die Gespräche des Pflegepersonals aufschnappen. Ab und an steckte sie kurz seinen Kopf aus der Tür, damit sie sehen konnten, dass bei jeweils anderen noch alles in Ordnung war. Gerade eben hatte ihr Yumi wieder zugezwinkert und den Daumen hoch gehalten – für sie war das hier alles ziemlich aufregend. Sato hoffte nur, dass das hier heute auch das Aufregendste war, das ihnen passierte. Sie seufzte, massierte sich die Schläfe, spähte dann den Gang entlang zu seiner Tür. Um nicht allzu offenkundig zu zeigen, in welchem Zimmer er lag, standen unmittelbar vor der Tür keine Wachen; mit etwas Glück wussten die Männer in Schwarz seine Zimmernummer noch nicht. Sollten sie kommen, würden sie und Yumi aber auch so gleich zur Stelle sein, sowie die dann schnellstens herbeigerufene Verstärkung. Unwillkürlich tastete sie ihren weißen Kittel ab. Gut versteckt und flach anliegend steckte eine Pistole im Bund ihres Rockes, ihr Pieper steckte in ihrer Kitteltasche.. Für den Fall der Fälle. Sie seufzte, strich sich eine Strähne hinters Ohr folgte der blonden Schwester, die gerade in ihren Birkenstockschuhen an ihr vorbeieilte mit ihren Augen, machte Notizen. Dann bemerkte sie Yumis Kopf erneut im Türrahmen, winkte ihm kurz zu. Soweit, so gut. Hinter ihr auf dem ansonsten nun menschenleeren Gang erschien eine hochgewachsene, schlanke Frau mit großer Sonnenbrille und kinnlangen, blonden Haaren. In ihrer Hand trug sie einen Korb, hob grüßend die Hand. Als Sato sich umwandte um zu sehen, wen sie grüßte, bemerkte sie einen hageren Mann mittleren Alters, der ihr zuwinkend gerade in die Teeküche ging, wohl um die Schwester um eine Kanne Tee für seinen kranken Angehörigen zu bitten. Dem war Yumi sicher gewachsen. Ein Lächeln huschte ihr über die Lippen. Und selbst wenn diese beiden irgendwer anders sein sollten als die, für die sie sich ausgaben… sie waren ja ausgebildete Polizisten. Unsicher schob sie ihre Hand unter ihren Kittel, umfasste ihre Pistole, drehte sich um, als sie einen Luftzug in ihrem Nacken spürte. Inspektor Chiba seinerseits stand als rauchender Assistenzarzt vor dem Eingang des Hospitals und gab somit ein glänzendes Beispiel für eine gesunde Lebendweise. Ein ironisches Grinsen flog über seine Lippen, als er kurz an sich hinabsah. Er musste zugeben, dem weißen Kittel und dem Stethoskop um den Hals konnte er durchaus etwas abgewinnen; vielleicht hätte er mal doch lieber das Medizinstudium ergreifen sollen, anstatt die Polizeiakademie zu wählen? Grübelnd fuhr er sich über seinen Bauch, was ihn zu der Frage führte, wann dieser Tag wohl endlich vorbei sein würde und er zu seinem wohlverdienten Abendessen kam. Aber so, wie es aussah, würden sie hier wohl noch länger brauchen… noch war kein Anzeichen für eine Aktion der Organisation in Sicht- und damit auch das Ende dieses Tages noch in weiter Ferne. Er seufzte, zog an der Zigarette, warf sie dann in den Aschenbecher, stieß die Rauchwolke aus. Eigentlich rauchte er ja nicht, aber er brauchte einen Vorwand, um hier heraus zu können, und den Parkplatz scannen zu können. Würde er die ganze Zeit hier stehen, wäre das wohl zu auffällig. Kurz ließ er seine Augen noch einmal über die Autos schweifen, drehte, als er nichts Verdächtiges erkennen konnte, um und ging ins Krankenhausfoyer. Suchend blickte er um sich, aber sah ihn nicht. Er wartete auf Takagi, der ihm bis gerade eben Gesellschaft geleistet hatte, und den besorgten Angehörigen mimte, um ihn für andere, echte Patienten unansprechbar zu machen. Der Gute war kurz für kleine Jungs verschwunden, und so lange war Chiba alleine. Ein entnervtes Seufzen entwich seiner Kehle. Eigentlich war er nicht gern so alleine. Die Glastüren waren gerade lautlos hinter ihm zu geglitten, als er die Schreie vernahm. „Doktor!“ Eine junge Frau rannte ihm entgegen. Ihre roten Haare flatterten hinter ihr her wie eine Fahne, in ihrem Gesicht standen Angst und Entsetzen. „Doktor, Sie müssen mir helfen, schnell! Mein Freund! Da, im Gang!“ Chiba starrte sie fassungslos an. Damit hatte er nicht gerechnet. Unschlüssig wandte er sich um, fand zu seinem Unglück keinen Arzt, der ihn hätte begleiten können und auch Takagi ließ sich nicht blicken. Unsicher wandte er sich der Frau zu, die nun vor ihm stand, mit dem Atem rang und zu weinen anfing. „Bitte, so helfen Sie mir doch! Er ist zusammengebrochen… bitte! Sie sind doch Arzt!“ Sie griff nach seiner Hand, zog hilfesuchend an ihr. Der junge Inspektor öffnete und schloss seinen Mund wieder, stöhnte innerlich auf. Sah in ihre flehenden Augen, groß vor Angst glasig glänzend von ihren Tränen, bemerkte ihren blassen Teint, ihre bebenden Lippen. Und brachte es nicht übers Herz, sie einfach stehen zu lassen. Nun gut, zumindest erste Hilfe kann ich leisten- mit etwas Glück kommt bald ein richtiger Arzt… Langsam nickte er, ließ sich von der Rothaarigen mit sich ziehen. Das zufriedene Lächeln auf ihren Lippen sah er nicht. Der Weg ist frei. Die Sonne war untergegangen, der Mond erhob sich langsam über dem Horizont, als der Startschuss endlich fiel. Gin lächelte, als er sein Handy wegsteckte, warf Wodka ein aufforderndes Nicken zu. „Mach dich fertig. Es geht los.“ Er öffnete die Tür seines Porsches, stieg gemächlich aus, warf seine Zigarette, die er sich eigentlich gerade erst angesteckt hatte, achtlos weg. Wodka trat neben ihn, wartete, bis Gin das Auto abgesperrt hatte, und folgte ihm dann ins Krankenhaus. Sie wussten, keiner würde sie aufhalten; ihre Leute waren gründlich, und der Plan perfekt. Wie man es auch drehte und wendete, diese Klinik würde Kudô nicht lebend verlassen. Und so fanden sie auch den Eingang zur Klinik verwaist vor, betraten sie, ohne Aufsehen zu erregen… ihre Leute hatten gute Arbeit geleistet und ihm den Weg frei gemacht. Er lächelte dünn, kam nicht umhin, sich zu freuen. Ja… er freute sich darauf, diesem Schnüffler endlich sein Leben zu nehmen. Ein Leben, das schon seit Jahren ihm gehörte. Langsam, aber mit ausgreifenden Schritten ging er den Gang entlang, hörte den Klang seiner Stiefel auf dem Boden von den Wänden wiederhallen. Ja… heute würde der Jäger nicht ohne Beute nach Hause gehen. Kapitel 28: Kapitel 10: Schlagabtausch im Klinikum -------------------------------------------------- Ladies and gentlemen – Ja, man kann meinem Wort tatsächlich noch trauen. Hier kommt das nächste Kapitel – make yourself comfortable and enjoy reading! Viele Grüße, bis nächste Woche, eure Leira PS: Leute, ich kann euch nicht genug für die letzten Kommentare und eure Treue danken – ein Jahr lang bei der Stange zu bleiben verlangt schon wirklich viel ab. Meinen ehrlichen Dank dafür. ________________________________________________________________________________________ Kapitel Zehn: Schlagabtausch im Klinikum „Kommissar!“ Takagi stürzte außer Atem in die Einsatzzentrale. „Kommissar Meguré, ich kann Inspektor Chiba nicht erreichen! Als ich nach dem Austreten zurückkam, war er weg und ich kann ihn nicht finden, und an sein Handy geht er nicht...! Ich kann ihn nicht erreichen…!“ Meguré, der gerade die Standorte und Berichte seiner Leute überprüfte, schaute auf. „Was soll das heißen, Sie können Ihn nicht erreichen, Takagi?“ Seine Stimme klang schärfer als beabsichtigt. James Black, der gerade telefoniert hatte, trat näher, nahm Takagi die Last einer Antwort ab. Shiratori, der mit ihnen in der Zentrale den Einsatz koordinierte, horchte ebenfalls auf. „Nun, unter Beachtung der besonderen Umstände, in denen wir uns befinden, könnte das heißen, dass einer von unseren ehrenwerten Gegnern Ihren Mann ganz unehrenwert aus dem Verkehr gezogen hat.“ Blacks Stimme klang nüchtern, sein Gesicht regungslos. Gedankenverloren begann er, mit drei Fingern seinen Bart zu zwirbeln. „Im besten Fall heißt das, dass er nur bewusstlos in irgendeiner Abstellkammer liegt. Im schlechtesten Fall…“ Als er Megurés scharfen Blick bemerkte, brach er ab. „Let’s not think about worst cases, shall we? Ich denke, wir sollten viel eher daran denken, was das heißt… nämlich, dass sich die Lage zuspitzt, und zwar drastisch. So wie es sich darstellt, currently, steuern wir auf den Höhepunkt des heutigen Abends zu… we’re reaching the climax… finally.“ James strich sich über seinen Schnauzbart. „It is about time, indeed. Diese Warterei zermürbt einen doch ein wenig, und es tut gut, endlich reagieren zu können, don’t you think, gentlemen? Our first reaction therefore will be to check out the situation. Takagi, Sie und ich gehen zum Eingang. Dort erwarte ich Shuichi Akai und Jodie Starling, die gleich hier eintreffen werden. Zusätzlich können wir sehen, ob sich ihr Kollege in der Nähe… aufhält. Kommissar…“ Er wandte sich zu Meguré um, der ihn aufmerksam anschaute. „Sie sammeln am besten Ihre Leute und versetzen sie in Alarmbereitschaft. Gin should be in the building by now, and we know his aim. His final… destination.“ Ein leises Seufzen entwich Blacks Kehle, dann komplimentierte er einen immer noch etwas konsterniert dreinblickenden, leicht panischen Takagi aus der Tür, während Meguré damit anfing, die Telefone heiß laufen zu lassen. Shiratori tat es ihm gleich. Als Jodie und Shuichi aus dem Auto stiegen und sich auf den Weg zum Eingang des Krankenhauses machten, kamen sie nicht umhin, zwei Dinge zu bemerken. Erstens, die Tatsache, dass der Eingang unbewacht war, und zweitens, die Augen, die auf sie gerichtet waren auch, wenn sie sich anstrengten, so zu tun, als wären sie das nicht. „Sie sind hier.“ Jodie zwang sich, sich nicht allzu offensichtlich umzusehen. „Kaum zu übersehen.“ Akais Stimme klang frostig. „Außerdem wussten wir das, überflüssig, es festzustellen, also.“ Er ging durch die sich für seinen Geschmack viel zu langsam öffnende Tür, Jodie folgte ihm; und dann sahen sie auch schon James, der ihnen in Begleitung von Wataru Takagi entgegen eilte - nicht rannte, denn ein James Black rannte nicht. Seinem ausgreifenden Schritt konnte man die Dringlichkeit des Anliegens aber dennoch ansehen. Sie ahnten, was los war. „Wer ist bei Kudô?“, fragte Akai, als sie in Hörweite waren. „Inspektor Sato und Officer Miyamoto.“, antwortete Takagi eilfertig; langsam hatte er sich wieder im Griff, unterdrückte seine Panik und versuchte, das Adrenalin in geordnetere und nützlichere Bahnen zu lenken als in die, die seinen Fluchtinstinkt nährte. „Kontrollieren Sie das bitte...!“, murmelte Jodie, sah sich unbehaglich um. „Eigentlich dauert das schon viel zu lange, es könnte sein, dass sie jeden Moment zuschlagen…“ Takagi nickte, zückte sein Handy, wählte und wartete. „Warum steht hier keiner?“ Akais Stimme klang sachlich. „Well, hier stand einer… eigentlich zwei“, James starrte gedankenverloren vorbei an Shuichi vorbei. „Die Inspektoren Takagi und Chiba. Takagi was away for a short while, and when he came back, Chiba had been gone. We don’t know, where he’s gone, if you understand, what I mean.“ Shuichi verdrehte die Augen, bemerkte dann das immer blasser werdende Gesicht Takagis, der angestrengt in sein Handy horchte. „Inspektor Takagi, what is it?“, murmelte Jodie nervös. „Haben Sie die beiden denn schon erreicht…? Was sagen sie?“ Der junge Inspektor ließ seine Hand sinken, beendete mit zitternden Fingern den Anruf. „Nichts, ich bin… bin nicht durchgekommen. Sie gehen beide nicht an ihr Mobiltelefon. Nun, eigentlich stimmt das auch nicht… es ist kein Freizeichen zu hören. Die beiden Telefone sind wohl ausgeschaltet..“ „Or broken.“ Jodie strich sich über die Augen, merkte, wie sich ihr Puls rasend schnell erhöhte, ihre Atemfrequenz nach oben stieg. Die Jagd hatte begonnen. „Let’s go!“ Umgehend rannten sie zurück ins Gebäude, wohl wissend, dass keine Nachricht in diesem Fall keine gute Nachricht war. Takagi umklammerte immer noch sein Handy, war ein gutes Stück bleicher im Gesicht als all die anderen, als er durchs Foyer hetzte. Miwako! Inspektor Miwako Sato lag neben ihrer Kollegin Yumi Miyamoto, die genauso bewusstlos war wie sie, in der kleinen Teeküche am Gang – eingeschlossen. Ihre beiden Handys schwammen einträchtig nebeneinander in einer schönen Glaskanne voll grünem Tee, hatten ihren Geist aufgegeben. Korn und Chianti hatten sie auf Geheiß Absinths außer Gefecht gesetzt, um Gin den Weg frei zu machen, und dann ihre Positionen am Klinikdach bezogen. Für sie blieb hier nichts mehr zu erledigen, außer den Innenhof zu kontrollieren. Chianti lächelte spöttisch. Die Überraschung in Satos Augen, und das kurze Aufflackern von Schmerz in ihrem Gesicht, als sie die Nadel in ihrem Bauch spürte, stand ihr immer noch vor Augen. Leider war in der Nadel nur ein Betäubungsgift gewesen; die kleine Polizistin, die in der Teeküche gewartet hatte, hatte es nicht so glücklich erwischt, sie lag mit einer Kopfwunde, die sie sich zugezogen hatte, als Korn ihr den Schädel gegen einen Einbauhängeschrank gestoßen hatte, bewusstlos auf dem Boden. Sie hatten sie nicht töten sollen, warum, war ihr schleierhaft; eigentlich pflasterten Leichen ihren Weg, nicht Bewusstlose. Sie wusste nicht, weshalb sie diesmal so vorgegangen waren. Aber gut. So blieb das Spiel spannend. Vielleicht wollte man einfach nicht zu viel Aufsehen erregen, brachte man eine ganze Polizeimannschaft um, neigte das, unkontrollierbar hohe Wellen zu schlagen. Ein paar Bewusstlose und ein toter Schülerdetektiv reichten wohl aus, für heute. An und für sich war so ein Krankenhaus wohl auch kein geeigneter Platz für einen Showdown. Aber vielleicht - vielleicht kamen sie ja noch zum Zuge. Sie warf einen Blick zu Korn, der wie sie lächelnd auf den Parkplatz blickte, als er sah, was auch sie schon längst bemerkt hatte. Die Ankunft ihrer special friends vom FBI. Ein düsteres Lächeln schlich sich auf Chiantis Lippen. Zu Schade, Shuichi… leider hat Gin das Privileg, dir das Licht auszupusten. Mal sehen, was der gute Junge heute alles gebacken kriegt, eigentlich hat er ja alle Hände voll zu tun, sollte man meinen... In Rans Zimmer war es mittlerweile stockfinster geworden. Sie lag auf dem Rücken, ihre Hände hinter ihrem Kopf verschränkt, starrte aus ihrem Fenster. Draußen hing träge der Mond über den Dächern der Stadt; sie sah die Laternen angehen, zuerst schwach flackernd, ihre Lichter zuckend zum Leben erwachend, dann immer strahlender. Sie dachte an ihn. Er lag jetzt wohl auch in seinem Bett, ähnlich wie sie, und bestimmt brütete er vor sich hin, wie sie. Dachte nach über sein Leben, oder dem, was davon übrig geblieben war. Ran zog ihre Stirn kraus, rieb sich über die Augen. Sie war müde, ja, aber schlafen konnte, wollte sie nicht. Stattdessen drehten unzählige Fragen in ihrem Kopf ihre Runden. Ob man ihm von ihr erzählt hatte? Bestimmt. Sie schluckte, merkte, dass der Kloß, den sie seit Stunden im Hals hatte, immer noch da war, und sich hartnäckig weigerte, geschluckt zu werden. Bestimmt hat man ihm von mir erzählt. Schließlich bin ich der Grund für sein Dilemma. Wegen mir hat er so entschieden. Ich weiß nicht, ob er gefragt hat, nach der Ursache… warum er eingetreten ist. Ich weiß auch nicht, ob er sich noch gut genug kennt, um sich selbst als jemanden einzuschätzen, der hehre Prinzipien hat und diese nie verraten hätte. Jemand, der für Gerechtigkeit und Wahrheit kämpft. Aber er muss noch eine Ahnung haben, wer er ist, was er tun würde und wofür er einsteht… oder? Dass Shinichi Kudô nie freiwillig ein Krimineller geworden wäre… das muss er doch noch wissen… Ihre Gedanken schweiften ab. Sie könnte den Professor fragen, wie viel Shinichi wusste. Er war es ja gewesen, der immer bei ihm gewesen war, seit man ihn gefunden hatte. Hatte er ihm von ihr erzählt? Ran seufzte, krallte ihre Hände in ihre Bettdecke. Ihre Entscheidung von gerade eben, ihn nicht sehen zu wollen, hatte zu wanken angefangen, sobald die Tür hinter ihren Eltern ins Schloss gefallen war. Sie wusste, wovor ihre Mutter sie gewarnt hatte, und ihr war genauso klar, dass sie genau wusste, was sie tat, wenn sie sich wirklich von ihm abwandte, ihn nicht besuchte, nicht mit ihm sprach. Sie ahnte, was sie sich damit verbaute, und fragte sich, wie vernünftig diese Entscheidung wirklich war, die sie da im Affekt gefällt hatte. Sie musste sich widerwillig eingestehen, dass ihre Mutter Recht haben könnte. Unwillig kaute sie auf ihrer Unterlippe, setzte sich auf. Sollte sie ihn wirklich so vor den Kopf stoßen, musste sie damit rechnen, dass sie sich das, was sie sich am Meisten wünschte, eine Zukunft mit ihm, nämlich, unter Umständen für immer verbaute. Mit zitternden Fingern fuhr sie sich durch die Haare. Sie dachte, wenn sie sich von ihm fernhielt, wäre das besser für ihn, aber stimmte das denn auch? Er war wegen ihr in solche Schwierigkeiten geraten, das war nicht zu vergessen. Aber andererseits… wenn sie schon so versagt hatte, als Freundin, war es da nicht eigentlich ihre Pflicht, ihm nun endlich beizustehen? Ihm zu helfen? Sehr bedacht, verstand sich, damit sie ihm nicht noch mehr Ärger machte, als er ohnehin schon hatte. Eigentlich schrie doch alles in ihr danach, ihn endlich zu sehen, sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Schon seit Tagen, sie wusste es doch eigentlich besser. Tatsache war, dass neben dieser Schuld, die sie auf ihren Schulter lasten spürte, es noch einen weiteren Grund gab, warum sie zögerte, ihn zu besuchen, auf den Gedanken kam, ihn nicht besuchen zu wollen. Ein ganz und gar egoistischer Grund, den sie sich eigentlich nicht eingestehen wollte, für den sie sich schämte. Es war die Angst. Angst, sich selbst zu konfrontieren damit… was sie angerichtet hatte. Shinichi war verletzt, und hatte sein Gedächtnis verloren. Er hatte unheimlich viel durchgemacht, weil er verhindern wollte, dass man sie tötete. Sie fragte sich, ob er in einem anderen Fall einfach nein gesagt hätte… die Konsequenz wäre sein eigener Tod gewesen. Als sie Blut schmeckte, merkte sie erst, wie fest sie auf ihre Unterlippe biss. Eine Antwort auf diesen Gedanken hatte sie dennoch nicht gefunden, wohl vor allem deswegen, weil sie ihn sich nicht weiterdenken traute. Sie zerknüllte ihr Kissen in ihren Armen, ließ den Kopf in die Federn sinken, atmete tief den Duft frisch gewaschener Bettwäsche ein. Jemand hatte während ihrer Abwesenheit ihr Bett neu bezogen. Ein tiefer Seufzer entwich ihrer Kehle, dann warf sie das Kissen zurück aufs Bett, kämpfte sich auf die Beine, ging zu ihrem Schreibtisch, setzte sich auf ihren Stuhl und zog ihre Handtasche zu sich heran, die sie achtlos auf die Tischplatte gelegt hatte, kramte ihr Handy heraus. Sie wusste, es war spät… aber sie musste jetzt mit jemandem reden. Nicht mit ihren Eltern, allerdings. Mit zitternden Fingern tippte sie Sonokos Nummer ein. Sie hörte das Freizeichen, hörte es nochmal… gerade, als sie aufhängen wollte, hob jemand ab. „Hallo, Ran?“ Sonokos Stimme klang etwas atemlos. „Entschuldige, ich hab mein Handy nicht gehört…“ Ran seufzte auf, merkte, wie Erleichterung sich in ihr breitmachte. Sie hatte schon sonst was befürchtet. „Schon gut.“, murmelte sie nur leise. „Sag, Sonoko, hast du kurz Zeit für mich?“ Sonoko am anderen Ende der Leitung horchte beunruhigt auf. Ran hörte es, fragte sich, was sie eigentlich tat. Eigentlich hatte sie ihre Entscheidung ja schon gefällt. Jedoch, mit jemandem über ihre Angst zu reden, jemandem, der sie verstehen würde, war im Moment genau das, was sie unbedingt brauchte, um sich selbst wieder einigermaßen zu fangen. „Sicher, Ran, immer.“, hörte sie Sonokos Stimme. Sie klang etwas müde und bei Ran meldete sich das schlechte Gewissen. „Schieß los, meine Liebe. Ich nehme an, es geht um deinen Märchenprinzen.“ Ran lächelte kurz, schluckte, schloss für einen Moment die Augen. „Ja.“ „Hast du ihn denn schon gesehen, Ran?“ Ran schüttelte den Kopf. „Nein, und darum geht es. Hör zu, das ist… ein ziemlicher Brocken, den ich dir jetzt erzählen werde, aber ich muss das loswerden, ich hab das Gefühl, irgendwie… ist das alles zu viel und ich weiß…“ Sie hörte Sonoko in den Hörer seufzen. „Fang am besten von vorn an.“ „Schön. Also… es geht um Conan…“, begann Ran mit zitternder Stimme, erzählte dann die ganze Geschichte, wie sie sie eben von ihrem Vater erfahren hatte. Als sie geendet hatte, herrschte eine Zeitlang Schweigen; nur das leise Atmen einer der beiden Freundinnen rauschte ab und an geräuschvoll durch den Äther. „Wow.“, murmelte Sonoko dann leise. Sie saß auf ihrem Bett, hatte eine Hand um ihre Beine gelegt, mit der anderen presste sie das Telefon an ihr Ohr. „Das ist echt… krass. Was hat er sich denn dabei nur gedacht…?“ Ran lächelte bitter. „Werden wir so bald wohl nicht erfahren.“ Sie starrte an die Decke. „Weißt du, dass… ich meine, hast du eine Ahnung, wie viel daran hängt? Bis heute dachte ich ja nur, es wäre diese eine Woche. Tatsächlich geht das Theater schon über zwei Jahre, in denen er versucht, all die Schwierigkeiten, die er hat, von mir fernzuhalten. Und das, weil ich mit ihm unbedingt in diesen Vergnügungspark wollte, und dann noch dumm genug bin, ihn laufen zu lassen. Verdammt, ich wusste doch, dass er sich Ärger einhandelt.“ Ihre Stimme brach. „Ich wusste das doch… Sonoko, ich habs gespürt, ich hätte ihn aufhalten sollen, ich…“ „Ran, hör auf mit dem Schwachsinn.“ Sonokos Stimme klang nüchtern, aber Ran schien sie gar nicht zu hören. „Und dann das Telefonat! Verdammt, ich hab ihn angerufen und mit der ganzen Sache angefangen, du weißt das doch! Du warst doch dabei!“ Tränen sammelten sich in ihren Augen, schon wieder. Sie wischte sie sich unwillig weg, verachtete sich, weil sie so eine Heulsuse war. Sie hasste das. „Und wegen diesem Telefonat hat man ihn enttarnen können. Nur wegen diesem Telefonat!“ Sie schluchzte. „Das kann gut sein, Ran. Nein, wahrscheinlich ist es so, wie du sagst.“, meinte Sonoko sachlich, mit ruhiger Stimme. „Aber das darf dich nicht davon abhalten, ihm jetzt beizustehen. Gerade wenn du denkst, dass du Schuld hast, an seinem Zustand, über welche Wege auch immer, dann Ran – dann solltest du alles tun, um den Fehler wieder gut zu machen. Wir beide wissen, dass deine Mum Recht hat, Ran. Ich kann verstehen, dass du dich schuldig fühlst, aber… was wärst du für eine Freundin, wenn du ihn jetzt im Stich lässt. Ob und wie du mit ihm hinterher umgehen willst, musst du selber wissen, aber ihn jetzt fallen zu lassen, das wär richtig mies.“ Ran kniff die Augen zusammen. Sie hatte sich gedacht, dass Sonoko die Sache so sehen würde; eigentlich, gestand sie sich ein, sah sie sie selbst ja mittlerweile auch so. Schon kurz nachdem sie allein mit ihren Gedanken gewesen war, war ihr langsam immer klarer geworden, dass sie vorhin reichlich blind gewesen war, einfach zu entscheiden, sich für immer aus seinem Leben heraushalten zu wollen. Wie würde denn das auf ihn wirken…? Er riskierte sein Leben für sie, und sie ließ ihn links liegen? Sicher… damit wäre wohl gewährleistet, dass sie bald keine große Rolle in seinem Leben mehr spielen würde, ein Ziel, das sie gerade noch als erstrebenswert in Erwägung gezogen hatte… andererseits war sie seine Freundin. Es stand ihr nicht zu, so zu handeln. Freunde taten das nicht. Sie massierte sich die Schläfen, schloss die Augen. „Ran, bist du noch dran?“ Sonokos Stimme klang nervös. „Ja, bin ich.“ Das Mädchen seufzte. „Und ich weiß ja, du hast Recht. Wie meine Mutter auch, aber…“ Ein letztes Mal wischte sie sich mit ihrem Ärmel über die Augen. „Ich hab Angst, Sonoko. Ich hab irre Angst, ihn zu besuchen, zu sehen, was… ich hab Angst…“ Sie hörte ihre Freundin leise atmen. „Ran, ich weiß ja…“ Sonoko schluckte. „Aber stell dir vor, wie er sich vorkommen muss… er riskiert sein Leben für ein Mädchen, das ihn dann im Stich lässt, und er hat nicht einmal… nicht einmal die Erinnerung an dich. Was muss er von dir denken… und von sich selber. Er wird sich für einen liebeskranken Trottel halten, einen Vollidioten vor dem Herrn. Und das wär auch nicht gut für ihn… denn damit bekäme er ein total falsches Bild von sich.“ „Ich weiß ja.“ Ran biss sich auf die Lippen. „Daran hab ich auch schon gedacht.“ Tatsache war, sie konnte den Gedanken kaum ertragen, dass er allein war… allein war, und sich zusätzlich die Frage stellen musste, ob er sich wirklich so getäuscht hatte, sich so verrannt hatte… Sich selbst infrage stellte, wenn er sein Leben an Menschen verschwendete, die es nicht verdienten, nicht zu schätzen wussten. „Ich weiß doch, was er durchmacht, wie man sich da fühlt. Und ich kann mir nur vage vorstellen, was er die letzten Tage erlebt hat, wie es ihm geht und was er denkt, ich meine - er ist verletzt, Sonoko… ich hab Angst, zu sehen, welche Spuren das hinterlassen hat, an und in ihm, weil ich… weil ich damals nicht meine Klappe halten konnte… und weil er… weil er mich liebt.“ Langsam ließ sie ihre Hände sinken, öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf ein Bild auf ihrem Schreibtisch; es war das Foto, das sie im Tropical Land hatten machen lassen, dem Tag, als er verschwunden war. Sie hörte Sonoko leise seufzen. „Du wirst dich um ihn kümmern, Ran. Bis es ihm wieder besser geht. Gerade deswegen. Weil du es weißt.“ Ran schluckte. Sonokos Aussage war weniger ein Befehl als eine Feststellung gewesen. „Ja.“ „Und weil du ihn liebst, Süße. Selbst wenn du wirklich wolltest, könntest du dich nicht von ihm fernhalten.“ Sie hörte Sonoko leise kichern, kam nicht umhin, selbst kurz zu schmunzeln. „Danke fürs Telefonieren, Sonoko. Ich werd'… ich werd‘ dann mal schlafen gehen. Morgen wird sicher ein langer Tag. Ich meld‘ mich dann wieder…“ Sie hörte noch Sonokos gemurmelte Verabschiedung, dann legte sie auf. Anschließend stand sie unheimlich ungelenkig auf und wankte ins Badezimmer um sich frisch zu machen. In Shinichis Zimmer war soweit alles ruhig. Irgendwann hatte das Karussell in seinem Kopf aufgehört, sich wie irr zu drehen… irgendwann ging einfach auch dem tollsten Karussell der Saft aus. Als die Tür geöffnet wurde, war er dementsprechend halb eingedöst, ein wohliger Zustand, in dem zu befinden er sich glücklich schätzte, nach diesem Tag; allerdings fuhr er hoch, als er hörte, dass sich Schritte seinem Bett näherten. Shinichi drehte ruckartig den Kopf und sah einen schwarz gekleideten Mann vor sich stehen. Lange, blonde, fast weiße Haare wallten ihm über die Schultern, über seinen Rücken, sein Hut war ihm tief ins Gesicht gezogen, verschattete seine Augen komplett und lenkte somit die Aufmerksamkeit seines Gegenübers auf seine Lippen. Auf dieses gefährliche, spöttische Lächeln, das auf ihnen lag. Shinichi erstarrte, merkte, wie sein Kopf schlagartig aus dem Dämmerschlaf erwachte, sich in ihm alles auf Alarmbereitschaft stellte, das Adrenalin durch seine Adern raste. Er wusste nicht, was es war, das seinen Puls so sehr nach oben trieb. Doch; er wusste es- Angst. Angst. Angst vor dem Mann, der vor ihm stand. Vor diesem schwarzen Schatten, der ihn zweifellos anstarrte, auch wenn er seine Augen nicht sah. Er stemmte sich hoch, rutschte an die Rückenlehne des Bettes, ohne den Kerl aus den Augen zu lassen. Anscheinend sind doch nicht alle Erinnerungen weg. Shinichi atmete gepresst aus. Offensichtlich hab ich doch noch eine ziemlich genaue Ahnung, vor wem ich Angst haben muss. Wer es war, der mich umbringen wollte. Nun gut, eventuell ist das jetzt unwichtig… Shinichi blieb unbewegt, als der Mann langsam seinen Mantel auseinander schob, beim Nähertreten eine Waffe mit Schalldämpfer hervorzog. Er krallte seine Hände in seine Decke, biss seine Zähne zusammen, bis sein Kiefer zu schmerzen anfing, spürte, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb schlug. Ja, das überrascht mich jetzt… irgendwie nicht. Hinter ihm erschien ein weiterer, etwas kleinerer, untersetzter Typ, ebenfalls gekleidet in schwarz; er zog die Tür hinter sich zu, schloss die Welt damit aus. Nun war er allein, mit diesen beiden Männern in Schwarz; schwarze Hose, schwarzes Jackett, schwarzer Mantel, schwarze Sonnenbrille, schwarzer Hut. Schwarz. Anspannung ergriff Shinichi, unwillkürlich. Er atmete langsam, kontrolliert, wartete ab. Wissen die von meiner Amnesie? Der Blonde trat näher, hob den Kopf, schaute ihn nun von oben herab an. Der Blick seiner eisgrauen Augen traf Shinichi, durchfuhr ihn wie ein Blitz, versetzte sein Innerstes in äußerste Aufruhr. Spätestens jetzt wünschte er sich, sofort aufzuspringen und loszulaufen. Aber noch war nicht die Zeit… noch hatte er keinen Plan, hatte keine Ahnung, was er tun sollte. „Sieh mal einer an, wen wir hier haben. Du siehst gut aus, Kudô.“ Eine Stimme, klirrend kalt… wie berstendes Eis… Das war er. Ohne Zweifel. Dieser Mann- diese Männer- wollten ihn umbringen. Shinichi schluckte, seine Gedanken rasten; seine Lage schien aussichtslos, er saß in der Falle. Die Tür versperrte der andere – also ihm blieb nur das Fenster. Das Fenster… und er war im dritten Stock. Sein Herz pochte gegen seinen Brustkorb. Das Fenster war keine Option, wollte er die Sache hier überleben. Unbeschadet, möglichst. Verdammt! „Du hast es tatsächlich geschafft, uns zu entkommen, sieh einer an. Allerdings muss ich dir jetzt mitteilen, dass deine Glückssträhne ein Ende hat.“ Ein bitteres Lächeln schlich sich auf Shinichis Lippen. „Welche Glückssträhne?“ Shiho starb gerade ihren tausendsten Tod, als sie sich von der Besuchergruppe, unter die sie sich gerade gemischt hatte – eine Familie mit Großvater, Großmutter, Mutter, Vater und einem kleinen Jungen; da fiel eine ‚große Schwester‘, die etwas abseits mitlief, nicht auf – abseilte. Sie war in dem Gang angekommen, in dem er stationiert lag, und fragte sich gerade, wie sie eigentlich zu entkommen gedacht hatte. Oder, in sein Zimmer zu kommen, fürs erste. Sicher standen ja vor seiner Tür Polizisten. Immerhin war das hier ja ein Großeinsatz und er das zu beschützende Objekt. Zumindest ihr zweites Problem stellte sich allerdings als nonexistent heraus, als sie näher trat. Außer einer Schwester, die ihr entgegen und an ihr vorbei eilte, war hier kein Mensch. Eigentlich hätte sie das stutzig werden lassen müssen… und das tat es auch. Da in ihr allerdings ohnehin schon, seit sie auf dem Parkplatz angekommen war, alle Alarmglocken ohrenbetäubend laut schrillten, verdrängte sie, was das bedeuten könnte. Und an und für sich war es auch möglich, dass man die Polizei gleich in seinem Zimmer stationiert hatte, in diesem Fall erhöhter Alarmbereitschaft. Sie näherte sich der Tür, griff nach der Türklinke, ignorierte ihre Bedenken- schließlich war sie ja jetzt hier. Jetzt würde sie es auch durchziehen. Auch wenn sie gerade wohl die wahrscheinlich größte Dummheit seines Lebens beging; dessen war sie sich bewusst. Eigentlich handelte sie nicht so impulsiv. Vielleicht war aber impulsives Handeln gerade jetzt angesagt? Sie drückte die Türklinke herunter, öffnete sie und erstarrte augenblicklich. Shinichi wandte seinen Blick ab von der Mündung der Pistole, als er hörte, wie die Tür aufging, und auch Gin und Wodka drehten sich um. Der junge Detektiv erstarrte, als er sah, wer im Türrahmen stand, bemerkte aus den Augenwinkeln, dass auch Gin und Wodka sich umgewandt hatten. Bemerkte das süffisante Grinsen auf Gins Lippen, das immer breiter wurde, als er ihren Besuch musterte. Im Türrahmen stand eine junge Frau. Ihre Silhouette zeichnete sich deutlich im Licht ab, das vom Gang ins Zimmer fiel. Genauso wie auch die Farbe ihrer Haare. Sie waren rotblond. Shinichi konnte ihre Augen nicht genau sehen, aber aus irgendeinem Grund bezweifelte er nicht, dass sie blaugrün waren. Was er allerdings sah, war das Entsetzen, das ihre Gesichtszüge entgleisen ließ. Er spürte, wie ihm ihre Angst ins Gesicht schlug, fast körperlich. „Nein…“, hauchte sie leise. Die Angst schwang auch in ihrer Stimme mit. Todesangst. Gins Lächeln wurde noch breiter. „Na, wenn das nicht mal die liebe Sherry ist… das scheint heute mein Glückstag zu sein. Ich muss schon sagen, es wundert mich, wie mutig du bist. Früher war die Mutigere von euch beiden doch eindeutig deine Schwester.“ In seiner Stimme troff der Spott, als er sich wieder Shinichi zuwandte. „Du hast dich damals also umsonst angestrengt, sie aus dem Haus zu schmuggeln… Armagnac.“ Armagnac? Okay, er weiß nicht, dass ich nichts weiß. Aber sie ist anscheinend eine von den Guten, auf jeden Fall keine von ihnen… und noch dazu sieht sie aus wie… sie… kann das denn wirklich sein…? Der blonde Mann warf Shinichi einen spöttischen Blick zu, stutzte allerdings kurz, als er den fragenden Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkte; allerdings ließ er sich davon jetzt nicht beirren; die Gelegenheit war zu günstig. Langsam hob er seine Waffe. „Nun, wenn du nichts dagegen hast, Kudô, lassen wir der Dame den Vortritt. Damit sie sich nicht einfach wieder verabschiedet. Wodka, steh da nicht so nutzlos rum, mach die Tür endlich wieder zu.“ Er hob seine Pistole, zielte. Shiho war nicht in der Lage sich zu bewegen, sie schien wie zur sprichwörtlichen Salzsäule erstarrt, hatte keinerlei Kontrolle über sich. Sie starrte Shinichi an, unfähig aus seinem Gesicht zu lesen, was in seinem Kopf gerade vorging. Die nächsten Ereignisse spielten sich in Sekundenbruchteilen ab. Shinichi handelte, ohne groß nachzudenken, viele Wahlmöglichkeiten hatte er auch nicht. Er krallte seine Hände in die Decke - und als der Blonde auf Sherry, wie er sie genannt hatte, zielte, warf er sie hoch, zog sie ihm über den Kopf und Arme, gab ihm einen Stoß, gegen seinen Kumpan, stolperte an beiden vorbei und griff Ai, Sherry, oder wer immer sie war, an der Hand und hetzte mit ihr den Gang entlang. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, aber er ignorierte sie; ignorierte den Schmerz in seiner Seite und die Tatsache, dass er kaum Luft zum Atmen hatte, rannte einfach nur, spürte kalten, glatten Krankenhausfußboden unter seinen nackten Füßen, und lief, sie immer noch am Arm haltend. Er hatte keine Ahnung, wohin er eigentlich lief, hoffte einfach, dass er Richtung Ausgang steuerte und hielt Ausschau nach Schildern, so gut es eben ging. Sie hörte ihn keuchen, wusste, was das für eine Anstrengung war für seinen geschwächten Körper, versuchte, aufzuschließen und ihn ein wenig zu schützen; aber man merkte, er war durchtrainiert, er war ein wirklich guter Läufer, trotz der Verletzungen; sein Laufstil war sehr effizient. Kein Wunder, er hatte in seiner Zeit als Mittelstürmer und Kapitän seiner Fußballmannschaft sicher viel gelernt. Dann hörten sie den Schuss knallen. Guter Gott, sei uns gnädig, bitte… Shinichi wandte sich nicht um, kniff die Augen nur kurz zusammen, wartete, ob sich irgendwo ein weiterer Schmerz einstellte; und wartete umsonst. Dennoch war das nicht allzu viel Grund zur Freude; er war verletzt, und die anderen beiden hinter ihm nicht. Noch dazu hatten sie Schusswaffen, sie mussten sie nicht einholen, um sie zu erschießen. Und ein gutes Schussfeld würden sie bald haben. Die Gänge waren menschenleer, nur schlugen sie hier noch zu viele Haken. „Da ist er!“ Er hörte sie hinter sich. Sie klangen erschreckend nahe. Dann schossen Bilderfetzen durch seinen Kopf, die ihn fast ins Straucheln brachten. „Da ist er!“ Bäume. Regen… ein Stechen in der Seite, das Geräusch seines keuchenden Atems… „Lasst ihn nicht entkommen!“ Er blinzelte. Was zur Hölle war das gerade gewesen? Shiho schaute ihn an, hatte ihn festgehalten, als sie gemerkt hatte, dass er kurz aus dem Takt kam, war mit ihm weitergelaufen, die Treppe hinunter ins Foyer, konzentrierte sich nur aufs Laufen, merkte nicht, wie sie mit jemandem zusammenstieß. Der Mann hielt sie fest, während Shinichi sie losließ, kraftlos zu Boden sank, nach Luft rang. Shiho versuchte blind, sich loszureißen, bis eine starke Hand ihr Kinn umschloss und sie zwang, die Person vor sich anzusehen. Und der… der sie festhielt, war niemand anderer als Shuichi Akai. Hinter ihm erkannte sie Jodie Starling, James Black, Inspektor Meguré, und noch ein paar andere Polizisten. Offenbar hatte man sich auf dem Weg zu Shinichis Zimmer befunden. „Du…?“, wisperte er, schaute sie sehr überrascht, fast ein wenig entsetzt an. „Sie sind gleich hinter uns.“, flüsterte sie nur, in ihrer Stimme schwang Panik, schaute dann zu Boden, in Shinichis bleiches Gesicht, er keuchte, starrte die Treppe hinauf, bis er merkte, dass jemand an seinem Arm zerrte. Er ließ sich von James Black hochhelfen und um die Ecke ziehen, in ein Zimmer, in dem ein paar Leute versammelt waren. Shiho rannte ihnen hinterher, atmete erst dann ein wenig auf, als die Tür hinter ihnen zufiel. Dann bedachte sie Shinichi mit einem prüfenden Blick; er hielt sich an der Tischkante fest, warf einen angespannten Blick in die Runde, ließ sich dann weiter gegen die Tischkante sinken, versuchte, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu kriegen. Anscheinend ging es ihm gut; auch wenn er, wie sie sehr wohl mitbekam, vermied, sie anzusehen. Du ahnst es schon, nicht wahr? Du weißt es. Du weißt es… Shinichi schluckte, ergriff dankbar das Glas Wasser, das ihm eine Frau in Schwesterntracht anbot und nahm einen Schluck, beobachtete dabei die Tür. Die Männer in Schwarz waren ihnen offensichtlich hierher nicht gefolgt; er fragte sich, ob sich gerade irgendwo im Krankenhaus eine Schießerei ereignete. Vielleicht waren sie in Deckung gegangen, als sie die Leute gehört hatten… so dumm, in einen Hinterhalt zu laufen waren sie sicher nicht. Dann wurde er aus seinen Gedanken gerissen. „Für lange Erklärungen ist keine Zeit, wie ihr auch denken könnt. Auch wenn du sie wohl nötig hättest.“ Der schwarzhaarige Mann, in dessen Arme sie gerade gelaufen waren, schaute Shinichi mit durchdringendem Blick an. Der junge Mann erwiderte seinen Blick ohne zu blinzeln. Akai musterte ihn kurz. Der Kerl hatte nichts weiter an als seine Krankenhausklamotten. „Ihr verschwindet hier. Ist der Professor in der Nähe?“ „Ja.“ Shiho nickte. Sie war neben ihn getreten, dicht; so dicht, dass er die Wärme, die ihr Körper abgab, spüren konnte, und das leise Zittern wahrnehmen konnte, das sie schüttelte. Sie hatte ihr Hände vor ihrer Brust verschränkt, versuchte, souverän zu wirken, und konnte ihm doch nicht darüber hinwegtäuschen, wie viel Angst sie in gerade diesem Moment hatte. Was wolltest du eigentlich hier... Ai? Wenn du es denn bist. Warum bist du hier, wenn du doch weißt, sie erkennen… dein wahres Ich. Aber wenn du du bist… Stimmt es denn dann… Kann das denn wirklich sein? Wenn ja… Welchen Zweck hat so ein Gift… was können die falschen Hände damit nur anrichten? Ungeheuerliches, zweifelsohne. Er warf ihr einen schrägen Blick zu, sagte aber nichts, wartete ab. Sie ergriff wieder das Wort, schaute dabei den Mann mit den schwarzen Haaren, der sie angesprochen hatte, aber nicht an; ihre Augen fixierten einen Punkt zu ihren Füßen, ihre Stimme war kaum zu verstehen, auch wenn sie sich bemühte, sie sicher klingen zu lassen. „Aber er ist… nun ja, er parkt in einer Seitenstraße. Ich weiß nicht, ob ihr mal einen Blick auf die Dächer geworfen habt.“ Jodie verzog das Gesicht. „Haben wir. Und deshalb… müssen wir da jetzt auch zu sehr unorthodoxen Methoden greifen. They observe every ambulance… also bringen wir dich nicht mit einem Krankenwagen hier raus. Du rufst den Professor an, er soll ins Haido-Hotel-Parkhaus fahren. Wir bringen euch dahin.“ Sie versuchte ein Lächeln, seufzte dann aber tief. „Und was verstehen Sie unter unorthodoxen Methoden?“ Shiho hatte die Augenbrauen hochgezogen, warf Shinichi einen musternden Blick zu, den offenbar fröstelte. „Nun… da sie alle Transporte noch lebender Patienten zu genau beobachten, dachten wir…an einen Leichenwagen.“ Die junge Chemikerin schaute sie aus Halbmondaugen an. Shinichis Augenbrauen waren in mildem Interesse nach oben gerutscht. „Aha. Aber Sie wissen doch, dass hier überall… wie gedenken Sie denn, uns in die Leichenhalle zu bringen?“ Shihos Stimme klang schnippisch. Unwirsch verschränkte sie ihre Hände vor ihrer Brust, ihrem Gesicht war ihr Zweifel an ihrem Plan nur zu deutlich abzulesen. Allerdings wusste sie wohl, dass sie nicht viele Alternativen hatte. Sie warf Shinichi einen raschen Blick zu, der in Gedanken versunken schien; auf seinem Gesicht war genau der Ausdruck von Nachdenklichkeit zu sehen, der ihr so vertraut war. Ein Blick aus wachen Augen auf einen unbestimmten Punkt vor sich in der Luft, die leicht zusammengezogenen Augenbrauen, die leicht aufeinander gepressten Lippen – ein Blick, den sie bei Conan so oft gesehen hatte. Offensichtlich ging er das Pro und Kontra des Plans im Kopf durch. „Ja, das wissen wir.“ Unbehagen schwang in Megurés Stimme mit, als er sprach. Shinichi schaute auf, als er merkte, dass der etwas fülligere Kommissar vor ihn trat. „… und deshalb muss das jetzt schnell gehen. Wir müssen aus dir eine Leiche machen, und sie kurz in dem Glauben halten, Gin hätte erreicht, weswegen er hier war. Mit etwas Glück haben die sich untereinander noch nicht abgesprochen, und wir laufen keinem über den Weg, aber für den Fall der Fälle…“ Shinichi sog scharf die Luft ein, dann schlich sich ein sarkastisches Lächeln auf seine Lippen. „Nun, um aus mir einen Toten zu machen, brauchen Sie wenigstens nicht viel Phantasie… und auch der materielle Aufwand sollte sich in Grenzen halten.“ Er seufzte, betrachtete sein bleiches Spiegelbild, das sich auf dem Wasserglas reflektierte. „Ich schätze, ich seh ja fast aus wie eine Leiche. Aber was ist mit ihr? Es schien gerade eben so, als hätten diese Leute auch mit dir ein Hühnchen zu rupfen.“, meinte er zu Shiho gewandt. Sie wurde bei dem Gedanken an gerade eben bleich, wich dann seinem Blick aus und konzentrierte sich auf Jodie, die ansetzte, das Vorgehen zu erläutern. „Für sie reicht wohl ein Arztkittel, eine OP-Haube und ein Mundschutz. Das suggeriert nicht nur Tod, sondern könnte auch als Verkleidung einer der ihren missverstanden werden…“ „Wenn wir Glück haben.“, murmelte Shiho nur. „Es wird Zeit, dass wir ein wenig Glück haben.“, seufzte Meguré, warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Und abgesehen davon haben wir auch gar keine Wahl.“ Er ahnte, wer sie war, auch wenn keiner ihren Namen ausgesprochen hatte; darüber nachdenken wollte er aber lieber nicht. Den Ausdrücken auf den Gesichtern der Agenten vorhin, als sie sie gesehen hatten, entnahm er jedoch, dass sie genauso überrascht waren, Shiho Miyano zu sehen, wie er es war. Akai und Jodie verließen kurz darauf das Zimmer, als die Tür aufging, und eine junge Schwester sichtlich nervös eine Bahre herein rollte. Sie nahmen wohl die Verfolgung wieder auf, kehrten zum Rest der Truppe zurück, die sich wohl immer noch um die beiden Männer in Schwarz kümmerte. Shinichi wartete, bis die Tür hinter ihnen zugefallen war, dann stieß er sich vom Tisch ab, trat auf die Liege zu und legte sich hin, ließ es zu, dass man an ihm herumzupfte und -pinselte, bis er tot genug aussah, merkte er doch erst jetzt, wie sehr in dieser kurze Sprint wirklich angestrengt hatte. Und einmal mehr fragte er sich, wo ihre Verfolger abgeblieben waren. Es schien ihm fast unwirklich, dass sie hier in aller Ruhe seine Flucht vorbereiteten- wobei, von „aller Ruhe“ konnte auch nicht wirklich die Rede sein. Es ging hier zu wie in einem Bienenstock, wenn man so wollte. Er starrte an die Decke, geradewegs in das künstliche Licht einer Neonlampe, und merkte, wie er immer schläfriger wurde. Der Tag war lange gewesen, und anstrengend. „Nun denn…“ Megurés Gesicht erschien über seinem. Er sah tatsächlich äußerst besorgt aus, was Shinichi zu der Frage brachte, wie gut sie sich eigentlich kannten. Wenn er wirklich so etwas wie ein Detektiv gewesen war, dann sollte er doch eigentlich auch bei der Polizei bekannt sein. Diese Frage zu erörtern würde allerdings warten müssen. „Wie fühlst du dich?“ „Tot genug, schätze ich.“, murmelte der junge Detektiv leise. „Lassen Sie‘s uns hinter uns bringen. Ich will ins Bett.“ Er seufzte, brachte irgendwie ein schiefes Lächeln zustande, bemerkte noch, wie der alte Kommissar ernst nickte, und schloss die Augen, als man eine schwarze, blickdichte Plane über ihn warf. Er musste darauf gefasst sein, dass man sie aufhalten würde und nachschauen würde, wer da transportiert wurde; deshalb versuchte er, möglichst schwer auf der Bahre zu liegen und so flach und langsam wie möglich zu atmen. Sehr schwer fiel ihm das im Moment nicht; allerdings musste er aufpassen, nicht einzuschlafen, denn ein schlafender Mensch hatte bekanntlich keine Kontrolle über seinen Körper. Unwillig versuchte er, sich wachzuhalten. Er hoffte sehr, dass ihnen diesmal etwas Glück beschieden war. Dann setzte sich die Prozession in Bewegung. Jodie und Shuichi unterdessen standen mit Takagi auf der Treppe, im toten Winkel eines Ganges, und horchten in die Stille. Es war seltsam gewesen, dass Gin und Wodka ihnen nicht gefolgt waren, und andererseits auch wieder nicht. Sie wären dumm gewesen, in eine Mannschaft Polizisten zu laufen; allerdings war auch nicht davon auszugehen, dass sie allzu schnell von ihrer Beute ablassen würden. Shuichi starrte die gegenüberliegende Wand an, merkte, wie Takagi neben ihm schwer atmete, während Jodie mit einem Taschenspiegel den Gang ausspionierte. Der Rest der Polizisten war ausgeschwärmt und verschiedenen Gänge und Treppen entlang gelaufen; das Ziel war, ihnen den Weg abzuschneiden, aber noch hatte sich keiner gemeldet, dass er die beiden gefunden hatte. Glücklicherweise waren aber auch noch alle zu erreichen, was bedeutete, dass weder Gin und Vodka, noch ein anderes Mitglied der Organisation, jemanden ausgeschaltet hatte. Takagi war also mit ihnen gegangen, als sie die Einsatzzentrale verlassen hatte, und Akai konnte sich denken, warum. Er ahnte, warum der junge Inspector so blass war, so kurzatmig, so… angsterfüllt. Und so erpicht darauf, endlich dieses Krankenhaus auf den Kopf zu stellen. Es ging um die junge Polizistin. Shuichi warf ihm einen kalkulierenden Blick zu; der Mann bemühte sich um Fassung, und er wirkte auch hochkonzentriert, aber wirklich frei würde sein Kopf erst sein, wenn er gefunden hatte, wen er suchte. In dem Moment signalisierte Jodie reine Luft. Sie stiegen die Treppe hoch, standen nun im Gang, an den sich eine weitere Treppe anschloss, die in die Etage führte, in der Shinichis Zimmer lag. „Wir teilen uns auf.“ Jodie starrte Akai an wie einen Geist. Takagi fuhr herum. „Bitte was, dear?“ „Wir teilen uns auf.“, wiederholte Akai ruhig. „Inspektor, Sie gehen die Treppe rauf und zu Shinichis Zimmer. In der Nähe sollten sich ihre Kollegen befinden, suchen und finden Sie sie, und erstatten Sie Meldung, wenn Sie erfolgreich waren. Wir gehen in die andere Richtung. Irgendwo müssen die beiden sein, und wahrscheinlich auch noch andere von ihnen, also ist höchste Vorsicht geboten.“ Der junge Polizist schaute den schwarzhaarigen Japaner lange an. Ein entschlossener Gesichtsausdruck trat auf sein Gesicht, dann nickte er scharf, und eilte lautlos den Gang entlang zur zweiten Treppe. Jodie musterte ihren Partner immer noch mit einem Blick voll Unverständnis. „You’re mad, Shu. He’ll run into his doom. Headlong. If he encounters-” Ihre Augenbrauen hinter ihren großen Brillengläsern waren nach oben geschossen, ihre Lippen zu einem schmalen Strich gepresst. „Wird er nicht. Er wird nicht in sein Verderben rennen, und sicherlich nicht kopflos, Jodie. Und wenn er einem von ihnen begegnet, werden die schon zu tun haben, ihn aufzuhalten.“ Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen. „An dem Inspektor ist mehr dran, als du denkst. Und jetzt komm, wir haben nicht viel Zeit. Wir sollten suchen, wen wir finden wollen. Finden, wen wir suchen.“ Damit drehte er sich um, zog seine Waffe aus seinem Holster und entsicherte sie. Kapitel 29: Kapitel 11: Flucht ------------------------------ Meine Damen und Herren, vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren, ich freu mich irre, dass ich euch damit noch eine Freude machen kann - und ihr mir so lang die Treue gehalten habt! Deshalb heute mal keine lange Vorrede- ready, steady, go!!! ^_____________^ MfG, Leira :) ____________________________________________________________________________________ Kapitel Elf: Flucht Ein paar Stockwerke tiefer rollte eine Bahre mit einem Toten durch die Gänge. Shinichi lag immer noch wach, und merkte langsam, wie seine Finger vom improvisierten Kunstblut zu kleben anfingen; für alle Fälle hatte man ihm eine großzügige Portion eilig zusammengemixter Substanzen – Ketschup, Tomatenmark, Wasser, Paprikapulver, Honig und anderes aus der Kantine, das entweder rot war oder klebend und deshalb als Bindemittel fungieren konnte – auf seinen Pyjama und seine Hände geschmiert, um eine Schusswunde in der Brust zu fingieren. Für diesen Zweck prangte nun auch ein Loch in seinem Hemd, und auf die Haut darunter hatte man versucht, so etwas wie eine Wunde zu modellieren, mit Klebstoff und Gips aus Büro und Verbandsmaterialkasten. Er hatte das alles mit mildem Interesse beobachtet. Wenn das ungefähr mein Leben vor meiner Amnesie wiedergibt, dann… muss ich das Wort Langeweile wohl aus meinem Vokabular streichen. Allerdings stellt sich die Frage, ob mich dann nicht bald mal der Schlag trifft, bei diesen Adrenalinschüben. Das Ergebnis der Assistenzärztin, die sich künstlerisch an ihm ausgetobt hatte, sah erstaunlich echt aus, das hatte er zugeben müssen - zumindest dem kurzen Blick nach zu urteilen, den er erhaschen hatte können. Neben ihm gingen drei Ärzte, davon ein echter Anästhesiearzt, der einem Abenteuer und Adrenalinkick nicht abgeneigt gewesen war und sich daher freiwillig gemeldet hatte, sowie Shiho und Kommissar Shiratori, dessen Aufgabe es war, den Transport zu gewährleisten und sicher zu gehen, dass alles nach Plan lief. Offenbar hatte er zuerst einen Posten draußen belegt, der nun allerdings, wo Gin und Vodka ohnehin schon im Haus waren, obsolet geworden war. Ihr Ziel, die städtische Autopsie im Haido-Klinikum, erreichten sie unbehelligt. Der nächste Schritt bestand nun, die Fracht umzubetten und abzumelden, um sie ins Autopsielabor der Polizei zu bringen, das zumindest war das Ziel, das man vorgab, anzusteuern. Shiho atmete gepresst in ihren Mundschutz, sah unsicher auf; Kommissar Shiratori fing ihren Blick auf, bemerkte auch die ersten Anzeichen eines leichten Schweißausbruchs auf ihrer Stirn. Er nickte ihr aufmunternd zu, ehe er mit angemessener Vorsicht und Bedacht das Leichentuch zurückschlug, als sie die Abmeldung erreicht hatten. Für jeden, der nicht allzu genau hinsah, war offensichtlich, dass der junge Mann, den das Leichentuch enthüllte, tot war. Er war im wahrsten Sinne des Wortes leichenblass; seube Haut fast weiß und irgendwie wächsern, seine Lippen blutleer, seine Augenlider entspannt geschlossen – und sein Gesichtsausdruck zeigte jenen tiefen Frieden, der nur den Toten beschieden zu sein schien. Shiratoris Blick verharrte kurz auf seinem Gesicht, merkte, wie in ihm die Anspannung wuchs; es war wichtig, dass keiner merkte, dass der junge Detektiv noch lebte. Shiho hingegen schien noch weißer zu werden, als sie es ohnehin schon war; zum Glück trug sie einen Mundschutz, der ihre Mimik zum Großteil verdeckte. Sie ernteten einige entsetzte und fragende Blicke der Belegschaft als sie sich anschickten, ihn in einen Transport-Kunststoffsarg zu betten. Shiratori übernahm es, die angebliche Leiche bei der Aufnahme abzumelden. Mit gemessenem Gesichtsausdruck schritt er zu der Dame am Schalter, die sie schon seit ihrer Ankunft mit unverhohlener Neugier beobachtet hatte. „Shinichi Kudô?“, fragte sie dann langsam, als sie das Formular studierte. „Ist das nicht dieser… Schülerdetektiv?“ Sie zog interessiert die Augenbrauen hoch; ihr Interesse machte allerdings sofort einem Ausdruck von schuldiger Betroffenheit Platz. „Tot?“ „Ja.“ Die junge Dame errötete kurz. „Ah, entschuldigen Sie meine dämliche Frage, warum wäre er sonst hier…“ Sie kicherte albern, wurde dann aber wieder ernst. „Damit hatte ich nicht gerechnet, so gut, wie man auf ihn aufzupassen schien, hier… ich meine, die ganze Polizei im Haus…“ Ihre Stimme war auf ein Flüstern herabgesunken. Shiratori alias junger Assistenzarzt beugte sich verschwörerisch nach vorn, schaute sich bedeutungsvoll um und senkte seine Stimme geheimnistuerisch. „Ermordet. Tod durch eine Kugel in die Brust. Hat ihm wohl die Aorta zerfetzt, der Einschussstelle nach zu urteilen, der Junge hatte keine Chance, ist sofort verblutet. Die Schusswunde sieht verheerend aus, ich hab so was noch nie gesehen, muss aus nächster Nähe-“ Die junge Sekretärin am Schalter zog ein gleichermaßen bestürztes wie mitfühlendes Gesicht, brachte ihn so dazu, abzubrechen. „Jetzt gerade, hier im Krankenhaus?“, flüsterte sie dann entsetzt, als ihr aus den Unterlagen auffiel, dass ihr Patient ja schon ein paar Tage hier weilte. Ninzaburo Shiratori nickte bedeutungsschwer. „Ja… die Leute, die ihn wohl vor ein paar Tagen schon erwischt haben, haben heute ihr Werk wohl vollendet. Und das in unserem Krankenhaus! Und trotz diesem Polizeiaufgebot!“ Er seufzte, zog ein unglückliches Gesicht, warf einen Blick auf die Leiche, die Shiho und der Anästhesist gerade in den herbeigeschafften Transportsarg legten. Der Leichenwagen war mittlerweile ebenfalls angekommen und hatte neben ihnen geparkt, der Fahrer war ausgestiegen, um ihnen beim Verladen behilflich zu sein. „Stellen Sie sich das vor! Kaum zwanzig Jahre alt, ein recht ansehnlicher Kerl und brillant - das ist doch Verschwendung. Und noch dazu könnten diese Leute hier noch rumrennen, aber was machen wir - wir tun unsere Arbeit, als ob nichts gewesen wär. Aber was will man machen. The show must go on.“ Er deutete auf die Unterlagen. „Ihre Unterschrift fehlt noch.“ Die Sekretärin schien ihn allerdings nicht zu hören; ihre Aufmerksamkeit galt der Leiche, die man gerade von der Bahre gehoben hatte. „Und wo will man jetzt hin mit ihm? Müsste er nicht eigentlich hier noch autopsiert werden? Ich meine, auch wenn die Todesursache offensichtlich ist, so wird bei einem Morddelikt doch sicher - ich meine, Forensik und Ballistik und all der Kram… ich kenn‘ mich ja nicht wirklich aus auf dem Gebiet, aber ich schaue mit Begeisterung diese Krimiserien, Sie wissen schon…“ Sie zog die Augenbrauen hoch, zog ihre Hand zurück. Shiratori nickte bestätigend, auf seinem Gesicht ein hervorragend geschauspielerter Ausdruck dezidierten Missvergnügens. „Ja, eine Autopsie wird auch noch gemacht. Allerdings nicht hier. Da es sich um eine Straftat in einem laufenden Fall handelt, wie man mir sagte, und wie hier auch steht-,“ er zupfte ein paar Blätter auseinander und deutete auf einen Absatz, in dem der Grund für die Entlassung, beziehungsweise Überführung ihres Patienten stand, „wird er in die forensische Abteilung des Polizeidezernats gebracht. Kugel rausholen, ballistische Tests, all das Zeug drum rum, das volle Programm. Geht schneller, weniger bürokratischer Aufwand.“ Er zwinkerte vertraulich, setzte sein charmantestes Lächeln auf. „Ich muss gestehen, da wär ich ja gern dabei. Ich stelle mir das echt aufregend vor, ein echter Fall… auch wenn’s mir um den Jungen natürlich Leid tut.“ Die Sekretärin grinste ihn breit an. „Moderner Sherlock Holmes, was? Nun gut, dann zeigen Sie mal her.“ Sie prüfte die Papiere gewissenhaft. „Scheint in Ordnung zu sein.“, meinte sie, ehe sie ihre Unterschrift unter die Entlassungspapiere setzte. „Möge er in Frieden ruhen.“ „Das hoffen wir alle. Einen angenehmen Tag noch.“ „Danke.“ Shiratori nahm die Papiere wieder entgegen, steckte sie in einen Umschlag, merkte dabei, dass die junge Frau schon wieder dabei zusah, wie man die Leiche verlud. Er nickte ihr nur noch einmal kurz zu, dann drehte er sich um; bemerkte nicht das Lächeln, das sich langsam auf die Lippen der Sekretärin gestohlen hatte, aber fühlte sehr wohl die Anspannung von sich abfallen. Jetzt konnte nicht mehr viel schiefgehen. Takagi musste nur noch Miwako und Yumi finden, und alles war wieder in Butter. Beaujolais schloss die Fensterscheibe, die ihr Büro vom Rest der städtischen Autopsie im Klinikum trennte und drehte sich um, ging am Schrank vorbei, in dem die echte Sekretärin lag, bewusstlos, mit einer Platzwunde am Hinterkopf und reichlich Klebeband um Mund und Hand- und Fußgelenke, direkt neben Officer Chiba, der ähnlich verpackt neben ihr ruhte. Das alles kümmerte sie allerdings wenig; sie griff nach ihrer Handtasche und ihrer Jacke, hängte sie sich über den Arm und verließ ungesehen das Büro. Ihre Arbeit war hiermit getan. Shinichi Kudô war tot. Shiho stand unschlüssig neben dem Leichenwagen und wartete auf ihre Chance, darin zu verschwinden. Neben sie trat Shiratori, verschränkte die Arme vor der Brust, nickte stumm auf ihre unausgesprochene Frage. „Bis jetzt läuft alles nach Plan.“ Die blonde Forscherin nickte langsam, wandte dann ihren Kopf leicht, legte ihn ein wenig schräg, als sie ihn ansah. „Sie geben einen sehr glaubwürdigen Arzt ab, Kommissar Shiratori.“ Er lächelte amüsiert. „Er verhält sich aber auch vorbildlich wie ein Toter, das muss man ihm lassen.“, meinte er, nickte zu Shinichi, über den man sich anschickte, den Deckel zu legen. Shinichi hatte die Leiche in der Tat perfekt gemimt, als man ihn in den Sarg hob, das musste sie ihm lassen. Er rührte sich nicht, atmete nicht, wirkte, wie ein lebloser Körper zu wirken hatte – schlaff, ohne die geringste Körperspannung zu zeigen ließ er sich hochheben und wieder ablegen. Als man den grauen Deckel über ihm schloss und die Schnallen zuschnappten, atmete sie leise auf. Dann kroch sie, nachdem sie sich kurz vergewissert hatte, dass keiner zusah, verdeckt vom Sarg und ihren Mitstreitern in einem günstigen Moment hinein in den langen Wagen, gab Shiratori ein Zeichen, die Tür schleunigst zu schließen. Er nickte ihr ernst zu, hob den Daumen, zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Ihr Verbleib schien keinen weiter zu interessieren. Sie robbte nach vorn, wo der Polizist in schwarzer Leichenwagenfahrerkluft bereits saß und ihr kurz zunickte, ehe er den Wagen startete, aus der Krankenhausgarage rollte und für alle Fälle die Verbindungswand hochfahren ließ, damit sie bei der Kontrolle am Ausgang nicht gesehen wurde. Sie lag auf dem Rücken, starrte an die mit grauem Stoff ausgepolsterte Decke des Wagens und hielt den Atem an. Sie merkte, wie sie fuhren, hörte den Motor leise schnurren. Spürte, wie sie abbremsten, und vermutete, dass sie jetzt wohl am Ausgang angekommen waren. Leise Stimmen drangen zu ihr in den Frachtraum, aber sie konnte kaum verstehen, was gesprochen wurde; dann fuhren sie auch schon wieder an, und kurze Zeit später glitt die Trennwand wieder nach unten. Ihr Fahrer schaute sie kurz an, nickte ihr dann lächelnd zu. „Fast geschafft, Miss. Wir sind auch in ein paar Minuten schon im Hotel. Ich denke, Sie sollten unsere Leiche mal wieder von den Toten auferwecken, es sollte alles so schnell wie möglich…“ Shiho nickte nur knapp, zog sich den Mundschutz vom Gesicht, dann kniete sie sich gebückt hin und öffnete den Deckel erneut, damit Shinichi herausklettern konnte. Als sie ihn den offenen Sarg blickte, erschrak sie unwillkürlich. Er sah aus, wie in der Nacht, in der man ihn eingeliefert hatte. Die Augen geschlossen, das Gesicht leichenblass, die Kleidung, die Hände blutverschmiert. Die Bilder, die Gefühle jenes Abends traten ihr wieder vor Augen, so deutlich, als würde das alles gerade eben erst passieren. Sie spürte ihr Herz unangenehm gegen ihren Brustkorb schlagen, merkte, wie sich ihr die Kehle langsam zuschnürte. Shinichi… Nur ein paar Tage war es her, als man ihn gefunden hatte, als nicht sicher war, ob er es überleben würde. Shiho wandte den Blick ab, starrte an die Decke des Wagens, merkte, wie sich ihre Finger zu Fäusten ballten, sie sich unwillkürlich verkrampfte. Ein Geräusch stoppte den Film, der langsam in ihrem Kopf anlaufen wollte, abrupt. Ein leises Schnauben, gedämpftes Murmeln, gemischt mit etwas, das wie kaum hörbares Schnarchen klang. Shiho erstarrte, merkte, wie sich der aufkeimende Schockzustand schlagartig abbaute. Langsam senkte sie den Blick wieder, warf einen Blick in die Kiste vor sich, merkte, wie in ihrer Schläfe eine Ader zu pochen begann, ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg. Sie starb hier fast vor Angst, erlebte eins der schlimmsten Déjà-Vus in ihrem Leben, und was machte der, um den sich die ganze Aufregung eigentlich drehte? Er pennte. Sie starrte ihn aus Halbmondaugen an, ließ dann den Deckel zuknallen, den sie eben noch mit beiden Händen gehalten hatte, hörte zufrieden einen gedämpften, aber eindeutig erschrockenen, Schrei. Dann hob sich der Deckel wieder hoch, und Shinichis Kopf erschien, ein einigermaßen verwirrter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. „Mein Gott! Willst du mich umbringen? Wenn ja, stell dich hinten an!“ Sein Tonfall klang etwas mürrisch, als er sich anschickte, den Deckel wieder aufzustemmen und aus der Kiste herauszukriechen. Shiho starrte in nicht minder genervt an. „Sag mal, wie abgebrüht kann man sein, dass man in einem Leichentransportsarg einschläft?!“ Er stutzte, blinzelte sie an, versuchte dann, das Kunstblut von seinen Händen an seine Kleidung zu schmieren, weil es ihm immer noch die Finger verklebte. „Ich bin eingeschlafen?“ Langsam zog er sich am Rand der Kiste hoch und schob ein Bein darüber. Shiho rutschte ein Stück zurück, um Platz zu machen. „Echt jetzt?“ „Offensichtlich, ja. Du hast geschnarcht.“ Sie schaute ihn aus zusammengekniffenen Augen an, verschränkte ihre Arme vor der Brust und lehnte sich zurück, würdigte ihn keines Blickes mehr, versuchte stattdessen, sich selbst wieder unter Kontrolle zu bringen. Diese Art von Emotionalität war doch eigentlich gar nicht ihr Ding. „Quatsch. Ich schnarche nicht.“ Er rutschte über die Kante der Kiste und fiel auf den Boden des Wagens, blieb liegen, merkte, dass er eigentlich gleich wieder einschlafen könnte. „Aber dass ich geschlafen hab, kann sein. Allerdings erst, nachdem der Deckel zu war, ich hab noch gemerkt, wie man mich hochgehoben hat.“ Unwillig rappelte er sich auf, wusste er doch, dass er jetzt nicht schlafen konnte, und setzte sich neben sie, lehnte sich an die Seitenwand des Wagens, massierte sich die Schläfen. „Wie kann man in so nem Ding schlafen, Shinichi, ehrlich… “ Ihre Stimme klang leise; ihre Genervtheit verflog langsam. „Warum regt dich das eigentlich so auf?“ Er schaute sie musternd an, allerdings nur kurz. Sie war blass um die Nase, und eigentlich konnte er sich die Antwort denken. Gedankenverloren rubbelte er sich Tomatenketchup von den Fingern. „Aber okay, eine Erklärung, schön. Ich versuchs mal damit… es ist mittlerweile bestimmt fast zehn Uhr nachts, ich hab die schlimmste Woche meines Lebens hinter mir und kämpf‘ immer noch mit ihren Folgen, die da wären: eine Schusswunde im Bauch, eine Bronchitis und eine Amnesie. Hört sich anstrengend an, nicht? Eigentlich wären das doch schon genug Ursachen, die einen Abends in die Federn zwingen. Aber warte, ich hab noch was für dich – wie du weißt, war auch der Tag heute nicht unbedingt das, was man erholsam nennt; ich hab mit dem Professor geredet und mit…“ er brach ab, biss sich kurz auf die Lippen, „Ai. Mit meinen Eltern hab ich gesprochen, und mit äh… diesen Männern in Schwarz, an die du dich sicher erinnern wirst – gut, mit denen hab ich zwar nicht wirklich geredet, aber auch sie haben einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass dieser Tag, von heut Morgen bis jetzt, mir kaum eine Minute Ruhe gelassen hat. Dabei kann man sagen, ja, es ist anstrengend, den lieben langen Tag zu versuchen, sein Gedächtnis wieder zu finden, es ist anstrengend, sich den halben Tag untersuchen zu lassen, und ja, es ist auch anstrengend, immer und immer wieder zu wiederholen, dass man nichts weiß, sich nicht erinnern kann, auch wenn man es versucht. Und ja, ich kann definitiv behaupten, dass dieser ungeheure Adrenalinschub, der wohl ausgelöst wurde, als man mir eine Pistole vor die Nase hielt, zusammen mit unserem netten kleinen Sprint durchs Krankenhaus mich körperlich mehr mitgenommen haben, als ich zugeben will. Nun, wie dem auch sei – ehrlich – es interessiert mich gerade nicht die Bohne, wo ich liege, wenn ich schlafen will.“ Er gähnte. „Und ich will schlafen, glaub mir das, auch wenn’s in einem verdammten Leichentransportsarg ist. Allerdings hab ich das dumpfe Gefühl, dass ich heut noch länger nicht ins Bett komme. Und irgendwie fürchte ich, das hat mit dir zu tun.“ Shinichi schlang seine Arme um seine angezogenen Beine, legte sein Kinn auf seine Knie und seufzte. Shiho warf ihm einen betrübten Blick zu. Takagi hatte sein Ziel fast erreicht. Er versuchte, von der Treppe aus an den spiegelnden Schildern der Zimmertüren zu erkennen, ob die Luft rein war; als er sich nicht weiter zu helfen wusste, zog er sich an der obersten Stufe ein wenig vor, und späte nach links und rechts. „Scheint verlassen zu sein.“, murmelte er leise zu sich, stand dann auf und betrat den Gang. Er wusste, wohin er wollte. In die Teeküche nämlich, als erstes. Dort war Yumi stationiert gewesen, sie konnte ihm sicher sagen, wo Sato war - zumindest, bevor man sie wohl überwältigt hatte. Allerdings auch nur, wenn Yumi noch in der Teeküche war. Eilig hastete er auf leisen Sohlen den fast blendend hell beleuchteten Gang entlang. Der hellgraue Fußboden, blank gewienert trotz seines Alters, reflektierte das Licht geradezu vorbildlich. Wataru Takagi ließ seinen Blick über die Türschilder gleiten; bei dem Schild mit der Inschrift „Teeküche“ hielt er inne. Die Tür war geschlossen. Zaghaft streckte er seine Hand aus, umgriff die Klinke; er hatte Angst, was ihn erwarten könnte, aber das durfte ihn nicht davon abhalten, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Er drückte entschlossen die Klinke herunter – und stutzte. Die Tür gab nicht nach. Sie war abgeschlossen. Spätestens jetzt wusste er, dass er richtig lag; allerdings hatte er keine Ahnung, wie er die plastikverkleidete Tür aufbekommen sollte. Nach kurzem Überlegen kam er zu dem Entschluss, es mit einem gezielten Fußtritt zu versuchen. Er wusste, dass Ran in der Lage war, Türen einzutreten; und er wusste auch, dass er auf das Schloss oder in die Nähe dessen treten musste, denn da war die Schwachstelle der Tür. Soweit so gut, die Theorie beherrschte er. Es sollte doch für ihn machbar sein, eine Tür einzutreten. Unsicher trat er ein paar Schritte zurück, um Anlauf zu nehmen, bis er mit dem Rücken unvermittelt an die Wand stieß. Erschrocken blickte er um sich, fand den Gang aber genauso leer wie gerade eben. „Nun denn, Wataru… versuch dein Glück.“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er ging etwas in die Hocke, stellte einen Fuß nach hinten, holte Schwung. Mitten in den drei, vier Schritten, die er Anlauf hatte, fiel ihm auf, dass er keine Ahnung von Karate hatte, im Gegensatz zu Ran. Er wusste nicht, wie der Tritt funktionierte, mit dem sie so schwungvoll Türen eintrat. Diese Überlegung brachte ihn dazu, nicht mehr aufzupassen, was er eigentlich tat - was darin resultierte, dass er mit vollem Karacho gegen die Tür prallte. Die natürlich nicht nachgab. Nicht im Geringsten. Er seufzte, rieb sich die schmerzende Schulter; er hatte sich gerade noch zur Seite drehen können. Nichtsdestotrotz versucht er es ein zweites Mal, ehe er aufgab. Nervös blickte er sich um, befürchtete, mit seinem Lärm auf sich aufmerksam gemacht zu haben, aber zu seinem Glück war weit und breit niemand zu sehen. Offensichtlich hatte man diesen Flügel wirklich geräumt, wie man vorgeschlagen hatte, und auch die Männer in Schwarz waren schon außer Hörweite. Feindselig starrte er die Tür an, griff dann nach seiner Dienstwaffe. „Dann eben so.“, murmelte er, entsicherte die Pistole, umgriff das Heft mit beiden Händen, zielte auf die Stelle knapp unter der Klinke, wo er den Schließmechanismus vermutete. Der Krach, als die Kugel einschlug, das Plastik zum Splittern brachte und im Schließwerk steckenblieb, war ohrenbetäubend – aber er hatte sein Ziel erreicht. Er griff nach der Klinke, rüttelte an ihr, und nach wenigen Augenblicken hörte er es knirschen und knacken. Eilig zog er die Tür auf, und erstarrte vor Schreck. Vor ihm auf dem Boden lagen Miwako und Yumi. An Yumis Hinterkopf war Blut herabgelaufen, das mittlerweile geronnen war. Sato schien äußerlich unverletzt, aber was konnte das schon heißen, bei Menschen, die Schrumpfgifte erfanden? Er fiel fast auf die Knie, so weich waren sie mittlerweile geworden, kroch zu seiner Freundin und fühlte hektisch nach ihrem Puls. Erst als er ihn gefunden hatte, atmete er erleichtert auf. Offenbar war auch sie nur bewusstlos. Ein großes Stück Anspannung fiel von ihm ab; er war hier, sie war hier, sie lebte noch. Das war das Wichtigste. Dankeschön, lieber Gott. Yumi atmete ebenfalls, wie er feststellte, nachdem er ihr einen prüfenden Blick zugeworfen hatte, und auch ihre Kopfwunde schien nicht allzu tief zu sein; also machte er am besten zuerst einmal Meldung, bevor er sich um die Verletzten kümmerte. Mit immer noch kalten Händen sicherte er seine Waffe wieder und steckte sie weg, zerrte sein Handy aus der Innentasche seines Sakkos, kniete neben Sato und bettete ihren Kopf in seinen Schoß, als er seinen Anruf machte. Neben ihm kam Yumi leise murmelnd zu sich, stöhnte auf. „Ist ja klar, dass man sich zuerst um die offensichtlich nicht Verletzten kümmert.“, murrte sie, als sie ihren Kollegen mit seiner Freundin sitzen sah, grinste aber schief. Takagi streckte ihm die Zunge heraus, als sich Meguré endlich meldete. Der Kommissar klang mürrisch. Takagi seufzte innerlich, sammelte sich, ehe er sprach. „Hier Takagi am Apparat! Ich melde hiermit, Kommissar Meguré, dass ich Inspektor Sato und Officer Miyamoto gefunden habe. Miyamoto ist seit gerade eben…“, er warf seiner Kollegin, die ihren ersten Einsatz bei der Mordkommission ableistete und sich wimmernd den Kopf hielt, sich aber nicht davon abbringen ließ, sich am Einbauschrank der Küche hochzuziehen, einen raschen Blick zu, „ansprechbar, hat aber eine Kopfverletzung davongetragen. Miwako ist leider noch bewusstlos.“, seufzte er ins Telefon. Meguré am anderen Ende atmete deutlich hörbar auf; das Rauschen seines Atems in der Leitung klang unangenehm laut in seinem Ohr. „Gut gemacht, Takagi. Am Besten bringen Sie und die Agents die beiden Verletzten sofort her.“ Takagi runzelte die Stirn, seufzte innerlich auf. „Ja, sicher. Ich bringe die beiden sofort zu ihnen. Die Agents Akai und Starling, allerdings…“ Er geriet ins Stottern. Hinter ihm drehte Yumi den Wasserhahn auf und machte ein Handtuch nass, betupfte vorsichtig ihre Platzwunde, jammerte leise über verklebte Haare. Takagi warf ihr einen verdutzten Blick zu. „Die… die hielten es für sinnvoll, sich aufzuteilen. Ich weiß nicht, wo sie im Moment sind, aber sie sollten über ihre Mobiltelefone erreichbar sein.“ Er verzog das Gesicht, hielt sein Handy auf Armeslänge von sich weg. Deutlich hörte man Meguré seinen Unmut kundtun. Miwako bewegte sich leicht. Takagi verzog das Gesicht vor Neid. Das war so klar… wenn ich komme, bleibt sie bewusstlos, aber kaum hört sie ihre Vaterfigur Meguré, wird sie wach… Yumi sah das angesäuerte Gesicht ihres Kollegen, und grinste. „… die eindeutige Anweisung war doch, zusammenzubleiben…!!!!“ Miwako schlug die Augen auf, sah Takagis Gesicht über sich und lächelte. Takagi lächelte zurück, führte das Telefon wieder näher an sein Gesicht. „Hören Sie, das weiß ich auch. Ja, wirklich.“ Er atmete langsam aus, merkte, wie die Anspannung merklich von ihm abfiel. Dann seufzte er. „Aber Sie werden verstehen, dass mir die Kollegen sehr wichtig sind, und als mir Agent Akai anbot, sie zu suchen, ergriff ich die Chance. Ja, ich weiß, wie gefährlich das ist. Und wie dumm. Jaaaa…“ Sein Gesicht nahm einen immer bedröppelteren Ausdruck an. „Ja, ich weiß, dass das Nichtachtung eines klaren Befehls ist. Aber bevor sie mich jetzt weiter zur Schnecke machen, mit Verlaub, Herr Kommissar… hatten Sie nicht angeordnet, den Anordnungen der Agents so zu folgen wie den Ihren?“ Abrupte Stille war das Resultat dieser Frage. Dann… „Aber SIE unterstehen immer noch mir, Takagi! Ich bin ranghöher, das hier ist TOKIO, nicht New York, und ich kann ja nicht ahnen, auf welche Ideen diese Amerikaner kommen - es ist gefährlich und fahrlässig allein rumzulaufen, und das hätten Sie wissen müssen, Takagi!“ Er war so laut geworden, dass sowohl Yumi als auch Miwako jedes Wort verstehen konnten. „Aber Kommissar Meguré, hören Sie doch… da Kudô nicht mehr hier ist, war es leidlich sicher, in den Flügel hier zu gehen…“ Langsam hob er die Hand, vergrub sie in seinen Stirnfransen, kniff die Augen zu. „Ja, Sie haben ganz Recht, ich bin ein verdammter Trottel. Hören Sie, Miwako ist aufgewacht, wir kommen jetzt in die Einsatzzentrale.“ Er legte auf, ohne auf Megurés weiteres Geschrei zu achten, machte ein Gesicht wie ein begossener Pudel. Miwako starrte ihn tadelnd an, lachte leise. „Und du wunderst dich, warum du nicht befördert wirst, Wataru. Wenn du immer Befehle missachtest…“ Sie ergriff Yumis Hand, die ihr aufhalf. Takagi rappelte sich ebenfalls hoch, warf ihr einen genervten Blick zu. Sie lächelte ihn breit an, drehte sich dann um, um sich ebenfalls kurz im Spiegel anzusehen und ihre Kleidung zu ordnen. „Danke, Wataru, dass du mich gefunden hast…“, grummelte er leise vor sich hin, als er aus der Tür trat und schaute, ob der Gang leer war. Tatsache war, er war es nicht. Am Ende des Gangs stand eine Frau, ihre Haare kurzgeschnitten und blond, auf ihrem einen Auge war ein Schmetterlingsflügel tätowiert. Sie hielt ein Scharfschützengewehr, sah aber nicht in seine Richtung. Takagi stolperte rückwärts, atmete schnell. Leise schloss er die Tür, wandte sich an seine beiden Kollegen. „Okay… ich denke, wir haben ein Problem.“ Miwako sah ihn fragend an. „Da draußen steht eine Frau mit einem Scharfschützengewehr, in schwarzer Kluft, mit einem tätowierten Schmetterling auf dem Augenlid. Ich weiß es nicht sicher - aber ich denke, sie ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine von den Guten.“ Er seufzte, verzog das Gesicht. „Ich nehme mal schwer an, die haben euch eure Waffen abgenommen?“ Miwako nickte unwillig, Yumi verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „So sieht es aus, Kollege.“ Kein Mensch hatte mitbekommen, wie sie das Gebäude betreten hatte. Ein zufriedenes Lächeln umspielte Sharons Lippen, als sie durch die Gänge schritt, als wäre die Königin in ihren Palast zurückgekehrt. Sie war auf der Hut, sicher. Sie hatte ihre Augen und Ohren immer offen. Aber sie war einfach auch unheimlich gut darin, ungesehen irgendwohin zu kommen oder von dort wieder weg. Sie war die Meisterin ihres Fachs. Und so wie es aussah, lief hier soweit alles nach Plan, so es denn einen gegeben hatte. Ihr war der Leichenwagen, der das Gelände verlassen hatte, nicht entgangen; für einen normalen Transport hatte sich der Fahrer viel zu nervös umgesehen, also konnte sie sich denken, wen er transportierte. Er war unbehelligt in die Straße eingebogen. Damit war Shinichi Kudô fürs erste in Sicherheit. Eine Tatsache, die viele Entscheidungen erleichterte, die jetzt getroffen werden mussten. In diesem Moment war sie in einem der Verbindungsgänge angekommen, eine Art Brücke zwischen den Gebäuden, rundherum verglast - er bot ihr einen grandiosen Ausblick auf das wintergartenähnliche Foyer. Der Ausblick wurde insofern bereichert, als dass ihre Suche, kaum, nachdem sie begonnen hatte, schon zu Ende war: im Foyer stand unübersehbar Gin, neben ihm Vodka, die beiden waren wie Dick und Doof überall zu erkennen; auch wenn sie außer ihrer paarweisen Erscheinung nichts mit den beiden Helden des Stummfilms gemein hatten. Dann sah sie ihn. Er stand nicht weit von ihr, auf einer Galerie, die um das Foyer herum führte. Schwarze, kurze Haare, die sich nur an wenigen Stellen unter einer dunkelblauen Mütze hervorkringelten, eine schwarze Lederjacke, dunkelblaue Jeans. Und ein stechender Blick aus eisblauen Augen. Der Falke hatte seine Beute gefunden. Sie sah, wie er seine Schultern straffte, seinen Griff um seine Waffe verstärkte, und kam nicht umhin zu merken, wie Spannung sie ergriff. Shuichi Akai. Hinter ihm entdeckte sie Jodie Starling, ihr Gesicht war blass. Offenbar ahnte sie, was ihr Partner vorhatte. Jodie warf einen vorsichten Blick über die Brüstung nach unten. Sie hatten gefunden, wen sie suchten, aber was sie davon jetzt hatten, wusste sie nicht. „Shu, du weißt, du darfst das nicht tun.“ Er hätte ihn jetzt erschießen können, einfach so. Ohne das Gin ihm etwas hätte entgegensetzen können… denn Shuichi befand sich auf der Galerie, die ihm ersten Stock um das Foyer herumlief, Gin unten, er saß wie auf dem Präsentierteller, bereit zum Abschuss. Sie sah, wie sein Brustkorb sich hob und senkte, sah, wie in ihm die Anspannung wuchs. Ahnte, dass seine Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Langsam trat sie vor, griff ihn am Arm. „Shuichi, wenn du dich ihnen zeigst, wissen sie, dass du lebst. Ich weiß, das wär dir egal… aber du vergisst, dass du Hidemis Todesurteil damit unterschreibst. Ich würde ja nichts sagen, wenn du und er allein wärt… aber wir sind nicht… allein.“ Sie warf einen raschen Blick durch den Fenster, sah, wie sich die Person, die ihr schon vor ein paar Augenblicken aufgefallen war, näherte. Rote Haare flatterten im Wind, sie trug ein schwarzes Kostüm. Alles in allem ahnte sie, wer sie war. Ais Beschreibung war sehr eindringlich gewesen. Und dementsprechend klang ihre Stimme drängend. „Da draußen, siehst du. I bet she’s the woman, who kidnapped him. Wir sollten Gin ziehen lassen, nur für heute, Shu. I know, that’s an almost impossible thing for you, but you must consider the consequences unless Hidemis service is still needed. You bloody well know, that she’s supposed to have killed you, and we both know…” „… dass Gin den Braten bereits riecht.“ Shuichis Stimme klang erstaunlich sachlich, sein Gesichtsausdruck zeigte ein Pokerface, wie eh und je. Jodie kannte ihn nicht anders; andererseits kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, wann Akai tatsächlich so gelassen war, wie er immer tat – und wann nicht. Sharon hörte nicht, was Jodie ihm sagte, sie sah nur den Ausdruck auf ihrem Gesicht. Drängend, bittend, flehend. Sie wusste genauso wie Jodie, wie sehr sich Shuichi diesen Moment herbeisehnte. Allerdings, und sie war davon überzeugt, dass das auch Inhalt von Jodies Ansprache war, wäre es dumm, Gin jetzt aufzumischen. Er würde ihn nie hinterrücks erschießen, sonst wäre Gin schon tot. Wie Gin in diesem Fall sicher auch, zog er wohl das faire Duell Mann gegen Mann vor. Genau das war aber momentan nicht möglich. Ihr Blick war Jodies immer wieder nach rechts zum Eingang huschenden Augen gefolgt, und auch ihr war nicht entgangen, wer da im Anmarsch war. Die rote Mähne verriet Beaujolais schon von weitem. Sie hatte ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen, schien offenbar zufrieden mit was auch immer. Vermouth lächelte spöttisch. Gin sah nicht fröhlich aus, also gab es auch keinen Grund zur Freude. Hätte er Shinichi getötet, wäre der Mann anders drauf. Sharon wich ein wenig zurück, behielt sie aber im Auge. Sie hätte ja zu gern das Gespräch, das unweigerlich gleich folgen würde, mitgehört; allerdings war es wohl schlauer, sie hielt sich versteckt. Beaujolais musste sie hier nicht sehen. Auch Jodie hatte Shuichi so weit gebracht, ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken. Ihr Partner folgte ihrem Finger, wandte sich dann unwillig um, verschwand in einem Gang. Jodie eilte ihm nach. Ein leises Seufzen entwich Sharons Mund. „Good boy. Everything else would’ve been incredibly stupid. Believe me…“ Sie beobachtete Gin, der sich eine Zigarette anzündete. „…you’ll have your chance to get him – or even a more worthy bait. Won’t be long…“ Bevor sie allerdings die Vorkommnisse im Foyer weiter beobachten konnte, ließ ein Schrei sie herumfahren. Die Stimme hörte sich an wie dieser Polizist, den sie vor ein paar Stunden kennengelernt hatte. Schüsse fielen, hallten trommelfellzerfetzend laut durch die hohen, breiten Krankenhausgänge. Sharon warf Gin, der sich langsam zur Eingangstür umdrehte, wo auch er nun Beaujolais erblicht hatte, einen letzten, widerwilligen Blick zu. Sie hätte die Show gern genossen; allerdings schien man sie woanders zu brauchen. Noch im Rennen zückte sie ihre Waffe, entsicherte sie. Takagi hielt sich den Arm, starrte die Frau an, die ihr Scharfschützengewehr auf ihren Rücken geschnallt hatte und mit einer Pistole in ihrer ausgestreckten Hand auf ihn zu schritt. Auf ihren Lippen lag ein triumphierendes Lächeln. „Eigentlich hieß es, keine Toten zu hinterlassen, außer Kudô.“ Der Polizist antwortete nicht, atmete schwer. Blut klebte an seiner Hand, als sie vor Augen hob, allerdings schien die Wunde nur ein Streifschuss zu sein. „Aber ich denke, es wird okay sein, wenn ich in Notwehr handle, nicht wahr, Korn?“ Sie zwinkerte ihm zu, entblößte damit den Schmetterling auf ihrem Augenlid. Ihr Partner, der hinter ihr erschienen war, knurrte nur. Takagi umklammerte seine Waffe fester. Eigentlich hatte er geglaubt, es nur mit ihr aufnehmen zu müssen; doch kurz darauf war leider auch dieser Hüne mit Sonnenbrille um die Ecke gebogen. Er drückte sich um die Ecke, starrte Miwako ins Gesicht, die ihn ernst anschaute. Dann knallte ein Schuss, darauf folgte ein erstickter Schrei. Leises Lachen erfüllte den Korridor, haute schaurig von den weißgrauen Wänden wider. Takagi streckte seinen Kopf um die Ecke und traute seinen Augen kaum. Sharon Vineyard stand da, ein überlegenes Lächeln auf den blutroten Lippen, in ihren Augen blitzte Überlegenheit. Sie hielt ihre Waffe locker mit einer Hand, stützte die andere in die Hüfte. Sie trug eine schwarze Lederhose, darüber eine schwarze Lederjacke, ihre Haare fielen ihr offen in großzügigen Wellen über die Schultern. Vor ihr stand Chianti, starrte sie voller Wut und unterdrückter Angst an. „Vermouth.“, knurrte sie leise. „Verdammt, dafür wirst du bezahlen, du dreckige Schlampe, du Verräterin, du…“ Sharon schaute sie an, ohne zu blinzeln, der Ausdruck von Triumph bröckelte keine Sekunde. Sie war diejenige, die die Szene beherrschte, schön und gefährlich zugleich. Eine femme fatale. Eine Frau, die den Tod brachte. Buchstäblich. Zwischen ihnen lag Korn, dahingestreckt, aus einer Wunde an seiner Schläfe floss ein dünnes Rinnsal Blut, bildete eine kleine Lache unter seinem Kopf. Es bestand kein Zweifel daran, dass der Mann tot war. Im Licht der Neonröhren sah er das Bild unwirklich scharf und klar vor sich. Er glitt an der Tür ab, an der er sich festgehalten hatte, stolperte nach draußen. Er hörte lautes Atmen, sah, wie sich jeder Muskel unter Chiantis schwarzem Overall anzuspannen schien, eine Katze auf dem Sprung, bereit und wild entschlossen, ihre Beute zu reißen. Sie hob die Waffe. Dann bemerkte sie, wie Sharons Augen zu Takagi huschten, die ihn gerade entdeckt hatte. Sie wirbelte herum, sah ihn, der sie anstarrte, überrascht. Ein böses Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie die Waffe auf ihn richtete, ihr Auge zusammenkniff um zu zielen, ihm einmal mehr den Schmetterling sehen ließ – und ihren Finger um den Abzug krümmte. Ein weiterer Schuss störte die Ruhe des Klinikums, und auch er verfehlte sein Ziel nicht. Chianti stand da, ein erstaunter Blick in ihren Augen, als sie die Hand hob, ihren Brustkorb anfasste, der sich immer hektischer hob und senkte. Blut klebte an ihren Fingerspitzen. „Du Bastard.“ Ihre Waffe klapperte, als sie auf den Boden aufschlug, dann ging sie in die Knie, hustete, fasste sich an die Brust - sah nur diesen Milchbuben von einem Polizisten an und konnte nicht fassen, dass das ihr passiert war. Sie hustete, dann sackte sie zusammen, kippte vornüber, blieb regungslos liegen, ihre Augen blicklos und gebrochen hinter halb geschlossenen Lidern. Der Schmetterling hatte zum letzten Mal mit den Flügeln geschlagen. „Takagi!“ Takagi stand da, in seiner Hand seine Dienstwaffe. Er hatte die Luft angehalten, atmete erst jetzt wieder aus, gepresst, konnte kaum realisieren, was passiert war. Er fühlte kalten Schweiß auf seiner Stirn, der von einem Moment auf den anderen ausgebrochen war. Der Schuss klang immer noch nach in seinen Ohren, und er merkte erst jetzt wie flach und schnell sein Atem geworden war, versuchte, ihn wieder unter Kontrolle zu bringen. Er spürte den Rückstoß seiner Waffe immer noch in der Hand, es kribbelte in jedem seiner Finger; und sah immer noch den erschrockenen Ausdruck auf Chiantis Gesicht, als die Kugel sie in die Brust traf. Tatsächlich würde er diesen Anblick nie vergessen. Es war unglaublich schnell gegangen. Er hatte gesehen, dass sie auf ihn zielte, er hatte den Arm gehoben und abgedrückt. Hinter ihm erschien Miwako, die ihm die Waffe aus der Hand nahm, was ihr einige Mühe bereitete, weil er sie so fest umkrampft hielt, dann vor ihn trat und ihn zu schütteln anfing, ihn anzusprechen versuchte. Sharon trat näher, stieß Chiantis Waffe mit dem Fuß ein Stück von ihr weg, fühlte nach dem Puls an ihrem Hals, und fand keinen. „Well done.“, murmelte sie. Sie warf ihm einen Blick zu, der immer noch auf die Leiche der Frau starrte, die er gerade umgebracht hatte. Langsam hob er den Kopf, sah sie an, fokussierte seine Augen - hob dann die Hand, um sich den kalten Schweiß mit seinem Ärmel von der Stirn zu wischen. Er nickte nur kurz, wandte sich dann zu Sato, die vor ihm stand und ihn besorgt anschaute. „Wataru!“ Miwako atmete langsam aus. Er stand noch etwas unter Schock, soviel war offensichtlich. Klar, ihm war nichts anderes übrig geblieben, als die Frau zu erschießen, aber er hatte aus dieser Nähe noch nie jemanden umgebracht. Eigentlich, wenn sie es recht bedachte, hatte Takagi noch nie jemanden erschossen. Sie starrte ihn an, strich ihm über die Wange, seufzte leise. Er zog sie in seine Arme, allerdings nur kurz. Dann nahm er seine Dienstwaffe von ihr entgegen, sicherte sie und schob sie wieder ins Holster. Sharon war mittlerweile näher getreten. Auch sie hatte ihre Waffe wieder weggesteckt, warf einen Blick auf die beiden Toten. „Wir sollten sie in die Küche legen, um den Anblick dem Klinikpersonal zu ersparen.“ Takagi nickte nur, half dann Sharon, Korn in das kleine Zimmerchen zu ziehen, während sich Yumi, die sehr blass im Gesicht geworden war, und Sato sich um Chianti kümmerten. Als Takagi die Tür hinter den beiden zuzog, war Sharon bereits verschwunden. Verwirrt starrte er Miwako an, blickte dann zu Yumi. „Wo ist sie hin?“ „Das weiß der Geier.“, murrte Miwako, griff dann nach Takagis Hand. Yumi grinste, ging den beiden hinterher, als sie sich in Richtung Einsatzzentrale machten. Auch Shiratori war auf dem Weg zurück, begleitet von dem Anästhesisten, der auf einem Adrenalinhoch zu schwimmen schien, vor Begeisterung fast zu bersten drohte. Für ihn war, soviel war klar, das alles ein riesiges Abenteuer. Eins der spannendsten Dinge, die er je erlebt hatte. Shiratori lächelte, warf ihm einen nachsichtigen Blick zu. Sie hatten Glück gehabt, bisher, nur deshalb konnte der Mann noch so begeistert sein. Sie waren kurz vor dem Zugang zum Foyer, als er eilige Schritte hörte. Shiratori blieb wie angewurzelt stehen, warf dem Mann einen kurzen Blick zu. Er hob die Hand zum Mund, bedeutete ihm, leise zu sein, ehe er selbst sich gegen die Wand drückte, es der Arzt ihm gleichtat. Der Kommissar beugte sich zu ihm. „Hören Sie – Sie machen sich jetzt am besten unsichtbar.“ Er flüsterte die Worte leise, und sehr kontrolliert, winkte mit dem Arm die Treppe neben sich hoch. Er zog seine Dienstwaffe unter seinem Kittel hervor. Der Arzt warf ihm einen schnellen Blick zu. Er schien doch tatsächlich mit dem Gedanken zu spielen, zu bleiben. „Denken Sie nicht…“, murmelte der junge Mann. „Nein.“ Shiratori schüttelte den Kopf ruckartig und unmissverständlich. „Hier hört das Spiel leider auf. Sie sollten jetzt in den Teil des Krankenhauses verschwinden, in dem der Rest ihrer Belegschaft wartet. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe und ihren Mut, aber jetzt weiter mitzukommen, Doktor, wäre lebensmüde. Die schießen scharf.“ Der junge Arzt seufzte. „Nun denn.“ Er nickte Shiratori schwer zu, hob kurz die Hand zum Abschied. „Viel Glück.“ „Danke.“ Der Kommissar schüttelte seinen Kittel von den Schultern, warf ihn auf den Boden, sah dem Anästhesiearzt zu, wie er auf leisen Sohlen die Treppe hinauf verschwand, ehe er sich auf den Weg dorthin machte, von wo mittlerweile leise Stimmen zu hören waren. Als er sich der Kreuzung näherte, aus deren Richtung die Stimmen zu kommen schienen, hob er seine Waffe zum Gesicht, entsicherte sie, drückte sich an der Mauer entlang bis zum Ende seines Ganges, horchte. Aus dem kreuzenden Gang war kein Laut mehr zu hören. Er holte tief Luft, wirbelte um die Ecke, seine Waffe fest in beiden Händen - und starrte geradewegs in die Mündung von Takagis Dienstwaffe. „Shiratori!“, presste der Inspektor hervor, ließ seine Waffe sinken. Shiratori tat es ihm gleich, atmete ebenfalls wie sein Kollege schwer aus, mit genau dem gleichen, vor Anspannung verzerrten Gesichtsausdruck. „Können Sie sich nicht kenntlich machen?“, motzte der junge Inspektor, sicherte seine Waffe und beeilte sich, sie wieder ins Holster zu stecken. Shiratori schnaubte. „Dasselbe könnte ich Sie fragen, Takagi!“ Die beiden Männer starrten sich angesäuert an, als sie beide von einem leisen Räuspern aus dem Konzept gerissen wurden. Miwako Sato und Yumi Miyamoto standen an die Wand gelehnt mit vor der Brust verschränkten Armen im Gang, ihre Genervtheit stand ihnen quer übers Gesicht geschrieben. Takagi kratzte sich verlegen am Hinterkopf, trat dann einen Schritt zurück, deutete eine Verbeugung an, lächelte entschuldigend. „Entschuldigen Sie, Kollege Shiratori, nichts für ungut. Wir hatten nur gerade eine Begegnung der… schwarzen Art, wenn Sie so wollen.“ Er seufzte, starrte kurz zu Boden. Erst jetzt sah Shiratori, wie auffallend blass sein Kollege war. Allerdings kam er nicht dazu, zu fragen, wie genau diese Begegnung verlaufen war. „Alles gut gelaufen mit Kudô?“, murmelte Takagi, wohl um das Thema zu wechseln. Miwako schaute die beiden fragend an. Shiratori nickte nur. „Ja, der… etwas andere Leichentransport verlief ohne Zwischenfall, Kudô ist draußen, wenn auch wohl für die nächste Zeit außer Gefecht gesetzt- sah ziemlich müde aus, nach dem Sprint durch die Gänge.“ Kurz schaute er zu Miwako. „Sie hatten ihn gefunden, nachdem sie euch beiseite geräumt hatten. Allerdings ist nichts passiert, glücklicherweise.“ Sato nickte ernst, konnte allerdings nichts dagegen tun, als sie merkte, wie sich ihr ein Hauch Schamesröte ins Gesicht schlich. Ein Blick auf Yumi zeigte ihr, dass es ihr nicht besser ging. Shiratori überging es gentlemanlike, wie sein Kollege, und wandte sich auch sofort wieder selbigem zu. „Sie scheinen auch einen Teil unserer Kollegen gefunden zu haben, sehr gut, Takagi. Schon was von Chiba gehört?“ Wataru Takagi schüttelte nur den Kopf. „Nein… er fehlt uns noch. Leider. Ich hoffe, wir finden ihn auch bald…“ Beaujolais hatte keine Ahnung, was sie erwartete, als sie vor dem Foyer auf Gin und Vodka traf. Eigentlich war sie bester Laune; wären sie nicht noch im Feindesland, hätte sie wohl leise gesummt. So beschränkte sie sich auf ein vergnügtes Lächeln, als sie durch die Tür, die vor ihr lautlos zur Seite glitt, so wie es ihre Aufgabe war, in das Foyer trat. Es war alles ruhig hier. Gin hatte es, nachdem er vergeblich versucht hatte, Kontakt mit Korn und Chianti aufzunehmen und es ihm fürs erste gelungen war, die Polizei leidlich abzuhängen, für schlauer gehalten, sich fürs erste etwas zurückzuziehen. Er saß etwas abseits auf einer Bank und sortierte seine Lage, als er Beaujolais bemerkte, die sich ihnen näherte und aus irgendwelchen Gründen verboten gut drauf war. „Saubere Arbeit!“, meinte sie dann, als sie in Hörweite war. Gin zog die Augenbrauen hoch. „Wie meinst du das?“ Beaujolais ließ sich nicht nervös machen. „Na, du warst es doch, nehme ich an, der Kudô zur Strecke gebracht hat?“ Gin zog eine Augenbraue hoch, warf seine Zigarette, die er sich gerade erst angesteckt hatte, zur Seite. „Wie kommst du darauf?“ Erst jetzt kam Beaujolais auf die Idee, ein wenig in der Mimik ihres Gegenübers zu lesen. Sowohl Gin und Vodka sahen nicht aus, wie sie sich zwei Männer nach erfolgreich erledigtem Auftrag vorstellte. „Man hat doch seine Leiche in die Autopsie der Polizei…“ Gin ersparte sich eine Antwort. Seine Miene war finster wie die Nacht, als er ohne ein weiteres Wort aufstand und das Foyer mit großen Schritten durchmaß. In ihm kochte es, doch von außen sah er aus, als wäre alles an ihm zu Eis erstarrt. Er wusste, für heute war die Sache hier gelaufen. Er wusste, dass man ihn ausgetrickst hatte. Kudô war ihm entkommen. Ihnen allen war er durch die Lappen gegangen, die Polizei, das FBI hatten sie zum Narren gehalten. Das war unverzeihlich. Hinter ihm trottete Vodka, neben ihm schritt Beaujolais. „Jetzt sag nicht…“ Vodka nickte nur, seine Augen wie immer hinter Sonnengläsern verborgen. „Er entkam uns, zusammen mit Sherry.“ Die rothaarige Frau wurde schlagartig blass. Dass das für sie nichts Gutes hieß, war kein Geheimnis. Sharon saß in ihrem Wagen, sah Gin, Vodka und Beaujolais über den Parkplatz gehen. Der Wind blies ihnen hart ins Gesicht, blähte ihre Mäntel. Ein zufriedenes Lächeln bewegte ihre Mundwinkel kurz nach oben, als sie Gins missvergnügtes Gesicht sah; er war wütend, das sah man ihm an. Absinth würde rasen vor Zorn, soviel war sicher. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Shuichi und Jodie, die an einem Seiteneingang etwas hinter einer Säule standen. Die blonde Agentin ließ ihre Augen nicht von den drei Gestalten in Schwarz, nicht, bis sie den Parkplatz verlassen hatten. Shuichi lehnte sich gegen die Säule und steckte sich eine Zigarette an, starrte auf den Boden, während er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Für heute waren die schwarzen Wolken erst einmal abgezogen, ohne allzu viel Verwüstung zu hinterlassen. Das richtige Gewitter indes stand noch bevor. Kapitel 30: Kapitel 12: Beweis ------------------------------ Hallihallo liebe Leserinnen und Leser! Es geht also munter weiter mit dieser Geschichte - ich muss gestehen, ich bin immens gespannt, was ihr zu den nächsten beiden Kapiteln sagt. An den beiden hing ich lange, und ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll; also richtet selbst. Ich wünsche viel Vergnügen beim Lesen, bis die Tage, eure Leira :) ________________________________________________________________ Kapitel Zwölf: Beweis Er stand mit dem Rücken zur Fensterwand, vor der die Nacht Tokio mit ihrer schwarzblauen Decke verhüllte. Die Lichter der Straßenlaternen leuchteten aus dieser Höhe fast so klein wie die Sterne des Firmaments auf den Straßen, kaum stecknadelkopfgroß - schienen fast deren Spiegelbild darzustellen, wären sie nicht deutlich geordneter auf dem dunklen Untergrund von Tokios Asphalt verstreut, aufgereiht wie die Perlen einer Kette. Reklametafeln erhellten die Nacht zusätzlich, hie und da - aber ihr buntes, grell leuchtendes Licht verging langsam, eins nach dem anderen erlosch. Es war nun doch spät geworden - und irgendwann ging auch Tokio zu Bett. Er hingegen war hellwach. Yusaku befand sich im Konferenzraum, vor ihm die drei Mitglieder des Triumvirats. Während die drei Männer ihn aus relativ leeren Gesichtern erstaunlich ausdruckslos ansahen, stand er selbst kurz vor der Explosion. Mittlerweile hatte man sie ins Bild gesetzt, er wusste, was passiert war, und wusste, wie es geendet hatte; und nun war er hier, um die Zügel endlich wieder in die Hand zu nehmen. Und es ist, verdammt nochmal, auch wirklich an der Zeit… Vor allem aber war er hier, weil er unglaublich wütend war. Auf sich. Auf die Organisation. Wütend, wie nie zuvor in seinem Leben. Allzu sehr anmerken durfte er sich das allerdings nicht lassen… wenn er nicht seinen Stand hier vollkommen verlieren wollte. Es war wichtig, dass man ihm den Boss abkaufte, den Mann, den nur die Organisation interessierte. Den Mann, der alles unter Kontrolle hatte, und bei dem alles nach Plan lief, immer. Damit so ein Alleingang nicht noch einmal passierte – wenn man hier anfing, ihn zu unterlaufen, dann dauerte es nicht lang und… Was dann passiert, will ich gar nicht wissen. Und so zog er nur seine Augenbraue nach oben, befingerte seinen Bart, strich ihn dann glatt und schob seine Hand in eine Hosentasche, eine scheinbar lässige Geste. Er wusste, er machte sich und ihnen etwas vor, aber er spielte seine Rolle dennoch – mit Präzision. „Cognac. Welch Ehre zu solch später Stunde.“, meinte Absinth schließlich mit sachlicher Stimme, durchbrach die eisige Stille zwischen ihnen. Yusaku lächelte verhalten. „Die Ehre ist ganz meinerseits, Absinth. Man möchte meinen, selbst so wichtige Männer wie Ihr es seid, machen abends doch einmal Feierabend.“ Die drei Männer zauberten ein sorgsam einstudiertes Lächeln auf die Lippen; drei Fratzen, die nur allzu deutlich machten, wie künstlich und gekünstelt diese Konversation vonstattenging. „Es ist viel zu tun, das keinen Aufschub duldet - da machen auch wir einmal Überstunden. Wir lassen Sie uns aber fürstlich entlohnen, wie Sie wohl wissen, Cognac…“, bemerkte Absinth spöttelnd, in seinen Augen ein gefährliches Funkeln. Rum lachte donnernd, räusperte sich dann, während Cachaça Yusaku voll mildem Interesse musterte. „Ich nehme an, Ihr seid etwas verstimmt, mon ami. Ich denke, es ist nicht sehr angenehm, wenn man als Letzter…“ „…erfährt, dass eine Treibjagd im Gange ist?! Ein Krieg geführt wird, an einem öffentlichen Ort, einem Krankenhaus, gegen die Polizei Tokios und das FBI? In der Tat…“ Nun wurde Yusaku doch ein wenig lauter, allerdings gewollt und wohldosiert. „… ich bin etwas, nun, ja, nennen wir es ruhig verstimmt, ich gestehe. Ich dachte, aus irgendeinem Grund, ich leite diesen Verein hier. Und als ein solcher Leiter…“, er unterbrach sich, legte eine wohlgesetzte Kunstpause ein, „ordnet man solche Unternehmen eigentlich an. Man erfährt nicht als Letzter von ihrem Scheitern. Er betonte das letzte Wort genussvoll, war dennoch gegen Ende seiner Einleitung gefährlich leise geworden, seine Stimme hatte sich gewandelt zu einem unbestimmten Knurren, scharf, bissig. Der Ton verfehlte seine Wirkung nicht. Er trat einen energischen Schritt vor, stützte sich auf der Tischkante auf und fixierte die drei Männer abwechselnd, genoss sichtlich die Souveränität, die er endlich wieder spürte, nach Tagen des Wankens und Haderns – und zögerte nicht, sie auch zu zeigen. Er hatte sich wieder im Griff, und es war auch an der Zeit. Er richtete er sich wieder auf, langsam. Ließ die Geste wirken, verschränkte seine Arme aufgeräumt vor der Brust uns sah die drei gelassen an, von oben herab. „Ich denke, ich muss hier mal wieder etwas klarstellen.“ Langsam drehte er sich um ging zum Fenster, blickte hinaus in die Nacht. „Ich bin der Boss der Schwarzen Organisation.“ Stille erfüllte den Raum, als er seine Worte einwirken ließ, einsinken in den Moment. „Ich. Nicht ihr. Ihr habt lediglich ein Vetorecht, ihr gebt keine Order, keine Befehle, ihr ordnet nichts an, ihr überwacht nur. Ihr seid das Triumvirat – ihr beaufsichtigt. Die Exekutive, meine werten Herren…“ Er holte tief Luft, wandte sich immer noch nicht um. „…bin ich.“ Die Worte hingen im Raum wie ein Damoklesschwert, schwer, schneidend und bedeutsam. Yusaku zückte eine Zigarette, steckte sie an, zog einmal tief daran und blies den Rauch gegen die Scheibe, sah den graublauen Wirbeln und Schleiern zu, wie sie sich wanden, blähten und vergingen. „Ich will so eine Aktion wie die heutige nie wieder erleben müssen.“ Aus seiner Stimme sprach Bestimmtheit. Es war offensichtlich, dass er einen Widerspruch nicht dulden würde. „Aber-…“, begann Absinth, klang einigermaßen aufgebracht und verstimmt. Der Schriftsteller drehte sich um, fixierte den Mann mit starrem Blick. Absinth hielt inne, unwillkürlich. Yusaku lächelte in sich hinein. „Denkt ihr, ich weiß nicht, was ihr denkt?“ Yusaku lachte leise, zog an seiner Zigarette, pustete den Rauch mit in den Nacken gelegtem Kopf an die Decke, grinste verhalten. „Denkt ihr, ich weiß nicht, dass ihr glaubt, ich würde ihn schützen? Vielleicht tue ich das. Vielleicht hab ich das versucht, ja. Es ist sinnlos es abzustreiten, er ist mein Sohn.“ Er hielt inne. Niemand sprach, kein Geräusch war zu hören. Die Stille war absolut. „Aber wenn er auspackt, bin ich tot, und Ihr seid es auch, und wohl auch meine Frau, wenn Ihr eure Drohung wahrmacht. Ganz davon abgesehen, dass, wenn er auspackt, Yukiko weiß, wen sie wirklich geheiratet hat, und ich weiß nicht, was schlimmer wäre - ihr Tod oder ihre Enttäuschung, ihre Verachtung. Denkt Ihr, das ist mein Ziel? Sehe ich so aus, als würde ich sterben wollen, oder mein Leben ruinieren? Ich bin nicht wie mein Sohn.“ Er zog ein weiteres Mal tief an seiner Zigarette; die Glut fraß sich hell orange glimmend weit in den Tabak hinein, ehe er absetzte und den blauen Rauch langsam aus seinem Mund entweichen ließ. Er sah der Wolke zu, wie sie an die Decke stieg und sich verflüchtigte, ehe er fortfuhr. „Fakt ist, momentan weiß er nichts. Er hat sein Gedächtnis verloren. Falls ihr das noch nicht wissen solltet.“ Er genoss den überraschten Ausdruck in den Gesichtern des Triumvirats. „Sieh an, ich hatte Recht; ihr wusstet es nicht. Ich muss euch, hoffentlich, nicht darauf hinweisen, wie töricht es ist, einen Gegner anzugreifen, ohne sich vorher über seinen Zustand erkundigt zu haben.“ Ein kühles Lächeln war erneut auf seinen Lippen erschienen. „Meine Herren, er weiß nicht mal seinen Namen. Momentan ist er keine Gefahr, hilfloser, als er es je in seinem Leben war – ich wage zu behaupten, sogar als Conan war er gefährlicher als jetzt. Aber wenn ihn jetzt jemand aus dem Weg räumt, wenn ich das jetzt tun würde – wüsste jeder, wer es war. Sie ahnen bereits, dass der Boss hier jemand ist, der Shinichi kennt. Den Shinichi kennt - sehr gut kennt. Ich bin definitiv im Kreis der Verdächtigen.“ „Dann-…“, begann Absinth. „… sollten wir dafür sorgen, dass er nie wieder eine Gefahr wird? Sicher. Aber wie stellt ihr euch das vor?“ Er grinste überlegen, lehnte sich gegen die Glasscheibe, genoss das prickelnde Gefühl der Macht. In diesem Moment war er der, der das Sagen hatte, und die drei Männer, die ihm seit Jahren das Leben etwas mehr zur Hölle machten, als es das ohnehin schon war, saßen vor ihm wie Schuljungs. Das galt es, auszunutzen. Sie waren heute gescheitert, das war die Chance für ihn. „Meine lieben Freunde, Ihr wart selten dämlich.“ Absinth verzog sein Gesicht zu einer säuerlichen Fratze. Rum lehnte sich neben ihm zurück, sein Gesicht ein Pokerface wie eh und je, scheinbar unbewegt und ungerührt; Cachaça hingegen saß vornüber gebeugt mit den Ellenbogen auf dem Tisch gestützt, umklammerte sein Glas mit beiden Händen. „Ihr dachtet, meine väterlichen Gefühle würden meinen Verstand trüben. Ihr dachtet, ihr müsstet mich hintergehen, meinen Sohn aus dem Weg räumen, damit hier wieder alles in geordneten Bahnen läuft. Mein Gott, man sieht, wie sehr ihr euch bemüht habt. Und man sieht, wie sehr ihr den Karren gegen die Wand gefahren habt, weil ihr euch an Dingen versucht habt, die NICHT EUER METIER sind.“ Er warf die Zigarette zu Boden, trat sie aus, auf seinem Gesicht spiegelte sich nun Wut. „Ihr habt nicht nachgedacht, Ihr habt keine Ahnung von Strategie, ihr kennt nicht unseren Feind!“ Er trat näher, seine Stimme nun merklich lauter. „Heute sind zwei unserer fähigsten Mitarbeiter hingemeuchelt worden. Korn und Chianti.“ Yusaku kniff die Augen zusammen, fixierte die drei Männer ohne zu blinzeln, einen wohl bemessenen Augenblick lang; dann drehte er sich um, schaute hinaus, beobachtete dabei aber genauestens die Reaktionen der drei Männer in der Scheibe. „Ist es das, was ihr wolltet? Dann macht ruhig so weiter. Shinichi ist entkommen, übrigens. Weil er nicht dumm ist, und die, die auf ihn aufpassen auch nicht. Er ist unter den Augen von Beaujolais aus dem Krankenhaus gefahren worden, wie Sherry auch, im Übrigen. Ich frage euch nun: was hat der heutige Abend uns also gebracht?!“ Langsam drehte er sich wieder um, umrundete den Tisch, kam hinter den drei Männern zum Stehen. „Zwei tote Scharfschützen, und ein alarmiertes FBI, ganz zu schweigen, dass die Tokioter Polizei überall nun ihre Augen hat, und zwar offen. Jeder weiß, wonach er suchen muss, dank euch. Das habt ihr wirklich schlau gemacht. Sie sind gewarnt und besser informiert als je zuvor, werden ihre Einsatzkräfte und Wachen verstärken, und noch intensiver nach uns suchen. Dieser Schlag gegen uns gibt ihnen Aufwind und macht sie aufmerksamer zugleich.“ Er lächelte bitter, applaudierte. Das Geräusch klang seltsam armselig in der Weite des Konferenzsaals und hatte genau die Wirkung sarkastischen Beifalls, die er anstrebte. Dann wurde er wieder ernst. „Wenn Ihr also das nächste Mal daran denkt, mich zu hintergehen, dann bitte, seid so gut, und denkt vorher noch einmal darüber nach, mit welchem Spielzeug Ihr da wirklich hantiert. Es könnte sein, dass ihr den Umgang damit doch erst noch lernen müsst.“ Er steckte beide Hände in seine Hosentaschen. „Und wenn Ihr glaubt, ihr könnt mir nicht vertrauen, geht Ihr irr. Glaubt Ihr, mir ist nicht klar, dass Ihr an mir zweifelt? Wahrscheinlich denkt ihr sogar schon daran, mich loszuwerden, irgendwie. Aber seid euch im Klaren… wenn Ihr das tut, oder noch einmal so einen Alleingang wagt, dann vernichte ich euch. Egal ob ich lebe oder tot bin, ich reiße euch mit ins Verderben, das schwöre ich euch. Seid nicht so dumm zu glauben, ich hätte nicht an alle Eventualitäten gedacht.“ Seine Stimme war gegen Ende leise geworden, hatte ihre Schärfe allerdings nicht verloren. Fast kameradschaftlich legte er Absinth eine Hand auf die Schulter. „Ihr vergesst wohl, ich spiele dieses Spiel fast genauso lange und mindestens genauso gut wie ihr. Also…“ Er räusperte sich geschäftlich, verstärkte seinen Griff. „Haben wir uns verstanden?“ Absinth würdigte ihn keines Blickes, starrte aus dem Fenster, sah seine Reflexion in der Scheibe, und hinter ihm die Yusakus. „Und was ist Ihr Plan nun, Cognac?“, meinte Rum, durchbrach mit seiner sonoren Stimme die Stille. Yusaku löste seinen Griff, verschränkte seine Hände hinter seinem Kopf. „Ich werde ein guter Vater sein und meinen Sohn nach Hause holen.“ Er warf den dreien einen Blick aus dem Augenwinkel zu. „Und ich gehe davon aus, Ihr werdet mich nicht daran hindern.“ „Sie wissen, Cognac, wir…“, begann Cachaça halbherzig. „…töten Ihre Frau, ja.“ Ein gelangweilter Ausdruck trat auf Yusakus Gesicht. „Ich kenne die Leier. Ich muss aber den Verdacht gegen mich entkräften, das seht Ihr schon ein, oder? Bevor wir ihnen den finalen Schlag versetzen, müssen sie sich in Sicherheit wähnen. Das tun sie nicht, momentan. Dank euch… sind sie wachsamer denn je.“ Langsam ließ er die Arme sinken, wandte sich um und ging wieder ein Stück um den Tisch herum, schenkte sich ein Glas Wasser ein. „Et ton fils? Was ist mit ihm? Sie wissen, auf Dauer wird…“ Yusaku schluckte, stellte das Glas auf den Tisch, kontrolliert. „Noch ist er keine Gefahr, sein Gedächtnis ist blank wie ein weißes Blatt. Das Timing ist essentiell, das solltet ihr doch jetzt gelernt haben.“, meinte er betont gelassen, bemühte sich um einen spöttelnden Unterton. Absinth stand auf, langsam. Drehte sich zu Yusaku, befand sich mit ihm nun auf gleicher Augenhöhe. „Gut. Aber…“ Yusaku zog fragend eine Augenbraue hoch. „Wenn Sie wollen, dass wir wieder voll hinter Ihnen stehen, so… knüpfen wir eine Bedingung an diesen Vertrauensvorschuss.“ „Der da wäre?“ Seine Stimme klang gelassen; auch, obgleich er wusste, was diese Forderung sein würde. Schließlich war Absinth der, der sie stellte. „Du wirst ihn töten. Du selbst wirst es tun.“ Yusaku atmete langsam aus, hob dann das Glas, setzte es sich an die Lippen und trank einen Schluck, ehe er antwortete. Ihm war der Wechsel vom Sie zum Du nicht entgangen, und er wusste, was Absinth damit bezweckte. „Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, werde ich tun, was zu tun ist. Keine Minute vorher, keine zu spät.“ Er hielt den Augenkontakt, blinzelte nicht. „Wie ich sagte… das Timing ist essentiell.“ Ein schmales Lächeln kroch auf Absinths Lippen, in seinen Augen glitzerte Boshaftigkeit. Yusaku stellte das Glas wieder auf den Tisch. „Wenn Ihr nun keine weiteren Fragen habt, ich wäre damit fertig. Ihr könnt euch entfernen, ich habe zu tun. Irgendwer muss die Unordnung, die Ihr veranstaltet habt, wieder aufräumen.“ Yusaku drehte sich um, schaute aus dem Fenster, beobachtete in der Glasscheibe, wie Absinth das Zimmer verließ, gefolgt von Cachaça und Rum, die ihrem Boss nur stumm zunickten. Als die Tür hinter ihnen zugefallen war, sank Yusaku kraftlos auf die Tischkante, hielt sich den Kopf. „Und was soll jetzt passieren?“ Shinichi schaute sie fragend an, in seinen Augen stand deutlich sein Unwille zu lesen. Der Leichentransport war nun endlich glücklich beendet worden, und seit zehn Minuten befand er sich im Haus, in dem die Moris wohnten, zusammen mit dieser blonden, jungen Frau und dem Professor. Er wollte endlich schlafen. Widerstrebend war er ihr in die Detektei gefolgt, wusste nicht, was ihn erwartete. Der Professor war mit dem Mann, der hier arbeitete und in der Wohnung über der Detektei wohnte, Herrn Mori, nach oben gegangen. Sie beide waren allein hier, und trotz allem, was sie heute zusammen durchgemacht hatten, beschlich ihn nun ein Gefühl von Unwohlsein. „Du erfährst es gleich.“ Shiho zitterte, und doch begann ihr der Schweiß auf die Stirn zu treten. Sie wischte ihn mit ihrem Ärmel ab, ließ ihn nicht aus den Augen. Ein herausforderndes Lächeln war auf ihren Lippen erschienen, während Shinichis Gesicht immer mehr Besorgnis zeigte. Sie stand neben ihm, war dem Professor dankbar, dass er es geschafft hatte, Herrn Mori davon zu überzeugen, sie beide hier allein zu lassen, für ihre kleine… Vorstellung. Shinichi schaute sie aufmerksam an, Zweifel und Unsicherheit standen in seinen Augen zu lesen. „Hör mal, geht’s dir nicht gut? Der Tag war sicher auch für dich anstrengend, soll ich dir…“ „Nein.“ Sie warf ihm einen fast schon mitleidigen Blick zu, dann trat sie um ihn herum, schloss die Tür hinter ihm, drehte den Schlüssel um und steckte ihn ein. Er warf ihr einen kalkulierenden Blick zu. „Sag mal, was hast du eigentlich vor?“ Seine Stimme klang skeptisch und ein wenig alarmiert. „Das siehst du gleich, Shinichi. Etwas, das dir sehr bekannt sein müsste.“ Sie war kalkweiß im Gesicht, ihr Atem ging keuchend, der Schweiß perlte sichtbar an ihrer Schläfe herab, stand in feinen Tropfen sogar auf ihrer Oberlippe. Er trat näher, langsam, starrte sie an. Ihre Augen waren fiebrig glänzend, ihre Finger zitterten leicht. „Du musst ins Krankenhaus…“, murmelte er leise, und ahnte doch, dass sie das anders sah. Seine Vermutung wurde auch prompt bestätigt „Du weißt, dass ich das nicht muss.“ Dann schrie sie kurz auf, schmerzerfüllt, erstickte ihren Schrei hastig mit einer Hand; vornübergebeugt wandte sich unwillkürlich ab von ihm, schlang ihren anderen Arm um ihren Bauch, kniff die Augen zusammen. Er war an sie herangetreten, hatte die Arme unwillkürlich ausgestreckt, als fürchte er, sie stürze gleich. Scharf atmete sie ein, richtete sich wieder auf, als sie sich wieder unter Kontrolle hatte – etwas wackelig zwar, aber immerhin. Sie biss die Zähne kurz zusammen, um sich soweit wie möglich zu sammeln, suchte dann seinen Blick und ließ ihn nicht mehr los. Shinichi schluckte hart, merkte, wie in ihm Angst und Unruhe gleichermaßen wuchsen. Die junge Frau hingegen lächelte traurig, als sie sprach. „Hör zu, Shinichi. Mein Name…“, presste sie langsam hervor, „ist Shiho Miyano. Ich habe das Gift erfunden, dass aus dir Conan Edogawa gemacht hat. Ich habe es dir bereits erzählt.“ Shiho schluckte, keuchte, rang nach Luft. Er wollte etwas erwidern, aber sie schnitt ihm mit einer herrischen Handbewegung das Wort ab, umklammerte die Tischkante des Schreibtischs. „Hör zu, ich hab dir das als Ai schon mal zu erklären versucht, aber du wolltest ja partout nicht hören. Deshalb dachte ich, ist das einzige, was dich zum Umdenken bringt, das, was du immer wolltest, immer willst – ein Beweis. Du glaubst einem ja ohne nichts. Fakten, Tatsachen… Beweise. Daraus besteht deine Welt.“ Bitterkeit schlich sich in ihre Züge, als sie fortfuhr. „Passe nie die Fakten der Theorie an, Watson. Es sind die Fakten, die die Grundlage jeder Theorie sind.“ Er zuckte zurück, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. Ihre Augen schauten ihn milde überrascht an. „Hier sind also die Fakten, nun sag mir – was ist deine Theorie, Holmes?“ Sie lächelte nachsichtig, lehnte sich langsam zurück, stützte sich auf ihre Hände; ließ ihn aber während alledem nicht aus den Augen. „Warum, zum Teufel, Shinichi, bist du so überrascht? Warum willst du dir selbst nicht endlich glauben? Du ahntest es doch die ganze Zeit, wer ich bin, ich hab deine Blicke gesehen! All die Zeit, seit ich heute Abend in deinem Zimmer aufgetaucht bin. Der Ausdruck auf deinem Gesicht, als es in deinem Kopf arbeitete, denkst du, der ist mir entgangen? Du zogst deine Schlüsse, und ich kann dir jetzt sagen - endlich, endlich sind es die Richtigen. Ai Haibara ist Shiho Miyano. Genauso, wie Conan Edogawa Shinichi Kudô war.“ Sie kniff die Augen zusammen, als eine neue Welle von Schmerzen wie ein Pfeil durch sie fuhr, vom Scheitel bis zur Sohle. Sie krümmte sich nach vorn, ihre Arme erneut fest um ihren Bauch geschlungen, den Blick starr auf ihn gerichtet. Sie keuchte leise. Ihm rann ein Schauer nach dem anderen über den Rücken, als ihm der Schweiß ausbrach. Er sah den Schmerz in ihren Augen, fühlte, wie ihn nie gekanntes Entsetzen packte. „Nun, sieh’s dir an…“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Shinichi schüttelte den Kopf, langsam, schaffte es aber nicht, dabei die Augen von ihr abzuwenden. „Hier ist dein verdammter Beweis.“ Er wich zurück, tastete nach hinten, bekam eine Sessellehne zu fassen und stolperte dagegen. „Du hast dein eigenes Gegengift genommen? Warum hast du… du hättest…“ Fassungslosigkeit stand in seinen Augen. „Hättest du mir denn geglaubt? Hättest du irgendwem geglaubt?“ Sie war laut geworden, hatte sich am Schreibtisch regelrecht festgekrallt. Shinichi war zur Tür zurückgewichen, versuchte umsonst, sie zu öffnen, lehnte sich dagegen. Sein Teint war leichenblass, und doch schüttelte er den Kopf, immer noch. Wahrscheinlich hatte sie Recht, er hätte nichts geglaubt. Er war ja meisterhaft darin gewesen, sich etwas vorzumachen und sich andere Erklärungen zu suchen, für alles, was mit diesem kleinen Jungen zu tun hatte. Allerdings war er jetzt schon so weit, es gern zu glauben, wenn es dafür sofort aufhörte. Es sah nur nicht danach aus. Vielmehr schien es gerade erst anzufangen. Shiho stützte sich schwer auf die Tischplatte, atmete schnell und flach, auf ihren Lippen ein trauriges Lächeln. „Ich hätte es dir gern erspart. Aber vielleicht… vielleicht glaubst du mir dann nicht nur, sondern… erinnerst dich wieder daran…“ Sie verlor den Halt, langsam, ließ sich kraftlos gegen den Tisch sinken, glitt nach unten bis sie zum Sitzen kam, als ein Krampf sie zwang, sich nach vorne zu krümmen. Erstickt stöhnte sie auf. Er näherte sich ihr, vorsichtig, widerstand dem Drang, zu ihr zu stürzen, alle Vorsicht fahren zu lassen. Seine Beine fühlten sich kraftlos an, als ob seine Knie aus Gelee bestünden. Als er vor ihr angekommen war, sank zu ihr auf den Boden. Ihre Schultern bebten, ihre Finger krallten sich mit Gewalt in den grauen Teppich, ihre Knöchel traten weiß hervor. Der Blick, der ihn traf, als sie aufschaute, ging ihm durch Mark und Bein. Er wusste, er würde ihn nie vergessen können. Sie hob die Hand, krallte sie in sein Hemd, zog ihn zu sich, bekam ihn auch mit der zweiten Hand zu fassen, hörte, wie er nach Luft schnappte, merkte, wie er kurz versuchte, ihre Hände zu lösen, ihre Finger aufzubiegen, was sie dazu veranlasste, noch fester zuzupacken. Ihre Stirn lehnte gegen seine, ihr Atem ging unglaublich schnell. Sie starrte ihn an, fühlte, wie die Schmerzen langsam unerträglich wurden, sah, wie blass er geworden war. Er blickte sie nur an, unfähig, sich zu bewegen. Seine Hände umklammerten immer noch ihre Handgelenke, aber er versuchte nicht mehr, sich aus ihrem Griff zu winden, vielmehr hielt er sich nun fest, sein Gesicht so weiß wie nie. Und in seinen Augen stand das pure Entsetzen. Er sah sie an, wie gebannt, nicht in der Lage, den Blick von ihr abzuwenden, und merkte doch, wie alles in ihm ihn einfach nur weg wollte. Verschwinden. Im Erdboden versinken. In Luft auflösen. Wie kann das wahr sein, wie kann… Sein Blick wurde glasig. Shiho schluckte, biss sich die Lippen blutig, umklammerte sein Gesicht mit ihren Händen. Seine Haut fühlte sich fast leichenhaft kühl an; allerdings war sie sich nicht sicher, ob ihr das nicht nur so vorkam, weil sie selbst so glühte. „Du musst dich erinnern, hörst du!“, keuchte sie, kniff die Augen zusammen, fühlte sich, als würde sie innerlich verbrennen. Sie begann ihn zu schütteln, bis er sie wieder ansah. „Nein…“, murmelte er kraftlos. „Ich will mich nicht – nicht an das, nicht…“ „Doch!“ Sie schrie ihn an. Er versuchte sich zu weigern, wusste nicht, warum. Er merkte, wie in ihm etwas zu bröckeln anfing, etwas drohte, freigelegt zu werden, von dem er nicht wusste, ob er es sehen wollte. Er kniff die Augen zusammen, keuchte, hielt sich den Handrücken an die Lippen. „Doch…“, flüsterte sie. Ihr Griff lockerte sich ein wenig. Shiho schaute ihn an, merkte, wie in ihr ihr schlechtes Gewissen tobte, sah sie doch, was sie ihm antat. Er hatte doch eigentlich genug für heute. Sein Atem strich über ihr Gesicht, als er stockend Luft holte und wieder ausatmete. „Verdammt, ich mach das nicht zum Spaß, das muss wenigstens einen Sinn haben, du musst…“ Er öffnete seine Augen wieder, unwillig, sah geradewegs in ihr Gesicht, sah Shiho… und sah Ai. Ihre Sicht hingegen verschwamm langsam, ihr Kopf sank auf seine Schulter. Er hörte sie wimmern, merkte, wie die Kraft sie langsam verließ, geriet fast in Panik, wusste er doch nicht, was mit ihr los war. Sie kippte gegen ihn, verlor vor Schmerzen fast das Bewusstsein, merkte nur, wie er wie automatisch einen Arm um sie legte, sie festhielt, und doch merkte, wie sie ihm entglitt. Ihr Körper schien unglaublich heiß zu sein, fiebrig, und sie zitterte unkontrolliert. Angst keimte in ihm auf, Angst, dass sie starb, jetzt. Shiho klammerte sich fest, krallte ihre Hände in seinen Rücken, merkte nicht, wie weh sie ihm dabei tat. Genau genommen merkte sie nun gar nichts mehr – nichts, außer dem unbändigen Schmerz, der sie an die Grenze ihrer körperlichen Belastbarkeit trieb. Als sie schrie, hörte sie nicht nur ihren Schrei in ihren Ohren. Unsichtbar für sie brach in seinem Kopf das blanke Chaos los. Der Duft von nassem Gras stieg ihm in die Nase, gedämpft drang Musik an seine Ohren. Wo war er? Was war das für eine Musik? Aus seinem Augenwinkel heraus sah er Lichter, die sich drehten und hüpften, bunte Lichter. Ein Rummelplatz. Vor ihm stand ein Mann, der sich nun zu ihm runterbückte. Er konnte kaum verstehen, was er sagte, in seinem Kopf pochte es schmerzhaft. Offenbar hatte man ihm gerade eins von hinten übergebraten. Und offenbar war es der Mann gewesen, der nun redete, und deren Kopf nun in seinem Sichtfeld erschien. Silberblonde Haare umrahmten ein schmales Gesicht, eisblaue Augen sahen ihn musternd an. „… es ist ein neuartiges Gift, entwickelt von unserer geliebten Organisation. Tötet binnen Sekunden und ist im Blut nicht mehr nachweisbar…“ Er merkte, wie der Kerl ihm mit einer Hand in die Haare griff, seinen Kopf hochzog, fühlte erst jetzt, dass sein ganzer Körper viel zu träge war, um sich zu wehren. Er war wie betäubt. Er war betäubt. Leise stöhnte er auf, unwillkürlich; sein Kopf schmerzte entsetzlich, und nur an den Haaren festgehalten zu werden, während sein Gewicht ihn nach unten zog, tat ihr übriges. Als ihm der Mann eine Kapsel in den Mund schob, wollte er sie ausspuken, aber fand sich außerstande zu dieser eigentlich so einfachen Reaktion. Als man ihm Wasser in die Mundhöhle schüttete und ihm dann Mund und Nase zuhielt, um ihn zum Runterschlucken zu zwingen, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Kapsel runterzuwürgen, um wieder Luft zu bekommen. Er hatte eine dumpfe Ahnung, dass das keine gute Idee gewesen war. Es war tatsächlich keine gute Idee gewesen. Die Sekunden, oder vielleicht Minuten, die dieser Einnahme gefolgt waren, kamen ihm wie die längsten seines Lebens vor. Schmerz durchschnitt seinen Körper wie ein Pfeil, tauchte seine Welt in Dunkelheit und Stille. Weg war der Duft von Gras, weg war die Karussellmusik, und weg waren die bunten Lichter, die ihren Schein aufs Gras geworfen hatten. Nur Schmerz und Dunkelheit existierten noch. Er schrie auf, als er meinte, seine Knochen würden schmelzen, griff haltsuchend ins Gras, als er glaubte, zu verbrennen, wusste doch, dass es nichts half, dass egal, wie sehr er seine Finger in die Erde bohrte, ihm das doch keine Erleichterung verschaffen würde. Er starb. Als er wider Erwarten doch wieder aufwachte, fand er sich vom Licht mehrerer Taschenlampen geblendet. Polizisten standen um ihn herum. Er erinnerte sich nicht mehr daran, was sie gesagt hatten. Aber er sah seinen Pulloverärmel, der mehr als locker über seine Hände baumelte, konnte sich nur zu gut an die neue Perspektive erinnern, als er, selbst nachdem er aufgestanden war, den Polizisten nicht einmal annähernd in die Augen sehen konnte… trotz seiner siebzehn Jahre und gut eins siebzig Körpergröße. Er lag auf dem Rücken, als er wieder zu sich kam. Sein Atem ging keuchend, er fühlte sich, als hätte er das, was er gesehen hatte, am eigenen Leib erlebt, und zwar gerade eben. Blicklos starrte er an die Decke, unfähig einzuordnen, wo er sich befand, und was passiert war. Nur langsam holte ihn die Realität wieder ein. Das Mädchen lag auf dem Boden, eine kleine Hand halb auf seinem Bauch, und rührte sich nicht. Sein Kopf schien durch eine Walzenpresse gedreht worden sein - und in seinem Schädel hämmerte ein Presslufthammer auf dem herum, was von seinem malträtierten Hirn noch übrig geblieben war. Unsicher stemmte er sich auf den Ellenbogen hoch, merkte, wie keuchend sein Atem noch war, sah sich unsicher um. Sein Herz raste, ihr Schrei – sein Schrei? - klang immer noch in seinen Ohren. Shinichi ließ sich wieder zurücksinken, kniff die Augen zusammen, presste seine Handballen auf seine geschlossenen Lider, bis schwarze Kreise vor seinen Augen zu tanzen anfingen, sich ein dumpf pochender Schmerz einstellte. Die Bilder, die Gefühle waren fast zu viel für ihn, wie sie da eins übers andere auf ihn einströmten, ihn mit sich rissen und nicht mehr losließen. Er keuchte, wischte sich mit einem Ärmel über die schweißnasse Stirn; dann stand er auf, eine unendlich mühselige Prozedur - und ging zum Fenster, riss es auf und streckte seinen Kopf hinaus in die kalte Nachtluft. Kühler Wind wehte ihm um die Nase, von fern war ein Auto zu hören, ein paar Gesprächsfetzen von Jugendlichen, die sich auf den Weg in die nächste Karaoke-Bar machten, eine der wenigen, die zu so später Stunde noch geöffnet war. Ansonsten war es erstaunlich still. Und das tat so gut. Dann hörte er leises Stöhnen, hinter sich, kurz. Es raschelte, und er drehte sich um. Schwankend, in viel zu großen Klamotten, stand da Ai Haibara, bleich und zittrig. Sie wich seinem Blick aus, bückte sich und begann, in ihren Kleidern zu wühlen, fand den Schlüssel, hob ihn hoch. Er ging zu ihr, schaute auf sie herab, nahm ihr dann den Schlüssel aus der Hand und hob sie auf den Arm. Ai ließ es geschehen, sagte nichts, fragte nichts, lehnte sich nur gegen seine Schulter. Er fühlte ihren heißen Atem an seinem Hals, ihr Körper war unnatürlich warm, strahlte eine Wärme ab, die ihn fast schaudern machte. Shinichi sperrte die Tür wortlos auf und machte das Licht aus. Draußen auf dem Gang standen der Professor und Kogorô Môri, die sie beide gleichermaßen besorgt wie ernst anschauten. Shinichi übergab dem Professor wortlos das Mädchen, der es auf den Arm nahm. Der alte Mann nickte nur, drückte ihm wortlos die Schulter und verabschiedete sich kurz von Môri, der Shinichi mit einer knappen Handbewegung bedeutete, die Treppe hochzugehen. Er würde heute hier bleiben müssen. Oben angekommen stieß der Detektiv die Wohnungstür auf, die nur angelehnt war. „Sei leise, Ran schläft bereits. Sie hat deinetwegen viel durchgemacht.“ Shinichi nickte nur, er wusste nicht, ob und was er sagen sollte. Beim Betreten der Wohnung fiel er fast über ein Paar kleiner, rot-weißer Turnschuhe. Unwillig blieb er stehen, dann bückte er sich, hob die Schuhe auf, stellte sie ordentlich beiseite. „Du schläfst ihm Wohnzimmer, ich hab die Couch für dich bereitgemacht, wenn du etwas zu trinken haben willst, das steht in der Kü-…“ Môri war ihm vorangegangen, hatte die Tür zum Wohnzimmer bereits geöffnet, als ihm aufgefallen war, dass sein Gast ihm nicht gefolgt war. Er ging ein paar Schritte zurück, fand ihn im Flur, wo seine Augen immer noch auf ein paar kleine Schuhe geheftet waren. Môri starrte ihn an, konnte sich kaum vorstellen, was in ihm vorging. Allerdings, soviel war offensichtlich, war das wohl eine Menge. Offenbar war Shihos kleine Erinnerungshilfe keineswegs an ihm vorbeigegangen, ohne Spuren zu hinterlassen, wie es schien. Sie hatten sie gehört, er und der Professor. Sie beide, sowohl ihn, als auch sie. Sein Gesicht sprach jetzt noch Bände. „Herr Môri?“ Den Detektiven schauderte unwillkürlich. Erst jetzt merkte er, wie selten er sich eigentlich mit Shinichi unterhalten hatte; seine Stimme klang seltsam fremd in seinen Ohren, und doch erinnerte alles an ihm, wie er dastand und die Schuhe anstierte, die kleine Jacke anfasste, die vor ihm hing, an Conan. Die Ähnlichkeit war eigentlich einfach unbestreitbar und – unübersehbar. Und doch war sie ihm während all der Zeit nie aufgefallen. Er trat näher, einen Schritt nur. „Ja… Shinichi?“ Der junge Mann sah auf, presste seine Lippen aufeinander, schluckte schwer. „Es tut mir leid, Sie über Jahre so unverschämt angelogen zu haben. Das ist… eigentlich unverzeihlich. Und es ist mir schleierhaft, warum Sie mir helfen. Sie sollten mich hochkant rauswerfen.“ Seine Stimme war leise, der Ton seiner Worte ungeheuer ernst. Kogorô stutzte. „Du… erinnerst dich?“, fragte er vorsichtig, trat noch näher. Shinichi schüttelte den Kopf, halbherzig. „Nur an eine Sache, jetzt.“ Er schluckte, merkte, wie ihm allein bei dem Gedanken noch übel wurde, taxierte die Schuhe ein letztes Mal, ehe er den Kopf hob und den Mann vor ihm fest anschaute. „Nur an eine einzige Sache.“ Kurz schloss er die Augen, atmete gepresst aus, als er versuchte, die Bilder und Gefühle in seinem Kopf, in seinem ganzen Körper, einigermaßen niederzukämpfen und unter Kontrolle zu bringen. „Conan Edogawa.“ Ai lag in ihrem Bett im Zimmer des Professors, hatte sich die Decke bis ans Kinn gezogen. Vor ihrem geistigen Auge konnte sie immer noch diesen Schrecken in seinem Gesicht sehen. Dieses Entsetzen, diesen Schmerz, als er sie sah, diese Bilder, sie spürte, noch einmal durchlebte, wie es war… wenn das mit einem passierte. Hörte diesen Schrei in ihren Ohren, als viel zu viel auf einmal über ihn hereinbrach. Ihr Leid, gepaart mit seinem, mit den Erinnerungen an den Abend, der sein Leben aus den Angeln gerissen hatte. Denn dass er sich erinnert hatte, soviel war offensichtlich. Der Professor betrat das Zimmer, trug einen mit kleinen Pandas bedruckten Pyjama und drückte ihr eine Tasse Milch mit Honig in die Hände. Sie nahm sie dankbar entgegen, schlürfte am Schaum. Die Wärme und der süße Geschmack taten ihr gut. Agasa warf ihr einen fragenden Blick zu, ehe er ebenfalls einen Schluck von seiner Milch nahm. Als sie seinen wortlosen Wink nicht verstehen wollte, seufzte er. „Hat es denn nun etwas gebracht? War deine Aktion, die euch heute fast das Leben gekostet hätte, denn von Erfolg gekrönt?“ Ai verzog das Gesicht, schleckte sich dann mit ihrer Zungenspitze den Milchbart von der Oberlippe und sah dabei mehr wie ein Kind aus als je zuvor. Agasa spürte einen kurzen Stich, als er sich an die junge Frau erinnerte, die mit ihm die Wohnung verlassen hatte. Es war jedes Mal wieder schwer zu begreifen, was mit ihnen geschah. Dann riss ihn ihre Stimme aus seinen Gedanken. „Erstens, Professor, waren Gin und Vodka schon in seinem Zimmer, als ich kam. Ich möchte behaupten, meine Anwesenheit trug maßgeblich dazu bei, dass er entkommen konnte.“ Sie schluckte, merkte, wie sich in ihr maßlose Angst breitmachte bei dem Gedanken an Gin. Sie hörte sein Lachen, sah seine blauen Augen, und spürte diese Gier in ihm, sie endlich zur Strecke zu bringen. Diese Mordlust umgab ihn wie eine dunkle Aura. „Und zweitens?“ Ai stutzte. „Na, du sagtest, erstens- also hast du wohl ein zweitens?“ Müdigkeit schwang in der Stimme des Professors mit. Er steckte seine Beine unter seine Bettdecke. Seine kleine Mitbewohnerhin hingegen sammelte sich wieder. „Ach ja. Ja. Zweitens.“ Sie leerte ihre Tasse auf einen Zug. „Ich weiß nicht, wie viel es ist. Aber ich denke, die Erinnerung an diesen Abend, über den er ja nicht reden will, niemals reden wollte, und auch nie geredet hat - ist wieder da.“ Er fuhr hoch, starrte ihn an. „Was?“ Das kleine Mädchen nickte bedeutungsschwer, strich sich über die Augen. Die heiße Milch mit Honig tat ihren Dienst, sie merkte, wie ihre Glieder langsam bleischwer wurden, sich das Adrenalin, dass sie bis vorhin noch viel zu nervös zum Schlafen gemacht hatte, endlich egalisierte. „Es war der Blick in seine Augen, Professor. Er hat nichts gesagt…“ Sie ließ sich in die Kissen sinken, merkte, wie ihr die Augen zufielen. „Aber dieser Blick… so sieht man nur aus, wenn man gerade sein Leben in die Brüche gehen gesehen hat. Zum… zweiten Mal.“ Sie gähnte. „Und jetzt wird er beschäftigt sein damit, die Scherben einzusammeln und wieder zusammenzusetzen. Es wird auch langsam Zeit.“ Agasa warf ihr einen einigermaßen verdutzten Blick zu. Dann löschte er das Licht- und wenige Minuten später verriet ein sonores Schnarchen, dass er im Land der Träume angekommen war. In der Tokioter Polizeizentrale hingegen brannte noch Licht. Alle hatten sich im großen Konferenzraum versammelt, nachdem die Schwarze Organisation abgezogen war. Sie hatten es zwar geschickt angestellt, es waren nicht alle auf einmal verschwunden, langsam, einer nach dem anderen waren sie aus dem Krankenhaus rausgetröpfelt, als dort wieder der Alltag einkehrte… aber es war doch offensichtlich. Die Schlacht für heute war vorbei. Hidemi stand neben Sharon an der Tür, betrachtete Chiba mit mitleidigem Blick, der sich einen Eisbeutel an die große Beule an seinem Hinterkopf hielt und Shiratori nach einer weiteren Schmerztablette fragte. Nachdem die Luft rein gewesen war, hatte man ihn bald gefunden. Am anderen Ende des Tischs unterhielten sich leise Takagi und Meguré. Sharon lehnte sich zurück, beobachtete die beiden. Es war klar, worum es ging; Takagi hatte die Polizei selbstverständlich zur Teeküche geführt. Jetzt lagen auch tatsächlich zwei Leichen in der Autopsie des Präsidiums; Korn und Chianti. Sie seufzte nur, lächelte sanft, tippte dann Hidemi an der Schulter, winkte sie mit sich. Sie mussten zurück, das wussten sie beide. Shuichi beobachtete die beiden, als sie den Raum verließen. Neben ihm stand Jodie mit ihrer dritten Tasse Kaffee, ihre Augen auf Sharon fixiert, bis die Tür hinter ihr zugefallen war. „Muss man mit ihr nicht noch reden?“, fragte sie launisch. Shuichi schüttelte den Kopf, nur kurz. „Sie redet, wenn sie reden will. Sie erzählt nur, was sie erzählen will. Es bringt nichts, sie hierzuhaben. Sie bringt nur alles durcheinander.“ Dann lächelte er kurz. „Allerdings hat sie sich heute auch endlich einmal nützlich gemacht.“ Dann hörten sie, wie Meguré sich räusperte. „Werte Kolleginnen und Kollegen, Agent Black…“, er nickte zu James, der ebenfalls mit einer Tasse Kaffee bedient am Tisch saß, „Agents Akai und Starling.“ Grüßendes Gemurmel hob an und verebbte, zum Zeichen, dass er ihre Aufmerksamkeit genoss. „Bevor wir für heute hier Schluss machen und uns in den wohlverdienten Feierabend begeben, fasse ich für Sie den Stand der Dinge zusammen.“ Er räusperte sich, nippte an seinem Wasserglas. „Auf unserer Seite gab es keine Opfer. Lediglich zwei leicht verletzte Officers, Officer Miyamoto und Inspektor Chiba sind zu vermerken. Sie bestätigen allerdings beide ihre Einsatztüchtigkeit.“ Leiser Applaus kam auf, und die beiden angesprochenen nickten, eine Geste, die Chiba offensichtlich doch Kopfschmerzen bereitete. „Das Krankenhaus hat seinen Normalbetrieb aufgenommen. Weder die Belegschaft noch ein Patient hat Schaden genommen.“ Er nickte ernst. „Shinichi Kudô wurde sicher aus dem Krankenhaus gebracht und befindet sich an einem sicheren Ort, den ich aus Gründen der Geheimhaltung nicht öffentlich mache, vorerst.“ Beistimmendes Nicken folgte dieser Ankündigung. „Zwei Mitglieder der Schwarzen Organisation sind tot.“ Diese Ankündigung verursachte nun doch etwas mehr Aufsehen; nicht alle hatten bereits erfahren, was sich im Korridor, in dem sich Shinichis Zimmer befunden hatte, abgespielt hatte. „Die Scharfschützen der Organisation, zwei Mitglieder mit dem Namen Korn und Chianti, wurden heute erschossen. Korn wurde von Mrs Sharon Vineyard, bekannt unter dem Namen Vermouth, getötet. Sie arbeitet offenbar als Maulwurf für uns.“ Seine Stimme versank in genuscheltes Murmeln. „Irgendwie werd ich aus der Frau nicht schlau.“ Unwillig räusperte er sich. „Wie dem auch sei. Unser werter Inspektor Wataru Takagi hat Chianti, Korns Partnerin, erschossen, eine Geste der Notwehr, aber nichtsdestotrotz.“ Stolz spiegelte sich in Megurés Augen. „Sie waren zwar dämlich und unvorsichtig, als sie sich allein auf die Suche nach Miyamoto und Sato machten, aber Sie haben heute Mut und einen kühlen Kopf bewiesen. Gut gemacht, Takagi!“ Takagi wurde rot, fing an zu stammeln, hielt die Klappe, als Sato seine Hand drückte und beließ es dabei, sich verlegen am Hinterkopf zu kratzen. „Seien Sie aber so gut und befolgen Sie das nächste Mal Ihre Befehle.“, hängte der Kommissar an, was ihm das Gelächter der im Raum anwesenden Polizisten einbrachte und dafür sorgte, dass Takagis Gesichtsfarbe sich der einer reifen Tomate anglich. Dann räusperte sich Meguré ein weiteres Mal vernehmlich. Als Ruhe eingekehrt war, sprach er schließlich. „Wie Sie sehen, werte Kolleginnen und Kollegen, war dies heute ein erfolgreicher Tag für uns und das FBI. Wir danken den Agents an dieser Stelle für ihre Zusammenarbeit, und hoffen…“ Er seufzte. „Hoffen, dass wir sie das nächste Mal vernichten. Gute Arbeit, von euch allen. Bis morgen.“ Er wandte sich um, verließ den Raum. Takagi, Sato, Black, sowie Shuichi und Jodie, die sich ihnen genähert hatten, starrten ihm hinterher. Jodie hob eine Augenbraue. „Er hat’s nicht leicht, momentan, has he?“ Takagi schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht. Morgen ist Kudôs Verhör, das macht ihm zu schaffen. Schon seit er ihn heut gesehen hat, beschäftigt ihn nichts anderes mehr.“ Er schob seine Hände in seine Hosentaschen, merkte zufrieden, wie sich Sato an ihn lehnte. Black nickte schwer. „Won’t be easy, for anyone of us. Aber für heute sollten wir uns eine Pause gönnen. Gehen Sie nach Hause, ruhen Sie sich aus. You all did a really good job today.“ Er wandte sich um und ging. Jodie und Shuichi folgten ihm wortlos. Und so löste sich die Ansammlung im Konferenzraum langsam auf, bis schließlich auch hier endlich das letzte Licht verlosch und im Polizeihauptquartier Tokios Ruhe einkehrte. Kapitel 31: Kapitel 13: Geständnis ---------------------------------- Was soll ich sagen? Hasst es oder liebt es – ich weiß nicht, wie ich es finde. Auf jeden Fall ist heut der langersehnte Tag – oder die langersehnte Nacht. Wie auch immer. Lest selbst... Viel Vergnügen, eure Leira _____________________________________________________________ Kapitel Dreizehn: Geständnisse Shinichi lag wach, wälzte sich auf dem Sofa von einer Seite auf die andere. Schmerz pochte in seiner Seite, und er schwitzte; er fieberte wohl ein wenig, was kaum verwunderlich war, bedachte man, was er heute erlebt hatte und wie anstrengend der Tag nicht nur für seinen Kopf, sondern auch für seinen Körper gewesen war. Aber das war es nicht, was ihn nicht schlafen ließ. Auch nicht das Adrenalin, das nach den Ereignissen dieses Tages immer noch durch seine Adern zu strömen schien; eigentlich sollte er ja vor Erschöpfung im Stehen schlafen können. Vorhin hätte er das auch noch gekonnt… jetzt war daran allerdings nicht mehr zu denken. Tatsächlich brachte er jetzt nicht einmal im Liegen ein Auge zu, geschweige denn zwei. Es waren die Bilder. Sie ließen ihn nicht los. Er wusste, es war eine Erinnerung, ein Teil seines alten Lebens, seines verschütteten Ichs, die der Anblick von Shiho heraufbeschworen hatte; Shiho, die binnen Minuten wieder zu Ai geschrumpft war, unter Höllenqualen, offensichtlich. Ein Schauer lief ihm über den Rücken; unwillkürlich presste er seine Kiefer aufeinander, so fest, dass seine Zähne knirschten. Als er es bemerkte, versuchte er, sich wieder zu entspannen – ein Unternehmen, das beim Versuch blieb. Die Bilder verfolgten ihn, blieben ihm hartnäckig vor Augen; er spürte die Hitze, fühlte das Gras unter seinen Fingern, hörte dieses Lachen. Erlebte in Gedanken diese Schmerzen erneut, fühlte den Schock danach; als er sich bewusst werden hatte müssen, was mit ihm passiert war. Er wusste, es war die Erinnerung an seine eigene Verjüngung. Die Erinnerung an Conan Edogawas Geburtsstunde. Und der Gedanke erschreckte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Allerdings machte langsam alles Sinn, das war das einzig Gute daran… die Geschichte des Professors war die Wahrheit, die Leute, die ihn heute im Krankenhaus umbringen hatten wollen, waren die gleichen, die ihn schon vor gut einer Woche umbringen hatten wollen - es waren dieselben, die ihm dieses ganze Leben eingebrockt hatten. Langsam setzte er sich auf, hielt sich den Kopf, stöhnte leise auf, als ihm kurz schwindelte. Dann stand er auf, mühselig und wackelig, schleppte sich in die Küche, suchte nach einem Lappen oder Tuch, das er nass machen konnte, um es sich auf die Stirn zu legen, um seinen Kopfschmerz zu lindern und kam sich vor wie ein Einbrecher dabei; allerdings wollte er auch keinen wecken, er wollte nicht noch mehr Umstände machen, als er es ohnehin schon tat. Nach einer Weile des Herumtastens in der Dunkelheit, da er kein Licht machen wollte, um durch den Lichtschein keinen zu wecken, fand er schließlich ein Geschirrtuch, schaute es prüfend an. Ein wenig schlechtes Gewissen machte sich in ihm breit, als er es unter den kalten Wasserstrahl des Wasserhahns hielt, wobei er sich mit einer Hand an der Kante des Tresens festklammerte. Die ganze Zeit hatte er nicht gemerkt, wie elend es ihm ging – aber jetzt, ohne Medikamente und ohne Ablenkung wie eine Flucht oder ähnlichem, spürte er jede Faser in seinem Körper, jeden Nerv, so zumindest schien es ihm. Und sie taten alle weh. Mühsam unterdrückte er ein leises Stöhnen, drehte dann langsam den Wasserhahn wieder ab, schaute sich unsicher um. Er fühlte sich fremd hier, konnte kaum glauben, dass er hier den Großteil der letzten beiden Jahre verbracht haben sollte. Eigentlich hätte er sich hier wie zu Hause fühlen müssen, stattdessen fühlte er sich wie ein Eindringling. Tatsächlich fühlte er sich wohl ohnehin nirgends zuhause, momentan. Langsam wrang er das Tuch aus, Handgriffe, die ihm unerwartet anstrengend vorkamen, faltete es dann wieder zusammen, setzte sich damit an die Fensterbank. Der Rollladen war nicht heruntergelassen und so lehnte er sich an den Fensterrahmen, sachte, ließ seinen Kopf gegen die Scheibe sinken, presste sich den nassen, kalten Lappen gegen die Stirn. Er hatte das Gefühl, sein Kopf müsse platzen. Unsicher schlang er seinen anderen Arm um seinen Bauch, seufzte, bemerkte, wie dabei die Scheibe kurz beschlug. Draußen hing die Nacht schwer wie ein bleiernes Tuch über Tokio. Ran wachte auf, weil sie Durst bekam; und Hunger. Schläfrig griff sie nach ihrem Handy, warf einen Blick auf die Uhr auf dem Display; es war weit nach elf Uhr nachts. Eigentlich wollte sie so spät nichts essen, aber das Gefühl war bohrend… was nicht verwunderlich war, sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, und da auch nicht viel. Die Sorge um Shinichi hatte sie keinen Bissen zu sich nehmen lassen können. Widerstrebend stand sie auf. Zumindest eine Tasse Tee könnte sie sich ja machen, und vielleicht einen Apfel essen, dachte sie. Auf jeden Fall mal etwas trinken, vielleicht reichte das ja auch bis morgen. Träge schwang sie ihre Beine aus dem Bett, schlüpfte mit ihren nackten Füßen in ihre flauschigen Pantoffeln und schlurfte den Gang entlang in die Küche. Als sie die Silhouette im Fenster sah, die sich durch das Licht der Straßenlaterne von außen erhellt deutlich abzeichnete, erstarrte sie, merkte, wie sich in ihr jeder Nerv, jede Faser anspannte. Lautlos ging sie in Kampfposition, um sich, wenn nötig, zu verteidigen. Dann klatschte sie mit einer Hand gegen den Lichtschalter; wenn das ein Einbrecher war, war sie mit Licht klar im Vorteil. Shinichi fiel fast vom Fensterbrett vor Schreck. Er war so tief in seinen Gedanken gewesen, dass er sie nicht hatte kommen hören – nun stand sie da, ein Mädchen in seinem Alter im geblümten Nachthemd, starrte ihn an wie eine Erscheinung. Ihr Atem ging schnell, das konnte er sehen – er schätzte, ihr Puls raste gerade mindestens so wie seiner. Er stöhnte leise auf, hielt sich den Bauch, der durch die ruckartige Bewegung wieder zu schmerzen begonnen hatte, bückte sich dann nach dem Tuch, das ihm aus der Hand gefallen war, ohne den Blick von ihr zu wenden. Ran fuhr sich über die Augen, konnte kaum glauben, was sie sah. Langsam zog sie die Tür hinter sich zu, damit der Lichtschein aus der Küche ihren Vater nicht weckte. Dann trat sie näher, behutsam, konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Sie hatte bemerkt, dass ihm seine Seite wehtat, wohl von der Schussverletzung, und sie bemerkte auch das nasse Geschirrtuch, zog daraus ihre Schlüsse. Auch die Schramme an seiner Wange und sein auffallend blasser Teint entgingen ihr nicht. „Entschuldige. Bitte.“ Seine Worte rissen sie aus ihren Gedanken. Sie merkte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief und sie konnte nicht sagen, ob er wohlig war, oder eiskalt. Sie fühlte doch, wie ihr Herz einen Sprung machte und schneller zu klopfen begann, beim Klang seiner Stimme, der ihr so vertraut war. Und doch vergaß sie keine Sekunde die Situation, in der sie sich befanden. „Ich… ich wollte dich nicht erschrecken, es tut mir Leid. Ich konnte nicht schlafen und ich hab das Gefühl mein Kopf platzt, deshalb hab ich nach einem…“ Ran schüttelte den Kopf, trat dann näher, merkte, wie sich ihr Kopf abzuschalten begann, ein seltsames Gefühl. Sie zögerte keine Sekunde, ging mit seltsam starrem Blick auf ihn zu. Er schaute sie verwirrt an – dann spürte er ihre Arme, die sich um seinen Oberkörper legten, ihre Silhouette, die sich sanft gegen ihn lehnte, ihren heißen Atem an seinem Hals. Und die Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Shinichi blinzelte, merkte, wie sein Hals seltsam trocken wurde. Dann hob er die Arme, legte sie um sie, etwas unbeholfen. Seine Gedanken rasten. Das ist sie also…? Das… das muss sie sein… Ran. Sie schluchzte, vergrub ihre Finger in seinem Pyjamaoberteil, wusste doch, wie unangebracht das war, was sie hier gerade tat, von ihm verlangte. Aber sie war einfach gerade nicht Herrin über sich; zu groß war die Erleichterung, ihn endlich zu sehen, und zu groß auch der Schmerz bei dem Gedanken, was mit ihm passiert war. Shinichi strich ihr über den Rücken, hoffte, dass sie bald zu weinen aufhörte. Er ahnte, wer sie war, ahnte auch, was in ihr vorging; allerdings fühlte er sich mit der Situation leicht überfordert, und er wusste nicht, ob das deshalb der Fall war, weil er sich nicht an sie erinnerte, oder deshalb, weil er mit weinenden Mädchen generell nicht umgehen konnte… oder weil er ahnte, aber nicht wusste, dass da mehr war zwischen ihnen… Etwas, das aber im Moment nicht existierte. Oder doch? Er wurde unruhig, langsam. Ihm wurde heiß, das merkte er, und auch, wie seine Fingerspitzen zu kribbeln anfingen, sein Magen sich so verdammt aufreizend langsam zusammenzog… spürte er nur allzu deutlich. Als er fühlte, wie sich ihr Griff lockerte, ließ er los. Sie brachte ein wenig Distanz zwischen sich und ihn, schaute ihn an, ihr Teint war blass, ihre Augen ein wenig sorgenvoll, ihre Arme hatte sie um ihren Oberkörper geschlungen. Ihre Wangen waren deutlich gerötet, ihr Blick scheu abgewandt, offenbar schämte sie sich für ihren Ausbruch gerade eben. „Entschuldige.“, murmelte sie, ihre Stimme klang heiser. Unwillig griff sie sich an den Hals. Shinichi seufzte, knetete unruhig das Geschirrtuch mit seinen Händen. Es war klar, was sie dachte, wie er wohl auf sie wirken musste, sonst hätte sie nicht so reagiert. Sie sah niedergeschmettert aus, das war nur natürlich… schließlich erkannte er sie nicht mehr, das musste sie treffen. Und weil… er ihr Freund war, seit vielen Jahren, und wenn sie wusste, was er für sie wohl alles auf sich genommen hatte, dann war… ihre bleiche Gesichtsfarbe nur allzu erklärbar. Das war allerdings nicht, was ihn beschäftigte, auch wenn es ihm für Sekundenbruchteile durch den Kopf ging. Was ihn beschäftigte… war nicht, was sie dachte... sondern sie selbst. Ihre Person. Er wusste, was ihn so bannte, dass er zu keinen klaren Gedanken mehr fähig war, und wehrte sich dagegen, allerdings mit mäßigem Erfolg. Sein Hirn schien wie leergefegt und er kannte den Grund, wenn er auch nicht wusste, woher er ihn kannte… er wusste nicht, warum er sich so sicher war, über das, was er empfand. Er wusste nur, er war sich sicher. Es war dieses Gefühl. Shinichi schluckte, sein Mund war trocken, die Zunge klebte ihm am Gaumen. Liebe… Er hatte sich verliebt. Innerhalb von Sekundenbruchteilen - oder liebte er sie schon seit Jahren, und er wusste es gar nicht mehr? Hatte der Professor nicht eine Andeutung machen wollen, und hatte nicht er selbst ihn daran gehindert, es auszusprechen? Hatte er sich nicht selbst im Krankenhaus gefragt, ob… es Liebe war, zu ihr, dieses unheimlich starke Gefühl, das ihn das alles hatte machen lassen, das ihn so hatte entscheiden und handeln lassen? Fakt war jetzt- jetzt auf jeden Fall, liebte er sie. Sie… Shinichi versuchte, sich zu sammeln. Ihm wurde heiß. Gütiger Himmel… Langsam hob er die Hand, presste sich den Handballen gegen die Stirn, kniff die Augen zusammen und atmete tief durch. Nur nicht durchdrehen, Idiot. Du kennst sie gar nicht. Nicht mehr. Und wenn, ihr seid, nach allem, was du weißt, nur Sandkastenfreunde, sehr gute zwar, aber nur Freunde, da kann nichts sein, eigentlich, sie war nicht deine feste Freundin, zumindest noch nicht… und solange du nicht genau weißt, was da war… sollte da auch nichts sein, also reiß dich zusammen… du BRAUCHST Freunde, ruinier das jetzt nicht…! Das sind nur deine Hormone, die da jetzt ein wenig Achterbahn fahren… du wirst dich doch zusammennehmen können, verdammt… „Shinichi?“ Sie machte nur den Mund auf, sprach seinen Namen... und er hörte ihre Stimme, die seine Nackenhärchen dazu brachte, sich aufzustellen. Er schaute sie zögernd wieder an, wandte den Blick dann wieder ab, ließ kraftlos die Hand sinken, atmete tief ein und aus. Er musste sich unter Kontrolle kriegen. Unbedingt. Du könntest eure Freundschaft kaputtmachen, wenn du jetzt anfängst, dich wie ein verliebter Gockel aufzuführen… sie ist eine gute Freundin, merk‘s dir… merk‘s dir! „Shinichi?“ Ihre Stimme klang auf einmal lauter und er schreckte zurück, stolperte nach hinten, prallte mit dem Rücken gegen die Wand. Aufmerksam schaute sie ihn an. In ihr schien etwas in Scherben zu zerbrechen, als sie ihm in die Augen sah. Leer. Sie waren leer… Er erkannte sie nicht. Shinichi… Ihr Magen krampfte sich zusammen, sie merkte, wie sie erneut gegen die Tränen ankämpfen musste. Es war genauso gekommen, wie sie es befürchtet hatte… die ganze Zeit hatte sie an nichts anderes denken können als an ihre eigene Amnesie, hatte doch gewusst, dass es das nicht gab… dass es eine partielle Erinnerung an bestimmte Menschen nicht gab, bei dieser Art von Gedächtnisverlust. Und hatte doch gehofft, so sehr gehofft, dass er sich wieder erinnerte… An sie… Für sie… Schnell… Für sich selbst und damit er diesen Zustand nicht so lange ertragen musste. Weil sie ja selber nur zu genau ahnte, was er durchmachte. Sie wusste es ja, sie kannte das Gefühl vollständiger Leere und Orientierungslosigkeit. Das ist… Das ist meine Schuld, Shinichi… Er sah nicht danach aus, als ob sich sein Zustand gebessert hätte… oder ändern würde. Sie hatte umsonst gehofft. Dennoch konnte sie sich die Frage nicht verkneifen, merkte, wie sie sich an dem letzten Hoffnungsschimmer klammerte wie eine Ertrinkende an einen Strohhalm. „Ist was? Hast du… hast du vielleicht…? Weißt du…?“ Shinichi schluckte, schaute sie an, wusste nicht, ob er antworten sollte oder lieber nicht. Weiß ich was… was sollte denn sein? Was soll ich wissen, sag‘s mir… Er entschied sich, zu schweigen, schon allein, weil er fürchtete, keinen anständigen Satz hervorzubringen, und schüttelte nur den Kopf, wandte den Blick ab. Ran schaute ihm in die Augen, stand immer noch so nahe vor ihm, dass sie seinen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. Shinichi, wo bist du…? Irgendwo… irgendwo musst du doch noch sein… Rans Hände wurden kalt; langsam, stockend atmete sie aus. Er erinnerte sich nicht. Offensichtlich… erinnerte er sich nicht. Shinichi war weg. Und dennoch stand sie da, starrte in sein Gesicht, suchte mit ihren Augen seinen Blickkontakt, den er ihr immer noch verwehrte, suchte… nach ihm. WO BIST DU?! Verdammt, das ist so unfair! Zuerst… zuerst bist du weg… ist… dein Körper weg… aber dein Geist, deine Seele noch da, mit Conan… jetzt ist dein Körper wieder da, aber deine Seele, dein Geist… du… bist weg… wieder weg… Warum passiert so was nur…? Sie merkte, wie ihr Herz zu rasen anfing, sich ihre Kehle zuschnürte, wusste nicht, was sie tun sollte, sagen sollte. Ihn so zu sehen ging ihr über den Verstand, von ihm nicht beachtet zu werden, nicht einmal mehr angeschaut zu werden, tat ihr unsäglich weh. Diese Situation trieb sie an den Rand des Wahnsinns, aber sie hielt es aus. Sie wusste ja, wie er sich fühlte. Verwirrt. Unsicher. Und so unglaublich leer. Sie seufzte. Ihre Enttäuschung sah er ihr an. „Es… es tut mir Leid. Ich…“ „Ist schon gut, Shinichi.“, murmelte sie dann leise. „Du musst dich nicht entschuldigen. Möchtest du eine Kopfschmerztablette und ein Glas Wasser? Oder Tee? Oder Kakao…“ Während sie sprach, hatte sie einen der Hängeschränke geöffnet und eine Dose sowie eine kleine Schachtel herausgeholt. „Ich fürchte, die helfen nichts. Also die Kopfschmerztabletten, meine ich.“, murmelte Shinichi. Ran wandte sich um. „Schaden können sie auch nicht.“, meinte sie, reichte ihm die Schachtel und gleich darauf ein Glas Wasser, schob ihn dann vor sich her zum Tisch, drückte ihn resolut auf die Sitzfläche eines Stuhls, nahm ihm das nasse Geschirrtuch ab. Gedankenverloren begann sie, Milch für heiße Schokolade aufzusetzen, beobachtete aus den Augenwinkeln, wie er die zwei Tabletten aus der Packung pulte und mit einem Schluck Wasser runterspülte. Seine Bewegungen waren gezwungen langsam, sie konnte sehen, wie seine Finger zitterten. Und erst jetzt fragte sie sich, was er eigentlich hier machte. Sollte er nicht eigentlich im Krankenhaus sein? Langsam wandte sie sich um, lehnte sich gegen den Tresen, und stellte ihm genau diese Frage. „Shinichi, versteh mich nicht falsch, aber… warum bist du hier? Solltest du nicht im Krankenhaus sein?“ Ihre Stimme war leise, kaum mehr als ein Wispern. Er hob den Kopf, schaute sie an. „Du weißt es noch gar nicht? Ich dachte, fast alle wissen schon, was heut da drin gelaufen ist.“ Unwillig schüttelte sie den Kopf, wandte sich dann schnell um, als ihr klar wurde, warum sie noch nichts wusste – weil sie es vorgezogen hatte, heute Nachmittag einen Koller zu haben, anstatt sich zu erkundigen, wie es ihm ging, nämlich - und beschäftigte sich mit der Milch. Sie hörte ihn Luft holen. „Schön, also. Krankenhaus.“ Er sortierte sich kurz. „Eigentlich ja, ich sollte noch im Krankenhaus sein. Allerdings haben die Leute, die mich in diese nicht eben beneidenswerte Lage hier gebracht haben, mich dort gefunden, und…“ Ran merkte, wie ihre Knie weich wurden, drehte sich nun doch um. „Wie- die haben dich da gefunden…?“ Sie merkte noch, als sie den Satz aussprach, wie sinnlos die Frage war. Beschämt wandte sie sich ab, fischte zwei Tassen aus dem Regal und schaufelte Kakaopulver in sie hinein. Shinichi jedoch schien ihr ihre überflüssige Frage nicht übel zu nehmen; er schilderte ihr mit ruhiger Stimme den Verlauf des heutigen Tages - aber während er sprach, sah er sie nicht einmal an. Er redete leise und kontinuierlich mit der Tischplatte. Ran entging das nicht. Nachdem sie die warme Milch auf die Tassen verteilt hatte, setzte sie sich neben ihn, schaute ihn an, versuchte ihn so, dazu zu bringen, sie anzusehen. Die Nummer mit Conan schien ihn sehr mitgenommen zu haben. Ran verwunderte das nicht. Er presste seinen Lippen aufeinander, starrte in seine Kakaotasse. Sie trank einen Schluck, sah ihm dabei zu, wie er das gleiche tat, blickte in seine Augen, sah sie wieder… diese Leere. Sie sah sie nicht nur… sie konnte sie fühlen. Als er geendet hatte, sagte lange keiner ein Wort. Nach einer halben Ewigkeit, wie es schien, brach er schließlich doch die Stille, blickte sie aber immer noch nicht an. „Du musst hier nicht mit mir sitzen. Du bist sicher müde, ich halt dich nur wach…“ Leise drang seine Stimme an ihr Ohr. Ran schluckte, hörte seine Worte in ihrem Kopf nachhallen. Dann wandte sie den Kopf, sah ihn an, merkte langsam erst so wirklich, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Und nun war er hier, zum Greifen nah. Lief nicht weg, verschwand nicht einfach. Sie hatte ihn umarmt und er war immer noch da. „Ich sitze gern hier mit dir.“, meinte sie dann leise. Sie wisperte, wie er. „Ich… ich will mit dir reden, Shinichi…“ Ihre Stimme klang zögernd, vorsichtig. Er schluckte, sah sie nicht an, als er schließlich antwortete. „Ich habe… alles gesagt, um ehrlich zu sein. Ich wüsste nicht, über was ich jetzt noch reden sollte. Du weißt, was… passiert ist. Ran.“ Shinichi sprach leise, augenscheinlich versuchte er, sachlich zu sein, aber sie hörte das Zögern in seinen Worten. Ran fuhr unwillkürlich zusammen, als sie ihren Namen hörte. „Über den Rest weiß ich doch nichts… über mein Leben.“ „Dann stell Fragen.“, insistierte sie, nippte an ihrer heißen Schokolade. „Ich bin deine Freundin, Shinichi. Und ich hab nicht das Gefühl, dass du schon alles gesagt hast, was du zu sagen hättest. Oder alles weißt, was du gern wissen würdest.“ Sie schluckte, biss sich auf die Lippen, fest. Er blinzelte, hob den Kopf und schaute sie nun an; langsam fokussierte sich sein Blick. Ran merkte, wie es in ihrer Magengegend zu kribbeln anfing. Seine Augen sahen sie jetzt an. Zum ersten Mal, seit so langer Zeit, sah Shinichi Kudô sie wieder an… aber ER war nicht da. Er merkte, wie ihm etwas heiß wurde, biss sich nervös auf die Lippen. Bis jetzt hatte er sich gut im Griff gehabt, nach seinem kleinen Gefühlschaos, nachdem sie ihn umarmt hatte. Jetzt hatte er allerdings das Gefühl, dass es genug für heute war. Er wollte ihr ja nicht wehtun, aber er war verwirrt… und er wollte keinen Fehler machen. Nicht, wo er so überhaupt keine Chance hatte, die Situation und ihre Folgen einzuschätzen. „Das seh ich nicht so. Und ich will nicht darüber reden, jetzt.“ Seine Stimme hatte erstaunlich harsch geklungen. Ran blinzelte, merkte, wie in ihr die Unruhe wuchs. Eigentlich hätte sie seine Antwort verletzen müssen… aber das tat sie nicht. Sie machte sie neugierig… stutzig vielleicht, ja. Sie wollte wissen, warum er vor ihr davonlief. „Wie kommst du klar damit?“ Langsam, schwerfällig lösten sich die Worte von ihren Lippen, und doch war ein gewisser Unterton nicht zu leugnen gewesen. Sturheit. Shinichi schluckte, schloss kurz die Augen. Ein Ausdruck von Unwillen huschte kurz über sein Gesicht. Ran registrierte es, aber ignorierte es. „Ich komm schon klar.“ Sie schaute ihn fest an. „Du lügst.“ Er hob seinen Kopf, fixierte mit seinen blauen Augen ihr Gesicht. „Na, hör mal…“ „Du warst schon immer ein schlechter Lügner, Shinichi…“ „Tatsächlich…? Nachdem was man mir so erzählt hat, und nach allem, was ich jetzt über mich weiß, muss ich aber doch irgendwie zumindest ein guter Schauspieler gewesen sein… und lügen die uns nichts vor, auf der Bühne…?“ Ran blinzelte, lächelte dann sanft. Seinen Scharfsinn und seine Schlagfertigkeit schien er nicht verloren zu haben. „Nein, nein.“, sie schüttelte den Kopf. „Da kannst du Recht haben. Aber gelogen hat Conan, und er hatte ein exzellentes Kostüm. Du hast… uns alle wirklich gut getäuscht.“ Sie merkte, wie es in ihrem Bauch wühlte, wie die Scham auf ihren Wangen brannte. Was sie ihm alles erzählt hatte, im Glauben, er wäre… Aber das war ja jetzt auch egal… er erinnerte sich ja ohnehin… an nichts. Ran schluckte. „Sagen wir es so… du hattest immer überzeugende Argumente und stichhaltige Beweise, aber richtig… glaubhaft lügen in deinen Worten, in deinen Gesten und deiner Mimik… ich denke, das hast du nicht so wirklich hingekriegt. Und hätten ein paar sich nicht von Conan so blenden lassen, wärst du damit nicht durchgekommen.“ Sie schluckte. „Aber wer dachte schon…“ Shinichi kniff die Lippen zusammen. „Keiner. Das ist auch… kaum zu glauben.“ „Hm.“ Er schluckte, setzte sich dann auf, die Arme auf der Tischplatte ausgetreckt. Er fühlte sich elend, wusste nicht, ob er sein altes Ich jetzt gut fand oder nicht. Auf jeden Fall wollte er nicht anfangen, an ihre Gefühle, ihr Mitleid zu appellieren. Am besten gewannen sie etwas Abstand. Ran hingegen ließ nicht locker. Sie war ja nicht nur hier, um mit ihm zu plaudern, eigentlich, auch wenn ihr das Gespräch hier nicht leicht fiel. „Aber… wir schweifen vom Thema ab. Also, du… kennst die Wahrheit über dich und Conan. Wie kommst du damit klar…?“ Er zuckte zurück, merkte, wie ihm noch heißer wurde. Am besten war er jetzt erst einmal allein, bis er sich darüber klar geworden war, was er von sich hielt. Langsam wandte er sich ihr zu, holte Luft, atmete langsam wieder aus. Ran sah ihn erwartungsvoll an, bewegte sich unruhig, verknotete ihre Finger. „Du willst wirklich wissen, wie ich damit klar komme? Sollte dich nicht eher interessieren, wie du damit klarkommst?“ Ran erbleichte. Der Satz hatte gesessen. Er biss sich kurz auf die Unterlippe, Schuldbewusstsein zeichnete sich in seinem Gesicht ab. „Entschuldige, ich hab eigentlich keinen Grund, so unhöflich zu sein, dir gegenüber. Es ist nur… ich weiß es nicht. Ich hab mir bis heute einzureden versucht, dass die einfach alle nicht mehr alle Tassen im Schrank haben.“ Ein schiefes Lächeln huschte über Shinichis Lippen. „Ich war ziemlich gut darin. Auch wenn diese Sache mit Conan so gut wie alle Fragen löste, ich wollt es einfach nicht glauben. Wie du schon sagtest… wer denkt schon, dass es so was gibt, ein Schrumpfgift? Wie wahrscheinlich ist das? Und wie wahrscheinlich ist es, dass man so was überlebt… Und was für ein Mensch muss man sein, um alle anderen, die einem wohl etwas bedeuten, so anzulügen… Ich wollt es einfach nicht glauben, dass ich so ein Mensch bin. Und jetzt sitz ich hier und weiß, es ist die Wahrheit.“ Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen, merkte, wie sein Verstand auszusetzen drohte, als er sie wieder sah, die Bilder von Ai, gemischt mit den Gefühlen, die ihn bei seiner Erinnerung an jenen Abend überrannten. Langsam ließ er seine Hände auf die Tischplatte sinken, presste seine Handflächen so fest gegen das Holz, dass seine Fingerspitzen weiß wurden. „Ich meine… die Erinnerung, die ich, wenn ich es mir aussuchen könnte, wohl unter die Top 5 der Erinnerungen stecken würde, auf die ich freiwillig verzichten würde, wenn ich könnte, kam zurück. Ich denke, darauf hat sie gepokert, das Spiel hat sie gewonnen. Shiho.“ Ran starrte ihn an, merkte, wie ihr Puls hochging. „Du erinnerst dich also ?“ „An diesen Abend, ja. Seit..." Er hielt inne, überlegte kurz. "Seit etwa eineinhalb Stunden. Dank... einer sehr plastischen Veranschaulichung von... Ai." Seine Augenbrauen hatten sich zusammengezogen, seine Stirn gerunzelt, kurz. Ran fühlte, wie ihr bei der Vorstellung ein kalter Schauer über den Rücken rann, fragte allerdings nicht nach. Shinichi seinerseits schüttelte sacht den Kopf, wie um die Vorstellung aus seinem Kopf zu vertreiben, seufzte dann. Anscheinend war es ihm nicht gelungen, das Bild loszuwerden. "Allerdings nur von dem Zeitpunkt, als ich im Gras liege, bewegungsunfähig, und mir Gin, der Typ mit den langen Haaren, das Gift einflößt. Dann noch die Minuten danach, das Aufwachen. Danach ist alles wieder weg. Aber die wohl schrecklichsten Minuten meines Lebens hab ich wieder, wie schön.“ Seine Stimme troff vor Sarkasmus. Ran starrte ihn an, ihre Gedanken rasten. Kalkulierend musterte sie ihn, sah diese Zerrissenheit in seinen Zügen - er kannte nur dieses eine kleine Detail über sein Lieben - der Rest der Karte war immer noch blank. Aber dieses kleine Detail raubte ihm wohl fast den Verstand, momentan. Dann leerte er seinen Kakao auf einen Zug aus, stellte die Tasse ab; danach war sein Gesicht wieder etwas entspannter. „Aber das ändert doch nichts daran, dass ich mich benommen habe wie ein Schuft.“ Er schluckte. „Wir waren gemeinsam da, nicht wahr? Auf dem Vergnügungspark. Das sagte der Professor. Er hat mir von dir erzählt. Das heißt, nachdem er mir berichtet hatte, was mit mir passiert ist, da… wollte ich doch wissen, was mich dazu getrieben hat. Ich dachte einfach nicht, dass ich zum Kriminellen geboren bin.“ Ein bitteres Lächeln flog über seine Lippen. „Da sagte er mir, ich hätte es für dich getan, weil wir… sehr gut befreundet wären, und hat mir die Geschichte erzählt, wie ich an diese Männer geraten bin, und wie diese Woche in der Organisation lief, für mich.“ „Und was denkst du?“ Ihre Stimme klang leise, ein sanftes Zittern schwang in ihr mit. Er hörte es, schaute sie an, merkte, wie seine Finger kalt wurden, nahm sie vom Tisch. „Was willst du hören… Ran? Ob ich es noch einmal tun würde, jetzt, da ich die Konsequenzen kenne? Dass ich es bereue? Oder nicht?“ Ran begann, auf ihrer Unterlippe zu kauen, sank in ihrem Stuhl zurück, ihre Augen fixierten einen Krümel auf der Tischplatte. Sie hob eine Hand, begann ihn, mit ihrem Zeigefinger platt zu drücken. Dann schüttelte sie sacht den Kopf, merkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. „Ich weiß nicht, was ich hören will. Ich sollte es besser wissen, ich verlang viel zu viel von dir. Auf solche Fragen kann man nicht antworten, wenn man sein Gedächtnis verloren hat. Auf solche Fragen kann oft nicht mal antworten, wenn man all seine Erinnerungen hat.“ Er hob den Kopf, sah, wie sie mit den Tränen kämpfte. Dann schluckte sie hart, schüttelte fast etwas stur den Kopf. „Bis heute Nachmittag wollte ich dich nicht sehen.“ Unendlich schwer fielen ihr diese Worte. Warum sie ihm das sagte, verstand sie selber nicht. „Du wolltest nicht…?“ Sein Herz klopfte erstaunlich schmerzhaft gegen seinen Brustkorb, sein Hals war wie ausgetrocknet. „Wegen der Sache mit Conan? Ich… könnte verstehen, wenn du mich hasst, ich meine… ich hab dich da wohl lange sehr dreist angelogen, und… wusstest du`s eigentlich?“ Ran kämpfte mit sich, schniefte leise. „Nein. Ich weiß es erst seit heute… dass du Conan warst. Und nein, nicht deswegen wollte ich dich nicht sehen. Nicht, dass ich darüber nicht angesäuert wäre.“ Sie lächelte bitter. „Aber nein. Ich… wollte dich nicht sehen, weil ich den Gedanken nicht aushalte, dass du das für mich getan hast. Ich will nicht, dass jemand wegen mir leidet, erst Recht nicht so, erst Recht nicht… du. Ich hatte Angst davor, zu sehen, was ich angestellt hab. Du bist verletzt, du… hast dein Gedächtnis verloren… weil du das für mich getan hast. Ich dachte, es wäre besser für dich, du triffst mich nicht mehr…“ Ihre Stimme zitterte immer mehr. „Warum, verdammt, hast du das nur getan, du Idiot, du…“ Sie merkte, wie ihr die Hitze immer mehr in den Kopf stieg. Merkte, wie ihr die Kontrolle über sich immer mehr entglitt. Sie hatte ihn zum Reden bringen wollen, damit es ihm besser ging, stattdessen saß sie hier, verhielt sich unvernünftig und selten egoistisch, indem sie ihn mit ihren Gedanken belastete. Shinichi wandte sich abrupt ab, atmete stockend aus. Seine Gedanken rasten. Anscheinend gab es da doch mehr Ungeklärtes zwischen ihnen. Liebt sie mich? Wenn man sie so reden hört… Aber ist das der Zeitpunkt, um darüber zu reden? Ich… ich weiß doch gar nichts mehr… „Du hättest sterben können…“ Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er räusperte sich, bemühte sich, sich seine Aufgewühltheit nicht anmerken zu lassen. „Ich schätze, das war mir wohl klar. Nach allem was ich jetzt weiß, wusste ich wohl, mit wem ich mich angelegt habe...“ Er versuchte, so sachlich wie möglich zu klingen und dabei seiner Stimme einen lockeren Tonfall zu verleihen. „Ich meine, ich… kann dir auch nicht genau sagen, warum ich das getan habe, wie du sagst- wahrscheinlich könnte ich es nicht einmal, wenn sich mein Leben nicht von mir verabschiedet hätte auf unbestimmte Zeit. Aber ich denke, wir dürfen davon ausgehen, dass ich das getan habe, weil es mir, nach Abwägung der Pros und Kontras, als das Richtige erschienen ist. Sollte so eine Abwägung nicht stattgefunden haben, und ich das impulsiv entschieden habe, entzieht sich die Sache sowieso jeder logischen Erklärung.“ Shinichi versuchte ein Lächeln. „Auf jeden Fall ist das nichts, das dich beschäftigen sollte, das liegt jenseits deines Einflussfaktors. Oder denkst du, du bist Schuld…?“ Ran hob den Kopf, starrte ihn an, brach in Tränen aus. Erschüttert sah er sie an. „Du denkst wirklich, du bist Schuld.“, murmelte er dann leise. Unentschlossen schüttelte er den Kopf, vergrub seine Hände in seinen Haaren, schaute dann wieder auf. „Ich weiß nicht, warum ich gehandelt habe, wie ich es eben getan hab. Ich kann es nur raten.“ Er seufzte. „Ich schätze, es ist nicht von der Hand zu weisen, dass man so etwas nicht für jeden tut, also denke ich, lehne ich mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, ich hab es wohl getan, weil du mir außerordentlich viel wert bist. Deshalb hab ich dir wohl auch Conan verschwiegen und dich angelogen. Damit du nicht in die Sache reingezogen wirst.“ Shinichi schluckte, versuchte es zumindest. Sie schaute ihn an, wischte sich widerwillig die Tränen aus den Augen, schämte sich, vor ihm das Flennen angefangen zu haben. „Dafür kannst du aber nichts.“ Ran sah zur Seite, krampfte ihre Hände um ihre Tasse. Er stand langsam auf, lächelte schief. „Mehr kann ich dir nicht sagen. Und du solltest dich nicht weiter quälen damit, ich… lebe ja noch. Irgendwie.“ Sie erhob sich ebenfalls, langsam, nahm die Tassen vom Tisch und stellte sie ins Spülbecken, stumm. Sie bemerkte aus den Augenwinkeln, wie er seine Schläfen massierte, drehte sich um. "Nein. Das... das ist es nicht. Nicht nur..." Shinichi hielt inne, ließ seine Hände sinken, blickte sie fragend an. „Der Grund, warum es mich so mitnimmt, was mit dir passiert ist, und dass es wegen mir passiert ist, ist der, dass…“, setzte sie an, ihren Kopf gesenkt, ihre Stimme kaum lauter als ein Wispern. Shinichi starrte sie an, fing dann an, seinen Kopf zu schütteln. Sie starrte ihn an, hatte das Gefühl, ihr Magen gefröre zu Eis. „Was…?“, flüsterte sie, aber er legte ihr nur die Hand auf den Mund, in seinen Augen stand deutlich Erschrecken zu lesen. Angst. „Nicht… Ran. Du… du musst das nicht sagen. Wahrscheinlich ist es sogar besser, du… sagst es nicht. Ich meine, du weißt doch gar nicht…“ Sie wich zurück. „Was du empfindest oder empfunden hast… oder empfinden wirst, wenn du dich wieder erinnerst, Shinichi, hat nichts damit zu tun, was ich fühle. Außerdem weißt du es schon.“ Ihre Stimme verlor sich. „Auch wenn du es da auch schon nicht hören wolltest. Ich hab es dir gesagt, an dem Tag, als sie dich erwischt haben. Ich…“ Er starrte sie betroffen an, merkte, wie ihm langsam die Luft zum Atmen wegblieb, als sich sein Brustkorb zusammenzuschnüren schien. Immer mehr Tränen rannen ihr stumm übers Gesicht, perlten über ihre Wangen, über ihre bebenden Lippen. Ihre Augen waren bereits jetzt etwas verquollen, was ihm sagte, dass das das wohl nicht das erste Mal heute war, das sie in Tränen ausbrach. „Wir hatten ein ziemlich… aufgebrachtes Gespräch, weil ich… nun, ich wollte wissen, was das jetzt eigentlich ist, zwischen uns.“ Sie seufzte, starrte auf den Boden, immer noch. Eine Träne rollte ihr übers Kinn. „Ich hab… gemerkt, dass sich etwas verändert hat, weißt du. Wir… kennen uns seit dem Sandkasten, sind beste Freunde, solange ich denken kann. Aber irgendwann… kam etwas dazu… dieses Gefühl.“ Er schloss die Augen, atmete langsam aus. Unwillkürlich schob er den Stuhl unter den Tisch. Es wurde Zeit, dass sie etwas Abstand zwischen sich brachten, er wollte gehen, weg hier, zumindest eine Mauer zwischen ihn und sie bringen... „Ran, ich weiß wirklich nicht, ob es eine gute Idee ist, wenn wir jetzt…“, murmelte er. „Ich hab dir gesagt, dass ich dich liebe.“ Sein Herz schien kurz auszusetzen. Er starrte sie an; sie hatte den Kopf gehoben, sah ihn scheu an, ihre Wangen, ihr ganzes Gesicht glühte. „Die letzte Frage, die ich dir gestellt habe, Shinichi… die letzte Frage, die ich dir gestellt habe, bevor das alles hier passiert ist, war die, ob du mich auch liebst.“ Er starrte sie an, sein Mund leicht geöffnet, in seinen Augen namenloses Erstaunen. Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, als er zu einer Antwort oder auch einer Frage ansetzen wollte. „Du hast mir zuerst nicht geantwortet. Ddann hast du mir gesagt, du… würdest nicht, aber ich hab dir nicht… geglaubt. Du warst damals… Conan, es könnte auch gewesen sein, dass du’s mir deshalb nicht…“ Shinichi schluckte, trat einen Schritt zurück. „Und was ist, wenn ich dich wirklich… nicht geliebt hab? Was ist, wenn das hier...“, er strich sich fahrig über die Stirn, „wieder vergeht, wenn ich mich wieder erinnere…?“ „Also ist da was…?“, wisperte sie leise, Hoffnung schwang in ihrer Stimme. Ihr Atem strich über sein Gesicht, kurz schloss er die Augen, seufzte. „Ich weiß nicht, was ich glauben kann… ich kenn dich doch auch gar nicht, ich kenn mich selber nicht…“ Ran seufzte. „Shinichi, als man dir sagte, du hättest eingewilligt, dein Leben gegen meins zu tauschen, hast du dir da keine Gedanken darüber gemacht, was dein Grund dafür gewesen ist?“ Er schluckte, nickte langsam. Er wusste ja, er hatte sich genau diese Frage gestellt. Immer und immer wieder, seit er es wusste. „Du wolltest mich beschützen, warum sonst hättest du das alles auf dich genommen… die hätten dich fast umgebracht, wegen mir hast du alles verraten, an das du glaubst…“ Sie begann zu zittern. „Wegen mir bist du überhaupt erst in dieser Situation, das weißt du doch! Du hast alles aufgegeben, was du warst, für mich! Du hast dich erpressen lassen, foltern und quälen lassen, du hast… dein Leben weggeworfen, für mich, weil man dir gedroht hat, mich umzubringen, wenn du nicht tätest, was man dir sagte. Warum sonst hättest du das tun sollen…“ Sie schluchzte leise, als sie an Akais Bericht dachte... das Ergebnis dieser schrecklichen Woche stand nun vor ihr, und es brachte sie fast um den Verstand. Er schüttelte hilflos den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich tun soll, um ehrlich zu sein. Weil ich nicht weiß, was ich denken soll. Ich… weiß zu wenig, um angemessen handeln zu können, und ich hab… irre Angst, das Falsche zu tun.“ Das klang nach einer einigermaßen logischen Erklärung in seinen Augen. Nur, dass sie sich nicht damit zufrieden gab, wie er feststellte, als er ihr einen prüfenden Blick zuwarf. Ran zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Das Falsche tun? Inwiefern?“, hakte sie zögernd nach. „Bitte…“ Er schluckte, merkte, wie ihm auf einmal wirklich schrecklich heiß wurde. „Du weißt es doch. Wir sollten alles lassen, wie es jetzt ist, und…“ Shinichi warf ihr einen bittenden Blick zu, wandte sich dann wieder ab. Er wollte das nicht tun. Er wollte ihr das nicht sagen. Nicht schon jetzt, nicht, wo seine Gedanken doch noch so unausgegoren waren, nicht mitten in der Nacht, nicht nach diesem Tag, nicht als Kurzschlussreaktion, das war nicht richtig… Es könnte ihre Freundschaft, die es wohl gab, irgendwo… kaputtmachen. Ran legte den Kopf schief, verschränkte die Arme vor der Brust. Dieses Gespräch erinnerte sie an dieses eine Telefonat… es kam ihr vor wie ein Déjà-vu. Und vielleicht hatte er Recht, und sie hätten es dabei bewenden lassen sollen. Allerdings… sträubte sich irgendetwas in ihr dagegen. „Denkst du nicht, es ist schon… zu spät…?“ Sie schluckte kurz, versuchte den bitteren Geschmack aus ihrem Mund zu verbannen, ließ ihre Arme sinken und verschränkte sie hinter ihrem Rücken. Er warf ihr einen bitteren Blick zu. „Bitte versteh… mich doch. Ich würde lügen, würde ich sagen, du ließest mich kalt. Aber ich kann mich doch selbst nicht einschätzen. Ich weiß nicht, wie ich mich normal verhalte, und solche Dinge pflegen auch kompliziert zu sein, wenn man momentan nicht neben sich steht.“ Ran atmete langsam aus, warf ihm einen bedrückten Blick zu. „Du denkst, es ist nicht echt…“ Shinichi seufzte resigniert. „Warst du schon immer so penetrant?“ „Manche sagen ja, andere nein. Also?“ Sie schaute ihn abwartend an, versuchte ein zaghaftes Lächeln. Er biss sich auf die Lippen, wandte den Kopf ab. Ran beobachtete ihn. Er war sichtlich rot im Gesicht, es schien ihn wirklich… zu beschäftigen und er war… schüchtern. Es war offensichtlich, dass er sich nicht traute, mir ihr darüber zu reden. „Mein Leben ist gerade ordentlich aus den Fugen geraten, Ran. Ich… weiß nicht, was echt ist und was nicht, ich kann nur Vermutungen anstellen, und ich will… ich will nichts kaputt machen. Vor allem… in meiner Situation. Ich weiß zu wenig über dich und mich und… ich kann doch so keine Entscheidung über mein Handeln treffen. Angeblich kennen wir uns doch schon so lange, ich will nicht… das Falsche tun…“ Seine Stimme versagte. Er schüttelte den Kopf, versuchte, neu anzusetzen, um es ihr verständlich zu machen. „Hör zu, Ran, ich… ich hatte mich wirklich auf das Treffen mit dir gefreut, weißt du.“, murmelte er dann leise, wagte nicht, sie anzusehen. „Man hat mir gesagt, du würdest mich schon so lang kennen, wir wären… gut befreundet und… würden uns verstehen. Ich konnte kaum erwarten, dich zu treffen, ich dachte, nun… es würde sich vielleicht einiges klären. Und als… als ich dich sah… gerade eben…“ Ran blinzelte, ließ ihn nicht aus den Augen. Langsam sah er auf. „… wusste ich, dass das alles stimmte…!“ Ran schaute ihn an, sah die Verzweiflung in seinen Augen. „Sie haben mir gesagt, du wärst so liebenswürdig; so nett und ehrlich und herzlich… sie haben mir gesagt, du wärst meine beste Freundin und als ich dich sah…“ Er biss sich auf die Lippen, schüttelte den Kopf, strich sich fahrig über die Augen. „...hegte ich keinen Zweifel, dass sie auch da… Recht hatten. Du bist… liebenswürdig, nett, ehrlich und herzlich… allein dass du so unbedingt herausfinden willst, wie du mir helfen kannst, und dass, obwohl ich unmissverständlich unhöflich und harsch war, zeigt das… mehr als deutlich. Du hast mich umarmt, obwohl dir klar ist, was mit mir ist. Du machst mir Kakao und gibst mir Kopfschmerztabletten, du siehst mich keine zwei Minuten und fängst an, dich um mich zu kümmern, mir zu helfen. Mit dir will bestimmt jeder gern befreundet sein, mit so jemand wie dir als Freundin… kann das Leben nur gut sein, irgendwie, auch wenn die Situation noch so schrecklich ist, wenn sie noch so… aussichtslos scheint.“ Shinichi lächelte hilflos, seufzte, drehte sich um, schloss die Tür und lehnte seine Stirn dagegen, stand nun mit dem Rücken zu ihr. „Ich will das nicht kaputtmachen. Ich kann momentan Freunde echt brauchen, weißt du.“ Langsam schloss er die Augen. „Wenn wir das anfangen, und es klappt nicht, oder es bewahrheitet sich nicht, wenn ich wieder ich bin, Ran, dann war’s das, zwischen uns. Dann sind zwanzig Jahre Freundschaft ruiniert…“ „Denkst du nicht, es kann dir helfen, wenn…“ „Ran…!“ Seine Stimme klang ehrlich gequält. „Lass mich doch in Frieden, bitte, wenn du meine Freundin bist.“ Er atmete heftig, warf ihr einen kurzen Blick zu, wandte sich dann wieder ab; nun war er es, der intensiv auf den Boden vor seinen Füßen starrte. „Ist es nicht… gerade dein Gefühl, dem du noch trauen kannst, wenn alles andere dich verlassen hat?“ Ihre Stimme klang sanft. Er hob den Kopf, wischte sich über die Augen. „Ich sagte es doch schon, Ran. Was, wenn ich nicht mehr so fühle, wenn ich weiß, wer ich bin?“ Shinichi strich sich müde übers Gesicht. Ran schaute ihn an, merkte, wie sie zu frösteln begann. „Unsere Gefühle ändern sich nicht amnesiebedingt.“ Er schüttelte den Kopf, schaute sie aus Halbmondaugen an. „Woher willst du das wissen? Ich hab mein Gedächtnis verloren, nicht du. Ich glaube kaum, dass…“ Er bemühte sich sichtlich um einen lässigen Ton, aber sie hörte deutlich, wie zerschmettert er eigentlich war. Wie kaputt. Shinichi öffnete die Tür, wollte die Küche verlassen; sein Teint war blass geworden. Ehe er jedoch einen Schritt nach draußen machen konnte, stand sie vor ihm, versperrte ihm den Weg. „Das stimmt nicht. Ich hab mein Gedächtnis auch schon verloren. Ein paar Tage lang. Vor etwa einem Jahr.“ Sie schluckte hart. Das was sie jetzt sagte, kostete sie viel Mut und noch mehr Überwindung. „Ich… wusste auch nicht mehr, wer du warst. Aber ich fühlte noch das Gleiche, als man mir ein Bild von dir zeigte. Diese Art von Verbundenheit, die man nicht kappen kann. Etwas Vertrautes. Man kann es nicht greifen, nicht festmachen, woran man es erkennt, man kann es nicht beschreiben, aber… es ist da. Es war da, und es blieb, als ich mich wieder erinnerte, weil es auch schon vorher da gewesen war.“ Er wandte den Kopf ab, schwieg, kaute auf seiner Unterlippe. „Ich will dich doch auch zu gar nichts zwingen, ich will dir nur… klarmachen, was das ist, was uns verbindet. Weil es vorher auch schon da war. Weil ich will, dass du dich wieder erinnerst, weil….“ Er schüttelte den Kopf und sie brach ab. Als er sprach, schaute er sie nicht an, hielt seine Augen fest auf den Boden geheftet. „Ich weiß aber nicht, was vorher war, Ran. Auch wenn ich dieses Gefühl kenne, das du beschreibst. Aber sei ehrlich… wärst du an meiner Stelle, und würde ich dir das alles darlegen wie du gerade mir, wie würdest du dich fühlen?“ Langsam hob er die Hand, grub seine Finger in sein dichtes, dunkelbraunes Haar. Ran schaute ihn betroffen an. „Überrannt…“, flüsterte sie zaghaft. Shinichi lächelte bitter, schaute sie kurz an, fixierte dann mit seinen Augen einen Punkt auf den Boden. Ran schaute ihn starr an, konnte nicht die Augen von ihm wenden. „Du hast ja Recht. Ich dachte nur… ich dachte…“ Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, merkte, wie sich ihre Fingernägel in ihre Handballen bohrten, bemerkte den Schmerz, aber löste nicht ihren Griff. Er atmete schwer, man sah ihm an, wie ihn dieses Gespräch mitnahm. „Sag mir was ich tun soll, bitte…“ Er schloss die Augen, fuhr sich über die Arme, fahrig. Ran schluckte, sah den Kampf, den er mit sich selbst ausfocht. Sie ahnte, wie er sich fühlte. Hin- und hergerissen, wie sie selbst, damals. „Sag, was du fühlst. Du bist schon größere Risiken eingegangen, als dieses.“ Ran schluckte, berührte seinen Arm. „Vielleicht hilft es dir.“ Shinichi öffnete die Augen, sah sie an. „Vielleicht ist nicht gerade viel…“ „Eine Garantie gibt es nie.“ Sie stand nah vor ihm, sah ihm in die Augen. Ihre Finger lagen immer noch auf seinem Unterarm. „Sag es einfach…“ Shinichi sah sie an, merkte, wie es ihn ihm wühlte. Sah ihre Augen, blau und leuchtend, ihre Lippen, ihr Gesicht, das ihm auf so fremde Weise so vertraut schien. Er hörte ihre Stimme gern, hörte gern, wenn sie seinen Namen aussprach, an den er sich gerade erst wieder gewöhnte. Er wusste, er liebte sie. Im Prinzip war ihm klar, dass er einen Kampf gegen eine Macht führte, den er nicht gewinnen konnte, und er fragte sich, warum er es in seinem früheren Leben versucht hatte- wie er es geschafft hatte, bis hierher. Shinichi ahnte, dass es ihn teilweise zerrissen haben musste, so nah vor ihr zu stehen, und zu wissen, dass das, was er sich wünschte, nämlich ihr nah zu sein, als Conan einfach nicht in Erfüllung gehen konnte. Warum er sein Leben eingetauscht hatte, gegen ihrs, verstand er mittlerweile nur allzu gut – wenn er vor diesem Desaster so gefühlt hatte wie jetzt, in diesem Moment, dann stellte sich die Frage nach dem Warum nicht mehr. Und er war so nah dran… ihr und sich diesen Wunsch zu erfüllen, endlich nicht mehr getrennt zu sein… und doch unerreichbar weit davon entfernt. Er war nicht er selbst, und das war es, was ihn fast um den Verstand brachte. Shinichi schluckte, starrte sie an. Ran stand vor ihm, ließ ihre Hand langsam sinken, biss sich auf die Lippen, sagte aber nichts. Müde strich er sich über die Augen, versuchte, Herr über sich zu werden und schaffte es doch nicht. In seinem Kopf regierte eine andere Macht, befand sich eine andere Welt, als die, die er bis jetzt kennengelernt hatte, in seinem neuen, zweiten Leben als Shinichi Kudô. Er wünschte sich, den Duft ihrer Haare zu riechen, noch einmal zu fühlen, wie sie ihn festhielt. Alles in ihm sehnte sich danach, sie endlich in die Arme zu nehmen, ihren Körper an seinem zu spüren, ihre Anwesenheit zu fühlen, ihre Nähe, Wärme – das alles tat so gut, beruhigte so ungemein. Ein Gefühl, das er seit seinem Aufwachen im Krankenhaus nicht mehr gespürt hatte. Er wollte es wieder haben. Endlich Ruhe finden, ein wenig. Und er wollte sie glücklich machen. Er wollte sie lachen sehen. Und es war nur einen Wimpernschlag entfernt. Nur ein paar Worte. Und doch hatte er Angst. Angst, vor dem Fall, sollte das alles nur eine Seifenblase sein, in der er lebte, und die platzte, wenn sein Leben ihn wieder einholte. Ran stand vor ihm, ruhig, hielt ganz still. „Ich…“, fing er an, hielt inne. Ran spürte, wie sich in ihrem Nacken die Haare aufstellten, wie ein Schauer über ihren Rücken rieselte. Er schüttelte den Kopf, dann gab er den Kampf auf. „Verzeih mir, wenn… wenn das hier nur von kurzer Dauer sein sollte…“, begann er leise. Sie hielt den Atem an, merkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Er schaute sie an. Dann griff er nach ihrer Hand, presste sie auf seinen Brustkorb, ließ sie dann los. „Spürst du das?“, fragte er sie leise, und dennoch klang seine Stimme aufgebracht. Ran starrte ihn an, sah in seine Augen, merkte, wie ihr Mund trocken wurde. Shinichi… Sein Herz schlug schnell, sie spürte es deutlich. Schneller als… normal. „Spürst du’s?!“ Nun klang er etwas lauter. Ran nickte nur, stumm. „Du warst kaum zwei Sekunden da, und das hat gereicht. Du hast mich kaum umarmt, es war nichts weiter, aber ich… Ich kann nicht mehr klar denken, ich… ich… ich kenn dich gar nicht, aber dieser Augenblick hat gerecht, um alles auf den Kopf zu stellen, ich…“ Ran starrte ihn an, merkte, wie auch ihr Herzschlag sich beschleunigte. Shinichi schaute sie an. „Ist das echt…? Wird das bleiben, Ran, kannst du mir versprechen, dass…“ Sie schloss die Augen. „Bitte, sag mir, dass es bleibt, weil ich es mir so sehr wünsche, Ran, ich will…“ Ran lehnte seine Stirn gegen seine, langsam, ganz sacht. Sag's endlich… bitte… „Ich hab mich in… dich… ver… verliebt…“ Seine Stimme stürzte ab, war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. Ran öffnete die Augen, bemerkte, dass er sie nicht mehr ansah. Er hatte den Kopf abgewandt, sein Blick verlor sich. „Und ich weiß, ich bin ein verdammter Idiot, deswegen. Und ich brech‘ dir das Herz, wenn ich wieder weiß wer ich bin und sich herausstellt, dass dieses Gefühl nicht echt war…“, wisperte er tonlos. „Aber jetzt, in diesem Moment, ich…“ Das Blut war ihm ins Gesicht gestiegen, genauso wie ihr wohl auch. Sie merkte, dass ihre Wangen förmlich brannten, ihr Puls raste. Langsam nahm sie die Hand von seiner Brust, sah, wie er langsam ausatmete, kurz die Augen schloss. Dann hob sie beide Hände, berührte seine Wangen, drehte seinen Kopf zu sich, zwang ihn, sie anzusehen. Was dann geschah, folgte keiner Logik mehr. Ran schluckte, merkte den Ausdruck von Verwirrung in seinen Augen, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, ihr Gesicht dem seinen immer näher kam, bis sich ihre Lippen berührten. Sie küsste ihn. Zart, sehr vorsichtig, und nur kurz. Sie merkte, wie er zurückwich, konnte sein Erstaunen fast spüren, ließ seinen Kopf los und schlang ihre Arme um seinen Hals, drückte sich an ihn, fester, enger als vorher. Spürte seine Atem ihren Nacken streifen, krallte ihre Finger in sein Hemd, spürte, wie er sie an sich drückte, und kam nicht umhin festzustellen, dass sie es genoss… und unheimlich erleichtert war. Endlich, endlich… „Es wird bleiben. Ich… ich versprechs…“ Und sie hoffte, inständig, dass sie ihr Versprechen würde halten können. Kapitel 32: Kapitel 14: Altes, neues Leben ------------------------------------------ So - nach den letzten etwas turbulenteren Kapitel folgen vor dem nächsten Großereignis ein paar etwas gesetztere Kapitel... muss schließlich auch sein, ein Adrenalinhoch kann nicht ohne Pause ans nächste ansetzen. Eine Story braucht Entwicklung - ich hoffe dennoch, das Kapitel langweilt euch nicht. Ich wünsche gute Unterhaltung! Eure Leira PS: Vielen herzlichen Dank für eure Kommentare zum letzten Kapitel! Leute, ihr ahnt nicht, wie oft ich es umgeschrieben hab, bis es so dastand... freut mich sehr, dass ihr damit leben könnt ;) __________________________________________________________ Kapitel Vierzehn: Altes, neues Leben Der Morgen erwachte mit einem Paukenschlag, zumindest im Hause Mori. Shinichi fühlte sich, als hätte er keine zwei Stunden geschlafen, als er fast von der Couch fiel, weil ihn das laute Scheppern eines auf den Boden gefallenen Topfes aus den Träumen riss. Etwas hilflos hing er in seiner Decke verheddert über der Sofakante, von der aus er langsam zu Boden glitt, fluchte leise. Als er auf dem Boden angekommen war, streifte er unwillig die Decke ab und stand mühselig auf, sah sich suchend um. Nur sehr langsam kam die Erinnerung an die letzten Stunden zurück; die Männer in Schwarz, seine Flucht, die Aktion von Shiho… und das Treffen mit ihr. Unwillkürlich presste er seine Lippen aufeinander, schluckte hart. Ein fast surreales Gefühl überkam ihn, als er seine Gedanken zurückschweifen ließ, an das Gespräch, an ihre Worte – an die Momente, die zu diesem Punkt geführt hatten, zu… diesem Kuss. Seine Augen starrten blicklos auf einen Punkt in der Luft vor seiner Nase; langsam atmete er aus. Dann entspannte sich seine Mimik, unwirsch schüttelte er den Kopf. Es kam ihm vor wie ein Traum; und er wusste nicht, wie viel davon jetzt bei Tageslicht noch wahr sein würde. Die Situation gestern war eine Ausnahme gewesen, wer wusste schon… Er seufzte, dann tappte er etwas orientierungslos in die Küche, in der er Ran fand, die gerade den Topf abwischte, der ihren spülschaumtriefenden Händen entglitten war. Als sie ihn bemerkte, wandte sie sich zu ihm um, lächelte sie ihn schüchtern an. „Hast du… gut geschlafen?“ Er schluckte, merkte, wie sein Herz erneut zu rasen begann, hoffte, dass sie ihm die Aufregung nicht ansah, die sie bei ihm auslöste. Er zwang sich zu nicken; tatsächlich hatte er irgendwann in dieser Nacht tatsächlich noch gut geschlafen – wenn auch nicht lange. Ihr schien nichts von seiner Nervosität aufzufallen, oder zumindest ließ sie sich nichts anmerken. Stattdessen deutete sie auf einen Haufen Klamotten, der auf einem Stuhl neben dem Tisch lag. „Schön… nun, ich würde sagen, du machst dich zuerst mal frisch, bis dahin ist auch das Frühstück fertig. Ich hab dir eine neue Zahnbürste auf den Waschbeckenrand gelegt. Und die Sachen hier hat der Professor gerade vorbeigebracht, für dich.“ Ran lächelte immer noch, wartete auf eine Reaktion seinerseits. Shinichi starrte sie an, fuhr sich langsam über die Augen, dann durch die Haare. Es war ungewohnt für ihn, wie sie mit ihm umging, was kein Kunststück war; in seinen Augen sah er sie heute zum zweiten Mal in seinem Leben. Aber dennoch war da etwas; etwas, dass sich vertraut anfühlte, in der Art, wie sie mit ihm sprach, wie sie sich um ihn kümmerte, ihn spüren ließ, dass er willkommen war, dass sie ihn mochte. Nur wusste er immer noch nicht, warum. Was würde er darum geben, zu wissen, wie ihr Verhältnis vorher gewesen war. Wie sein Leben in diesem Haus gewesen war, mit Herrn Mori und Ran. Es waren zu viele Fragen einfach noch unbeantwortet, und er wusste, es würde dauern, bis er all diese losen Enden verknüpfen konnte, die sich seit gestern vor seinen Augen anhäuften. Ein immenser Berg an losen Fäden. Shinichi schluckte, merkte, dass Ran ihn immer noch ansah, wusste, sie wartete noch auf eine Reaktion seinerseits. Ihm war klar, woran sie dachte, schließlich dachte auch er an nichts anderes - er wusste ja, was letzte Nacht gelaufen war, über was sie geredet hatten. Er konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie nahe sie sich gekommen waren. Und er war sich sicher, sie wusste das alles auch noch. Aber dennoch war es seltsam, jetzt, bei Tageslicht, genauso wie er es befürchtet hatte. Es schien alles so unwirklich, als hätte er es geträumt. Und er fragte sich, ob es ihr genauso ging. Wie hatte… wie hatte es gestern soweit kommen können? Was erwartest du jetzt von mir, Ran? Ich muss gestehen, ich hab keine Ahnung… was jetzt passieren müsste. Ran merkte, wie sich in ihrem Magen ein flaues Gefühl einstellte. Sie stellte den Topf ins Spülbecken, trat langsam näher, als er nicht antwortete, stattdessen intensiv auf den Boden schaute, scheinbar das Muster des Fußbodens studierte und mit den Gedanken, das wusste sie, doch gerade Karussell fuhr. Sie konnte sehen, dass mit ihm etwas nicht stimmte, dass er nachdachte, wohl über gestern. Sie griff nach den Klamotten, dann einen seiner Arme, drückte ihm die Kleidung in die Hand, gegen seine Brust, sah ihn nur an. Sie verstand nur zu gut, wie es in ihm aussah, sie… hatte es doch selbst schon erlebt. Er zuckte bei der Berührung zusammen, schaute auf, fand sie auf einmal so nah vor sich stehen. Sie sah die Leere in seinen Augen, und es kam ihr vor, als blickte sie direkt in ihre Vergangenheit. Sie wusste, wie er sich fühlte. Und sie wusste, warum. „Shinichi.“, murmelte sie leise. Er schüttelte den Kopf, wie als ob er aus einem Traum erwachen würde, fokussierte ihr Gesicht, langsam. „Alles in Ordnung?“ Rans stimme drang an sein Ohr, leise. Er nickte automatisch. Sie wusste, die Frage war absurd. Nichts war in Ordnung, konnte einfach nicht in Ordnung sein; aber die Worte waren ihr einfach so über die Lippen gerutscht, zu schnell, als dass sie es hätte verhindern können. Er blickte sie an, merkte erst jetzt, wie er auf sie gewirkt haben musste. „Entschuldige…“, murmelte er dann langsam. Es war unhöflich gewesen, so abwesend gewesen zu sein. Shinichi sah, wie sie die Lippen zusammenkniff, sah die Sorge in ihren Augen, einen Anflug von Kummer. Unmerklich holte er Luft, zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. „Entschuldige bitte, ich war in Gedanken. Ich… geh dann wohl ins Bad. Sollte nicht lange dauern.“, meinte er, bemühte sich um einen gelassenen Tonfall und machte kehrt, traf beim Verlassen der Küche auf Kogorô, stieß fast mit ihm zusammen und wich gerade noch rechtzeitig aus. Der Detektiv schaute ihm verdutzt wie nachdenklich hinterher, bevor er sich seiner Tochter zuwandte. In ihren Augen stand immer noch Besorgnis zu lesen, und ein leiser Anflug Kummer. Er ahnte, woher der rührte, aber schnitt das Thema lieber nicht an. „Unfassbar, dass wir so lange nicht sahen, wer er ist, oder?“, murmelte er dann langsam, um irgendetwas zu sagen. „Ich meine… Dieses Lächeln, die Gestik, der Ton, um den er sich bemüht, wenn er spricht, nur um nicht offenzulegen, wie beschissen er sich fühlt. Conan, wie er leibt und lebt.“, fügte er an, schaltete die Kaffeemaschine an, bemerkte erst dann, dass seine Tochter immer noch keine Anstalten machte, sich zu bewegen. Er zwirbelte seinen Bart, sah sie lange einfach nur an. Ihm entging der Zustand nicht, in dem sie sich befand. Ach, Ran… Sie atmete flach, ihre Lippen waren leicht geöffnet und ihre Wangen rot geworden, ihre Augen glänzten leicht glasig, und er wusste, in diesem Augenblick, jetzt gerade, riss sie sich unheimlich zusammen. Er seufzte leise, wollte etwas sagen. Wollte mit ihr darüber reden, wie es ihr ging, jetzt, nachdem ihre Vorsätze so über den Haufen geworfen worden waren, ihn nicht zu sehen, ihn nicht zu besuchen. Wollte sie fragen, wie sie damit zu Recht kam, ihn so zu sehen. Ihm nahe zu sein und zu wissen, dass er sie nicht erkannte. Er ahnte, dass sie sie ohnehin nicht eingehalten hätte, ihre Vorsätze… schlicht und ergreifend, weil sie es nicht konnte. Egal wie es ihr dabei ging, egal, wie sehr sie mit ihm mitfühlte, sein Leid zu ihrem machte. Allein, wie sie ihm jetzt nachsah, sprach Bände. Sie liebte ihn wirklich. Und sie litt mit ihm, wegen ihm. Dann läutete das Telefon, und Kogorô wurde der Entscheidung enthoben, ob er mit Ran redete oder nicht. Er eilte in den Flur, nahm den Anruf entgegen. Am anderen Ende der Leitung war Meguré. Als Shinichi ein paar Minuten später aus dem Bad zurückkehrte, fühlte er sich anders. Vielleicht lag es daran, dass er seit drei Tagen das erste Mal etwas anderes trug als Krankenhauskittel und Pyjama; vielleicht lag es daran, dass es seine Klamotten waren, die er nun trug. Es war nicht so, dass er sich wie er selbst fühlte. Er wusste ja nicht, wie er selbst sich normalerweise fühlte. Unwillig verzog er das Gesicht, als er die Tür zur Küche öffnete. Aber er fühlte sich nicht mehr ganz so hilflos. Nicht mehr ganz so sehr wie ein Opfer. Tja, was soll ich sagen, es stimmt. Kleider machen wohl tatsächlich Leute. Er seufzte, drückte dann die Tür auf und der Duft von frisch gebrühtem Kaffee und geröstetem Toastbrot stieg ihm in die Nase. Definitiv der beste Morgen seit drei Tagen. Ran, die sich mittlerweile wieder gefasst hatte, stellte gerade eine Tasse zu einem Teller auf den Tisch, der offenbar für ihn gedacht war, und deutete auf den dazugehörigen Stuhl. Sie lächelte ihn an, zog einen Stuhl zu Recht, setzte sich auf einen anderen. „Setz dich.“ Aufmunternd nickte sie ihm zu, goss ihm ungefragt Kaffee ein und nahm ebenfalls Platz. Er murmelte ein Dankeschön und nippte vorsichtig an seiner Tasse, fragte sich, wann er zum letzten Mal Kaffee getrunken hatte; verwarf dann die Frage, und genoss ihn einfach. Kogorô faltete seine Zeitung ein wenig kleiner, schaute Shinichi, der nach kurzem Zögern nach einer Scheibe Toast gegriffen hatte, zu, wie er etwas Butter darauf verteilte. Als er merkte, dass er beobachtet wurde, schaute er auf, zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. Ran ließ ihre Tasse wieder sinken, aus der sie gerade trinken wollte, ihre Augen wanderten zwischen ihrem Vater und Shinichi hin- und her. Kogorô räusperte sich. „Die Polizei möchte heute mit dir reden, Kommissar Meguré hat angerufen, als du im Bad warst. Und deine Eltern möchten, dass du nach Hause kommst.“ Shinichi schluckte unwillkürlich, dachte kurz nach. Ran schaute ihn aufmerksam an. „Schätze, das ist wohl vernünftig. Nach… nach Hause zu gehen, meine ich.“ Er rieb sich gedankenverloren die Nasenwurzel, ließ dann die Hand sinken. „Von welchem Nutzen ich der Polizei allerdings sein kann, ist mir schleierhaft. Aber gut, wenn sie meinen, dann muss ich mich wohl mit ihnen unterhalten. Sagte der Kommissar denn, wo er… also, muss ich aufs Revier, oder…?“ Kogorô schüttelte den Kopf. „Nein. Sie kommen zu dir nach Hause. Nach dem Frühstück kommen deine Eltern dich abholen.“ Shinichi schluckte, fühlte sich sonderbarerweise etwas überrascht. Aber gut, er hätte es wissen müssen, dass er nicht wieder dauerhaft hier einzog. Er war hier nur für eine Nacht gewesen, als Unterschlupf nach seiner Flucht. Dennoch bedauerte er es irgendwie, derart schnell wieder verschwinden zu müssen. Gerade jetzt, nachdem… „Aha.“, meinte er dann leise, biss in seinen Toast und griff mit einem gemurmelten Danke nach dem Teil der Zeitung, den Kogorô ihm kommentarlos reichte. Als seine Eltern nach einer halben Stunde kamen, um ihn mit nach Hause zu nehmen, ging er widerstandslos mit; und fragte sich, warum er von sich dachte, gegen irgendetwas Widerstand leisten zu müssen, beziehungsweise, sich zu wundern, warum er keinen leistete. Er fühlte Rans Blicke auf sich ruhen und fragte sich, ob er ihr noch irgendetwas sagen sollte; Fakt war, nach gestern Nacht wusste er nicht genau, wie er nun mit ihr umgehen sollte. Er liebte sie, und sie ihn auch, aber zur Tagesordnung eines Pärchens übergehen, das brachte er nicht über sich… dazu kannte er sie doch zu wenig, eigentlich. Und dennoch ging es ihm zuwider, nun zu gehen. Noch dazu, ohne wirklich mit ihr noch einmal über gestern geredet zu haben. Unter vier Augen. Ihre Blicke trafen sich, und er bemerkte das Lächeln auf ihren Lippen, als er durch die Tür ging. Ein trauriges Lächeln. Er hob die Hand zum Gruß, schloss dann die Tür hinter sich, atmete aus, gepresst. Dann zog seine Mutter seine Aufmerksamkeit auf sich. „Shinichi, kommst du?“ Ihre Augen strahlten immer noch, und die Erleichterung, ihn zu sehen, und ihn mitnehmen zu können, stand ihr fast buchstäblich auf die Stirn tätowiert. Und das war es auch, was ihn am Meisten schockierte, mehr noch als im Krankenhaus gestern - ihre aufrichtige und ehrliche, ungehemmte Freude, ihn wieder zu haben. Mutter… Yukiko war kaum durch die Tür getreten, als sie auf ihn zugeeilt war, ihn kurz in die Arme genommen und ihm einen Kuss auf die Stirn gedrückt hatte. Er hatte es mit hochgezogenen Augenbrauen und einem schüchternen Lächeln quittiert, als er gemerkt hatte, wie atemlos sie war. Ohne Zweifel war es ihr ein großes Anliegen, ihn endlich wieder unter ihrer Fuchtel zu haben; oder unter ihren Fittichen, je nachdem, wie man es auslegte. Er tendierte zu letzterem, schlicht und er greifend, weil ihn ihre Fürsorge zutiefst rührte. Und auch jetzt fühlte er, wie sie ihn musterte, wie sie ihn studierte, mit dem Ziel, ihm zu helfen; er sah immer noch die Sorge und die Sorte Wärme und Zuneigung, die man in den Augen der eigenen Mutter vermutet. Sein Vater verhielt sich wie auch gestern schon, etwas zurückhaltender. Shinichi entging auch nicht, dass das Verhältnis zwischen seinen Eltern etwas angespannt schien; ein sachtes, elektrisches Knistern begleitete ihre Blickkontakte, und er fragte sich, ob das die Nachwirkungen eines frühmorgendlichen Donnerwetters waren. Und wenn ja, interessierte es ihn irgendwie brennend, worüber dieses Gewitter ausgebrochen war. Oder weswegen. Die Fahrt nach Hause dauerte nicht lange, kaum ein paar Minuten; kein Wunder, dass er und Ran sich angeblich schon so lange kannten, ihre Häuser lagen kaum einen Steinwurf auseinander. Ran. Unwillkürlich berührte er seine Lippen mit Zeige- und Mittelfinger, presste sie dagegen, merkte, wie ihm bei der Erinnerung an letzte Nacht ein Schauer über den Rücken rann. Wahrscheinlich hatte er sich dieses Erlebnis auch anders vorgestellt… nicht in so einem Zustand, zumindest. Sie hatte sicher auch einen anderen Traum von ihrem ersten Kuss geträumt. Und dennoch… war es gerade so gekommen. Er schluckte, merkte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg, erneut, als er daran dachte. Dieses Gefühl… Er biss sich auf die Lippen, konnte es immer noch spüren… dieses Kribbeln, als ihre Lippen seine berührt hatten, so unglaublich zart, kaum spürbar, und doch… unvergesslich eingebrannt in seine Erinnerung, genauso wie der Wunsch, diesen Moment zurückzuholen. Er hörte immer noch ihre Worte in seinen Ohren, dieses Versprechen, das er so gerne glauben würde. Roch den Duft ihrer Haut, ihrer Haare - spürte sie unter seinen Fingern, weich und seidig. Fühlte sich ihr so nah, so unendlich nah… und stellte fest - er mochte das Gefühl, das ihre Nähe in ihm auslöste. Sehr sogar. Es war neu, ja. Und er hatte immer noch Angst, er verrannte sich da in etwas. Aber es fühlte sich so unglaublich gut an, wenn sie ihm nahe war. Er fühlte sich gut, wenn sie da war. Dicht bei ihm war. So nah, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren konnte, und die Wärme ihres Körpers an seinem, wenn er sie im Arm hielt, ihre Hände in seinem Nacken, wenn sie sich festhielt, ihm das Gefühl gab, gehalten zu werden und gleichzeitig selbst zu halten. Und er wollte es nicht aufgeben, jetzt noch nicht. Nie, am besten. Er wollte sie nicht missen, sie, die ihm als einzige dieses Gefühl von Geborgenheit vermittelte, von Zuhause, von… Ruhe und Sicherheit. Wärme. Er merkte, wie er langsam Blut schmeckte, weil er sich zu fest auf die Lippen gebissen hatte, gedankenverloren. Ein bitterer und metallischer Geschmack breitete sich kurz auf seiner Zunge aus, ehe er ihn schluckte, und ihn damit vertrieb. Dann riss ihn die Stimme seiner Mutter aus seinen Gedanken. Sie hatte sich umgedreht auf dem Beifahrersitz, umklammerte mit einer Hand die Kopfstütze, mit der anderen berührte sie sein Knie. Sie hatte ihn wohl bereits mehrmals angesprochen, aber er hatte nicht reagiert. Shinichi zuckte zusammen. „Entschuldige.“, murmelte er dann. „Ich war in Gedanken. Du… hast was gesagt?“ Yukiko sah ihren Sohn besorgt an, fragte sich, was ihn momentan wohl so beschäftigte, und konnte nur raten - durch seinen Kopf mussten an die tausend Dinge gehen. „Wir sind zuhause, Shinichi.“, meinte sie dann, lächelte ihn aufmunternd an und deutete auf das Haus vor ihnen. Shinichi folgte ihrem Blick und konnte nicht verhindern, dass ihm die Kinnlade nach unten fiel, als er aus dem Auto ausstieg. Unwillkürlich hielt er sich an der Autotür fest, als er nach oben blickte, die Fassade und den Garten in sich aufnahm. „Oha. Lass mich raten, du schreibst keine Ladenhüter.“, stellte er dann lakonisch fest, warf seinem Vater einen Blick zu. „So kann man es nennen, ja.“ Yusaku merkte, wie ihm Hitze in den Kopf stieg, hoffte, dass man ihm nichts ansah und vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen, damit keiner merkte, wie sie zitterten. Es war Irrsinn, Shinichi, der in diesem Haus aufgewachsen war, davor stehen zu sehen – und zu wissen, dass er niemals in seinem Leben so baff vor diesem Haus gestanden hatte. Weil er es gewohnt war. Weil er darin groß geworden war, darin gewohnt hatte, seit er sich erinnern konnte, sich darin bewegt hatte, frei, mit jeder Ecke, jeder Stufe, jedem Staubkorn vertraut. Und nun stand er da wie erschlagen von der Größe des Gebäudes und dem Wohlstand, den es symbolisierte, auch wenn er sichtlich versuchte, nicht zu beindruckt auszusehen. Die Kudô-Villa war beeindruckend. Seine Mutter übernahm die Aufgabe, ihn mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen, und kam nicht umher, einen schmerzhaften Stich in ihrer Brust zu fühlen, als sie ihren Sohn wie einen Gast durch dieses Haus führte. Denn genau das schien er zu sein, und als nichts anderes schien er sich zu fühlen - als ein Gast. Shinichi trabte neben ihr her, immer noch darum bemüht, nicht allzu überrascht zu wirken, aber sie beobachtete ihn genau. Er reagierte wie die meisten Besucher, die sie hier herumgeführt hatte - sie sah, dass ihm die Küche gefiel, mit ihrer hellen Ausstattung und den großen Fenstern; sah, wie angetan er war vom Wohnzimmer, das gemütlich und aufwändig zugleich eingerichtet war. Und sie sah das Leuchten in seinen Augen, als er in der Bibliothek stand - und hatte das erste Mal seit Tagen das Gefühl, dass es wirklich ihr Sohn war, der neben ihr stand. Er hatte den Mund leicht geöffnet, in seinen Augen war Überraschung zu sehen, seit sie sie betreten hatten. Sie beobachtete ihn genau, merkte, wie ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen trat. Er ging ein paar Meter in den Raum, die Arme leicht vom Körper gestreckt, als versuche er, die Gewalt an Büchern, die hier ‚lebte‘, buchstäblich zu erfassen. „Wahnsinn.“, flüsterte er, aber sie hörte es genau. Er ging zu einem der Regale, strich mit seinen Fingern über die Buchrücken, las leise murmelnd die Namen vor. Dann drehte er sich um, ging zu ihr zurück. „Das ist gigantisch. Und du… sagst, hier stehen nur Kriminalromane? Bis unter die Decke?!“ Yukiko lachte leise, dann hakte sie sich bei ihrem etwas überraschten Sohn unter, zog ihn mit sich. „Wenn ich euch ließe, dich und deinen Vater, würde diese Bibliothek für all die Bücher, die ihr da noch reinstellen würdet, gar nicht reichen, Shinichi.“ Sie grinste, tippte ihn auf die Nase. „Komm, ich zeig dir dein Zimmer und das Badezimmer, das reicht dann fürs erste. Den Rest kannst du dir selber ansehen, das ist dein Haus. Fühl dich wie zu Hause, fass alles an, mach jede Tür und jeden Schrank auf, wirf einen Blick in jede Schublade – es steht dir alles offen. Du wohnst hier. Seit deiner Geburt. Merk es dir.“ Ihre Stimme, anfangs noch locker und gelassen, war gegen Ende immer ernster geworden. Sie war mit ihm die Treppe rauf gegangen und vor einer Tür stehen geblieben, schaute ihn starr an. Shinichi schluckte. „Ich versuch‘s.“ Yukiko schüttelte den Kopf. „Versuch es nicht nur. Das hier ist dein Zuhause …“ Sie strich ihm über die Wange, ließ dann seinen Arm los, öffnete die Tür, gab ihr einen Stoß, dass sie nach innen aufschwang. „Bitte. Dein Reich.“ Er trat ein, langsam, drehte sich um, wollte etwas sagen, aber sie schüttelte den Kopf. „Ich lass dich jetzt allein. Wenn du etwas brauchst, ich und dein Vater sind unten. Ich nehme an, er schreibt an einem Manuskript, sicher lässt er dich was lesen, wenn es dich interessiert.“ „Danke.“, wisperte Shinichi, nickte. Yukiko nickte zurück, schloss die Tür hinter sich, ließ ihn allein. Shinichi seufzte die geschlossene Tür an, fuhr sich durch die Haare, unschlüssig, was er nun tun sollte. Was man von ihm erwartete. Er wusste, in etwa einer Stunde kam die Polizei. Und er wusste auch, er würde ihnen nicht viel sagen können; hinter wem sie her waren, wussten sie bereits, und das war aber auch alles, was er ihnen mitteilen konnte. Er kannte nicht ihre Namen, nicht die Verbrechen, die sie begangen hatten, wusste nicht, was sie ihm angetan hatten oder ihm befohlen hatten; er hatte keine Ahnung, wer ihr Boss war und wo das Hauptquartier lag, und er schätzte, das waren die Fragen, die ihnen am Meisten auf der Zunge brannten. Die Antworten auf diese beiden Fragen waren die Schlüssel zum Erfolg. Er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen, stöhnte kurz auf; trottete dann zu seinem Bett und ließ sich darauf nieder. Sein Zimmer sah nicht spektakulär aus, und verriet auch nicht viel über ihn, wenn er so darüber nachdachte. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Schreibtischstuhl, ein Schrank, zwei Regale voll mit Büchern, eine kleine Kommode neben dem Bett. Das war’s. Es roch ein wenig muffig, nach lange nicht geöffneten Fenstern, nach Papier, alten Büchern und ein wenig nach Holz. Die Wände waren cremefarben, der Boden aus hellem Parkett, die Decke weiß gestrichen; ein helles Zimmer, mit einem Fenster, das wohl nach Südosten aufging, denn momentan floss das Licht wie Honig ins Zimmer, malte einen breiten, hellen Streifen auf Boden und Wand. Shinichi stand auf, machte es auf, ließ frische Luft ins Zimmer strömen, merkte, wie ihm die Sonne auf dem Gesicht gut tat, irgendwie, und konnte schon nach ein paar Sekunden merken, wie eine frische Brise den Geruch nach abgestandener Luft vertrieb, buchstäblich aus allen Poren und Ritzen blies. Es wirkte nicht ungemütlich, auf den ersten Blick; die Einrichtung war sachlich, aber nicht kühl, helles Holz, heller Kunststoff, helle Vorhänge an den Fenstern. Ansonsten schien der Raum nicht sehr gesprächig zu sein, über das Leben seines Bewohners. Keine Dekoration, nicht die Art von persönlichem Schliff, den man gewöhnlich in den eigenen vier Wänden von jungen Leuten fand; keine Sammlung irgendwelcher Figuren, Spielzeugautos, kein Merchandise irgendwelcher Stars oder Vereine, oder sonstigem Kram, den man hobbymäßig anhäufen und zur Schau stellen konnte. Keine Poster an den Wänden oder etwas anderes, das dem Raum mehr Charakter verliehen hätte. Aber vielleicht war es ja gerade das, was ihn ausmachte. Es sah alles absolut rational aus; zweckdienlich, logisch angeordnet, nichts, das einen ablenken konnte, außer einem Foto auf dem Schreibtisch. Er trat näher, langsam, nahm es in die Hand und studierte es. Es zeigte ihn und Ran in einer Art Vergnügungspark. Unwillkürlich drehte er es um, öffnete den Rahmen. Hinter dem Foto steckte die Eintrittskarte, zeigte ihm das Datum, an dem sie ausgestellt worden war. 13.1.1994 14:32 Ein Schauer lief ihm über den Rücken, eisig und prickelnd und brachte seine Nackenhärchen dazu, sich spürbar aufzustellen. Er schüttelte sich, unwillkürlich, versuchte, dieses Gefühl loszuwerden, und dennoch… seine Gedanken kreisten um dieses Datum. Diesen Zeitpunkt. Wie lange waren sie schon in dem Vergnügungspark gewesen, bevor er diesen Männern über den Weg gelaufen war? Wann war dieses Foto entstanden? Stunden, vielleicht nur Minuten, nachdem dieses Foto gemacht wurde, war sein Leben komplett außer Kontrolle geraten… Stunden, vielleicht nur Minuten, nachdem dieses Foto gemacht worden war… war er irgendwo auf dem Gelände im Gras gelegen und hatte um sein Leben gekämpft, hatte tatenlos mit ansehen müssen, wie Conan Edogawa das Ruder übernahm. Der Knirps, an den er immer noch so gut wie keine Erinnerungen hatte. Mit zitternden Fingern legte er das Foto auf dem Schreibtisch ab. Er atmete tief durch, versuchte, die Anspannung, die ihn befallen hatte, wieder etwas loszuwerden. Dann fiel sein Blick auf die Schreibtischschubladen. Er holte Luft, wusste nicht, ob es gut war, was er jetzt tat, oder ob es Sinn machte. Er wusste nur, irgendetwas musste er tun. Und so zog er die Lade heraus, kippte sie auf den Boden. Ihr folgten die zweite, und auch die dritte; danach wandte er sich dem Nachtkästchen zu, verfuhr genauso. In der Mitte seines Zimmer stapelten sich seine Sachen; er warf sie nicht durcheinander, aber hatte doch das Gefühl, ausgebreitet und mit einem Blick erfassbar, machte es mehr Sinn, sich durch die Relikte seines alten Lebens zu wühlen, als Schublade für Schublade. Vielleicht half ihm der Blick aufs große Ganze, Zusammenhänge zu erstellen. Erinnerungen zu finden. Er stieg über einen Haufen Schubladeninhalts und wandte sich dem Schrank zu. In ihm hingen größtenteils nur Klamotten. Ein paar Schuluniformen, Hemden und Hosen in verschiedenen Farben. Die Schubladen des Schranks waren leer, und er fragte sich, wohin die Sachen verschwunden waren, die einmal darin gewesen sein mussten. Im Regal standen nur Bücher; Schulbücher, Bücher mit naturwissenschaftlichen Inhalten, Kriminalromane. Er wollte sich gerade abwenden, als etwas aus dem Augenwinkel seine Aufmerksamkeit doch noch auf sich zog. Er griff nach einem Kriminalroman, zog ihn heraus, nahm ihn in die Hand. Der Wälzer war leinengebunden, bordeauxrot, der Einband bereits abgewetzt, aber der Titel in Goldlettern immer noch lesbar. A Study in Scarlett by Sir Arthur Conan Doyle Ein leiser Pfiff verließ seine Lippen; das Buch sah alt aus. Wie alt es war, fand er heraus, als er es aufklappte. Die erste Seite des abgegriffenen, starren, vergilbten Papiers zeigte ihm das Erscheinungsdatum und die Auflage. Es war eine Erstauflage. Shinichi musste kein Experte sein, um zu wissen, was er für einen Schatz in den Händen hielt. Eine Sherlock-Holmes Erstausgabe…! Er musste ein wirklich wahrer Fan sein, wenn er so etwas besaß. Und weit mehr als das, stellte er fest; eine genauere Untersuchung der anderen Kriminalromane im Regal zeigte, dass er einige solch wertvoller Bücher besaß. Nicht alles Doyle, nicht alles Sherlock Holmes; aber durchweg Klassiker der Kriminalliteratur in schwer aufzutreibenden Sammlereditionen, Erstausgaben oder Sonderauflagen. Nun, jetzt ist klar, was der Professor meinte, damit, als er sagte, ich wär ein Fan von Kriminalliteratur, und besonders von Holmes. Nur blöd, dass ich das nicht mehr weiß. Er verzog die Lippen, stellte die Bücher wieder ordentlich zurück, wandte sich dann von Regal und Schrank ab; diese auszuräumen würde wenig Sinn machen, vermutete er. Und er wusste wohl, was er wissen konnte, aus dieser Entdeckung… er war ein wirklich großer Fan von Sherlock Holmes. Also doch eine Art von Sammlung in diesem Zimmer. Ein echter Hinweis auf seine Person… denn einfach nur Krimis mögen, oder Unsummen für Erstausgaben ausgeben, dazwischen bestand doch ein leichter Unterschied. Gedankenverloren setzte er sich in die Mitte seiner Sachen auf den Boden, und wandte sich dem ihm am nächsten Berg an Kram zu, in der Hoffnung, sein Gedächtnis etwas mehr auffrischen zu können. Irgendetwas muss mir doch sagen, wer ich bin... Kapitel 33: Kapitel 15: Dilemma ------------------------------- Tja - neue Woche, neues Kapitel. Auch noch nicht der ultimative Adrenalinschub, aber ich denke, das Kapitel der nächsten Woche dürfte interessant werden. Ich wünsch euch viel Vergnügen hiermit, Viele Grüße, eure Leira ______________________________________________________ Kapitel Fünfzehn: Dilemma Shinichi war seit etwa einer Viertelstunde weg. Ran stand in der Küche und spülte ab; dass der Teller, den sie schon geraume Zeit mit kreisenden Bewegungen im Spülwasser mit dem Schwamm reinigte, schon längst sauber war, bekam sie gar nicht mit, obwohl ihr Blick doch geradewegs auf ihn gerichtet war – oder eher doch durch ihn hindurch. Kogorô saß am Tisch, sah ihr heimlich dabei zu; er tat so, als würde er lesen, aber kam nicht umhin, seine Tochter zu beobachten. Langsam rutschte ihm eine Augenbraue in die Höhe, und ebenso langsam legte er die Tageszeitung auf den Tisch, faltete sie leise raschelnd zusammen. Irgendetwas war im Busch. Ran benahm sich seltsam, irgendwie. Allein die Tatsache, dass sie für den Abwasch dieser Kleinigkeit von drei Tellern, drei Tassen, drei Löffel und drei Messern sowie einer Kaffeekanne eine halbe Ewigkeit zu brauchen schien, sprach Bände. Er konnte es ihr nicht verdenken, schließlich war der Tag gestern schwer für sie gewesen, die ganzen Dinge, die sie verkraften musste… Das lässt selbst mich nicht kalt – wie muss es da für dich sein, Mausebein. Und dann ist er auch noch hier, völlig unerwartet für dich, und das nach deinen… Vorsätzen, gestern… Aber... Einen Moment mal… Kogorôs Augenbrauen rutschten noch einen Tick weiter nach oben, sofern das ging – und stießen in der Mitte seiner Stirn zusammen. Du hast ihn heute zum ersten Mal seit dieser Sache gesehen… oder? Eigentlich hatte gerade das erste Treffen zwischen Shinichi und seiner Tochter stattgefunden, seit Conans Verschwinden. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber irgendwie… nicht das. Dafür, dass sie gestern noch alles über den Haufen werfen wollte, was sie mit ihm verband, dafür, dass sie seit gestern wusste, was mit ihm passiert war, dafür… dafür war sie für den Geschmack des schlafenden Meisterdetektivs heute viel zu ruhig gewesen. Auch wenn sie jetzt ein wenig neben sich stand und in ihren Gedanken absorbiert schien, so war sie doch, insgesamt betrachtet, viel zu ruhig, zu gefasst, zu gelassen. Eigentlich hätte sie heute Morgen bass erstaunt reagieren müssen, ihn in der Wohnung anzutreffen. Sie hätte heulen sollen, schreien, oder sich freuen, ihm um den Hals fallen, ihn anblaffen, mit ihm einen Streit vom Zaun brechen oder fluchtartig das Zimmer verlassen, oder, oder, oder… Oder. Ein leises, kaum hörbares Brummen entfuhr ihm, als er nachdachte und sich in seinem Kopf diese gewisse Ahnung manifestierte, er seine Schlussfolgerung zog. Oder. Sie hatte nicht überrascht gewirkt. Und egal ob nun positiv oder negativ überrascht, sie hätte anders reagieren müssen, als sie es heute getan hatte, heftiger, auf irgendeine Weise emotionaler. Stattdessen war sie verhältnismäßig ruhig geblieben. Abgeklärt, absolut bei sich war sie gewesen. Klar, besorgt, ja. Und unbeholfen im Umgang mit ihm, ja. Aber keinesfalls auch nur einen Funken überrascht, überrumpelt, erstaunt, fassungslos… Das ließ eigentlich nur einen Schluss zu. Er legte die sorgsam gefaltete Zeitung beiseite, versuchte, seine Gesichtszüge zu entspannend und einen väterlich-besorgten, verständnisvollen Gesichtsausdruck. Dann holte er tief Luft, ehe er sie mit leiser Stimme ansprach. „Willst du darüber reden… Mausebein?“ Die Tasse, die sie gerade auswischen wollte, entglitt ihr, fiel platschend zurück ins Spülwasser. Unsicher griff sie nach dem Geschirrtuch, wischte sich die Hände trocken, merkte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Ihr Blick begegnete dem ihres Vaters, und sie wusste, was er meinte, sofort. Auch wenn einen Großteil seiner Fälle Shinichi gelöst hatte, was ihren speziellen Fall betraf, lag er heute mit seinen Schlussfolgerungen wohl richtig. Sie schluckte schwer, wischte sich über die Stirn, fahrig. Sie wusste nicht, ob sie dieses Gespräch führen wollte, aber anscheinend kam sie dem nicht aus. „Woran…?“, murmelte sie fragend. Kogorô lächelte, deutete auf den Stuhl gegenüber. „Du warst heute Morgen überhaupt nicht überrascht, ihn hier anzutreffen, Ran. Man muss kein Detektiv sein, um zu erkennen, dass du ihn beim Frühstück nicht das erste Mal gesehen hast.“ Sie seufzte, sank auf die Sitzfläche, faltete ihre Hände in ihrem Schoß und starrte auf ihre Knie. „Ich schwör dir, heut Nacht war ich wahnsinnig überrascht.“ Ein schiefes Lächeln huschte über die Lippen, wurde von ihren Augen, in denen ihre Sorge nur allzu deutlich zu lesen war, Lügen gestraft. Kogorô seufzte lautlos. „Heute Nacht?“ Ran nickte. „Ich hatte Durst, und bin in die Küche gegangen, um mir einen Tee zu machen, oder etwas ähnliches, und da war er… Ich dachte zuerst, er wäre ein Einbrecher, ich hab ihn ziemlich erschreckt. Er… hatte Kopfschmerzen, das sagte er zumindest, und er konnte nicht schlafen, hatte sich… einen kühlen Lappen gemacht, für seine Stirn.“ Sie merkte, wie ihre Stimme versagte, und räusperte sich. Kogorô seufzte, strich sich nachdenklich über seinen Bart. „Wundert mich nicht, dass er gestern nicht schlafen konnte, nachdem, was den ganzen Tag über passiert ist.“ Ran nickte langsam, biss sich dann auf die Lippen. „Also habt ihr geredet?“ „Ja…“, Ran sprach langsam, bedächtig, starrte dabei die Tischplatte an, als ob sie sie mit Blicken allein durchbohren wollte und überlegte fieberhaft, was sie nun sagen sollte. „Ich hab ihn gefragt, warum er hier ist, er hat’s mir erzählt. Die Flucht aus dem Krankenhaus, die Begegnung mit Gin und Wodka, die Sache mit Shiho. Und ich… ich hab ihm über uns… erzählt. Über unsere Freundschaft. Damit er ein bisschen mehr von mir weiß.“ Ihre Stimme zitterte, und sie fragte sich, warum ihr das hier wie ein Verhör vorkam. Kogorô hatte aufgehorcht, als er das Zittern in der Stimme seiner Tochter vernommen hatte. „Nur über eure Freundschaft?“ Er schaute Ran aufmerksam an. Merkte, wie sie blasser wurde um die Nasenspitze, sah, wie ihr Blick immer starrer wurde, ihre Augen glasig zu werden begannen. „Mausebein…“ Ran seufzte, merkte, wie sich ihre Mundwinkel nach unten zogen, sich in ihren Augenwinkeln Tränen zu sammeln begannen. Sie presste ihre Kiefer aufeinander, bis sie ihre Zähne knirschen hörte, versuchte, sich zusammen zu reißen. Dann schüttelte sie den Kopf, schluchzte einmal auf. „Du hast ihm reinen Wein eingeschenkt.“, murmelte Kogorô leise. „Ja.“ Rans Stimme klang weinerlich. „Aber nicht nur das… Ich hab ihn so weit gebracht, es mir gleich zu tun.“ Kogorôs Augenbrauen fuhren nach oben. „Was?“ „Er hat… er hat lang gezögert. Und so wirklich reden wollte er darüber nicht, ich denke… es ist alles seltsam für ihn, er weiß ja gar nicht...“, wisperte Ran. Eine Träne rollte über ihre Wange, perlte auf ihre Lippe. Sie presste ihren Mund kurz zusammen, schmeckte Salz, schniefte. „Ich hab geredet wie ein Buch. Ich weiß, ich hätte das nicht tun sollen, aber ich wollte so gerne… ich wollte es hören, verstehst du?!“ Verzweiflung klang in ihrer Stimme. „Er druckste herum, sagte, er wolle diese Freundschaft nicht gefährden, wollte nicht weiter reden, gestern. Und da… war mir klar, was er meinte, und ich… ich wollte es so gerne hören. Endlich. Dass er genauso empfindet für mich wie ich für ihn, denn das… das tut er. Wir wissen es doch… eigentlich. Ich wollte, dass es endlich wahr wird.“ Sie strich sich mit dem Handrücken über die Nase. „Er hat Angst, dass es nur eine Phase ist. Fürchtet, es vergeht, wenn er sich wieder erinnert. Aber dann… dann hat… er hat es gesagt, und ich…“ Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen, atmete tief ein, krallte ihre Finger in ihre Haare. Kogorô fragte nicht weiter. „Denkst du nicht, du verlangst ein wenig viel von ihm…?“ Sie ließ die Hände sinken, presste die Handflächen flach auf die Tischplatte. „Doch. Ich weiß es ja…“, hauchte sie. „Ich weiß das doch. Ich versteh es besser, als jeder andere es könnte, deshalb ist es so schäbig von mir. Ich hätte ihm einfach eine gute Freundin sein können, bis er wieder alles weiß. Stattdessen reiß ich ihn in ein Gefühlschaos ohnegleichen. Du hast es gesehen, heute Morgen.“ Kogorô wiegte seinen Kopf in stummem Verständnis. Ihr war die Anspannung des Jungen und seine Ratlosigkeit nicht entgangen, auch wenn Shinichi durchaus bemüht war, sich nichts anmerken zu lassen. Sie schüttelte den Kopf, merkte, wie etwas ihr Herz zusammenzupressen schien, eine unsichtbare Kraft, wie eine Faust, die ihre Finger immer mehr schloss. „Aber ich liebe… liebe ihn.“ Sie schaute ihren Vater aus glasigen Augen an. „Und irgendwie dachte ich wohl auch… nur die Wahrheit hilft ihm weiter.“ Eine Träne perlte ihr über die Wange. „Er sucht doch immer nach der Wahrheit…“ Shinichi war gerade mal eine halbe Stunde beschäftigt damit, einen Gegenstand nach dem anderen in die Hand zu nehmen und zu untersuchen, um ihn dann wieder dorthin zu räumen, wo er vermutete, das er dort gewesen war – und glaubte nach diesen kurzen dreißig Minuten schon, die Decke müsse ihm auf den Kopf fallen. Er hatte festgestellt, dass er einen ziemlich teuren Füllfederhalter besaß, und eine Unmenge von vollgeschriebenen Notizbüchern, eine ganze Schublade voll davon, die auf seine Tätigkeit als Detektiv schließen ließ. Er hatte Eintrittskarten gefunden von Fußballspielen, also war er wohl Fußballfan. Tokio Spirits. Er besaß keine Art von Tagebuch, was ihn nicht überraschte - für Jungen war diese Art der Selbsterforschung eher ungewöhnlich. Er hatte seinen Computer eingeschaltet, aber feststellen müssen, dass das sinnlos war - der Computer war passwortgeschützt und ihm fiel das Passwort nicht ein, und den Nerv, sich jetzt groß den Kopf zu zerbrechen, besaß er nicht, nicht, wo er überhaupt keinen Ansatzpunkt besaß… auch wenn ihn die Aufgabe an sich reizte. Er liebte wohl Rätsel, nur fehlte ihm gerade die Geduld dafür. Ein Handy fand er nicht, das hatte wohl Conan besessen, und wahrscheinlich hatte man es ihm abgenommen, bei seiner Entführung. Und irgendwie glaubte er, er war hier sowieso ganz falsch. Hier sprach nichts so wirklich über ihn. Tja, Shinichi… wie ich das sehe, bist du ein durchschnittlicher Jugendlicher… intelligent, ein Krimifreak, ein Fußballfan… Allerdings haben durchschnittliche Jugendliche nicht solche Schwierigkeiten wie du. Aber hier… hier spricht nichts davon. Hier wohnt nur der nicht unintelligente, mäßig fußballbegeisterte Sohn wohlhabender Eltern, mit einem eindeutigen Faible für gewisse Kriminalliteratur. Es gibt aufregenderes. Wo also finde ich… dein Leben? Mein… Leben? Wenn nicht hier… Er seufzte. Eigentlich konnte er sich die Antwort denken, mehr als das – eigentlich wusste er sie bereits. Das Paar Schuhe bei den Moris gestern war aussagekräftiger gewesen als dieses ganze Sammelsurium von Siebensachen, die er hier in der Zimmermitte aufgehäuft hatte. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein, bevor das alles passiert war, und er hatte das Gefühl, dass er aber seit diesem Zeitpunkt eine Veränderung mitgemacht hatte, die dieses Zimmer hier nicht erfahren hatte. Hier war nur die Vergangenheit zu finden, die Vergangenheit eines siebzehnjährigen Oberschülers, der Fußballfan war und ein irrsinniges Faible für Detektivkram hatte. Sein wahres Leben war hier nicht. Oder besser… es war hier nicht mehr. Er wusste nicht, wie viel von Shinichi Kudô noch übrig war - von dem Shinichi Kudô, der vor Conan Edogawa gewesen war. Er konnte sich ansehen, was er wollte, anfassen, die Dinge drehen und wenden wie es ihm gefiel; er konnte Notizen lesen und sich anhören, was auf seinem MP3-Player gespeichert war; nichts brachte auch nur einen Erinnerungsfetzen zurück. Shinichi seufzte, merkte, wie sein Kopf zu schmerzen begann, als sich in ihm eine Ahnung manifestierte. Nicht nur über Shinichi Kudô galt es, mehr herauszufinden. Es ging hier auch um Conan Edogawa. Und die jüngere Vergangenheit, besonders der Teil, der mit der Organisation zu tun hatte, war untrennbar verknüpft mit diesem kleinen Hosenscheißer. Seine Stirn legte sich in Falten, ein unwilliges Seufzen verließ seine Kehle. Himmel, was muss das so kompliziert sein. Als ob es nicht schon kompliziert genug wäre… Er würde wieder bei null anfangen müssen. Seine Erfahrungen machen, seine Nachforschungen anstellen, herausfinden, wie glaub- und vertrauenswürdig sie alle waren und was hinter ihnen steckte. Sich anhören, was sie wussten, über Conan Edogawa, seine Geheimnisse, seine Pläne, sein Verhalten. Er musste ein wahrer Detektiv sein. Und wenn er hier in seinem Zimmer keinen Hinweis fand, der ihn schlagartig weiterbrachte, dann sollte er vielleicht… Kontakt mit dem Umfeld des Opfers aufnehmen, das Oberschüler und kleiner Junge zugleich war. Mit seinem Umfeld. Conans Umfeld. Ungelenk stand er auf, verließ sein Zimmer und stieg die Treppe ins Erdgeschoss hinab. In der Küche stieß er auf seine Mutter, die gerade Kaffee kochte und auf einen Teller Kekse stapelte. Sie hielt ihm den Teller hin, worauf er sich einen nahm, unschlüssig, wie und mit wem er seine Nachforschungen anfangen sollte, als es an der Tür klingelte. Sein Vater steckte kurz den Kopf herein, nickte seiner Frau zu und ging zur Tür, um sie zu öffnen. Shinichi merkte, wie sich sein Magen ekelhaft zusammenzog bei dem Gedanken, dass es die Polizei sein könnte. Er hatte keine Ahnung, warum ihm das so ein mulmiges Gefühl bereitete; wusste nicht, ob es die Fragen waren, die man ihm stellen würde, oder seine Unfähigkeit, zu antworten… oder die Wahrheiten, die vielleicht noch ans Licht kamen, über ihn, über seine Zeit… als Armagnac. Armagnac… Als er nach draußen gehen wollte, hielt ihn seine Mutter am Arm fest, schüttelte den Kopf. „Besser nicht, Shinichi. Man sollte dich nicht sehen.“ Bedauern schwang in ihrer Stimme. Er biss sich auf die Lippen, nickte dann, wenn auch widerstrebend. Er hasste es, wenn ihm die Hände gebunden waren. Dann hörte er den Besucher; es war allerdings nicht die Polizei, soviel war schnell klar. „Isser hier?!“ Shinichi zog eine Augenbraue hoch, spürte den Blick seiner Mutter auf sich ruhen. Sie lächelte ein wenig, und er folgerte daraus, sie kannte den Besucher. Es war eine Männerstimme, die hereinschallte, aber von eher jugendlichem Tonfall. Wohl so in seinem Alter. Er kratzte sich am Hinterkopf, dachte nach, fragte sich, wer in Gottes Namen das sein könnte; spontan fiel ihm nur ein Name ein, der auf diese Stimme passen könnte. Heiji Hattori. Der Kerl, der angeblich sein Freund war, laut Aussage des Professors; und der ihn heute hätte im Krankenhaus besuchen sollen. Die Antwort kam mit lautem Gepolter näher. Sekunden später wurde die Tür aufgestoßen, und ein Recht außer Atem scheinender, aufgeregter, nervöser junger Mann stand ihm Türrahmen, hielt sich mit beiden Händen am Türstock fest. Shinichi lächelte bitter. Volltreffer. Shinichi ließ sich nach hinten sinken, umklammerte mit seinen Händen die Theke, zog eine Augenbraue hoch, presste die Lippen zusammen, leicht. „Hallo, Heiji.“, meinte Yukiko freundlich, begann, für die zwei Detektive Tassen und Löffel auf den Tisch zu platzieren. „Setz dich doch.“, fügte sie an. Heiji, der bis gerade eben Shinichi wie einen Geist angestarrt hatte, wandte sich ihr zu, kratzte sich dann verlegen am Hinterkopf. „Frau Kudô, wie schön, Sie zu sehen. Bitte verzeih‘nse meine Manieren, ich…“ Sie sah auf, lächelte ihn an, brachte ihn damit dazu, zu schweigen. Das Lächeln auf ihren Lippen sprach von ihrer Sorge, genauso wie ihr blasser Teint und ihre Augen. „Schon gut, Heiji. Kaffee?“ Er nickte nur, trat langsam näher, hatte seine Augen nun wieder auf Shinichi gerichtet, der seinem Blick mühelos standhielt. Er musterte ihn aufmerksam, registrierte jedes Detail an ihm, versuchte, seine Schlüsse zu ziehen. Der Kerl hatte außergewöhnlich dunkle Haut für einen Japaner, schwarze Haare, die vorn an der Stirn seltsam abstanden, und trug ein Baseballcap, ein Shirt und Jeans. Er war ungefähr in seinem Alter, schätzte er; und ungefähr so groß wie er, vielleicht aber ein wenig muskulöser. Und sprach Dialekt. Heftigen Dialekt, Kansai-Region. Shinichi spürte seinen wachen Blick auf sich ruhen, und schätzte, dass er ihn momentan genauso taxierte, wie er ihn, wenn auch wohl aus anderen Gründen. Er wollte wohl wissen, wie viel von seinem Freund Shinichi Kudô noch da war; während Shinichi wissen wollte, wer überhaupt Heiji Hattori war. Shinichi legte den Keks zurück auf den Teller, ohne die Augen vom Gesicht des Fremden abzuwenden. Heiji seufzte schwer, als er in das Gesicht seines Freundes sah. So sah Shinichi aus, wenn er seine Schlussfolgerungen zog - wenn er sich ein Bild von seinem Gegenüber machte, versuchte, herauszufinden, wen er vor sich hatte und wie er ihn einschätzen, mit ihm umgehen musste. Über diese Phase der Freundschaft sollten sie schon lange hinaus sein. Er schluckte. Kudô… Etwas müde ließ Heiji sich auf einen Stuhl sinken, legte seine Hände auf die Tischplatte, ohne den Blick von Shinichi zu wenden. Yukiko stellte den beiden Kaffee und den Keksteller auf den Tisch, verschwand dann mit ihrem Mann aus der Küche, überließ die beiden Detektive sich selbst. Jeder andere Anwesende hätte in diesem Moment nur gestört. Heiji schluckte, merkte, wie seine Hände leicht feucht wurden. Shinichi sah im Prinzip aus, wie er ihn in Erinnerung hatte; und doch gleichzeitig so anders. Und das nicht nur, weil er einfach müde wirkte, angeschlagen, blass. Er schaute ihn an, erblickte dieses Nichts in seinen Augen, da, wo sonst Shinichi gewesen war. Selbst in Conan hatte man Shinichi deutlicher gesehen… als jetzt und hier, in dem Menschen, der ihm gegenüber saß, und doch niemand anders war, als eben Shinichi Kudô, der brillante Oberschülerdetektiv, der neue Sherlock Holmes, der Retter der japanischen Polizei... der beste Freund, den er wohl hatte. Schließlich war auch Heiji es, der das Schweigen brach. Er hielt die Stille nicht mehr aus, musste wissen, was noch da war… wie viel noch da war, überhaupt. „Und, was denkste?“, fragte er kurzangebunden, bemühte sich um einen gelassenen Tonfall. Shinichi kratzte sich kurz an der Nase, griff dann nach einem Keks, drehte ihn in den Fingern. „Eins achtzig groß, circa zwanzig Jahre alt, stammend aus Osaka oder Umgebung- Kampfsportler, vermutlich Kendo, Detektiv - und du hast eine Schwäche für ein gewisses Mädchen - oder sie eine für dich.“ Heiji pfiff anerkennend durch die Zähne, merkte, wie er langsam etwas ruhiger wurde. Auch wenn Shinichi sich gerade an nichts erinnerte, seine Denkweisen waren offenbar noch die gleichen. Also bist du doch noch irgendwo da drin, Shinichi... Er ließ sich zurück sinken, gegen die Lehne seines Stuhls, fühlte den stützenden Widerstand im Rücken, atmete aus. „Über die ersten Sachen brauchen wir nicht reden. Wie kommstde auf Kendo?“ Shinichi biss in den Keks, kaute gedankenverloren, ehe er zu einer Antwort ansetzte. „Durchtrainierter Körper, Schwielen an den Händen, blaue Flecken auf den Oberarmen- das deutet auf Kendo hin, denn als Turner schätze ich dich nicht ein, der hätte aber ähnliche Flecken und Schwielen, aber… dazu fehlt dir die Geduld. Du bist zu ungestüm, du kannst es nicht abwarten, musst sofort zuschlagen. Als Reckturner ist Konzentration, Geduld und Selbstbeherrschung das A und O - und so wie du grad reingeplatzt bist, fehlt dir das alles. Zu Kendo gehört zwar auch ein gewisser Sinn für Taktik, aber… “ Er hob die Hände entschuldigend. „Hm.“ Heiji winkte locker ab, nickte dann langsam, griff nach seiner Tasse, nippte daran. „Nicht schlecht. Woher hast du den Detektiven?“ „Gewusst - man hat es mir gesagt.“ „Unfair.“ Shinichi kniff die Augen zusammen, lächelte gequält. „Erzähl mir nichts von Unfairness… aber wenn du Begründungen haben willst - du hast nicht gefragt, ob ich dich erkenne, und du hast dich auch nicht vorgestellt. Das schließt daraus, dass du zuerst beobachtet hast, ob ich mich an dich erinnere, und dann festgestellt dass dem nicht so ist. Du musst nicht fragen, weil du die Antwort schon kennst - du hast eine Beobachtung gemacht und die richtigen Rückschlüsse gezogen. Wenn du noch kein Detektiv wärst, dann würde ich es dir jetzt mal sehr ans Herz legen…“ Heiji lächelte traurig. „Und das Mädchen…?“, hakte er nach, fragte sich, wie um alles in der Welt Kudô auf Kazuha kam. Shinichi grinste - zum allerersten Mal. „Einfach. Sie steht da draußen am Fenster seit ein paar Minuten, drückt ihre Nase an der Scheibe platt und glotzt dich an.“ Heiji fuhr herum, starrte aus besagtem Fenster. Tatsache, draußen stand Kazuha, mit dezidiert beschämten Gesichtsausdruck; hinter ihr stand Ran, die nicht minder peinlich berührt aussah, hob die Hand und winkte schüchtern. Shinichi seufzte, puhlte mit seinem Finger an einem Astloch in der Tischplatte. Seine Ungeduld, sein Missfallen an dieser Situation merkte man ihm in diesem Moment nur allzu deutlich an. „Wärst du so gut und machst die Tür auf? Ich darf das nicht.“ Er grinste säuerlich. Heiji nickte nur, eilte dann los. Shinichi stützte sein Kinn auf seine Hand und schaute weiter aus dem Fenster, fing sich einen Blick von Ran ein, ehe sie zur Haustür eilte, Kazuha hinterher. Ein leises Seufzen wich über Shinichis Lippen, als er sich fragte, wie sinnfrei es war, ihn nicht an die Tür zu lassen, wo jeder Mensch doch in den Garten gehen und durchs Fenster sehen konnte. Er schob sich den restlichen Keks in den Mund, spülte ihn mit einem Schluck Kaffee runter. Ein paar Augenblicke später stand Heiji mit den beiden Mädchen in der Küche. Ran holte für sich und Kazuha noch eine Tasse, ehe sie sich neben Shinichi setzte. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, stellte fest, dass ihre Augen etwas gerötet aussahen, dass ihre Bewegungen etwas fahrig wirkten, und ahnte die Ursache – aber sagte nichts. Er wollte dieses Thema nicht vor Publikum anschneiden - abgesehen davon, dass dieses Publikum in eben diesem Moment seine Aufmerksamkeit auf sich zog. „Kazuha?! Was zur Hölle machste hier?!“ Heiji war fassungslos, seine Stimme war laut geworden, in ihr klang deutlich sein Missfallen, ebenso wie seine Überraschung. Shinichi fragte sich, was ihn so aufbrachte; allerdings, wenn er für das Mädchen eine Schwäche hatte, und ganz danach sah es aus, so wie er sich aufregte, dann wollte er sie wohl einfach nur aus dem Mist heraushalten, den er selbst gebaut hatte; Tokio war in seiner Umgebung und für alle, die ihn kannten, wohl momentan nicht das sicherste Pflaster, und das wusste wohl auch Heiji. Kazuhas Reaktion war vorhersehbar. Sie stützte ihre Hände in ihre Hüften, schürzte die Lippen und leise Wut war auf ihrem Gesicht zu sehen. „Schrei mich nich‘ an, Heiji! Und wenn du mal dein Handy anschau’n würdest, dann würdeste auch wiss’n…“ Heiji winkte ab, ungestüm. „Jaja, ich hab nich auf mein Handy geschaut. Ich hatte zu tun, verstehste? Aber warum biste…“ „Ich wollt‘ wissn, ob es wahr ist. Und wo du steckst und ob du dich in Schwierigkeiten gebracht hast. Mal wieder.“ Kazuha räusperte sich. Heiji hielt inne, ließ sich langsam auf seinen Stuhl zurücksinken. Das Mädchen aus Osaka knetete ihre Finger, ehe es aufsah. „Die Schwierigkeiten gehen auf mein Konto.“, meinte Shinichi gelassen, griff dann nach der Kaffeekanne und goss die Tassen der Mädchen voll, bemerkte voll Erstaunen, wie schwer ihm diese verdammte Kanne vorkam. „Was wolltest du wissen? Ob was wahr ist?“, hakte er nach, um ihr wieder ins Gespräch zu helfen. Kazuha zog unwillkürlich ihr Shirt zu Recht, ehe sie ansetzte. „Ich hab Zeitung gelesen, und da stand das… das über dich. Die Sache mit dem Verbrechen… und dann war ich bei Heiji, um zu fragen, was das soll, und Heiji… war nich‘ da. Deshalb… bin ich hergekommen, ich dachte mir schon, wo er steckt, ich mein‘…“ Während der ganzen Zeit hatte sie nur Shinichi angeblickt. „… er is doch dein Freund…?“ „Er behauptet es zumindest, glaube ich.“ Shinichi versuchte ein Lächeln und scheiterte doch kläglich. Sie nickte, nimmer noch etwas unbeholfen, leicht überfordert mit der Situation, wie jeder hier und ließ sich neben Heiji auf den Stuhl sinken. Immer noch starrte sie ihn unverwandt an. „Ran… Ran hat es mir gesagt, dass du… du dein Gedächtnis verloren hast…“ Unglaube und Mitgefühl gleichzeitig standen in ihrem Gesicht zu lesen. Sie hatte sich gesetzt, aber ihr Oberkörper war angespannt nach vorn gebeugt. „Kazuha! Das is‘ nicht eben höflich, was-…“ Heiji verzog das Gesicht. Shinichi seufzte, winkte ab. „Schon gut.“ Er fuhr sich nervös durch seine Haare am Hinterkopf, merkte, wie er sich langsam unwohl zu fühlen begann; fragte sich, was man von ihm nun erwartete. „Wie man mir wohl anmerkt, entspricht das der Wahrheit. Aber wenn ich mir mal eine Frage erlauben darf - was führt euch hierher? Osaka ist nun nicht unbedingt um die Ecke…“ Der Detektiv aus Osaka knetete seine Stirnfransen kurz. „Na, um dir zu helfen. Ich… war schon da, als du verschwunden bist. Also ich kam gleich, als ich es erfahren hab…“ „Hast du denn nichts Besseres zu tun?“ „Kudô!“ Kekskrümel sprühten über den Tisch. Heiji starrte ihn entrüstet an, während Kazuha ihrem Freund einen tadelnden Blick zuwarf, um dann die Krümel, die er gerade auf den Tisch gespuckt hatte, in ihre hohle Hand zu wischen, um sie wegzuwerfen. Heiji unterdessen sah fast beleidigt aus. „Ich bin dein Freund. Ich bin hier, weil du das Gleiche auch für mich tun würdest. Wir sind hier, um deine Fragen zu beantworten. Um dir zu helfen. Genügt dir das als Grund? Und nein…“ Er grinste sarkastisch. „Ich hab nix Besseres zu tun. Wann erlebt man denn so was schon mal?“ Shinichi lächelte bitter. „Nicht allzu oft, schätze ich.“ Er fuhr sich kurz mit beiden Händen über das Gesicht, sammelte sich, ehe er sprach. „Also schön, ihr wollt mir helfen?“ Heiji nickte fest. „Dann sag mir, Heiji…“ Der Angesprochene lehnte sich aufmerksam nach vorn. „Wer ist Conan Edogawa…?“ Shinichis Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Heiji schluckte. „Du warst das, Shinichi.“ Shinichi presste die Lippen aufeinander. „Ja, das weiß ich.“ Er bemerkte den verdutzten Ausdruck auf Heijis Gesicht und seufzte tief. „Aber wer war er? Ich meine… wie zum Henker hat er gelebt? Wie hab ich gelebt? Wie hält man so was aus? Was hat er getan, wie hat er seinen Alltag gemeistert, wie war er… was hat er versucht, um wieder zu werden, wer er war, eigentlich… ich? Wer bin… ich?“ Heiji sah ihm an, wie sehr es ihn quälte, sich diese Fragen nicht beantworten zu können. Tatsache war, er konnte es auch nicht. Shinichi schien keine andere Antwort erwartet zu haben; nach ein paar Momenten schüttelte er den Kopf, lächelte bitter. „Seht ihr… wie wollt ihr mir helfen, wenn ihr mich doch nicht kanntet, wie es aussieht…“ Der Osakaer Detektiv ließ sich zurücksinken, biss sich auf die Lippen, bemerkte erst jetzt, welche Wahrheit in Shinichis Worten lag. „Du warst ein echter Geheimniskrämer. Du hast deine Sorgen nicht rumerzählt, ich meine… die meiste Zeit merkte man dir nicht an, was dich beschäftigte. Wenn dich etwas beschäftigte. Ich weiß nicht, wie du das mit Conan aushalten konntest. Fakt ist nur… du hast es getan. Du bist jemand, der ungemein viel erträgt, und ertragen kann, der jede Situation meistert. Du steckst was weg… du wirst auch das hier wegstecken. Du wirst auch das hier überstehen. Du wirst wieder du sein. Sicher.“ „Dein Wort in Gottes Ohr.“ Shinichi lachte hohl. „Momentan hab ich nicht das Gefühl, dass ich hier irgendetwas meistere.“ Er trank einen großen Schluck Kaffee, bemerkte, dass er langsam kalt wurde, verzog das Gesicht. „Du erinnerst dich an nichts.“ „Nein. Außer, an etwa zehn glorreiche Minuten im Gras hinter dem Riesenrad eines Vergnügungsparks namens Tropical Land.“ Shinichi schluckte, knetete seine Hände, merkte, wie Heiji zusammenzuckte, im Gegensatz zu Kazuha. Heiji hatte anscheinend mehr Ahnung, was ihm widerfahren war, als sie. Er sagte nichts, fragte nicht. Sah ihn nur an, und wartete. Er wartete nicht umsonst. „Shiho sagt dir was, ja? Sie war… ist… Ai. Sie hat das Gegengift genommen, und ist gestern vor meinen Augen wieder… Ai… geworden.“ Shinichi sagte die Worte langsam, vorsichtig. Heiji nickte bedächtig. „Ich schätze, es war fast unmöglich, sich danach daran nicht zu erinnern.“ Shinichi nickte, schluckte, massierte sich die Schläfen. Dann sah er auf. „Du bist doch drin, im… Ermittlungsteam. Wie weit seid ihr denn? Was wisst ihr denn, ich meine…“ Der Detektiv aus Osaka schaute ihn, wandte dann den Blick ab, seufzte. Shinichi ließ sich zurücksinken, merkte, wie Enttäuschung ein wenig hochkroch, in ihm. „Lass mich raten… nicht mehr als ich, momentan. Keine Ahnung, wo das Hauptquartier ist, keine Ahnung, wer alles zu ihnen gehört, und keine Ahnung, wer der Boss ist.“ Heiji nickte langsam, sah ihn immer noch nicht an. „Nur die Ahnung, dass der Boss jemand ist, der dich sehr gut kennt. Und den du sehr gut kennst. Sonst wärst du bereits tot.“ Shinichi fuhr hoch. „Was, bitte?“ Unruhe stieg in ihm hoch, irrsinniges Misstrauen keimte in ihm auf, erneut; ein Misstrauen, wie er es hatte eigentlich abschütteln wollen, nach seiner Flucht. Er musste doch vertrauen können, endlich. Damit er wieder zu sich fand. Wie sollte er das anstellen, wenn er ständig auf der Hut war und nie die Zeit und die Ruhe hatte, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen? Verdammt… Heiji sah ihn nun doch an, nickte erneut, merkte, wie sehr ihn das Entsetzen auf dem Gesicht seines Freundes aus der Fassung brachte. Merkte, wie schwer zu ertragen für ihn es war, Shinichi so… ohne Inhalt zu sehen. Denn genau das war er… Alles was er anstrengte, wie sehr er versuchte, etwas zu tun, zu denken… lief ins Leere, weil nichts da war, mit dem er arbeiten konnte. „Wir gehen davon aus, dass der Boss jemand aus deinem sehr nahen Umfeld ist.“ Seine Augen fixierten Shinichis. Der hielt dem Blick stand, als er antwortete. „Wieso das? Nur weil ich…“ „Nein.“ Heiji lehnte sich zurück. „Nich‘ nur, weil du noch lebst. Hör zu, ich weiß nicht, wie viel du weißt, was man dir schon erzählt hat, aber, folgendes…“ Kapitel 34: Kapitel 16: Verhör ------------------------------ Hallo, oh werte Freunde der Trivialliteratur! Ich muss gestehen, es ehrt mich, dass ihr noch so tapfer dabei seid – und noch mehr ehrt es mich, dass sich einige noch die Mühe machen, zu kommentieren. Ich hoffe, ihr hört nicht auf damit – Feedback ist unschätzbar wertvoll, und ich muss gestehen, es tut gut zu wissen, dass man das Ganze nicht ungelesen hinausschickt in die Weiten des Internets, sondern auch eine Antwort bekommt. In diesem Sinne, möchte ich mich wirklich sehr herzlich bedanken bei meinen Kommentatoren! Ansonsten – geht’s jetzt jetzt weiter, und die Spannungskurve schraubt sich langsam wieder etwas hoch – ich sagte langsam. Mark my words. But now: Leira proudly presents – die mieseste Auflösung eines Cliffhangers, ever. *garharhar* Viel Spaß beim Lesen an diesem verregneten Tag, eure Leira __________________________________________________________________ Kapitel Sechzehn: Verhör Was genau „Folgendes“ war, sollte Shinichi allerdings allzu bald nicht erfahren. Kaum hatte Heiji angesetzt, ihn auf den neuesten Stand der Ermittlungen zu bringen, klingelte es erneut an der Haustür – und diesmal war es tatsächlich die Polizei, die um eine Audienz bat. Heiji saß mit den Mädchen nun im Wohnzimmer, hing wie ein nasser Sack höchst unmotiviert in einem der schönen, gemütlichen Polstersessel und starrte ungeduldig Löcher in die Luft. Leise trommelte er mit den Fingerspitzen auf die Armlehnen, ein Laut, den der weiche Stoff gänzlich verschluckte. Er hatte taktvoll mit Ran und Kazuha die Küche verlassen, auch wenn man ihm ansah, dass er lieber dabei geblieben wäre, beim Verhör seines besten Freundes. Allerdings, und das hatte ein entsprechend scharfer und vielsagender Blick von Meguré in seine Richtung sehr deutlich gemacht, hatte er da jetzt laut Meinung der Polizei nichts zu suchen. Je weniger Leute dabei waren, desto besser, abgesehen davon, dass eigentlich ohnehin schon zu viel Polizei und FBI anwesend war. Außerdem, und das war das Wichtigste, durfte man Shinichi nichts in den Mund legen, was er nicht mehr wusste… die reine Wahrheit würde man nur bekommen, wenn man ihn relativ unvorbelastet mit Mutmaßungen ließ. Heiji war trotzdem einigermaßen verstimmt. Ihm ging die Sache hier viel zu langsam voran, abgesehen davon, dass er seinen besten Freund nicht gern in so einem Zustand sah. Seine finstere Miene wich einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. Allerdings wollense ihm ja jetzt nichts; er steht nich‘ im Verdacht, ein Verbrechen begangen zu haben. Er soll ja nur bei der Aufklärung helfen... und da werdense jetzt eh nicht weit kommen, mit ihm. Ein schelmisches Grinsen huschte über seine Lippen. Sollte das kürzeste und uninformativste Verhör in Megurés Karriere werden, abgesehen von den Knilchen, die die Aussage verweigern. Er zog eine Augenbraue hoch, wandte sich kurz um, als er ein leises Schaben vernahm, kam nicht umhin, ein gewisses Erstaunen zu empfinden. Hinter ihm saß Yusaku Kudô an seinem Schreibtisch und ließ seine Füllfeder übers Papier gleiten. Das sanfte Kratzen der Feder auf dem Papier erfüllte den Raum, ansonsten war es still. Wie kanner jetzt seiner Arbeit nachgehen? Wenn sein Sohn grad verhört wird, wie kann er da an Kriminalromane denken? Heiji zuckte mit den Schultern, drehte sich wieder um, betrachtete die Mädchen, die ihm gegenüber saßen und leise redeten. Ran war fix und fertig, das wusste er. Und es war auch kein Wunder, wirklich nicht. Er fragte sich, wie viel die beiden schon gesprochen hatten, und worüber. Ran hatte gefasst gewirkt, als sie sich neben ihren Freund gesetzt hatte, vor ein paar Minuten. Shinichi selbst hatte mindestens genauso gefasst reagiert. Überhaupt hatte er sich bemerkenswert gut im Griff. Ein gewisses Misstrauen ihnen allen gegenüber hegte er wohl, aber ansonsten ließ er sich nicht das Geringste anmerken. Hinter ihm raschelte es kurz, als Yusaku Kudô sich eine neue Seite heranzog. Heiji bemerkte den Blick, den der Schriftsteller ihm zuwarf, nicht. Yusaku war der skeptische Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Detektivs gerade eben nicht entgangen, und er ahnte, dass Heiji es verwunderte, wenn nicht sogar missbilligte, dass er hier war, und nicht bei Shinichi in der Küche; schließlich hätte er es bestimmt gekonnt, hätte er es gewollt. Allerdings, dessen war er sich leider sehr bewusst, war er besser hier aufgehoben als in der Küche, wo er konfrontiert werden würde, mit allem, was die Polizei bisher wusste. Mit allem, was man über seinen Sohn herausgefunden hatte, über seine Zeit bei der Organisation. Er wusste nicht, ob er sich würde beherrschen können, ob er in der Lage wäre, seine Nerven zu behalten. Yusaku durfte sich nicht verdächtiger machen, als er schon war, das war ihm mehr als klar. Auch wenn er das wohl genau jetzt auch tat. Er machte sich verdächtig, indem er seinem Sohn nicht beistand. Und er fragte sich, ob Shinichi sich über sein Verhalten auch wunderte. Yusaku seufzte, zerzauste sich gedankenverloren mit einer Hand die Haare. Dann schraubte er seinen Füller zu, legte ihn beiseite. Unschlüssig sah er auf sein Manuskript, las die ersten paar Zeilen der Seite, an der er gerade schrieb. … Er fühlte sich unbehaglich, war sich nicht sicher, über das, was er nun zu tun hatte - ob er es schaffen würde, ob er es tatsächlich fertigbringen würde. Es war nicht sein Metier, in das er sich begab, ganz und gar nicht. Eigentlich hatte er immer auf der anderen Seite dieser Linie gestanden, die er nun zu überschreiten im Begriff war. Und er hatte sich dort wohl gefühlt. Unangreifbar. Er war dort der Herr der Lage, der, der das Sagen hatte. Nun begab er sich in gänzlich unbekanntes Gewässer. Und doch hatte er das Gefühl, dass es das Richtige war, was er tat. Schlicht und ergreifend, weil die andere Option ganz und gar falsch war. Das wusste er. … Langsam atmete er aus, zog die leere Seite über das bereits Geschriebene, seufzte. Dann straffte Yusaku seine Schultern, griff nach seinen Zigaretten und dem Feuerzeug, verließ das Zimmer. Spürte Heijis Blicke im Nacken, aber drehte sich nicht um, sondern warf sich im Flur seinen Mantel über und verließ das Haus. Wenig später sah Yukiko sein Auto die Auffahrt verlassen, als sie Kommissar Meguré eine Tasse Kaffee anbot. Sie war bei Shinichi geblieben, auch nachdem sie den Beamten von Polizei und FBI Kaffee angeboten hatte. Shinichi hatte es ohne mit der Wimper zu zucken hingenommen, und wartete nun angespannt darauf, dass die Polizei damit anfing, das zu tun, weswegen sie eigentlich gekommen waren. Fragen stellen. Sagen Sie, Herr Kommissar… was wollen Sie wissen? Was könnte ich wissen, was ihnen noch unbekannt ist, jetzt, in diesem Moment? Meguré starrte ihn an, merkte, wie dieses fiese Unbehagen, das er schon am Vortag verspürt hatte, wieder in ihm hochkeimte. Neben ihm stand James Black, hinter ihm befand sich Takagi, der nervös von einem Bein aufs andere trat. Der Mann machte ihn gerade ein ganz klein wenig wahnsinnig, hätte er doch selber gerade lieber das Weite gesucht, als dieses Gespräch mit dem Sohn seines Freundes zu führen, mit einem jungen Mann, der fast schon für ihn arbeitete, fast ein Mitglied seiner Truppe war. Und dem zu helfen sie alle so eklatant versagt hatten. Sie wussten alle, wie sinnlos diese Unterredung für sie war. Es war offensichtlich, dass Shinichi sich noch an nichts erinnerte, und es war nicht absehbar, wann das wieder der Fall sein würde. Ob überhaupt. Wahrscheinlich war dieses Verhör für ihn wesentlich aufschlussreicher, als es das für sie war. Nun, dann wäre wenigstens einem von uns ein wenig geholfen, nicht wahr, Kudô? Der Kommissar nahm unbeholfen seinen Hut ab, knetete ihn mit beiden Händen, ehe er sprach. „Vielleicht erinnerst du dich, Shinichi, wir haben uns gestern getroffen, im Krankenhaus. Mein Name ist Kommissar Jûzô Meguré. Wir… kennen uns schon länger, du hast schon oft mit mir… und meiner Abteilung zusammengearbeitet. Das hier ist Wataru Takagi, ihn kennst du eigentlich auch, er ist Inspektor, und arbeitet unter mir. Und das ist Special Agent James Black vom FBI, der dir ebenfalls nicht unbekannt ist, auch wenn du ihn erst als Conan kennengelernt hast.“ Er reichte seinem jungen Freund die Hand, der sie zögernd ergriff und kurz drückte. „Danke, für… gestern.“, murmelte Shinichi, ließ sich auf seinen Platz sinken. Yukiko setzte sich neben Shinichi, räusperte sich kurz, faltete ihre Hände vor sich auf dem Tisch, warf den drei Männern ein warmes Lächeln zu, die mittlerweile ihnen gegenüber Platz genommen hatten. Shinichi griff nach seinem Glas Wasser, führte es aber nicht zum Mund. Seine Augen waren an einer Stelle auf dem Kopf des Kommissars hängen geblieben, unwillkürlich. „Diese Kopfverletzung sieht übel aus, selbst jetzt noch. Ich nehme an, Sie tragen den Hut deswegen?“ Meguré hob erstaunt die Augenbrauen, überrascht über diese Bemerkung, aber nicht verärgert. Eigentlich kannte jeder dieses Geschichte, auch Shinichi. Er strich sich kurz mit den Fingern über die Stelle, die nun eine unübersehbare Narbe zierte, und nickte dann. „Ja.“ Shinichi kratzte sich an der Nase. „Sie muss um die zwanzig Jahre alt sein…“ Megurés Gesicht verfinsterte sich bei dem Gedanken daran, wie er sich die Narbe eingehandelt hatte. Gedankenverloren begann er, an seinem Ehering zu drehen. „Das kommt so in etwa hin, ja.“ Shinichi wandte seinen Blick nicht ab, studierte sein Gegenüber. „Ihre Frau war involviert, ja?“ Der Kommissar schreckte auf. „Wie kommst du darauf?“ Shinichi nickte nur nachdenklich, legte sich einen Finger ans Kinn. „Also war sie involviert. Ich schätze, bei dem Unfall oder was es auch war, der Ihnen diese Verletzung beschert hat, wurde auch sie verletzt? Und Sie waren in irgendeiner Weise schuld daran, dass ihr etwas passiert ist, nehme ich an. Wahrscheinlich hätten Sie sie beschützen müssen oder sie hat unter einem Fehler, den Sie gemacht haben, gelitten.“ „Shinichi!“ Yukiko starrte ihn an. „Du solltest nicht…“ Meguré schüttelte den Kopf. „Nein, Yukiko, lass ihn ruhig.“ Er seufzte, sah seinen jungen Freund an. „Du hast Recht, mit allem, was du sagst. Woher…?“ Shinichi sah auf, blickte dem Kommissar ruhig ins Gesicht. „Sie spielen, seit ich angefangen habe, über Ihre Kopfverletzung zu sprechen, mit Ihrem Ehering. Sie sehen schuldig aus, und wütend. Daher nehme ich an, dass Ihre Frau…“, er deutete auf den Ring an Megurés rechtem Ringfinger, „bei irgendeiner Art von Unfall oder Zwischenfall, bei dem auch Sie sich Ihre Narbe eingehandelt haben, aufgrund eines Fehlers oder einer Unachtsamkeit Ihrerseits ebenfalls verletzt wurde. Verletzt, weil Sie den Ehering noch tragen; und Sie sehen zwar schuldig aus, aber so schuldig auch wieder nicht. Ihr Gesicht verrät Sie, Kommissar.“ Er schluckte kurz. „Und so wie Sie mich gerade ansehen, schätze ich, dass Sie sich an meinem Schicksal auch irgendwie die Schuld geben. Nur… habe ich diesmal nicht die blasseste Ahnung, warum.“ Er merkte, wie ihm sein Herz bis zum Hals schlug, fühlte, wie seine Finger kalt und starr wie Eiszapfen wurden, als er sah, wie der alte Mann sich seinen Hut wieder aufsetzte und langsam nickte. „Ja.“ „Warum?“ Shinichis Stimme war leise, aber klang deswegen nicht minder drängend. Meguré verknotete seine Finger unbeholfen, strich sich über den Bart, ehe er ansetzte, sich zu erklären. „Wir sind dir begegnet. Zweimal. Während deiner Zeit als Armagnac. Und wir haben nichts getan.“ Er hörte auf, als Shinichi scharf die Luft einsog, sich ein Ausdruck von Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht manifestierte. „Wie meinen Sie das?“, fragte er dann langsam, bedächtig, willens, keine Vorurteile zuzulassen, kein Urteil zu fällen, bevor er nicht alles wusste. Meguré zögerte, und so war es Takagi, der das Wort übernahm. „Das erste Mal, als wir dich nach deiner Entführung trafen, hattest du Ai gerade das Leben gerettet. Gin - der große Blonde, den du gestern im Krankenhaus getroffen hast – hatte sie hier aufgespürt. Du und Sharon seid ihm gefolgt, habt es geschafft, vor ihm hier zu sein, und uns zu warnen. Wir waren gerade alle beim Professor versammelt, weißt du…“ „Wer ist Sharon?“, unterbrach ihn Shinichi kurz. Takagi überlegte. „Sharon ist… so etwas wie ein Maulwurf in der Organisation. Wir wissen nicht, für wen sie arbeitet, ob sie auf unserer Seite steht, aber auf deiner ist sie sicher, auf welcher du auch immer gerade bist.“ Black nickte zustimmend. Besser hätte er es auch nicht ausdrücken können. „Nun, wir konnten alle das Haus verlassen, aber Ai, die im Keller war, bekam von alledem nichts mit. Du bist sie suchen gegangen, während Gin schon das Haus betreten hatte. Es gelang dir, mit ihr zu verschwinden, und sie zu uns zu bringen…“ „Und da hätten wir das erste Mal verhindern sollen, dass du zu denen zurückgehst.“ Megurés Stimme klang reuig, ein Tonfall, denn Takagi selten von ihm gehört hatte. Der Kommissar fuhr sich durch seinen Schnauzbart, immer und immer wieder, während seine Augen blicklos in seine Kaffeetasse starrten. „Wir taten es nicht, weil wir fürchteten, Ran wäre noch in zu großer Gefahr. Wir hatten Angst, alles nur schlimmer zu machen, wenn wir dir in deine Pläne pfuschten. Du hattest dich dafür entschieden, um sie zu schützen, wir dachten, jetzt etwas zu tun, wäre falsch. Wir dachten, die Lawine, die wir lostreten würden, wenn wir dich verraten würden, indem wir dich daran hindern, wieder zurückzugehen und so zu tun, als ob nichts gewesen wäre, wäre nicht zu kontrollieren.“ Shinichi nickte langsam. Er war in seinen Stuhl gesunken, hatte seinen Rücken gegen die Lehne gepresst, seine Arme vor seiner Brust verschränkt und starrte nachdenklich auf die Tischplatte. „Das zweite Mal…“, fuhr Meguré fort, der sich mittlerweile wieder gesammelt hatte, „war, als wir dich zusammen mit Gin, Wodka und Sharon bei der Abwicklung eines Drogendeals beobachtet hatten. Du hattest uns bemerkt, und Gin auch. Es schien Schwierigkeiten gegeben zu haben, von der… Art, die einen wie Gin dazu veranlasst, zu beschließen, den armen Wurm umzubringen, der den Fehler gemacht hatte. In diesem Fall war der arme Wurm der Abnehmer der Drogen. Der Dealer.“ Shinichi sah auf, merkte, wie sein Atem stockte. „Er hat Sie bemerkt? Wollte er da kein Exempel statuieren?“ Meguré wandte seinen Blick ab. „Wollte er. Hat er auch.“ Takagi bewegte sich unruhig, seine Augen huschten von Shinichi zu Meguré und wieder zurück. „Inwiefern?“, fragte Shinichi mit schleppender Stimme, obwohl er wusste, dass es unnötig war, eigentlich. Er hatte eine gute Ahnung, worin dieses Exempel bestanden hatte. „Du solltest ihn töten. Er hat dir die Waffe in die Hand gedrückt. Er wollte uns als Zeugen für deinen ersten Mord.“ Shinichi setzte sich auf, langsam, hob den Blick, sah den drei Männern ihm gegenüber ins Gesicht. „Ich hab ihn nicht erschossen.“ Seine Stimme zitterte nicht. „No, you haven’t.“ Black nickte langsam. „I take it, you know from the professor, that you have committed no crime.“ Der junge Detektiv nickte. „Ja. Aber ich wusste nicht, dass es um Mord ging.“ Meguré räusperte sich unverwandt. „Nun, doch. Du solltest ihn erschießen, aber du hast es nicht. Du bist in die Gasse gegangen, ein paar Schritte, und wie angewurzelt stehen geblieben. Wir denken, du hast ihn da gesehen, den Boss. Und erkannt. Denn als du zurückkamst, wirktest du sicher, abgeklärt, ganz anders, als noch Sekunden vorher, als es dich fast zerriss, zwischen deinem und vor allem Rans Leben und dem Leben dieses Mannes zu wählen. Du hattest einen Entschluss gefällt, mit deinem Schicksal verhandelt. Du hast in die Luft geschossen, um möglich viel Aufmerksamkeit auf euch zu lenken und dann die Waffe durch einen Kanalschacht fallen lassen. Der Lärm hat fast ganz Shibuya zu euch gelockt. Der Mann konnte entkommen, weil ihr eiligst verschwinden musstet. Und in der gleichen Nacht fand man dich auf der Landstraße in Tottori, im Regen, verletzt und ohne Gedächtnis…“ Shinichi rieb sich die Schläfen. „Sie denken, Sie hätten eingreifen sollen.“ Er ließ die Hände sinken, fixierte den Kommissar mit seinen blauen Augen. Meguré nickte zögernd. „Ja.“ „Wahrscheinlich wären Sie dann jetzt tot.“, bemerkte Shinichi nüchtern. „Ich denke, so wie Sie sich verhalten haben, war das das Vernünftigste, in Anbetracht der Situation. Sie hätten vielleicht gar nicht da sein sollen, dann wäre der Abend eventuell anders verlaufen, aber eingreifen – nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Das wär glatter Selbstmord gewesen bei diesen Männern. Und mir wohl auch keine große Hilfe gewesen. Oder Ran.“ Meguré massierte seinen Bart immer noch. „Dennoch. Nun…“ Er klärte seinen Hals, nahm einen großen Schluck Kaffee, versuchte dann zu lächeln. „Nun, du hast es gut geschafft, vom Thema abzukommen und mir Informationen aus der Nase zu ziehen, anstatt andersrum.“ Er lachte unbeholfen, bedachte seinen jungen Kollegen mit einem anerkennenden Blick. „In dir steckt noch mehr von dir, als du denkst, Shinichi. Aber… deswegen sind wir ja eigentlich nicht hier.“ Shinichi seufzte, nippte an seinem Wasser. „Sie wollten eigentlich mir die Fragen stellen.“ Takagi und Meguré nickten synchron, während James Black sich einen Keks nahm, ihn neugierig inspizierte. Der Kommissar unterdessen suchte nach Worten, ein weiteres Mal an diesem Tag. Black saß neben ihm, rührte lautlos seinen Tee um. Shinichi beobachtete ihn und fragte sich unwillkürlich, wie er es schaffte, dabei mit dem Löffel nicht die Tasse zu berühren. Und die Stille dehnte sich aus. Shinichi seufzte, ahnte, was den Kommissar das Leben so schwer machte, momentan. Er räusperte sich, fixierte den Mann mit festem Blick, ehe er sprach. „Kommissar Meguré. Warum reden wir nicht endlich Tacheles und beenden das hier? Ich nehme auch an, Sie haben nicht den ganzen Tag Zeit…“ Er lächelte bitter. Meguré starrte ihn an, merkte, wie James Black neben ihm seinen Löffel aus seiner Teetasse hob, ihn ebenso lautlos auf dem Untersetzer ablegte, wie er umgerührt hatte. „You’re right; it’s not, as if we have any time to waste. We should start with what we came for.“ Black platzierte den Keks, den er bis eben noch in seiner Hand gehalten hatte, neben seiner Tasse. Shinichi beobachtete ihn dabei, trank einen Schluck Wasser. „Which would be asking me questions about a certain organization, and my time as a member within that… syndicate. We’ve already touched matters, so it shouldn’t be that difficult to pick up that thread… although I’m afraid I won’t be of much help to you.“ Black lächelte breit. Yukiko stutzte, warf ihrem Sohnemann einen erstaunten Blick zu. „We’ll see to that, my friend.” Der Brite fuhr sich mit Zeigefinger und Daumen über den Bart, strich sich dann über Mundwinkel und Kinn. Meguré saß wortlos da, war wieder einmal verblüfft über das makellose Englisch des Oberschülers. Takagi hatte sein Notizbuch gezückt und hielt seinen Stift in der Hand, unschlüssig, ob er schon Notizen machen musste oder nicht, seufzte lautlos, wandte seinen Blick jedoch nicht von Shinichi ab. Dachte an jenen Abend im Garten, als er ihnen unter die Augen getreten war, als Armagnac. Dachte an gestern, als sie ihn aus dem Krankenhaus hatten bringen müssen, weil sie hinter ihm her waren wie der Teufel hinter der armen Seele. Und sie würden nicht ruhen, bis sie ihn hatten, soviel war klar gewesen. Bis sie ihn hatten, oder draufgingen beim Versuch, ihn zu kriegen. Takagi hoffte inständig auf letzteres. Allerdings, das war ihm gestern sehr klar geworden, spielten sie ein gefährliches Spiel mit einem unberechenbaren, aber mächtigen Gegner. Eine fatale Kombination. Wie konntest du dir das einbrocken, Kudô? Wie oft hast du wohl jenen Tag schon verflucht, als sich eure Wege kreuzten…? Dann riss ihn die Stimme seines Vorgesetzten aus seinen Gedanken in die Realität zurück. „Kannst du uns denn etwas darüber sagen, Kudô? Hast du eine Erinnerung an irgendetwas…? Shinichi schüttelte den Kopf. „Nein, leider an nichts hilfreiches. Egal wie sehr ich es versuche, und glauben Sie mir… ich versuch es wirklich. Ich weiß nur, was mir gesagt wurde, über Armagnac. Ich weiß nicht, wie es im Hauptquartier war, wer diese Leute sind, wo es liegt.“ Shinichi schluckte, starrte seine Hände an, die mittlerweile das Wasserglas umklammerten. Seine Knöchel traten weiß hervor. Er zwang sich, seinen Griff zu lockern, presste seine Handflächen stattdessen flach auf die Tischplatte. Yukiko warf ihm einen besorgten Blick zu. Eine Weile war alles still, ehe er aufsah, sich James Blacks Blick einfing, der ihn mitfühlend und ernst zu gleich musterte. „If you don’t mind…“ „There’s nothing I could tell you.“, unterbrach ihn Shinichi, fast ein wenig unwirsch, und doch auch verärgert über sich selber. Über das blanke Nichts in seinem Schädel. „Nothing at all, I’m afraid.“, fügte er an. “But you speak pretty good English, still.”, bemerkte der Brite. Shinichi lächelte niedergeschlagen. „Man verlernt keine Fähigkeiten bei einer Amnesie. Etwas, das einmal gelernt wurde, bleibt erhalten, sagte man mir. Nur alles, was im semantischen Gedächtnis war, ist weg. Nun, bis auf… eine größere und eine kleinere Episode. Die größere Episode, ich weiß nicht, ob der Professor oder Herr Môri es ihnen gesagt haben…?“ Meguré nickte. Man sah ihm an, wie viel ihn das kostete. „Die kleinere?“ Der junge Detektiv schüttelte vage den Kopf. „Ich weiß nicht, ob sie weiterhilft, wahrscheinlich nicht. Ich denke, es war auf der Flucht…“ Er trommelte kurz mit seinen Fingern auf der Tischplatte, um Nervosität abzubauen, bemerkte es, und zwang sich, damit aufzuhören. „Als ich gestern mit Shiho vor diesen beiden Männern davon lief, im Krankenhaus, da riefen sie hinter uns her.“ Meguré hob die Augenbraue fragend. „Er darf nicht entkommen.“ Bedächtig sprach er die Worte aus, starrte dabei auf die Tischplatte. Es war still im Raum, so leise, dass er das Prickeln seines Mineralwassers hören konnte. Heiji ließ gedankenverloren seine Knöchel knacken, fing sich einen tadelnden Blick von Kazuha ein, aber hörte dennoch nicht auf damit. Er fragte sich, wohin Shinichis Vater schon wieder verschwunden war; für seinen Geschmack verschwand der Mann viel zu oft in letzter Zeit spurlos, für Stunden. Er atmete pfeifend aus, wünschte sich, er hätte einen dieser Mikroemitter, wie Shinichi sie gehabt hatte. Er hätte dem Herrn Schriftsteller sofort einen ans Auto geklebt. Wie vom Blitz getroffen fuhr er hoch. Das isses! Das is die Idee, überhaupt…! Heiji sprang wie von der Tarantel gestochen auf, rannte aus dem Zimmer. „Komm gleich wieder!“ Kazuha und Ran sahen ihm erstaunt hinter her. „Der spinnt.“, stellte Kazuha lakonisch fest, verdrehte die Augen. Ran griff nur nach ihrem Arm, drückte ihn kurz, nippte dann an ihrem Kaffee, ließ es zu, dass ihre Gedanken zurück zu Shinichi drifteten. Und zu gestern Nacht. Bitte, versprich mir, dass es wahr ist. Dass es bleibt, versprich es mir… Sie seufzte tief, bewegte sich unruhig in ihren Polstern, schloss die Augen. Die Gedanken, die sie seit heute Morgen beschäftigten, rissen nicht ab, ließen ihr keine Ruhe. Kazuha warf ihr einen besorgten Blick zu. „Ran, is was?“ Die Angesprochene biss sich auf die Lippen. „Nein. Nein, alles…“ Kazuha zog eine Augenbraue skeptisch nach oben. „… in Ordnung? Das glaubste selber nich‘. Willste drüber reden? Vielleicht hilft’s? Ich versprech, ich sag auch nichts weiter, falls…“ Ran wandte sich ihr zu, und Kazuha verstummte sofort. Sie sah die Sorge in ihren Augen, ihren Kummer, und Schmerz. Unsicherheit, ein wenig Verzweiflung. „Ran, was is los…“, flüsterte sie, griff ihre Freundin mit beiden Händen an ihrer Hand, drückte sie sacht. Ran wandte ihren Blick ab, taxierte ihre Füße, ballte ihre Zehen, unwillkürlich, bohrte sie in den Teppich. „Shinichi war gestern Nacht bei uns. Nach seiner Flucht. Man hielt es fürs Sicherste, ihn zuerst zu uns zu bringen, dann erst hierher, bis man die Umgebung geprüft hatte…“ Kazuha nickte. Ran holte Luft, tief, atmete gepresst aus, sah ihre Freundin immer noch nicht an, als sie weiter sprach. „Er war wach, gestern Nacht, und ich auch. Wir haben uns in der Küche getroffen, ihn ließen die Ereignisse des Tages nicht schlafen und ich… ich hatte Durst, und nun… ich hab mir wohl auch Sorgen gemacht. Um ihn. Und da stand er dann…“ Sie biss sich auf die Lippen. „Wir haben dann geredet, ich mein, ich wollt wissen, warum er hier war, und nicht im Krankenhaus. Er hat's mir dann erzählt, und nun… wir kamen dann über uns, also, unsere Freundschaft, und irgendwie… ich… ich…“ Kazuha drückte ihre Hand ermutigend. „Ich hab ihm gesagt, was ich ihm eigentlich schon einmal gesagt hatte. Am Tag, bevor sie ihn geschnappt haben. Ich dachte, es is die Wahrheit, er weiß es eigentlich schon. Ich… ich hab ihm gesagt, dass ich ihn liebe.“ Kazuhas Kinnlade klappte nach unten, allerdings fasste sie sich schnell. „Nun, Ran, das… ist zwar wohl ein wenig viel für ihn gewesen für den Moment, aber immerhin, er…“ „Ich hab so lange weitergebohrt, bis er mir gesagt hat, dass er mich liebt.“ Ran ließ den Kopf hängen. Kazuha sank gegen die Polster, starrte an die Decke. „Mann.“, flüsterte sie. „Ran, wie biste denn dazu…“ Die Angesprochene schüttelte den Kopf, merkte, wie sich in ihren Augen die Tränen sammelten. „Ich wollts endlich wissen… ich wollts hören… er…“ Sie zitterte. „Er hat so lange rumgedruckst, ich meine, mir war klar, dass da was ist! Ich dachte, es geht ihm besser, wenn er es sagt, ich dachte mir, was hat er zu verlieren, er weiß doch von mir, dass ich ihn liebe, und warum hätte er das alles dann getan… ich dachte…“ Ran biss sich auf die Lippen, fest. „Ich weiß nicht, was ich dachte. Ich wollte ihm helfen. Ihm nah sein. Machen, dass er sich nicht so verloren fühlt. Ich weiß nur nicht, ob ich ihn nicht überfordert hab, und ob er… jetzt nicht einfach ratlos ist, wie wir weiter machen sollen, das ging gestern viel zu schnell nach dieser… Zeit. All diesen Dingen, die passiert sind.“ Kazuha zog die Augenbrauen hoch. „Was ging viel zu schnell?“ Ran rieb sich über die Augen, merkte, dass ihre Finger feucht wurden. Sie hatte zu weinen begonnen. „Ich hab ihn geküsst. Kazuha. Wir… haben uns geküsst. Und… seit heut Morgen, hab ich das Gefühl, dass… er mich zwar immer noch liebt, aber… dass er nicht weiß, wie er nun weiter machen soll. Die Basis fehlt, verstehst du? Und er hat Angst, dass es nicht bleibt. Dass er unsere Freundschaft zerstört hat, wenn er sich erinnert und feststellt, dass er mich doch nicht liebt.“ Sie seufzte, ihre Lippen bebten. „Aber das ist nicht das Schlimmste, diese Angst vor dem Danach. Es ist das Jetzt, das Probleme macht. Das Gefühl ist da. Der Wille… auch. Aber wir beide wissen wohl nicht, wie wir weiter machen sollen, weil ihm seine Vergangenheit fehlt. Er weiß nicht mehr, wie er mit mir geredet hat, wie er mit mir umgegangen ist, und das… Es ist, als ob wir uns komplett neu kennenlernen müssten… und dafür ging's gestern einfach zu schnell, wir waren uns so nah, ich meine…“ Sie brach ab. Shinichi fuhr sich durch seine Haare. „Ich denke, der große Blonde rief mir das hinterher. Egal… auf jeden Fall, während ich lief, da sah ich es. Hörte ich es… Ich war in einem Wald, es war dunkel, und es regnete. Ich weiß, das ich rannte, ich… hörte den Regen durch die Blätter prasseln, hörte meine Schritte auf dem nassen Boden, das Rascheln des Laubes, ich hörte das Blut in meinen Ohren, und sein Geschrei, und ich hörte… hörte den Schuss.“ Shinichi erstarrte, atmete langsam aus, merkte wie dieses seltsame Gefühl von Gestern sich wieder einstellte. Wie in Schleier, der sich hob, nur ein bisschen. Kurz vom Wind beiseite geblasen wurde, nur ein Stück, ehe er wieder zurückfiel. Ein eisiger Wind, der ihn zu streifen schien, ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. „Er… hat mich getroffen.“, murmelte er tonlos. Meguré stand auf, beugte sich nach vorn. Shinichi war schlagartig blass geworden, sein Gesichtsausdruck wirkte etwas weggetreten. Unbewusst fasste er an die Stelle, an der die Kugel seinen Körper durchschlagen hatte. Fühlte den Schmerz erneut, sah die Bilder vor Augen, in seinem Kopf. Sah das Blut an seinen Fingern, hörte seinen keuchenden Atem, hörte sich schreien und aufstöhnen und erschauderte. Er sah die Welt rasen, über ihm zusammenstürzen, begann zu zittern, kurz. Gedankenfetzen schwirrten durch seinen Kopf- weniger richtige Gedanken, eher Gefühle- Schmerz, Angst, Verwirrung. Angst. Panische Angst. Todesangst. „Ich bin weitergelaufen.“, murmelte er leise. „Ich wusste, wenn sie mich kriegen, bin ich tot.“ Seine Augen huschten über die Tischplatte, wie als ob er sie lesen würde. Auf einen Baum… auf einen Baum. Es ist dunkel, sie sehen mich nicht, sie hören mich nur. Wenn sie mich nicht mehr hören, dann… Ich muss warten, bis sie weg sind, und dann irgendwie zur Straße. Und hoffen, dass mich die Richtigen finden. „Shinichi?“ Er sah hektisch um sich, sah einen Baum, der geeignet schien, um hochzuklettern, griff nach dem ersten Ast, zog sich hoch, biss die Zähne zusammen, als Schmerz ihn durchbohrte wie ein Samuraischwert. Er hielt fest, stemmte einen Fuß gegen den Stamm, merkte, wie er an der nassen Borke ins Rutschen kam, setzte neu an, hob den zweiten von der Erde ab und griff mit seiner freien Hand nach dem nächsten Ast, merkte, wie erleichtert er war, als er vorankam, sich Ast für Ast hochzog. Er atmete kaum, schloss die Augen, als die Bilder erneut zu viel wurden, und merkte doch, das half nicht das Geringste. Black beugte sich über den Tisch, schaute dem jungen Mann besorgt ins Gesicht. Meguré blickte auf, starrte Yukiko an, die ihrem Sohn über die Schläfe strich. „Shinichi?“ Takagi warf seinem Chef einen fragenden Blick zu. „Meinen Sie, er…“ Er wusste, sein Kopf war so voll. So voller Gedanken, die rasten; im Kreis, drunter und drüber, vor und zurück und einfach nicht zu fassen. Er wusste, er war verwirrt… mehr als das. Er ahnte, dass sich seine Welt gerade einfach auf den Kopf gestellte hatte, wie eine volle Pappschachtel, die man hochhebt, umdreht, und den Inhalt einfach auf den Boden fallen lässt, wo er ungeordnet und wirr liegen bleibt. Er konnte die Teile nicht sehen, und auch nicht ordnen, zu verschwommen war es, zu kurz der Blick darauf, den er erhaschen konnte. Genauso fühlte sich sein Kopf an. Wirr, ungeordnet. Jetzt… und wohl schon damals. Er hatte wohl gewartet, er wusste nicht, was währenddessen passiert war. Ob er eingeschlafen war oder bewusstlos geworden war, oder einfach nur auf diesem Ast gehangen, klamm und starr vor Kälte und Feuchtigkeit, und gewartet hatte. Es galt, den Baum wieder runter zu kommen, ein Akt, der sich schwerer gestaltete, als er geahnt hatte. Als er fast unten war, hörte er es knacken. Beunruhigend knirschen. Er merkte, wie sich der Ast beugte, seinem Gewicht nachgab… Nein, nein, NEIN!!! … und aufgab, abbrach, ihm entgegenfiel. Mit der Hand immer noch um den Ast geklammert fiel er rücklings auf die Erde, prallte hart auf, merkte, wie seine Zähne aufeinanderschlugen, schmeckte Blut. Spürte einen unglaublichen Schmerz, nicht mehr nur da, wo ihn die Kugel getroffen hatte, sondern jetzt auch im Kopf. Es fühlte sich an, als würde er platzen, als müsse ihm jeden Moment die Schädeldecke hochgehen. Es passierte nichts. Stattdessen wurde wieder alles schwarz. Dann bemerkt er eine Hand an seinen Arm, hörte die Stimme seiner Mutter. „Shinichi?“ Er schüttelte den Kopf, hörte aber sofort wieder auf damit, als er merkte, dass der Kopfschmerz ihm in die Realität gefolgt war, es pochte hinter seinen Augen. Er bedeckte seine Augen mit einer Hand, weil ihm auf einmal das Licht im Zimmer viel zu hell war, stöhnte leise auf. „Shinichi?!“ „Einen Mikroemitter? Die Ersatzradarbrille?“ Der Professor schaute Heiji einigermaßen verwirrt an. Er hatte den jungen Detektiv gerade hereingelassen, der nun einigermaßen atemlos vor ihm stand. „Ja!“ Agasa rieb sich sein Kinn, wiegte den Kopf. „Ich denke, irgendwo sollte ich das noch haben. Aber wieso brauchst du das denn? Willst du denn wen verfolgen?“ Heiji biss sich auf die Lippen. Er konnte dem Professor unmöglich erzählen, wen er zu bespitzeln gedachte, und überlegte gerade fieberhaft, welche Antwort er dem alten Mann geben sollte, als ihm die Idee überhaupt einfiel. „Ja. Und eine Fliege, wenn Sie so eine noch haben. Und vielleicht dieses Skateboard, oder steht das bei den Môris? Ich meine, wenn wir ihm so viele Dinge aus Conans Zeit zeigen, wie wir haben, gerade eben diese… kleinen Hilfsmittelchen, dann erinnert er sich vielleicht wieder…!“ Dem Professor schien diese Erklärung sofort einzuleuchten. „Aber klar! Dass mir die Idee nicht selber gekommen ist! Ich seh mal gleich nach, was ich noch alles hier habe, Heiji. Setz dich doch so lange. Ai ist im Labor, wenn du mit ihr reden willst. In der Küche steht eine Kanne Tee, wenn du willst.“ Heiji sah dem Mann zu, wie er davon eilte, wanderte dann zum Fenster, schaute hinaus. Ins Haus der Kudôs konnte man von diesem Punkt aus nicht hineinsehen, zumindest nicht ins Erdgeschoss; die Mauer, die das ganze Haus umgab, versperrte die Sicht. Ein langer Seufzer entfloh seinen Lippen, als er gedankenverloren seine Hände in die Hosentaschen steckte. Es wird Zeit, dass etwas passiert. Und selbst, wenn diese Spur ins Leere läuft, ist es immerhin eine Person, hinter die wir ein Häkchen setzen können… Er kniff die Lippen zusammen, merkte nicht, wie er seine Hände in seinen Taschen zu Fäusten ballte, so fest, dass seine Fingernägel ins Fleisch seiner Handballen schnitten. Als der Professor mit einer großen Kiste an Sachen von Conans Zweitausrüstung zurückkam, bedankte er sich herzlich, und machte sich auf den Rückweg. Sicher, er würde Shinichi die Dinge zeigen. Allerdings nicht alle. Er spähte in den Karton, während er ging, lächelte zufrieden, als er die Radarbrille obenauf liegen sah, daneben eine kleine Schatulle mit Emittern. Die wirst du mir ausleihen müssen, Kudô. Als er wieder soweit klar im Kopf war, um wieder zu wissen, wo er sich befand, bemerkte er, dass sie ihn alle anstarrten. Er ließ sich zurücksinken, in seinen Stuhl, griff nach dem Glas Wasser und trank es in einem Zug aus. Meguré schaute ihn angespannt an. „Was… war was…“ „Nützliches dabei?“, vollendete Shinichi seinen Satz, schüttelte gleichzeitig den Kopf, vorsichtig, lächelte bitter. „Nein, nicht wirklich. Ein paar weitere Fetzen meiner Flucht, aber keine Erinnerungen an das davor. Aber sagen Sie - weiß der Professor noch die Stelle, wo er mich aufgelesen hat? Wäre es möglich, da mal hinzufahren?“ Der Kommissar warf seinem Kollegen aus den USA einen schnellen Blick zu. Black nickte, nahm dann einen Schluck seines Tees, stellte die Tasse behutsam wieder auf ihren Untersetzer. „Sicher. Wenn du das willst…“ Shinichi biss sich auf die Lippen. „Das kann ich jetzt doch nicht wissen.“, meinte er dann, ein zynischer Ausdruck glitt über sein Gesicht. „Aber ich will mich erinnern, denn dieses Gefühl von Vakuum zwischen den Ohren geht mir auf den Geist.“ Er seufzte. „Wann könnten wir denn dahin fahren?“ Meguré wiegte sein Haupt nachdenklich. „Ich schätze, morgen. Frühestens. Wenn nicht übermorgen.“ Ein ungläubiges Ächzen entfuhr Shinichi. „Was? So spät erst?“ „You forget…“, begann der FBI-Agent sachlich, „that some precautions must be made. We cannot drive that near to the headquarters with you, without some checks. At least, we presume that this forest’s anywhere near the headquarters. And therefore, we must assume that they have people out there as well. Accordingly, you must be protected.” Takagi tippte mit seinem Kugelschreiber auf seinem Notizblock, übersäte dabei das weiße Papier mit kleinen blauen Punkten. „Soll ich mit Sato und den beiden Agents telefonieren? Eine Konferenz einberufen?“, fragte er dann dienstfertig. „Bitte, Takagi.“ Sein Chef nickte. „Bis wir die nötigen Vorkehrungen getroffen haben, damit die Sache auch einigermaßen sicher ist für dich und wir nicht gleich wieder eine Situation wie im Krankenhaus haben… müssen wir wohl ein wenig vorarbeiten.“ Er erhob sich, trank seinen Kaffee im Stehen aus. „Wir leiten das mal in die Wege. Und melden uns dann bei dir. Bis dahin… Gute Besserung, Kudô. Danke für den Kaffee und den Tee, Yukiko.“ Meguré reichte ihm unbeholfen die Hand. Shinichi stand langsam auf, ergriff sie, drückte sie kurz, um gleich darauf die Hand Blacks zu ergreifen, der sie ihm wortlos reichte. Takagi nickte ihm zu. Shinichi blieb zurück, während Yukiko die Beamten zur Tür brachte. Langsam sank er zurück auf seinen Stuhl, stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte auf, ließ seinen Kopf in seine Hände sinken, zerzauste sich die Haare. Im Wagen war es zunächst völlig still. Meguré hatte den Motor angelassen, neben ihm saß James Black, zupfte an einer Spitze seines silbernen Schnauzers, während Takagi sein Handy zusammenklappte, mit dem er grad per E-Mail seine Kollegen zusammengetrommelt hatte. Er saß auf der Rückbank, warf einen nachdenklichen Blick zum Haus der Kudôs. „Das ist doch Irrsinn.“, murmelte der Kommissar schließlich in die Stille. „Er weiß, dass da was Großes im Busch ist, er weiß genau, wie dünn das Eis ist, auf dem er sich bewegt, und doch weiß er… nichts mehr…!“ Black ließ seine Hand sinken, langsam, nickte dann bedächtig. „So ist es, mein Freund. Und ich denke, wenn seine Erinnerung zurückkehrt, wird sie ihn niederstrecken, it’ll blow him down, strike him straight in his face, change his world forever and irreversible. Denn ich denke, etwas, das diesen Charakter, dieses Hirn… dazu bringt, zum Schutz seiner selbst alles zu vergessen, muss in der Tat ungeheuerlich sein. Earthshaking, unbearable, unbelievable.“ Damit fuhren sie zurück ins Hauptquartier. Schweigend. Sharon schaute auf, als er ihr Büro, so man es so nennen wollte, betrat. Sie war gerade dabei, ihre Pistole zu säubern, die Teile lagen sorgsam ausgebreitet vor ihr auf einem weichen, fusselfreien Tuch. Sie war eine echte Kennerin ihres Metiers. Vorsichtig legte sie den Lauf ab, sank in den weichen Ledersessel zurück, zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. „Was verschafft mir die Ehre? Und wie geht es silver bullet, nach den Ereignissen des gestrigen Tages?“ Yusaku hatte gerade die Tür hinter sich zu gedrückt, sachte, drehte den Schlüssel im Schloss um, steckte sich dann wortlos eine Zigarette an, ohne ihr eine anzubieten. Langsam und offenbar in Gedanken versunken wanderte er zum Sessel, der ihr gegenüber stand, ließ sich auf die Kante nieder, ehe er auf der Sitzfläche nach hinten rutschte. Sie schlug ein Bein über ihr anderes, eine Geste, die unterstützt durch den fast verboten kurzen Rock, den sie trug, bei jedem anderen Mann ihre Wirkung nicht verfehlt hätte, hob eine Hand vor ihr Gesicht und betrachtete ihre makellos manikürten Finger. „Die Polizei ist in meinem Haus.“, bemerkte er schließlich nüchtern. „Sie befragen Shinichi nach den Ereignissen, über die er nichts mehr weiß. Ehrlich, Sharon… was ist das für eine Farce.“ Er griff sich an die Stirn. „Was hab ich ihm da bloß angetan? Was soll ich machen? Soll ich mich stellen? Aber welche Chance habe ich, mit der Polizei diesen Laden hochzunehmen?“ Er grinste bitter. „Die sind doch nicht blöd… und die haben ihre eigenen Leute in der Polizei, von denen noch nicht mal ich was weiß. Sobald da wer Wind bekommt, was ich mache, ist der ganze Laden hier ausgeflogen und meine Familie tot.“ Missvergnügt schüttelte er den Kopf. „Absinth ist verdammt gerissen. Und momentan weiß ich noch nicht, wie ich dem beikommen kann. Ich…“ Sharon schüttelte ungeduldig den Kopf. „Hör auf zu jammern, Yusaku, das kotzt mich an. Was ist es denn, was du willst? Am allermeisten?!“ Er sah auf, etwas verstimmt. „Meine Familie beschützen.“ „Dann, for heaven’s sake, mach das! Dann mach so weiter, wie du angefangen hast, denn so läuft’s doch gut. Dein Auftritt beim Triumvirat war genau das, was es gebraucht hat, um diesen Eierköpfen mal wieder zu zeigen, wo der Hammer hängt. Sie wissen, dass du nicht zu unterschätzen bist.“ „Ich bin ein Verdächtiger.“ Sharon grinste breit. „Wann warst du das nicht? Aber ehrlich, seit wann bist du so kurzsichtig, und so denkfaul? Was macht man, wenn man verdächtig ist?“ Sie verdrehte die Augen, hob eine Hand, machte sie zur Faust. Dann hob sie ihre andere Hand, bog damit einen Finger der Faust auf. „First and foremost: Alle Beweise vernichten, die einen belangen. Do not leave any traces leading towards you. Second: Alle anderen von der eigenen Unschuld überzeugen. If you are trusted and truthful, there’s no reason, why anyone should doubt your word. Mach dich durchsichtig und nachvollziehbar. Zeig jedem jede Minute deines Tages, lass alle nachvollziehen, was du tust und wo du bist. That’s it. And for the future…“ Sie ließ ihre Hände sinken. „Was diesen verrottenden Apfel betrifft, Yusaku, durch den wir uns wühlen wie Fliegenlarven… unterhalt dich mal mit deinem Sohn, wenn er wieder weiß, was Sache ist.“ Sharon lächelte breit, zeigte ihre perfekten, weißen Zähne. „He’s the silver bullet. And only silver bullets are apt to kill vampires and werewolves… and this castle’s full of both.“ Yusaku zog die Augenbrauen zusammen. „Was zum Henker hast du vor, Sharon? Und vor allem… was hast du mit meinem Sohn vor?“ Sie lächelte, griff wieder nach ihrem Lauf, inspizierte ihn gründlich. „You’ll see when time is ripe. And by the way, have you forgotten…? He’s not your son, anymore.” Sie hob den Blick, sah genau, wie sehr ihn das traf. Er würde, das wusste sie, solange er lebte, nie wieder die Worte vergessen können, die gefallen waren in seinem Büro, vor ein paar Tagen. Sie ließ das kalt; das war sein Leben, nicht ihrs. In ihrem Leben hatte sie ihre eigene Tragödie, sie hatte keine Lust und nicht die Kraft, sich mit den Desastern anderer Leben zu befassen. „Und nun hau ab, ich hab zu tun.“ Yusaku schnaubte, warf ihr einen genervten Blick zu, ging aber, nichtsdestotrotz. Es war früher Nachmittag, als er einbog, in die Auffahrt seines Hauses. Die Polizei war, wie er vermutet hatte, schon weg. Er griff nach der Tüte, die auf dem Beifahrersitz lag; darin befand sich Kuchen, den er noch besorgt hatte, damit er diesmal endlich einen Grund für sein Fernbleiben hatte. Mach dich durchsichtig und nachvollziehbar. Schokoladenkuchen war ein guter Grund. Besonders Schokoladenkuchen aus dieser Patisserie in der Innenstadt, den Yukiko so liebte. Er stieg aus, warf die Tür zu, zielte mit seinem Schlüssel auf sein Auto, um es abzuschließen, während er zur Haustür ging. Er brauchte nicht einmal klingeln, damit sie aufging. In der Tür stand, zu seiner Überraschung, nicht Yukiko, sondern Heiji, der ihn taxierte. Yusaku hob eine Augenbraue. „Herr Kudô.“ Heiji nickte, trat zur Seite. In seiner Hosentasche spürte er den kleinen Emitter in seiner Hand. „Die Polizei ist vor einer halben Stunde gefahren.“, bemerkte er. „Dacht ich mir. Ich schätze, viel geredet wurde ohnehin nicht.“, er seufzte leise. „Hat man ihm den vorgeschlagen, mit ihm zu dem Ort zu fahren, wo der Professor ihn gefunden hat?“ Der Schriftsteller trat ins Haus, stellte die Kuchentüte auf dem Telefontischchen ab, zog sich seine Schuhe aus und nahm seinen Mantel ab, während er in Hauspantoffeln schlüpfte. Er drehte sich um und bemerkte den einigermaßen verdutzten Gesichtsausdruck auf Heijis Zügen, der sich allerdings schnell fasste. „Ja. Nein.“ Er zog die Augenbrauen kraus. „Shinichi sagte, er habe sich an ein paar Details seiner Flucht erinnert, nicht viel… keine Gesichter, keine Namen, kein konkreter Ort. Aber er bat selbst darum, da hin zu fahren. Allerdings wird daraus vor übermorgen nichts, Meguré hat gerade angerufen. Sie kriegen das mit der Sicherheit nicht so schnell hin, nicht bei dem Gelände. Es wird morgen ausgekundschaftet, und die Posten eingerichtet, übermorgen dann…“ Yusaku nickte, schnappte sich die Tüte und ging in die Küche, wo er seine Frau begrüßte, die sich tatsächlich über den Kuchen freute. Heijis Hand, die in seiner Hosentasche gesteckt hatte, war ihm nicht entgangen. Auch nicht die Tatsache, dass der junge Detektiv ihm nicht gleich folgte. Er seufzte, als er mit Yukiko die Kuchenstücke ins Wohnzimmer trug. Heiji verdächtigte ihn wirklich. Zeig jedem jede Minute deines Tages, lass alle nachvollziehen, was du tust und wo du bist. Er mochte wetten, dass entweder an seinem Auto oder irgendwo im Futter seines Mantels nun ein Mikroemitter klebte. Nicht schlecht, Heiji. Aber du vergisst, wessen Vater ich bin. Yusaku würde auf der Hut sein. Kapitel 35: Kapitel 17: Feind und Freund ---------------------------------------- Tja, viel gibts heute nicht zu sagen... Viel Spaß beim Lesen! Eure Leira ___________________________________________________ Kapitel Siebzehn: Feind und Freund In Absinth kochte es. Kochte es seit jenem Abend, als er sie alle düpiert hatte. Absinth hasste es, düpiert zu werden. Gedemütigt zu werden. Er hasste es, wenn man ihn auflaufen ließ, wenn man ihm seine Fehler aufzählte, wenn man ihm sein Versagen vor Augen führte, ihn wie eine Puppe tanzen ließ. Absinth war keine Puppe. Er liebte es viel mehr, der Puppenspieler zu sein – der große Meister, der seine Marionetten an langen Fäden tanzen ließ. Manche merkten, wessen Püppchen sie waren, doch ändern konnten sie es nicht – nie hatte es einer geschafft, den unsichtbaren Faden zu durchtrennen, egal wie sehr er daran ziehen, zerren, reißen oder auch schneiden mochte. Die meisten jedoch… die meisten merkten es nicht, gehorchten stumm und ohne es zu merken den Befehlen Absinths, und dachten doch, sie handelten aus eigenem Antrieb. Ihr Narren. Sie waren ihm die Liebsten; aber diesmal schien er die Puppe zu sein. Und nun galt es, diesen Faden schleunigst zu kappen. Absinths Augen verengten sich, als er nachdachte. Er saß in seinem Büro, einen großen, geräumigen Zimmer, wenn auch nicht so groß und geräumig und edel ausgestattet wie das des Bosses. Cognacs Büro war eines Königs würdig, mit dunklem Marmor, Kristallglaslampen und kostbaren Stoffen auf Edelholzmöbeln, Lackarbeiten, antiken Wandschirmen mit Kranichen und Bambus, nach denen sich jedes Museum hier die Finger lecken würde. Sein Büro war immerhin teuer tapeziert, hatte weißen Marmor auf dem Boden, und an manchen Stellen eine sündhaft teure Mahagonivertäfelung, die extravagante Kontraste setzte zum Champagnerton der Tapete. Vor ihm stand ein Kännchen Mocca, daneben eine teure Flasche Bourbon. Genüsslich schenkte er sich eine kleine Tasse ein, verfeinerte sie mit dem Whiskey, rührte kurz um und nahm einen Schluck, nein, ein Schlückchen. Diese Art Kaffee schüttete man nicht in sich hinein wie billigen Espresso zum Wachwerden. Er zelebrierte seinen Irish Coffee, oder zumindest seine Version eines Irish Coffee, und dachte nach, wie er sich rächen konnte, für diese Schande. Er konnte ihn so nicht durchkommen lassen. Das machst du nicht mit mir, Kudô. Er wusste, an Yukiko Kudô kam er nicht ran, zumindest momentan nicht. Überhaupt, wenn ihr etwas zustieß und man es ihnen nachweisen konnte, dann waren sie dran… dann waren sie per Vertrag kündbar, und auch wenn die Organisation ihre dunklen Geschäfte führte, so war sie, allein bedingt durch ihre Größe, geführt wie eine Firma, mit entsprechenden Strukturen und Verträgen. Anders könnte sich so ein System nicht tragen. Es brauchte Regeln und Gesetze und eine klare Hierarchie, nach der alles funktionierte. Er lächelte bitter, kam nicht umhin, ein irres Vergnügen zu empfinden, darüber, wie ironisch diese Situation doch war. Der, der diesen Laden einst aufgezogen hatte, war ein echter Zyniker gewesen, wie es aussah. Einen bis ins Mark von illegalen und kriminellen Geschäften durchzogenen Verein als Firma einzutragen und für jeden Angestellten einen Vertrag aufzusetzen – für jeden Buchhalter, der ihre Geschäftsbücher frisierte, zusammen mit der ganzen Anwaltschaft, die sich um sie scharte und auf ihrer Gehaltsliste stand… das war Sarkasmus pur. Und er fragte sich seit jeher, wie das alles funktionierte - aber das tat es. Angst und Geld ergaben eine mächtige Kombination. Angst und Geld waren der Kleister, der diesen Laden hier vorzüglich zusammenhielt. Es stand natürlich nirgendwo geschrieben, dass der Mord an Yukiko Kudô per se ein Kündigungsgrund war… aber „ein Bruch mündlicher oder schriftlicher Vereinbarungen, der nachweisbar begangen wurde, ist ein Grund für eine fristlose und abfindungsfreie Auflösung des Arbeitsverhältnisses.“ Absinth zog die Augenbrauen hoch. Und für seine Liquidation. Was für eine Absurdität war das. Aber gut. Es ging auch anders. Yukiko schied aus, genauso wie Shinichi, aus Gründen, die ihr lieber El Cheffe aufgeführt hatte, an jenem Abend, als er geglaubt hatte, sie mal wieder wie Ameisen unter seiner Schuhsohle zerquetschen zu müssen. Allerdings war da noch dieses Mädchen. Und wenn aufgrund der Tatsache, dass sie sich in Ihren Räumlichkeiten hier aufhielt, sich ein gewisser Möchtegerndetektiv dazu verpflichtet fühlte, ihnen ebenfalls einen Besuch abzustatten… dafür konnten sie ja nichts. Man würde ihn mit offenen Armen willkommen heißen… und weder ihn noch sie jemals wieder gehen lassen, so gern hatte man sie hier. Egal ob tot oder lebendig. Er lächelte, drückte auf den Türöffner, als ein leiser Klingelton ihm verkündete, dass seine Mitstreiter angekommen waren, zusammen mit Gin. Beaujolais hatte ihren Namen herausgefunden. Das war nicht schwer gewesen, nachdem sie ja ihren Vornamen mitgehört hatte, bei jenem schicksalsträchtigen Telefonat, das den ersten Spatenstich für Shinichi Kudôs Grab darstellte; sie hatte nur nach einem Mädchen suchen müssen, mit Vornamen Ran, das mit Shinichi Kudô eine Klasse in der Teitan Oberschule besucht hatte. Die Auswahl war denkbar klein gewesen. Er starrte auf das Foto, das vor ihm auf dem Bildschirm flackerte. Ein junges Ding im Karateoutfit, strahlend lächelnd und mit einem Pokal in den Händen. Ran Môri. Die Tochter des schlafenden Kogorô, wie schön. Wenigstens eine Sache, die diese Schnepfe gut gemacht hat, nach dem Desaster gestern. Lässt ihn da einfach unter ihrer Nase hinausfahren in die Freiheit - ihn und Sherry! Wie dumm muss man sein… Wie entsetzlich dumm. Er nahm noch einen Schluck von seinem Mokka, rieb sich die Schläfen, hörte Schritte, die sich nun näherten, und seine Vorzimmerdame, die die Besucher begrüßte und aufstand, um sie anzukündigen. Kurz darauf ging die Tür auf, und sie streckte ihren Kopf herein. Er winkte nur unwirsch, ließ sie nicht zu Wort kommen. Gin würde sie hierher bringen. Er, dessen war er sich sicher, würde ihrer Einladung von alleine folgen, wenn er die Mitteilung erhielt, wer sie hatte und wo sie war… und was mit ihr passieren würde, wenn er irgendeiner Menschenseele davon erzählte. Egal ob mit oder ohne Gedächtnis, er zweifelte nicht daran, dass Shinichi Kudô dieses Mädchen liebte. Und sich immer noch verpflichtet genug dafür fühlte, sie nicht im Stich zu lassen, auch wenn er vergessen hatte, wer sie war. Und angesichts der Tatsache, dass der Wald bereits von Polizisten wimmelte, ahnte er auch schon, wann eine gute Gelegenheit sein würde, die junge Dame aufzugabeln. Wenn sie ihn wirklich hierher bringen, um seine Spur zurückzuverfolgen, dann wird sie ihn sicher nicht allein lassen. Sicher nicht, nie wieder, damit sie ihn nicht noch einmal verliert. Dabei wird sie es sein, die verloren geht… Und dann… „Also, der Boss ist jemand, den ich kenne? Seh ich das richtig?“ Shinichi schob sich gedankenverloren ein Stück Kuchen in den Mund, wandte dabei seine Augen nicht von Heiji. Er musste zugeben, der Gedanke daran, mit dem Chef der wohl größten Verbrecherorganisation Japans neben der Yakuza derart vertraut zu sein, verursachte in ihm ein Gefühl, dass nahe dran war, ihn dazu zu bringen, seinen Kuchen wieder hochzuwürgen. Er ließ es. Allein schon weil der Schokoladenkuchen köstlich schmeckte. Allerdings gab es auch noch einen anderen Grund dafür. Auch wenn das alles sehr beunruhigend klang… so bedeutete diese Tatsache doch auch eines: egal wie böse dieser Mensch war, egal wie grausam und skrupellos anderen gegenüber; er selbst war ihm anscheinend so wichtig, dass er ihn um jeden Preis beschützen wollte. Irgendwie. Auch wenn das mit dem Beschützen wohl eher nach hinten losgegangen war und seine Probleme ganz und gar nicht löste. Besser für mich als gegen mich, nicht wahr? Aber wer… Wer ist er? Dennoch; neben der Tatsache, dass unter Umständen der Staatsfeind Nummer eins mit ihm unter einem Dach oder in unmittelbarer Nachbarschaft hauste, brachte ihn das Ganze in ein Dilemma ganz anderer Natur. Wenn der Boss jemand war, der ihm nahe stand, dem er selbst offenbar blind vertraut hatte… Dann war das jemand, den er sehr mochte. Den er wohl schon seit Jahren kannte, vielleicht sein ganzes Leben lang. An dem er hing, und dessen wahre Identität ihm wohl den Boden unter den Füßen weggerissen hatte. Er schluckte, merkte, wie sich der Kuchen in seinem Mund auf einmal unerwartet trocken anfühlte, nahm seine Kaffeetasse, spülte den Bissen runter, schluckte schwer. War das der Grund für mein Vergessen? Konnte mich das so schockieren? Oder war es doch eher das Trauma dieser Flucht, das aus mir jegliche Erinnerung rausgeprügelt hat… Der Sturz vom Baum, der Blutverlust… das war bestimmt nicht ohne. Was sollte er tun, wenn er sich daran erinnerte? Könnte er einfach einen Freund, einen Verwandten, vielleicht… hinhängen? Der Mann, wer auch immer er war, hatte offenbar genug Dreck am Stecken, um die Todesstrafe zu verdienen. Wollte er das? Ich unterzeichne sein Todesurteil, wenn mir wieder einfällt, wer er ist… und dann auspacke. Ich wäre sein Richter, sein Henker. Schuld am Tod durch Hinrichtung eines guten Freundes oder Verwandten. Er stöhnte auf, leise. Ran sah ihn beunruhigt an. „Alles in Ordnung?“ Ein leicht zynisches Lächeln huschte über seine Lippen, verschwand so schnell, wie es gekommen war. „Nein, irgendwie wohl nicht. Aber das muss dich nicht kümmern, Ran.“ Sie seufzte, zog ihre Stirn kraus. „Ja, das sagst du immer.“ Ein missvergnügter Unterton war in ihrer Stimme zu hören. „Wie-…“ Sie winkte ab, verschränkte ihre Arme vor der Brust, schüttelte dann den Kopf. „Entschuldige, ich wollte nicht bohren. Ich weiß es ja eigentlich besser.“ Sie wandte ihm ihren Kopf zu lächelte dann. Shinichi versuchte, ihr Lächeln zu erwidern. Es blieb beim Versuch. Heiji sah den beiden etwas verdutzt zu, hob dann die Gabel, um die Aufmerksamkeit seines Freundes wieder auf sich zu ziehen. „Leute! Ich dacht‘, wir reden über ernste Themen. Turteln könnt ihr später.“ Kazuha gab ihm mit dem Ellenbogen einen Stoß in die Seite, der ihn dazu brachte, seinen Kuchen quer über den Tisch zu spucken. Er hustete Tränen, warf ihr einen bitterbösen Blick zu, fragte sich dennoch, warum Kazuha so reagiert hatte. Während er noch um Atem rang, stand Ran auf, um einen Lappen zu holen. Kazuha folgte ihr, um ihr zu helfen. Shinichi erhob sich und klopfte Heiji auf den Rücken, bis der wieder einigermaßen Luft holen konnte. „Sag mal, kannst du dir erklären, warum Kazuha…“, fragte Heiji unwirsch, schaute seinen Freund an, ohne eine Antwort zu erwarten und stutzte umso mehr, als der Angesprochene seinem Blick auswich. „Kudô?“ Heiji sah ihn an, abwartend. Shinichi setzte sich wieder ihm gegenüber, warf einen kurzen Blick zur Küche; die Mädchen suchten wohl immer noch nach den Putzlappen. Da er sich momentan hier auch nicht auskannte, würde er da auch keine große Hilfe sein können. Er kratzte sich nervös am Hinterkopf, beugte sich vor, langsam. Eigentlich wär er lieber abgehauen, jetzt; er konnte sich nicht vorstellen, dass es etwas brachte, mit Heiji darüber zu reden. Andererseits… offenbar wusste Kazuha bereits, was Sache war. Wahrscheinlich würde Heiji es dann so oder so bald wissen, da konnte er auch gleich selbst die Katze aus dem Sack lassen, so schwer es ihm auch fiel. Er räusperte sich, merkte, dass ihm die Sache doch unangenehm war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er jemand war, der gern über Liebesdinge mit anderen redete, aber gut. Diesmal kam er wohl nicht davon. „Du… du weißt, dass ich gestern… bei den Môris übernachtet hab.“, begann er also zögernd. „Auf… auf der Couch.“, fügte er rasch an. Heiji seufzte. „Jaaaahhh…“ Er hob eine Augenbraue. „Un‘ weiter?“ Shinichi schluckte schwer. „Ich denke… ich weiß nicht, ob…“ Der Detektiv des Westens verdrehte die Augen. „Kudô, wir sind Freunde, mir kannstes sagen. Was auch immer es is, so wie Kazuha reagiert hat, hat Ran es ihr wohl gesagt. Mich allein unwissend zu lassen wär etwas unfair, abgesehen davon, dass ich dann gnadenlos weiter in jedes Fettnäpfchen trete, das hier rumsteht.“ Shinichi fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, merkte, dass seine Finger eiskalt geworden waren. „Ja, das dachte ich mir.“, murmelte Shinichi sarkastisch, warf Heiji einen genervten Blick zu. „Seid ihr eigentlich ein Paar, du und Kazuha? Ihr…“ „Nein!“ Heiji hob abwehrend die Hände. „Bloß nich`, wie kommste darauf, wir…“ „… benehmt euch wie eins.“ „Du lenkst ab.“ Heiji ließ sich zurücksinken, verschränkte die Hände vor der Brust, blickte Shinichi stur an. „Jetzt schieß endlich los. Es wird nich‘ besser, wenn du länger wartest.“ Shinichi atmete leise aus, pustete dabei einen Krümel über die Tischplatte, betrachtete seine Finger. „Ich konnt‘ nicht schlafen, nach der ganzen Sache gestern.“ „Hm.“, grummelte Heiji zum Zeichen, dass er zuhörte. „Zuerst der Überfall im Krankenhaus, dann dieses Horrorszenario mit Shiho, und… keine Schmerzmittel…“ Er lächelte bitter. „Ich hatte Kopfweh, und meine Schussverletzung schmerzte. Ich bin in die Küche, deshalb. Um was zu trinken, und mir… irgendwas für meinen Kopf zu suchen, ich dachte, er platzt, echt.“ Heiji stützte seinen Kopf in seine Hände. „Lass mich raten. Ran hat dich da gefunden.“ Shinichi nickte. „Ja. Und gefragt, was ich hier mach, ich meine… das wunderte mich nicht, es ist eigentlich klar, ich sollte ja im Krankenhaus sein. Also hab ich‘s ihr gesagt. Und sie hat sich vorgestellt, wer sie ist, und… äh.“ Er merkte, wie sein Hals zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten abscheulich trocken wurde. Er griff nach seiner Kaffeetasse, bemerkte, dass sie leer war, fluchte. Dann warf er nochmal einen Blick in die Küche, ehe er eilig fortfuhr, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Sie hat’s mir gesagt. Sie sagt, sie hätte es mir schon an dem Tag, bevor ich entführt wurde, gesagt. Dass… dass… nun, du weißt schon, was…“ Heiji begann zu grinsen. „Nein, weiß ich nich‘. Klär mich auf.“ Shinichi schaute ihn genervt an, merkte, wie ihm die Hitze immer mehr ins Gesicht stieg. „Das machst du mit Absicht! Du weißt doch, wovon…“ „Was mach ich mit Absicht?“, unterbrach ihn Heiji; sein Grinsen wurde immer breiter. Shinichi lehnte sich zurück, warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. „Idiot. Ich muss dir eigentlich gar nichts sagen.“ Er atmete langsam aus, schluckte erneut. „Sie sagte, sie hätte mir gesagt, dass sie mich… dass sie mich… mich…“ Heiji lächelte jetzt. „Liebt, heißt das Wort, Kudô.“ „Das weiß ich selber.“ Shinichi winkte unwirsch mit der Hand, als verscheuche er eine Fliege. „Nun, wie du dir vorstellen kannst, angesichts der Tatsache, dass ich null Ahnung von nix hab, war ich ziemlich… platt…“ Er schaute etwas beschämt zu Boden. „Aber du hättest sie sehen sollen, Heiji. Und ich, na…“ Das Lächeln auf Heijis Lippen war auf einmal verschwunden, wich einem ersten Gesichtsausdruck. „Du liebstse auch. Das weißt du, nich‘ wahr?“ Shinichi nickte nur noch, schwach. „Hastes ihr gesagt?“ „Ja.“ Heiji schüttelt den Kopf, einigermaßen verständnislos. „Warum benehmt ihr euch dann so? Ich meine… ihr müsstet die glücklichsten Menschen der Welt sein, abgesehen, von…“ Shinichi verzog das Gesicht. „Irgendwie… es war einfach alles zu viel gestern, und sie…“ Ein leises Stöhnen entwich seinen Lippen, als er angestrengt nach Worten suchte. „Du weißt nicht, wie das ist, wenn man nichts mehr weiß. Man ist froh um alles, was noch da ist, auch um ein Gefühl, dass man sich nicht erklären kann. Und deshalb…“ Shinichi ließ seinen Blick ins Leere schweifen. „Deshalb hab ich ihr gesagt, was Sache ist. Es… tat gut, zu wissen, dass man eine Sache noch hat, eine Verbindung zu einem Menschen, die man tatsächlich spürt…“ Heiji ließ sich ebenfalls zurücksinken. „Und du spürst se? Diese… Verbindung?“ Das Geräusch von zuschlagenden Türen und gefrusteter Mädchenstimmen klang an ihre Ohren. „Verdammt, die müss‘n doch mal putz‘n? Du warst hier doch schon, oder?“ „Ich hab meine Putzsachen immer selber mitgebracht…“ Ran klang etwas kleinlaut. „Was, du bist hier zum Putzen hergekommen?! Freiwillig?“ Unglaube schwang deutlich hörbar in Kazuhas Stimme. Heiji fing wieder zu grinsen an. Shinichi wurde noch roter, vergrub sein Gesicht in seinen Händen, atmete schnaufend aus. „Ja… ich meine, als Shinichi nicht da war, und das Haus unbewohnt, da musste es doch jemand sauber machen…“, verteidigte Ran sich. „Ich meine…“ Shinichi fuhr sich mit einer hilflos wirkenden Geste übers Gesicht. Im Hintergrund hörten sie die Stimmen leiser werden. Offenbar durchsuchten sie den nächsten Raum nach Putzutensilien. „Verdammt, sie macht mein Haus sauber, wenn ich nicht da bin?!“ Er schaute Heiji verständnislos an. „Guck‘ nich‘ mich so an. Und lenk nich‘ ab. Also… diese… Verbindung?“ Sein Grinsen schien fast von einem Ohr zum anderen zu reichen. Der Blick des gedächtnislosen Detektivs glitt zur Tür, diesmal nicht, um sich zu vergewissern, dass keiner zuhörte. Ran… Dann nickte er. „Ja.“ Heiji zog an einer Kappe, pfiff leise durch die Zähne. „Und du bist dir sicher, dass du nich‘… du hast keine Erinnerung an sie?“ Shinichi schüttelte den Kopf, ein Ausdruck von Verzweiflung trat auf sein Gesicht. „Nicht die leiseste. Ich wusste nicht ihren Namen, wusste nicht, wie sie aussieht. Kenne ihre Geschichte nicht, und nicht die Geschichte unserer Freundschaft. Weiß nicht wann sie Geburtstag hat, was ihre Lieblingsfarbe ist, was sie am liebsten isst. Aber da ist etwas, das ich nicht leugnen kann, seit ich sie gesehen hab, gestern. Mir wurde schlagartig so klar, warum ich das alles gemacht hab, und ich weiß, auch wenn es schrecklich gewesen sein muss, was mir passiert ist… ich würds wieder tun, unbesehen.“ Er starrte ihn an, in seinen Augen blanke Verständnislosigkeit. „Kannst du dir das vorstellen? Ich meine…“ Als er sprach, senkte er seine Stimme. „…das ist es eben, Heiji. Das ist es. Ich… ich liebe sie. Ich kann… irgendwie nachvollziehen, warum, und warum ich das alles gemacht habe. Aber ich hab keine Erinnerung an sie. An unser Verhältnis vorher. Ich weiß nicht, ob das, was ich jetzt fühle, bleibt, wenn ich mich wieder erinnere, vielleicht hab ich unsere Freundschaft zerstört, gestern Nacht, als ich… nachgegeben hab, und… ich… ich weiß jetzt nicht…“ Heiji verschränkte seine Arme ebenfalls vor der Brust, warf seinem Freund einen beruhigenden Blick zu. „Also erstens kann ich dir versichern, dass du hoffnungslos in dieses Mädel verschossen bist, schon seit du dich erinnern kannst.“ Er grinste kurz. „Und zweitens, wenn sonst nichts passiert ist, außer ein paar Worte spätabends…“ Shinichi schaute nicht auf, als er sprach. Sein Atem kam ihm auf einmal verräterisch laut vor, und er hoffte, dass man ihm die Hitze, die ihm zu Kopfe stieg, nicht sah. „Wir haben uns geküsst.“ Heiji ächzte, schluckte dann, rieb sich an der Nase, unbewusst. „Okay. Jetzt versteh ich dein Problem…“ „Welches Problem?“, fragte Kazuha, kam mit einem nassen Lappen zur Tür herein, hinter ihr ging Ran, warf den beiden Jungen einen fragenden Blick zu. Shinichi kam ihr bedrückt vor, wie den ganzen Tag schon. Heijis Miene war ernst, gesetzt, etwas, das man kaum an ihm sah. Allerdings änderte sich das jetzt, als er einen genervten Gesichtsausdruck aufsetzte. „Welches Problem wohl, Nervensäge. Er hat kein Gedächtnis mehr, man möchte meinen, das allein wär Problem genug…“ Als Antwort klatschte ihm der nasse Lappen ins Gesicht. Er zog ihn wütend ab, prustete, wischte dann unter vernehmlichem Gemotze den Tisch sauber, wobei er Shinichi einen schnellen Blick zuwarf. Er sah immer noch bekümmert aus, und Heiji war sich sicher, auch wenn Ran Kazuha davon erzählt hatte, und das alles kein Geheimnis war… seine Gefühle und seine Beziehung zu Ran, waren bestimmt nichts, dass der Kerl jetzt gern unter acht Augen erörtert hätte. Du musst ganz von vorn anfangen, Kudô. Nicht nur mit ihr. Mit uns allen. Heiji seufzte. So wie Shinichi aussah, war ihm das bewusst. Nach diesem Gespräch blieben sie nicht mehr lange; Kazuha ging zum Professor, wo sie mit Heiji dessen Gästezimmer bewohnte, während Heiji sich aufmachte, zum Ermittlungstrupp zu stoßen. Die beiden verabschiedeten sich kurz, und ließen Shinichi und Ran allein. Unschlüssig hatte er die Tür hinter seinen beiden Freunden aus Osaka geschlossen, wandte sich um. Ran stand hinter ihm, sah ihn fragend an. „Was jetzt?“, murmelte sie. In ihrem Gesicht stand ein Fragezeichen, unübersehbar, und er wusste, wie die Frage lautete, ehe sie sie etwas diplomatischer formuliert, als er sie in seinem Kopf hatte, aussprach. „Ist es dir lieber, wenn ich auch gehe? Willst du allein sein?“ Shinichi lehnte sich gegen die Tür, spürte das harte Holz in seinem Rücken, unter seinen Fingerkuppen, starrte auf den gefliesten Boden, als könne er im Mosaikmuster eine Antwort herauslesen. „Ich weiß nicht, Ran. Ich…“ Er schluckte, kniff die Lippen zusammen, warf kurz einen Blick durch die Eingangshalle. Selbst in seinen Ohren hörten sich seine Worte lauwarm an, und er wusste ganz genau, dass mit ewiger Unsicherheit keinem geholfen war. Ihr nicht… und ihm auch nicht. Und so stieß er sich von der Tür ab, nahm sie dann bei der Hand, zog sie die Treppe hinauf, in sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich. Tief atmete er ein, und wieder aus, las in ihrem Gesicht ihre Überraschung. Dann führte er sie zum Bett, wobei sie über seine Sachen steigen mussten, und ließ sie sich setzen, nahm neben ihr Platz. Er sah ihr Erstaunen über die Verwüstung seines Zimmers, aber sie stellte keine Fragen. Sie konnte sich vorstellen, wozu das ganze dienen sollte, schließlich war sie ja selbst schon so weit gewesen, sich ihr Leben aus Fundstücken und Relikten rekonstruieren zu müssen. „Hör zu, ich… sag das nicht gern, und will einfache Dinge nicht unnötig kompliziert machen, aber Ran, ich… ich denke, wir müssen reden.“ Er lächelte hilflos, sah sie dabei nicht an. Ran seufzte leise, verknetete ihre Hände. „Gestern war zu schnell.“, bemerkte sie dann leise. Versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken; einerseits hatte sie Angst vor diesem Gespräch, andererseits war sie froh, dass er reden wollte. Dass sie redeten, überhaupt. Er seufzte, nickte langsam. „Ja.“ Zögernd wandte er sich ihr zu. „Irgendwie schon. Nicht, dass… dass es… unangenehm gewesen wäre.“ Er wurde rot. Sie lächelte, merkte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Und ich habe… hab meine Meinung auch nicht geändert, über Nacht. Ich… ich liebe dich. Immer noch. Aus Gründen, die ich nicht kenne…“ Sie sah, wie er schluckte. „Aber ich bin heute ehrlich ratlos. Ich weiß nicht, was ich tun soll, weil ich nicht weiß, was wir sonst so getan haben. Ich weiß nicht, wie wir als Freunde miteinander umgegangen sind, deshalb weiß ich nicht, wie ich mich als… Freund… dir gegenüber verhalten soll. Eine Beziehung ist eigentlich doch eine Steigerung von Freundschaft… aber ich hab diesen Grund nicht, auf dem du aber stehst. Ich muss dich von vorne kennenlernen, so wie ich bei allen von Null anfangen muss, und deshalb…“ Sie legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen, lehnte dann ihre Stirn gegen seine. „Ich weiß.“, wisperte sie. Ein Zittern lief durch ihren Körper, als sie spürte, wie stockend sein Atem war. „Genau das beschäftigt mich seit heute Morgen auch…“ Er biss sich auf die Lippen, nahm ihre Hand in seine. „Ich meine, du stehst nicht bei null, wie ich. Was ist, wenn ich eine ganz andere Ran kennenlerne, als die, die ich… in Erinnerung haben sollte? Was ist…“ Ran hielt ihm den Mund zu. Er zog ihre Hand weg, rückte ein wenig von ihr ab. „Nein, Ran, wir müssen das durchdenken.“ Shinichi sah sie fest an. „Ich bin nicht der, in den du dich verliebt hast. Das muss dir klar sein! Was ist, wenn ich nie wieder derjenige werde? Du lernst mich von einer Seite kennen, die nie jemand gesehen hat an mir. Die nicht mal ich kenne. Ein gänzlich unbeschriebenes Blatt, beinahe. Ran… wie kannst du dir sicher sein, dass das alles funktioniert? Was machen wir, wenn nicht? Wir hätten bestimmt Freunde werden können, aber… ein Paar? Da gehört so viel mehr dazu, und enttäuschte Erwartungen können…“ Sie starrte ihn an, merkte, wie sich ihr Magen in ihrem Bauch zu einem kleinen harten Ball zu formen schien. „Wenn wir es nicht versuchen, nicht einfach von Null anfangen, uns neu kennenlernen, wie willst du das dann wissen?“ „Das kann ich nicht.“, gab er zu, seufzte. „Dazu fehlt mir das berühmte Dritte Auge.“ Ein mattes Lächeln huschte über seine Lippen. Sie hatten den Zynismus in seiner Stimme deutlich gehört. Ran nahm sein Gesicht in ihre Hände, zwang ihn, sie anzusehen. Er gab dem sanften Druck ihre Hand nach, merkte, wie das Gefühl von gestern zurückkehrte, dieses einmalige, wundervolle Gefühl… Dieses Gefühl, das er gestern hatte spüren dürfen, an das er heute im Auto gedacht hatte, das ihn nicht losließ, nach dem er sich so sehnte. Weil es ihm guttat. Er hoffte nur, er tat ihr genauso gut. „Dann lass es uns probieren.“ Sie seufzte, strich ihm über die Schläfe, versuchte ein Lächeln. „Wir sind gestern schon zu weit gegangen, als es nochmal gänzlich zu vergessen…“ Ich will doch. Ich will. Ich will… Er merkte, wie er langsam nickte. Fühlte, wie sich seine Mundwinkel nach oben zogen zu einem Lächeln; einem schiefen zwar, aber es war ein echtes Lächeln. „Nun denn, Ran Môri“, murmelte er dann leise, „leg los, wenn du’s unbedingt wissen willst. Wer zum Henker bist du eigentlich?!“ Sie lachte auf, schlug ihm vor die Brust. „Ran Môri, achtzehn Jahre alt, und Karate-Stadtmeisterin.“ Sie grinste. „Uh.“, machte Shinichi. „Jetzt hab ich aber Angst.“ „Solltest du auch. Ich leg dich im Handumdrehen um.“ „Soso.“ „Jap.“ Sie nickte, ließ sich nach hinten sinken, gegen ein Kissen, spürte, wie er es ihr gleichtat. Zögernd griff sie nach seiner Hand, sah ihn kurz an. Dann starrte sie an die Decke, auf die die Nachmittagssonne goldene Muster streute. „Wir kennen uns, seit wir ganz klein sind, Shinichi. Wir hingen immer miteinander rum. Meine Mum war eine Zeitlang gar nicht begeistert von dir, denn immer wenn ich mit dir spielen war, kam ich starr vor Dreck wieder heim.“ Sie kicherte. Er folgte ihrem Blick an die Decke, lächelte. „In der Oberschule dann… kamen wir in eine Klasse. Du sitzt hinter mir. Immer schon. Ich sitz mit Sonoko vor dir.“ „Sonoko?“, murmelte er fragend. „Sonoko Suzuki. Meine beste Freundin, du wirst sie sicher bald kennenlernen.“ Sie wandte sich ihm zu, drehte sich auf die Seite, atmete den Duft frisch gewaschener Bettwäsche ein. „Mag ich sie denn?“ „Sie nervt dich ein wenig.“ Stille entstand, als sie kurz nachdachte. „Du warst immer schon so intelligent. Und ein echter Detektiv.“ Ein leises Seufzen entwich ihren Lippen, sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Er starrte an die Decke, sah den Lichtern zu, die sich sacht bewegten, weil ein leiser Wind durch die Gardinen fuhr. „Du hast mir immer geholfen. Immer. Auf dich konnte ich mich stets verlassen…“ „Bis Conan kam.“, murmelte er tonlos. Ihr Gesichtsausdruck wurde ernst, dann schüttelte sie den Kopf, setzte sich auf, sah ihm ins Gesicht. „Nein. Du… hast mich nicht im Stich gelassen. Auch als Conan nicht. Du warst… da für mich, auf eine andere Weise zwar, aber…“ „Wie kannst du das nur schönreden?!“ Seine Stimme hatte ungehalten geklungen. Ran schreckte hoch, sah, wie er sich hochstemmte, kurz das Gesicht verzog, als er einen kurzen Stich in seiner Seite spürte, und sie dann fast ein wenig wütend anstarrte. „Verdammt, Ran. Nachdem, was ich jetzt weiß, hab ich dich dreist angelogen. Über Jahre. Ich hab dich ausgenutzt, hab bei dir gewohnt, mich von dir bemuttern lassen, es zugelassen, dass du dich um mich kümmerst, und mir vertraust, und ich hab das wohl alles fein genossen. Sowohl Conan als auch Shinichi haben das ausgenutzt. Und so, verdammt nochmal, benimmt sich kein Freund! Weißt du, wann ich dir das denn je erzählt hätte? Ich kann’s dir nicht sagen, ich weiß es nicht, aber offenbar nicht allzu bald. Du solltest mich hassen deswegen. So wie du von mir redest, bin ich ein Heiliger. Das bin ich nicht… so viel weiß ich sogar noch selber.“ Seine Stimme klang bitter, als er sprach. Ran schluckte, merkte wie ihr Tränen in die Augen stiegen. „Du hast mir, egal in welcher Form auch immer, stets geholfen.“ Sie sah, wie er erneut ansetzte. „Nein!“ Er spürte ihre Finger auf seinem Mund. „Es stimmt. Du hast mich angelogen, betrogen, ausgenutzt. Und ich bin davon nicht erbaut.“, zischte sie dann. „Aber du hast das nicht getan, weil es dir Spaß macht. Du magst kein Heiliger sein, aber du bist ein verdammter Moralapostel, dir geht nichts über Wahrheit und Gerechtigkeit, außer vielleicht eine Sache, wie ich gelernt habe… wie ich schmerzhaft lernen musste.“ Sie ließ ihre Hand sinken. „Mein Leben, Dummkopf.“ Ran hörte ihn schnauben. „Ohne Grund oder gar zum Spaß hättest du das nie gemacht. Und wäre das der Fall, Shinichi, das darfst du mir glauben, dann säße ich nicht hier. Dann wärst du wahrhaftig gestorben für mich.“ Sie starrte ihre Füße an, bohrte ihre Zehen in den weichen Teppich vor dem Bett. In ihr wühlte es. „Aber weil du das nicht getan hast, weil deine Taten immer einen anderen Zweck hatten, als Spaß, Schadenfreude oder pure Gedankenlosigkeit, weil deine Lügen nie ohne Grund geschehen sind, deshalb bin ich hier, deshalb will ich dir helfen, deshalb…“ Sie starrte ihn an. Er starrte zurück, schluckte. Sah eine Träne aus ihrem Auge perlen, kniff die Lippen zusammen, hob dann eine Hand, strich sie vorsichtig weg. Sie schloss die Augen, genoss die Berührung. „So leicht solltest du mir dennoch nicht verzeihen“, wisperte er. „Wir reden darüber, wenn du dich wieder erinnerst, Sherlock.“ Sie versuchte ein Lächeln. „Du sollst doch eine faire Chance haben, dich zu verteidigen. Und damit du dich bald wieder erinnerst, schlage ich vor, reden wir mal darüber… über den Detektiv Shinichi Kudô. Den Retter der japanischen Polizei.“ Er verdrehte die Augen. „Sag mir bitte, dass dir das gerade eben eingefallen ist…“ „Nein, das stand schon auf Titelseiten der Tokioter Tageszeitungen.“ Sie sah das Entsetzen auf seinem Gesicht und lachte. „Nicht dein Ernst.“ „Doooch.“, sie nickte. „Der Sherlock Holmes der Heisei-Ära.“ „Fürchterlich.“ Sie starrte ihn an, lächelte immer noch, merkte jedoch, wie sie bereits jetzt eine kleine Wahrheit piekte, eine Veränderung an ihm bemerkbar wurde, die, wie sie vermutete, von Dauer sein würde. Der Shinichi von früher war begeistert von solchen Schlagzeilen. Dieser hier ist es nicht… und ich schätze, er wird es auch nie wieder sein. Er hat Recht. Er ist nicht mehr der, in den ich mich verliebt habe. Aber… Unwillkürlich biss sie sich auf die Lippen. „Dein erster Fall…“, begann sie langsam. Shinichi stutzte, dann drehte er sich ebenfalls auf die Seite, wandte sich ihr zu, sah ihr ins Gesicht. „Ich war also wirklich ein Detektiv?“ „Oberschülerdetektiv, aber ja. Ein echter Detektiv. Du hast echte Kriminalfälle gelöst, mit echten Kriminellen, echten Morden, Entführungen, und mit der Polizei zusammengearbeitet. Du kamst groß raus, Shinichi. Ganz Tokio kennt dich, und darüber hinaus. Heiji kam nur deinetwegen hierher. Er wollte wissen, ob du’s mit ihm aufnehmen kannst. Ich denke nicht, dass er damals schon plante, sich derart gut mit dir anzufreunden.“ Sie lächelte kurz. „Dein erster Fall, um darauf zurückzukommen. Er spielte auf einem Flugzeug, wir waren knappe sechzehn Jahre alt und auf dem Weg zu deinen Eltern. Klingelt da was bei dir?“ Kazuha rührte gewissenhaft die Suppe um, in die Ai gerade kleingeschnittene Frühlingszwiebeln schüttete. Das Mädchen kam ihr seltsam vor, auch jetzt, nachdem sie wusste, wer Ai wirklich war. Mittlerweile hatte Heiji sie vollkommen ins Bild gesetzt, als er wieder zurückgekehrt war, aus der Polizeizentrale. Nachdem sie heute Nachmittag von Ran ja schon die Eckdaten erfahren hatte, hatte er lediglich noch die restlichen Zusammenhänge geknüpft. Sie schluckte, hob die Zwiebeln unter, warf Ai einen nachdenklichen Blick zu, beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sie umständlich, mit dem Teller in einer Hand, vom Stuhl kletterte, den sie sich vorher rangeschoben hatte, um mit ihren Zwiebeln zum Topf zu kommen. Sie hatte Shinichi heute gesehen. Und sie erinnerte sich nur allzu gut an Conan. Unfassbar. Sie hörte es hinter sich rascheln, und drehte den Kopf ein wenig. Heiji stand hinter ihr, hielt ihr die Sojasoße entgegen. „Ein Schuss gehört rein.“, meinte er gelassen. Kazuha blies sich eine Haarsträhne aus den Augen, steckte sie hinter ihren Ohren fest und nahm ihm die Flasche ab. „Ran hat…“, brach es dann aus ihr heraus. Sie puhlte ungeschickt am Verschluss herum, zeigte damit nur allzu deutlich ihre Aufregung. Er nahm ihr die Flasche ab, schraubte den Deckel fertig ab, reichte sie ihr zurück. „Ich weiß.“ Kazuha sah ihn mit großen Augen an. „Woher?“ Heiji starrte in die Suppe, sah zu, wie sie träge zu blubbern anfing. Kazuha drehte sich um, begann die dunkle braune Soße in die Suppe zu träufeln, während Heiji nach dem Reis sah. „Shinichi.“ Kazuha blickte auf, vergaß, dass sie die Sojasoße noch in den Topf hielt. „Er hat’s dir gesagt? Das mit Ran?“ Ihr Jugendfreund nickte langsam. „Ja. Aber sei so gut, und lass ihn Ruhe damit. Er hat’s momentan ganz und gar nicht leicht. Abgesehen ist das nicht unsere Sache. Das müssen die beiden unter sich ausmachen. Einen Schuss, sagte ich, nicht die ganze Flasche.“ Er griff nach Kazuhas Handgelenk, zog es zu sich und drehte ihre Hand nach oben, stoppte so den Soßenfluss, grinste kurz. Das Mädchen sah ihn an, schluckte, spürte seine Finger um ihre Hand, merkte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Hoffte, dass er nicht sah, was ihr gerade durch den Kopf ging. Sie lieben sich, und doch steht immer irgendeine Macht zwischen ihnen, zwischen Ran und Shinichi. Ob es nun zehn Jahre körperlicher Entwicklung sind oder zwanzig Jahre an Erinnerungen, die einfach verschwunden sind. Sie kämpfen so hart, aber das Schicksal scheint sie ständig auszulachen, ihnen wieder und wieder ein Bein zu stellen, wer weiß, wann sie einfach aufgeben, wenn es einfach nicht sein soll… Und ich… Ich weiß gar nicht, wie schön ich es habe… Nur bekomme ich meinen Mund nich‘ auf. „Ein Schuss reicht völlig.“, wiederholte er dann, riss sie aus ihren Gedanken, ließ ihre Hand los. Sie nickte schusselig, rührte dann die Soße schnell unter, wandte sich ab. Heiji stutzte, sagte aber nichts dazu. „Er will an den Ort, an dem er gefunden wurde, zurückfahren. Weil er ein bisschen was von seiner Flucht wieder weiß.“, bemerkte er dann, wich aus, als Ai neben ihm vorbei huschte, mit einer Schüssel gewürfeltem Hähnchenfleisch, stellte ihr dienstfertig den Stuhl hin. Er ahnte, dass sie es nicht mochte, wenn er sie entweder hochhob oder ihr die Schüssel abnahm, und so sah er ihr zu, wie sie wieder hochkletterte und das Fleisch in die Brühe kippte, damit es gar kochte. „Das ist gefährlich.“, meinte sie dann. Heiji wandte sich ihr zu, lehnte sich gegen die Kante des Küchentisches, stützte sich dabei mit beiden Händen ab. „Er lebt momentan generell gefährlich.“ Ai hüpfte vom Stuhl, zog ihn wieder beiseite, damit er Kazuha nicht im Weg stand. Professor Agasa, der bisher im Hintergrund weiteres Gemüse klein geschnitten hatte, zog eine Augenbraue hoch. „Ich nehme an, man wird auf ihn aufpassen…? Es wird doch sicher ein Polizeiaufgebot mitkommen, und die Agents vom FBI?“ „Klar.“ Heiji nickte zustimmend, stieß sich vom Tisch ab. „Natürlich wird man das. Aber seien wir ehrlich-?“ Er schüttelte den Kopf, legte eine Hand an sein Kinn, schlang den anderen gedankenverloren um seinen Oberkörper. „Ich denke nicht, dass das gut geht.“ Irgendwas wird sicher passieren. Die haben ihre Augen doch überall… Die wissen doch, was er tut, sie kennen sicher jeden Schritt, den er macht. Sicher is Kudô nur solange, solange der Boss noch erfolgreich seine Leute unter Kontrolle hat. Aus den Augenwinkeln warf er verstohlen einen Blick aus dem Fenster. In der angehenden Dämmerung sah die Villa Kudô fast aus wie ein Geisterhaus. Kapitel 36: Kapitel 18: Fiktion und Wahrheit -------------------------------------------- Hallöchen! So - hier kommt also ein kurzes Intermezzo, bevor es wieder spannend wird... kein sehr aufregendes Kapitel, aber unerlässlich für die Storyline. Viel Spaß beim lesen, Eure Leira __________________________________________________________________________ Kapitel achtzehn: Fiktion und Wahrheit Ran war gegangen, vor etwa einer halben Stunde. Shinichi lag rücklings auf seinem Bett, starrte träge die Decke an, musterte ihre Struktur als wäre sie ein Kunstwerk und dachte nach, über das, was sie ihm erzählt hatte. Über seinen ersten Fall an Bord eines Flugzeugs, über ihr Abenteuer in New York, über ihre Zeit in der Schule, über seine Hobbies und ihre. Über ihr Leben und seins. Er hatte nicht auf die Uhr gesehen, aber als sie fertig war, fürs erste, hatten sie festgestellt, dass sie fast zwei Stunden geredet hatte. Ein Seufzen kroch ihm über die Lippen, als er sich auf die Seite drehte, die Stelle fixierte, an der sie gelegen hatte. Ein Abdruck in den Kissen ließ immer noch erahnen, wo ihr Kopf geruht hatte, und ein Hauch des Dufts des Shampoos, das sie benutzte, lag noch in der Luft. Pfirsich. Der Duft kam ihm bekannt, vertraut vor, und doch wusste er, hätte er ihn gerochen, ohne zu wissen, wer hier vorher gewesen war, er hätte ihn nicht zuordnen können. Unwillig kniff er die Lippen zusammen, presste Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand an seine Nasenwurzel – er konnte immer weniger begreifen, wie ein Mensch sich selbst so gründlich vergessen konnte. Ein ganzes Leben, über zwanzig Jahre Erfahrungen, Gefühle und Erinnerungen… so gründlich verschüttet, vergessen, als hätten sie nie existiert… Als hätte ich nie existiert. Ran hatte sich nicht groß verabschiedet. Sie hatte gewusst, dass sie ihm viel zum Nachdenken gegeben hatte, vieles, über das er sich nun seinen Kopf zerbrechen konnte, anhand dessen er versuchen konnte, sich zu erinnern, an irgendetwas. Sie hatte ihm nur einen kurzen Kuss auf die Wange gegeben, gesagt, sie fände allein raus und hatte ihn hier zurückgelassen, allein mit sich selbst. Und seither lag er hier. Er spürte immer noch, wie sein Herz raste, wenn er an sie dachte. In jeder anderen Situation wäre er der glücklichste Mensch auf Erden, sie als seine Freundin zu haben. Sie war intelligent, hilfsbereit, freundlich, ehrlich und… ziemlich hübsch, das konnte er nicht leugnen. Aber das Allerwichtigste… sie liebte ihn. Und sie ließ ihn das wissen, sehr gründlich, mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen – und doch erinnerte er sich nicht daran. Erinnerte sich einfach nicht an sie. Nicht an den Duft von Pfirschen, nicht an ihre strahlenden Augen, ihr hübsches Gesicht, ihr sanftes Lächeln, ihre Stimme. Und genau das war, es, was ihn innerlich zerriss, was es ihm so schwer machte, sich einfach fallen zu lassen und die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Es waren die Zweifel, die ihn marterten, jetzt noch mehr als zuvor, denn entgegen seiner Hoffnung waren die ganz und gar nicht verschwunden. Sie waren gewachsen. Ein gutes Stück. Shinichi hatte keine Ahnung, wie Ran jetzt darüber dachte, aber er, für seinen Teil, fühlte sich jetzt noch fremder, noch inhaltsloser, als je zuvor. Jetzt, da er ihre Vergangenheit kannte, er mehr über ihre Freundschaft, über sein altes Leben wusste, erfasste er so wirklich, wie anders er wirklich war. Wie weit entfernt von dem, der er sein sollte. Wie ungeheuer viel Leben er gehabt hatte, das jetzt weg war, restlos, fast. Wie konnte er glauben, dass er sich hier irgendwie einfügen konnte, irgendwie den Platz ausfüllen sollte, den Shinichi Kudô innegehabt hatte… nachdem er auch nur annähernd wusste, wer Shinichi Kudô eigentlich gewesen war. Wie sollte er das ersetzen? Wie sollte er das je alles wiederfinden…? Allein der Gedanke daran war absurd. Er, so wie er nun hier in diesem Bett in diesem Zimmer lag, war nicht einmal ansatzweise der Freund, der Sohn, der Detektiv, der er einmal gewesen war. Ein müder Abklatsch dessen, eine mehr als billige Kopie, eine Leerhülle, fast. Eine schöne Schachtel ohne Inhalt. Eine Atrappe. Aber sie alle sahen etwas ganz anderes, jemand ganz anderen in ihm. Und er fragte sich, wie lange sie das durchhielten. Wie lange sie sich das noch einreden konnten. Wie lange noch… bis ihr merkt, dass da nichts ist…? Merkt, dass ihr umsonst sucht…? Langsam setzte er sich auf, massierte sich die Schläfen. Ran, soviel war zumindest zu sehen gewesen, hatte gehofft, ihm geholfen zu haben. Allerdings, und das war genauso deutlich zu sehen gewesen, hoffte sie noch mehr, endlich den wieder zu bekommen, den sie verloren hatte. Er würde sie enttäuschen. Langsam glitt sein Blick durchs Zimmer, blieb am Schreibtisch haften. Dort stand immer noch das Bild von ihnen beiden im Tropical Land. Shinichi betrachtete es aus der Entfernung, lächelte müde, merkte dennoch, wie sich sein Magen zu verknoten schien. Es war ja nicht so, als hätte er sein Leben nicht gern zurück. Er wollte diese Leere nicht in seinem Kopf, nicht dieses Gefühl von Vakuum, das ihn ausfüllte, und das Nichts deutlicher beschrieb als jede andere Metapher. In ihm war, bis auf die Erinnerung an Conan und die Fetzen, die er von seiner Flucht wusste, luftleerer Raum. Dabei hätte er so gern das alles wieder zurück. Besonders sie. Das Lächeln fiel ihm von den Lippen, bröckelte ab, Stück für Stück, seine Hände krampften sich um die Bettkante, bis seine Knöchel weißlich durch seine Haut stachen. Er liebte sie, und wusste doch, dass sie sich verrannt hatten. Eigentlich hatte er es schon gestern Abend geahnt, und eigentlich… hätte er heute darauf beharren sollen. Stattdessen hatte er ihr wieder gestattet, ihn weichzu-klopfen, weil er ihr nicht wehtun wollte, und fragte sich, ob wenigstens das etwas war, das ihn mit seinem alten Ich verband. Dieses irre Gefühl, jemandem mit Haut und Haar verfallen zu sein, jemanden so zu lieben, dass man diese Person auf keinen Fall verletzen wollte, auf keinen Fall enttäuschen wollte, nicht weinen oder traurig sehen wollte… Vielleicht war es das, schließlich hatte er sich aufgegeben für sie… Er hatte es wohl auch gekannt, als Conan, und als man ihn vor die Entscheidung gestellt hatte, was er vorzog… ihren Tod oder seine Selbstaufgabe und damit ihr Leben. Er hatte sie geliebt und doch nie lieben können. Genauso wie jetzt. Und das Gefühl war entsetzlich. Ihm blieb schier die Luft weg, als er sich in seine Gedanken immer mehr verstrickte; jeder neue schien sich wie ein dünner Faden um ihn zu legen, ihn ein ums andere mehr zu fesseln, handlungsunfähiger zu machen. Es schnitt ins Fleisch, und war doch kein Schmerz, den man beschreiben konnte. Unerträglich war er dennoch. Er fragte sich, wie er das hatte aushalten können, all die Jahre. Vielleicht fand er es noch heraus. Vielleicht auch nicht. Shinichi biss sich auf die Lippen, zwang sich dann, den Blick von dem Foto abzuwenden, starrte auf den Boden, versuchte, wieder Herr über sich und dem zu werden, was in seinem Kopf noch klar denken konnte, atmete schwer. Dann fuhr er sich mit dem Handrücken über die Stirn, merkte, dass seine Finger kalt und feucht geworden waren. Als er sie vor Augen hielt, zitterten sie leicht. Shinichi seufzte, rieb seine Hände aneinander. Es musste aufhören. Das war das Beste, für sie, und für ihn auch. Auch wenn es ihm das Herz zerriss. Auch wenn sich alles in ihm sträubte. Es war nicht fair ihr gegenüber, sie verdiente jemand anderen. Wahrscheinlich sogar jemand besseren als sein altes Ich. Dann klopfte es leise, und kurz darauf ging die Tür auf. Shinichi richtete sich auf, sah seiner Mutter, die den Kopf herein steckte, erschrocken ins Gesicht. „Ja?“ Yukiko schluckte, trat dann ganz ein, vorsichtig. „Alles in Ordnung?“ Shinichi wich ihrem Blick aus, stand auf, winkte unwirsch ab. „Ja, sicher. Aber das ist doch nicht der Grund, warum du hier bist?“ Seine Mutter kniff die Lippen zusammen. Er warf ihr einen Blick zu, wusste, dass sie ihm kein Wort glaubte. Sie bohrte nicht nach, und dafür war er ihr dankbar. „Nein. Ich bin hier, weil ich dir sagen wollte, dass das Essen fertig ist, Shinichi. Kommst du?“ Shinichi erhob sich vom Bett. „Natürlich.“ Er spürte den Blick seiner Mutter auf sich ruhen, als er neben ihr aus der Tür trat. Unsicher warf er ihr einen Blick zu; sie lächelte zwar, aber er wusste, sie beobachtete ihn genau, machte sich ihre Gedanken. Und er fragte sich, ob sie ahnte, was ihn bewegte. Vielleicht nicht. Vielleicht doch. Immerhin war sie ja seine Mutter. Aber… andererseits war er ein genialer Schauspieler, wie er erfahren hatte. Das Essen verlief schweigend, aber das störte Shinichi nicht; er aß seinen Teller auf, stellte zu seiner eigenen Überraschung fest, dass er verhältnismäßig viel Appetit hatte. Als er darüber jedoch nachdachte, wunderte ihn das gar nicht mehr so sehr; das Krankenhausessen war lausig gewesen, und er wusste nicht, wie viel er an dem Tag seiner Flucht gegessen hatte. Alles in allem waren die letzten Tage generell wohl etwas karg ausgefallen. Gedankenverloren schob er sich eine Gabel voll gebratener Nudeln in den Mund, und schreckte entsprechend hoch, als sein Vater ihn unvermittelt ansprach. „Hast du Interesse daran, dir mein neues Manuskript anzusehen?“ Ein Teil der Nudeln fiel von Shinichis Gabel, die er gerade wieder zum Mund führen wollte, verteilten sich auf der Tischplatte. Er fluchte leise. „Entschuldige, ich…“ „Bleib sitzen.“ Yukiko stand auf, um ein Tuch zu holen, fasste ihn an der Schulter um ihn, der bereits halb aufgestanden war um das gleiche zu tun, wieder auf die Sitzfläche zu drücken. Er warf ihr einen leicht verstimmten Blick zu, schluckte seinen Missmut runter, schob mit der Hand die Nudeln zusammen, um wenigstens irgendetwas zu tun. Dann wandte er sich seinem Vater zu. „Entschuldige, ich war in Gedanken, ich hab nicht zugehört. Was hast du gefragt?“ Yusaku lächelte nachsichtig. „Du hast ja schon festgestellt, dass ich keine Ladenhüter schreibe. Interessiert dich denn, was ich… für literarische Ergüsse unter die Leute bringe?“ Er warf seiner Frau einen kurzen Blick zu. Shinichi fing ihn auf, konnte erraten, auf welchem Mist dieser Vorschlag eigentlich wirklich gewachsen war. Er legte seine Gabel beiseite. „Ist das nicht… störend? Ich meine, du bist ja noch mitten im Prozess, wenn ich das Recht gesehen habe, und ist es da nicht eher hinderlich, wenn ich schon etwas lese? Es könnte doch sein, dass du alles noch einmal umwirfst…“ Yusaku strich sich über seinen Bart. „Generell würde ich dir Recht geben, Shinichi. Normalerweise gebe ich meine Manuskripte nicht aus der Hand, ehe sie nicht fertig sind. Ich denke aber, in diesem Fall kann ich eine Ausnahme machen, diese Storyline ist sehr fix. Außerdem… hätte ich, muss ich wohl zugeben, gerne deine Meinung dazu. Auch wenn, wie du wohl richtig bemerkt hast…“, er grinste kurz, „deine Mutter an dieser Idee nicht unschuldig ist. Dennoch, ich würde mich freuen, wenn du es liest und mir sagst, was du davon hältst. Abgesehen davon wär’s nicht das erste Mal, Shinichi. Du hast immer mal wieder Stücke meiner Manuskripte gelesen, du… du weißt es nur nicht mehr.“ Shinichi zog fragend seine Augenbrauen hoch, konnte seine Überra-schung kaum verbergen. „Meine Meinung? Inwiefern könnte ich dir da behilflich sein?“ „Das wirst du dann sehen. Also, hast du Lust? Ich will dich natürlich nicht zwingen.“ Yusaku legte seine Gabel beiseite, versuchte ein Lächeln, und konnte doch eine gewisse Angespanntheit nicht leugnen. Er wusste nicht, ob er es wirklich wollte, dass sein Sohn sein Manuskript las. Tatsache war… ja, es war wirklich Yukikos Idee gewesen, ihm das Skript zu geben, und mit welchem Argument hätte er es ablehnen können? Denn ja - es stimmte auch, Shinichi hatte immer mal wieder Teile seiner Bücher gelesen, unter anderem wirklich, weil er seine Meinung hatte wissen wollen. Ein besseres Feedback zu Kriminalromanen hätte er nie bekommen können. Tatsache war aber auch, dass er ausgerechnet von diesem Buch Shinichi am liebsten keine Seite hatte geben wollen. Keine Zeile. Yukiko, das wusste er, hatte vor, alles so natürlich für ihn zu machen, wie es ging. Shinichi zu behandeln, wie immer, mit ihm umzugehen, zu reden, wie vor seiner Amnesie. Sie hoffte, er würde dadurch sein Gedächtnis wiederbekommen, und wenn das nicht ging… dann sollte er sich wenigstens etwas mehr wie ihr Sohn fühlen. Und das Manuskript lesen gehörte in ihren Augen dazu, zu diesem ‚normalen‘ Umgang mit seinem Sohn. Generell, das gestand Yusaku Kudô sich ein, hätte er momentan den Kontakt zu seinem Sohn gern auf ein Minimum beschränkt. Und er verachtete sich dafür. Jedesmal wenn er ihn ansah, plagte ihn sein Gewissen – und jedesmal fürchtete er sich ein wenig mehr vor dem Tag, an dem Shinichi sich erinnern würde. Oder vor dem Tag, an dem er die Kontrolle endgültig verlor. Beides, das ahnte er, war nicht mehr sehr fern. „Gut, dann… lese ich es selbstverständlich gern.“, Shinichi schob sich die letzte Gabel Nudeln in den Mund, ohne dabei seine Augen von seinem Vater abzuwenden. Der Mann wirkte angespannt, aber er wusste nicht, woher das rührte. Allerdings, gestand er sich ein, fühlte er sich selbst ja auch etwas gestresst – warum sollte es seinen Eltern anders gehen als ihm? Die Situation war für sie alle schwierig. Yusaku zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, hoffte, dass es nicht allzu gekünstelt aussah. „Schön. Wenn du fertig bist, kannst du ja gleich mitkommen, dann suche ich dir einen Teil heraus.“ Er stand auf, winkte seinen Sohn mit sich ins Wohnzimmer, wo sein Schreibtisch stand, ein schwerer Ebenholztisch, fast schon eine Antiquität, auf dem sich seine Utensilien ausbreiteten. Für einen Außenstehenden sah es sich er aus wie ein Chaos, für ihn war es genau die notwendige Mischung von Unordnung und Ordnung, die ihm ein kreatives Arbeiten ermöglichte. Er wusste, wo alles lag, wusste, wo Blätter mit Fragmenten von Ideen lagen, die er noch nicht hatte einbauen können, wusste, wo jeder Stift lag, und kannte die Buchstaben auf der abgewetzten Tastatur seines Laptops ohnehin auswendig. Allerdings kam der Computer erst zum Einsatz, wenn das Manuskript fertig war. Er tippte es immer selber ab; denn während dem Abschreiben seiner Geschichte fielen ihm oft noch Dinge ein, Dialoge oder Hinweise, die er spontan einbaute – eine Tatsache, die ihn davon abhielt, diese Arbeit einem Lektor oder einem Assistenten im Verlag zu überlassen, auch wenn die diese Arbeit gern übernommen hätte, um nur früher an die Manuskripte zu kommen. Der Schriftsteller griff nach der leeren Tasse, die neben dem Etui mit den Stiften stand, und zog darunter einen Stapel Blätter heraus, die sie beschwerte. Er reichte ihn seinem Sohn, ohne ihn anzusehen. „Mach's dir bequem.“ Mit diesen Worten ging er selbst in die Küche, um sich seine Tasse aufzufüllen, und um einen weiteren Becher für seinen Sohn zu holen. Als er einen kurzen Blick über die Schulter warf, sah er, dass Shinichi immer noch neben seinem Schreibtisch stand, wo er sich bereits in das Manuskript vertieft hatte. Seine Mimik sprach von großer Konzentration; ohne aufzublicken, wohin er ging, steuerte er um das Sofa herum und ließ sich in einen der großen Ohrensessel sinken. Yusaku seufzte lautlos, fuhr sich mit seiner Hand über die Stirn, wandte sich dann ab und ging zurück in die Küche. Ran ging zu Fuß nach Hause. Es regnete leicht, aber das machte ihr nichts aus; es wurde Herbst, die Bäume verloren ihre Blätter, zwar erst langsam, jetzt… aber diese Entwicklung war nicht aufzuhalten, in ein paar Wochen würde alles kahl und kalt und grau sein. Sie erinnerte sich zurück, an die Tage auf Izu, es war doch noch keine Woche her… und dennoch schien es ihr so weit weg, dieser Ausflug mit Sonoko und Makoto. Dort war das Wetter noch herrlich gewesen, dort hatte man noch vom goldenen Herbst schwärmen können; und auch in Tokio war es bis vor ein paar Tagen traumhaft warm gewesen. Sonst wäre der Professor kaum mit den Kindern zum Camping gefahren. Ran blieb stehen, unbewusst, strich sich eine Strähne aus ihren Augen, umklammerte ihren Regenschirm fest mit der anderen Hand. Wäre doch nur das Wetter schlechter gewesen… hätte es doch bloß geregnet! Dann wäre der Professor nicht gefahren und ihm wäre das alles erspart geblieben. Allerdings wäre er dann auch noch Conan, noch immer, ohne Aussicht auf ein Ende. Und sie wusste nicht, ob ihm das so gut getan hätte. Unsicher biss sie sich auf die Lippen, begann, an ihrer Unterlippe zu nagen. Sie hatte Conan eigentlich immer als fröhlichen, aufgeweckten Jungen im Gedächtnis. Allerdings, das gestand sie sich jetzt langsam ein, hatte sie wohl oft Dinge nicht gesehen… oder übersehen wollen. Wenn sie an Conans Verhalten in den letzten Tagen dachte, fiel ihr im Nachhinein auf, dass er eigentlich verhältnismäßig still geworden war. Zwar immer noch aufgeweckt und gewitzt, so gut er konnte, immer dann, wenn er in ihrer Gegenwart gewesen war oder sich in Gesellschaft gewusst hatte… aber es war aufgesetzt gewesen, irgendwie. Ihr war es nur manchmal aufgefallen, wenn er nicht wusste, dass sie ihn ansah, ihn beobachtete. Er hatte in die Leere gestarrt, seine Augen merkwürdig dunkel, seine Lippen zusammengepresst, sein Gesichtsausdruck viel zu ernst für einen Jungen seines Alters. Hast du es langsam geahnt, dass es so nicht mehr lange weiter geht? Du hast es zuerst ja scheinbar… ganz locker genommen. Deine zweite Kindheit… Aber ich bin mir sicher, je länger sie dauerte, je öfter du scheitertest bei dem Versuch, sie zu fangen, desto schwerer wurde es für dich. Und dann mich noch zu sehen… Tag für Tag. Ich hab dir dein Leben nicht unbedingt einfacher gemacht, nicht wahr? Warum hast du mir nichts gesagt, Idiot…! Es musste die Hölle gewesen sein für ihn, und ein Zustand, den er auf Dauer nicht mehr ausgehalten hätte, wahrscheinlich, so sehr er es auch versucht hatte. Deshalb war er auch immer empfindlicher geworden, am Telefon, immer schneller gereizt; er wusste, dass er den Karren langsam aber sicher gegen die Wand fuhr, und fand doch die Bremse nicht, und das Steuerrad… wollte ihm ohnehin schon lange nicht mehr gehorchen. Langsam ging sie weiter, schaute auf den Boden, wo dick und schwer die Tropfen auf den schmutziggrauen Asphalt platschten, zersprangen, in unzählige kleine Tröpfchen. Ohne aufzusehen blieb sie automatisch vor ihrer Tür stehen. Sie kannte den Weg schon so gut, dass sie ihn hätte blind gehen können. Shinichi, das wusste sie, würde momentan nicht einmal sehenden Auges hierherfinden. Weil er ihn vergessen hatte… den Weg zu ihr. Als sie die Tür zur Wohnung aufsperrte, stutzte sie. „Denkst du, wenn es wirklich jemand ist, den er kennt, er hängt ihn hin, ohne zu zögern? Könnte er das, nach allem, was er dieser Person schuldet?“ Die Stimme ihrer Mutter. Ran schloss die Wohnungstür leise hinter sich, kaum ein Klicken war zu hören, als sie ins Schloss rastete. Lautlos schlüpfte sie aus ihren Schuhen, stellte sie ordentlich ins Schuhregal, zog sich die Hauspantoffeln über, merkte, wie ihr Magen etwas flau wurde, ganz kurz nur, als sie Conans kleine Pantoffeln stehen sah. Und seine Schuhe, neben denen ihres Vaters. Die rot-weißen Sportschuhe, die er immer getragen hatte. Unwillkürlich begann sie auf ihrer Unterlippe zu kauen. So ganz verdaut hatte sie diese Geschichte sicher noch nicht. Sie wusste aber auch, dass sie nicht die einzige war, der es dabei so ging. Leise ging sie in die Küche, stieß die Tür auf, blickte in zwei erschrockene Gesichter, offenbar hatten ihre Eltern sie nicht gehört, ganz wie beabsichtigt. „Hallo Mama.“, begrüßte sie ihre Mutter lächelnd, das ihr wie festgefroren auf den Lippen lag. Jeder hier im Raum wusste, dass Ran gehört hatte, was gesprochen worden war. Und für Ran war genauso klar, dass ihre Mithörerschaft eigentlich nicht beabsichtigt gewesen war. Sie schluckte, überging die Stille. „Wer hängt wen hin?“, fragte sie scheinbar unwissend. Eri seufzte, fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben von den Augen ihrer Tochter tatsächlich transparent wie ein Aquarium. Sie hob ihre Kaffeetasse an die Lippen, nahm einen Schluck, ließ Ran dabe nicht aus den Augen. Sie gestikulierte in Richtung eines Stuhls. Ran verstand den Wink, hängte ihre Handtasche über die Stuhllehne und setzte sich, fuhr dann fort, ihre Eltern abwartend anzuschauen. „Nicht… nicht so wichtig.“, fing Eri schließlich an, die Frage ihrer Tochter abzuwiegeln. „Nichts, worüber du dir den Kopf zerbrechen musst, Ran. Wie geht’s Shinichi?“ „So gut und so schlecht, wie gestern. Du weißt, wie’s mir ging. So geht’s ihm.“ „Es ist alles so… seltsam. Ich frage mich, wie’s für ihn damals war, als ich ihn ansah, und in meinen Augen nicht der Hauch eines Erkennens zu finden war. Als ich ihn stehen ließ, ihm nicht sagte, wohin ich ging, damit er mich nicht wieder retten musste und sich dabei selbst in Gefahr brachte.“ Sie griff sich eine leere Tasse, die auf dem Tisch stand, und schenkte sich Kaffee ein, um irgendwie ihre Hände zu beschäftigen. Sie war nervös, soviel war offensichtlich; nervös, und auch etwas erregt, auch wenn sie sich noch gut im Griff hatte. „Darin ist er ja mittlerweile meisterlich.“, fügte sie an. „Allerdings.“ Kogorô nickte bestätigend. Sie sah ihren Vater kalkulierend an, fixierte dann ihre Mutter. „Aber ihr lenkt vom eigentlichen Thema ab.“ Ran kniff die Augen zusammen, beugte sich nach vorn, legte eine Hand auf die Tischplatte. „Ihr habt über ihn geredet, nicht wahr? Ihr fragt euch, ob er den Boss ausliefert, wenn er sich je wieder an ihn erinnert. Es ist jemand, den er gut kennt, nach allem, was wir über ihn wissen. Denkt ihr denn, er deckt ihn?“ Eri rieb sich die Schläfen. „Ich fürchte, wenn es soweit kommt, Ran, wird er nicht anders können. Und es wird wohl nur allzu verständlich sein, nichtsdestotrotz…“ Rans Kinnlade klappte nach unten, ungläubig schüttelte sie den Kopf, starrte ihre Mutter an, dann ihren Vater. Der winkte nur müde ab, er hatte mit seiner Frau schon genug diskutiert, darüber. Ehe Ran etwas dazu sagen konnte, begann Eri mit ihrer Erklärung. „Ich meine, der Boss ist wer, den auch wir kennen.“ Sie sah ihre Tochter fest an. „Ran, stell dir vor, der Boss wäre… wäre zum Beispiel dein Vater, oder ich; würdest du uns ohne zu zögern der Polizei ausliefern? Nachdem wir nicht nur dir, sondern auch… nehmen wir einfach ihn, Shinichi… das Leben gerettet haben? Bei allem, was wir wissen, hat der Boss deinen Namen bisher aus dem Spiel gelassen, hat versucht, nur Shinichi mit hineinzuziehen, und das auf möglichst eine Art und Weise, die ihn am Leben lässt. Ein… unglückliches Leben, eins, dass er nicht wollte, aber immerhin, er atmete noch, er lebte. Das ist… besser, anders, als tot zu sein. Und noch dazu viel besser, als zu sterben, und zu wissen, dass man Schuld ist am Tod derer, die man liebt.“ Ran seufzte, wandte ihren Blick ab, verknotete ihre Hände in ihrem Schoß. Ihre Mutter nickte leicht. „Siehst du… es ist nicht so einfach… und ich denke, wenn er wieder weiß, wer er ist…“ Ran sah auf, in ihren Augen glomm eine Entschlossenheit, die Eri überraschte. „Shinichi ist nicht wie ich, Mutter.“ Sie blickte zur Seite, sah in Richtung Tür, als sie sprach. „Ich kann dir nicht sagen, wie ich reagieren würde, ich… weiß es nicht.“ Ran schluckte schwer, merkte, wie sich in ihrem Hals ein Kloß gebildet hatte. „Aber Shinichi würde und wird auf keinen Fall zulassen, dass alles so weitergeht wie bisher. Ich weiß nicht, ob er den Boss sofort hinhängen würde. Aber er würde dafür sorgen, dass diese Sache ein Ende hat. Dass die Organisation auffliegt. Er würde ihn nicht decken, dauerhaft, und er würde auch nicht, auf gar keinen Fall, seinen Komplizen spielen. Damit könnte er nicht leben. Er würde ihn konfrontieren, mit seinem Leben und seinen Verbrechen.“ Sie lächelte müde. „Und wehe dem, den Shinichi mit seinen Taten konfrontiert.“ Eri seufzte, strich ihrer Tochter über die Finger. Ran drehte die Hand um, griff nach der Hand ihrer Mutter. Sie schluckte, vor ihrem inneren Auge spielte sich eine Szene ab, die in ihrem Kopf schon herumspukte, seit sie wusste, dass Shinichi den Boss einer derartigen Verbrecherorganisation persönlich kannte. Dass sie ihn wohl alle persönlich kannten. Sie waren auf dem Weg von der Schule nach Hause gewesen. Jetzt im Nachhinein hatte Ran keine Ahnung mehr, wie sie überhaupt auf dieses Thema gekommen waren; wahrscheinlich über eine seiner zahllosen Geschichten über Sherlock Holmes. „Was ich machen würde, wenn ich den Verbrecher persönlich kenne?“ Überraschung spiegelte sich nur kurz in seinen Zügen, ehe sie einem gespannten Ausdruck wachen Interesses wich. Sie straffte ihre Schultern, wusste, dass ihre Frage prekär war; aber die Neugier trieb sie weiter. „Was würdest du tun, wenn du herauskriegst, dass Professor Agasa ein Mörder ist?“ „Ihn darauf ansprechen.“ Seine Antwort hatte nicht lange auf sich warten lassen. Sie stutzte, erstaunt über seine schnelle, entschiedene Aussage. Unsicher schaute sie ihm ins Gesicht, fand in seinen Augen aber nicht den geringsten Zweifel. „Sowas würdest du dich wirklich trauen?“ Er wandte den Kopf ab. Ein erstaunlich ernster Ausdruck war auf sein Gesicht getreten, als er versonnen in die Ferne starrte. „Ich würde ihm direkt ins Gesicht sagen: ‚Sie sind ein Mörder, Professor.‘“ Sein Blick wanderte zu Boden, während sie ihn immer noch anstarrte. „Cool… ich bewundere dich, Shinichi.“ Shinichi schüttelte den Kopf, schaute sie dann an, als er sprach. „Das hat doch mit cool nichts zu tun. Ich würde ihn nur darauf ansprechen, wenn ich hundertprozentig sicher bin. Bevor man jemandem unterstellt, ein Verbrecher zu sein, sollte man sauber recherchiert haben, aber die Wahrheit muss immer ans Licht…“ „Die Wahrheit muss immer ans Licht.“ murmelte sie leise. „Er wird nicht nachgeben. Selbst wenn er sich dafür den Rest seines Lebens hasst, weil er den Menschen verrät, den er sein Leben lang kennt, und ihm viel verdankt. Er wird so etwas wie die Organisation nicht weiter bestehen lassen, wenn er ihnen das Handwerk legen kann. Und dass er es kann… steht für ihn außer Frage, fürchte ich. Und wenn er dabei draufgeht, wird es ihm auch egal sein, das… wissen wir mittlerweile wohl alle. Er wird ihm das Handwerk legen, und wenn er mit ihm fällt, wie Sherlock Holmes mit Moriarty… dann wird es ihm nur Recht sein. Und deshalb… bin ich mir absolut sicher, dass Shinichi, so er sich wieder erinnert, den Boss der Organisation seine Verfehlungen nicht durchgehen lassen wird. Und wenn es sein eigener Vater ist.“ Eri schluckte, ernst ruhte ihr Blick auf dem Gesicht ihrer Tochter. Sie sah die Sorge in den Augen ihrer Tochter, die sie fest im Griff hielt – Sorge, und schreckliche Angst um ihren Freund. Shinichi lag rücklings in einem der bequemen Sessel, hatte seine Füße auf einem Hocker liegen, neben ihm stand mittlerweile auch eine Tasse Kaffee - und blätterte sich eifrig durch das Manuskript. Neben ihm auf dem Boden lag bereits ein kleiner Haufen dicht beschriebener Blätter. Er musste zugeben, sein Vater schrieb extrem gut; auch wenn er den „Baron der Nacht“ nicht kannte, ihm die ganze Vorgeschichte fehlte, so fand er sich erstaunlich schnell zu Recht. Die Charaktereinführung war kurz aber prägnant, der Stil flüssig, detailliert aber ohne zu viele lästige Schnörkel. Er fing rasant an und las sich weiterhin packend. Die Geschichte des Diebes und Mörders, der im Schutz der Nacht seinem Handwerk nachging, war erstaunlich intelligent. Hat was von den klassischen Detective Stories, nur dass es hier nicht um einen Detektiven geht, sondern um die andere Seite der Medaille… den Verbrecher. Überrascht sah er auf. Hm? Wie komme ich dazu, über das Genre der Detective Story zu grübeln… wenn ich nicht mal mehr Sherlock Holmes kenne, der doch der Klassiker unter ihnen sein soll. Er biss sich auf die Lippen. Yusaku sah auf, bemerkte das Grübeln seines Sohnes. „Shinichi, ist was? Stimmt etwas nicht?“ Er deutete mit seiner Feder auf den Packen Blätter in Shinichis Händen. Der schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Damit ist alles in Ordnung.“ Er nickte in Richtung der Blätter in seiner Hand, hob sie kurz hoch. Ein entschuldigendes Lächeln glitt ihm über die Lippen, dann setzte er sich auf. „Er ist ein Mörder, schreibst du. Und ein Dieb. Ein eigentlich wahrlich übler Charakter, grausam, gerissen, so intelligent wie skrupellos, und dazu ein Mann ohne Namen, du verrätst nie seine Identität. Aber dennoch… scheint das nicht alles zu sein, was er ist. Wie…“ Yusaku lachte leise. „Lies weiter, Shinichi. Du willst das Ende doch nicht schon vorher wissen.“ Shinichi nickte gedankenverloren, ließ sich in seinen Sessel zurücksinken, glitt wieder hinein in die Geschichte, schon nach den ersten Zeilen. Er betrachtete sich im Spiegel, die Maske in seinen Händen. Sein Blick wanderte zwischen seinen Identitäten hin und her. Hier das menschliche Antlitz, die wachen Augen, die ernste Miene, dort das manische Grinsen einer weißen Fratze, die bösartigen Augen einer blicklosen Maske. Wie hatte es eigentlich je soweit kommen können? Wann hatte das angefangen? Wann hatte er damit begonnen, als gesichtsloses Monster die Straßen Tokios unsicher zu machen, wann hatte er sich selbst so vergessen, dass er stahl, um des Stehlens willen, Leute umbrachte für Geld oder aus Rache? Wann war er zu so einem Menschen geworden… oder besser, wann hatte er aufgehört, ein Mensch zu sein? Sie alle wussten es nicht… sie ahnten nicht, wer er wirklich war. Was für ein Monster aus ihm wurde, nachts, wenn sie alle schliefen. Nun hatte er die Chance, das zu ändern. Er wusste nicht, welchen Preis er dafür zahlen würde… unter Umständen war er horrend. Unter Umständen bezahlte er mit seinem Leben dafür, jetzt das Richtige zu tun. Sich gegen sich selbst zu wenden, gegen die Maske, gegen alles, was zu ihr gehörte, und der zu sein, der ihm aus dem Spiegel entgegenblickte. Unsicher fuhr er sich mit einer Hand durch sein kurzes Haar. Ein Paar blauer Augen starrte ihn musternd an, genauso, als wollten sie ihn prüfen. Prüfen, ob er der Richtige war, für diese Aufgabe. Sehen, ob er mutig genug war, endlich den Schlussstrich zu ziehen. Dem Baron der Nacht den Dolch ins Herz zu stoßen. Er hob die Maske langsam an, sah ihr ins Gesicht, sah die leeren Augen. Noch war er sich nicht sicher. Auch wenn er, und das ahnte er, eigentlich die Entscheidung schon längst gefällt hatte. Heiji saß in einem der weißen Sessel in Professor Agasas futuristisch eingerichtetem Wohnzimmer. Draußen wurde es dunkel, und neben ihm brannte deshalb eine Leselampe; die Vorhänge hatte er noch nicht vor die Fenster gezogen. In der Tür erschien Professor Agasa mit zwei Tassen Tee in den Händen, betrachtete den jungen Mann schweigend. Heiji starrte geradewegs aus dem Fenster, hinaus in die Nacht. Er folgte seinem Blick, sah, was der junge Detektiv beobachtete; es war das Haus der Kudôs, oder besser, die Tatsache, dass im Wohnzimmer noch Licht brannte. Vor dem Haus stand eine Polizeistreife in Zivil, aber die interessierte ihn nicht. Agasa ahnte, wo Heiji mit seinen Gedanken war. Kazuha schlief auf dem Sofa neben ihm, Ai war im Labor. Der alte Mann betrat das Zimmer, stellte die Tassen auf dem Tisch ab. Heiji sah nur kurz auf, sagte aber nichts. Agasa warf schweigend eine Decke über die schlafende Kazuha, ehe er sich in den Sessel neben Heijis sinken ließ, und ebenfalls das Haus der Kudôs observierte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Heiji in seinen Händen ein Buch hielt. Es war der erste Band des Barons der Nacht. Heiji bemerkte Agasas erstaunten Blick, lächelte verlegen. „Ich wollte etwas zur Ablenkung. Ich geb zu, ich habs mir… ausgeliehen.“ Agasa grinste. „Du hast noch nie etwas von Yusaku Kudô gelesen?“ „Nein.“ Heiji schüttelte den Kopf. „Ich wusste auch eine ganze Weile nicht, dass Shinichi der Sohn eines berühmten Autors ist. Das hat mich nie interessiert, und er hat’s nie erzählt.“ Agasa nippte an seinem Tee, nickte gedankenverloren. „Das ist wohl etwas, das Shinichi an dir sehr schätzt. Seine Klassenkameraden früher haben sich hauptsächlich wegen seines Vaters für ihn interessiert. Aber was…“ Er lächelte großväterlich. „… bringt dich jetzt dazu, den Baron der Nacht zu lesen?“ Der junge Detektiv beugte sich nach vorn, griff nach der Teetasse, trank einen Schluck. „Neugier. Und, wie gesagt, ich suchte Ablenkung. Allerdings bin ich noch nich so verzweifelt, dass ich Sherlock Holmes zu lesen anfang‘.“ Er grinste. Agasa lachte leise. „Und, sagt dir der Baron zu?“ Heiji atmete langsam aus, schlug die Stelle auf, an der er angehalten hatte, warf dem Professor einen kurzen Blick zu, ehe er zu laut lesen anfing. „Sein blauschwarzer Umhang flatterte lautlos im Wind, sein Zylinder hob sich deutlich ab gegen den fahlen Mond, der in seinem Rücken aufging und ihm einen unnachahmlich dramatischen Auftritt bescherte. Er konnte nicht sehen, wer er war; er sah nur das diabolische Grinsen seiner weißen Maske, spürte den kalten Blick aus leeren Augen. Ihn umwehte der Hauch des Geheimnisvollen, die Mystik des Meisterdiebs; aber er war kein Gentleman wie es Leblancs Arsène Lupin gewesen war. Er war ein Mörder, ein skrupelloser Verbrecher, dem jedes Mittel recht war und der vor nichts zurückscheute, um sein Ziel zu erreichen. Seine Seele war verdorben, schwarz wie Pech, verloren an den Teufel, verspielt… er schien wie ein Schemen, kaum zu fassen, mehr wie ein Gerücht als ein tatsächlich existierender Mensch aus Fleisch und Blut. Und doch sah er das Blut am Messer kleben, das der Baron in der Hand hielt. Er wusste, dass die Frau zu seinen Füßen tot war, und wusste, wer ihr Leben genommen hatte, weggewischt mit einer Handbewegung, als sie ihm nicht geben wollte, wonach er verlangte. Den Diamanten. Nun funkelte er in seiner Hand, leuchtete im Mondlicht rosafarben auf, ehe er in einer Manteltasche verschwinden ließ. Der Meisterdieb. Der Mörder. Ihre Blicke trafen sich. Ihn fröstelte, er fühlte sich, als ob sein Innerstes zu Eis erstarren würde, im Bruchteil einer Sekunde. Er war unfähig, sich zu bewegen, hörte nur das Rauschen seines eigenen Blutes in seinen Ohren, sein lautes Atmen in der ansonsten gespenstisch stillen Nacht. Dann hörte er ihn lachen. Laut, kalt, triumphierend. Und wusste, er hatte verloren, für heute. Wusste, er würde nicht zum letzten Mal verloren haben, denn vor ihm stand ein Meister seines Fachs. Er sah, wie er sich umdrehte, dabei das Messer fallen ließ, ein kurzes Aufblitzen von Metall in der Finsternis. Dann war er verschwunden, mit einem Schlagen seines Umhangs wie verschmolzen mit der Dunkelheit, hinweg in die Nacht. Er war der Baron, er war ihr Herrscher. Er war die Nacht.“ Heijis Stimme verklang, dann sah er auf, langsam. Sein Blick glitt hinaus in die Dunkelheit, verharrte auf dem immer noch erleuchteten Fenster der Bibliothek der Villa Kudô. Der Professor sah ihn abwartend an, befingerte unbewusst seinen Bart, als er nachdachte. „Unglaublicher Stil.“, meinte Heiji schließlich langsam. „Langsam wird mir klar, warum man ihm die Bücher aus den Händen reißt und ihm die Verleger im Nacken sitzen.“ Agasa nickte langsam, kratzte sich nun kurz am Hinterkopf. „Ich weiß. Ich hab sie alle gelesen, aber ich muss auch sagen… die erste Begegnung des Barons mit dem Kommissar jagt mir heute noch Schauer über den Rücken.“ Heiji klappte das Buch wieder zu, ließ seinen Finger zwischen den Seiten. „Wissen Sie, wie er auf die Idee kam, über einen Dieb und Mörder zu schreiben?“ Agasas Hand, die er gerade mit der Teetasse zum Mund hatte führen wollen, blieb wie eingefroren in der Luft schweben. Der alte Mann blinzelte, dann setzte er die Tasse mit einem leisen Klonk wieder auf die Tischplatte. Dann sah er auf, echte Überraschung und Verwirrung in den Augen. „Um ehrlich zu sein, Heiji, habe ich ihn das nie gefragt.“ Kapitel 37: Kapitel 19: Gesprächsbedarf --------------------------------------- Etwas Geduld müsst ihr noch haben, bis es richtig losgeht - ich hoffe dennoch, dieses und die folgenden Kapitel sind interessant für euch. Viel Spaß beim Lesen, eure Leira __________________________________________________________________ Kapitel neunzehn: Gesprächsbedarf „Nun, weißt du… wir haben ja geredet, ziemlich lange sogar.“ Leises Klingen erfüllte den Raum, als Ran bedächtig ihren Kaffee umrührte, so vorsichtig, dass sie kaum die Wände der Tasse berührte. „Aber…“, begann sie, nur um sogleich wieder innezuhalten. Ihre Augen waren konzentriert auf ihren Kaffeebecher gerichtet; die kreisende Bewegung ihrer Hand hörte langsam auf, das sanfte Klirren erstarb. „Aber?“ Sonoko schaute sie abwartend an, ihre Frage hing in der Luft. „Ich weiß immer noch nicht, ob er denkt, dass das gut geht, so. Versteh mich nicht falsch…“ Sie lächelte sanft, schaute in ihren Kaffee, hielt die Tasse mit beiden Händen und spürte die Wärme an ihren Fingern. „Ich liebe ihn. Und er weiß, er liebt mich auch, und ich weiß das auch. Es ist die Art, wie er mich ansieht, was er sich für Gedanken macht, meinetwegen, was er getan hat für mich… das spricht alles eine sehr klare Sprache...“ Sie schluckte, zog ihre Lippe zwischen ihre Zähne, kurz. Sonoko seufzte, hielt in ihren Händen eine Tasse Kaffee, schaute aus dem Fenster, wo die Sonne auf den Dächern von Tokios Skyline zu sitzen schien. Ran hatte nicht glücklich ausgesehen, als sie ihr die Tür vor ein paar Minuten geöffnet hatte. Sonoko war spontan vorbeigekommen, nachdem sie nun – in Anbetracht der Umstände – länger nichts mehr von ihrer Freundin gehört hatte; und stellte nun fest, es war wirklich bitter nötig, dass Ran sich mal aussprach. Und zwar nicht nur bei ihrem amnesiegeplagten Freund – sondern bei ihrer besten Freundin. Sie hatten Frühstück gemacht, und nun saßen sie hier; und seit sie sich gesetzt hatten und die erste Tasse Kaffee in ihren Händen zu dampfte, erzählte Ran. Mittlerweile waren sie beide schon bei ihrer zweiten Tasse - aber Ran schien noch lange nicht am Ende zu sein damit, zu erzählen, was ihr auf dem Herzen lag. Es war eine Menge. Sonoko wandte sich vom Fenster ab, sah ihre Freundin aufmunternd an, ehe sie ein Stückchen von ihrem frisch aufgebackenen Croissant rupfte und gedankenverloren in den Mund steckte. „Aber es macht einen Unterschied, auch wenn ich es nicht glauben wollte, nicht glauben will, ob er weiß, wer ich bin, oder nicht. Für ihn… und für mich auch.“ Sie biss sich auf die Lippen, ihr schlechtes Gewissen stand ihr mit dicken Buchstaben auf die Stirn geschrieben. „Deshalb frage ich mich ja… gestern wollte ich sie nicht hören, aber langsam verstehe ich seine Zweifel. Je mehr ich denke, und je mehr ich mich… an meine Amnesie erinnere. Ich wusste nicht, wer er war… und ich weiß nicht, was ich getan hätte, wär er vor mir gestanden. Ich fürchte nur…“ Sie biss sich auf die Lippen, trommelte mit ihren Fingernägeln gegen die Tasse. „Ich fürchte, ich hätte nicht mit ihm eine Beziehung angefangen. Und ich verstehe nicht, warum ich ihn so gedrängt habe.“ Sonoko wischte sich einen Blätterteigkrümel von der Wange. „Nun, das ist offensichtlich, wenn auch wahrscheinlich die einzige Sache, die wirklich offensichtlich ist… du liebst ihn. Deshalb.“ Ran hörte auf, ihre Unterlippe zu malträtieren, öffnete den Mund, nahm einen winzigen Schluck Kaffee und dachte nach. „Ich weiß nicht, Sonoko. Vorgestern Nacht…“, begann sie dann, „vorgestern Nacht hab ich ihn nur gesehen, und das war alles, was ich brauchte, aber mittlerweile… habe ich gemerkt, was eigentlich alles fehlt… wer noch fehlt.“ Sie lächelte erneut, allerdings zog ihr eine unsichtbare Macht bereits die Mundwinkel nach unten, ihre Augen waren dunkel vor Sorge. Sonoko griff ihre Finger, drückte sie sacht. „Was ist das bloß? Ich kann… ich kann ihn doch einfach nicht… nicht mehr lieben, er ist es doch, und ich weiß es doch, ich spüre es doch…“ Sie starrte in ihren Kaffee, merkte, wie ihre Augen zu brennen anfingen. „Aber der, der mir jetzt gegenübersteht, das ist nicht Shinichi… er sieht aus wie er, aber er ist es nicht, er ist nicht da, er…“ „Ran, schhht…“ Ran schüttelte abwehrend, unwillig den Kopf, schluchzte trocken und presste dann kurz die Kiefer zusammen, um sich zu sammeln, hielt ihren Handrücken an die Nase, schniefte und kniff die Augen zu. „Mir fehlt sein oberschlaues Gequatsche. Sein Lachen. Mir fehlt, wie er mich aufzieht, wie unbeschwert er sein kann, mir fehlt sein Gefasel über Holmes und Krimis… mir fehlt so viel an ihm, so viel an ihm… ich wusste gar nicht, es war mir nie klar… wie viel es eigentlich ist, das ihn ausmacht. Ich dachte, dieses Verlustgefühl das ich habe, als er das erste Mal verschwand… würde besser werden, wäre er nur endlich wieder da. Aber das ist es nicht.“ Sie räusperte sich angestrengt, versuchte den Kloß runterzuschlucken, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, aber der blieb hartnäckig, wo er war, und ließ sich auch von einem weiteren Schluck Kaffee nicht wegspülen. „Es ist nicht besser geworden… weil er immer noch nicht da ist…“ Eine Träne rollte ihr über die Wange. „Wie kann das sein, Sonoko! Wie kann das sein…“ Sie schniefte leise, merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. „Ich dachte doch, das macht nichts aus, ich will’s immer noch glauben. Sein Körper ist wieder da, und ich dachte, das reicht. Ich hab ihm gestern lang und breit erzählt, wer ich bin, und wer er ist, und mir wurde immer klarer, beim Erzählen… dass uns mindestens noch ebenso viel trennt, wie in der Zeit, als er noch Conan war. Es ist nur nicht so offensichtlich. Und er… er weiß das auch. Er wusste es die ganze Zeit. Ich wollte es nur nicht hören.“ Sonoko starrte sie betroffen an, biss sich auf die Lippen, wusste nicht, was sie dem entgegensetzen sollte. „Ich wollte es nur nicht hören…!“ Ran wischte sich unwillig die Tränen aus den Augen, nippte erneut an ihrem Kaffee. Ihr Croissant lag immer noch unberührt vor ihr auf dem Teller, daneben ein kleiner Klecks roter Himbeermarmelade. „Und was willst du jetzt tun?“ Ein Ausdruck leichter Frustration trat auf Rans Gesicht. „Ich werd‘ ihm beistehen. Ich muss.“ Fast wagte Sonoko nicht, die Frage, die ihr auf der Zunge brannte, zu stellen. „Und was tust du, wenn er sich nie wieder erinnert?“ Ran schüttelte den Kopf. „Das passiert nicht.“ Sonoko seufzte. „Du weißt, dass das passieren kann. Denkst du, du kannst dich in ihn verlieben, so wie du Kudô…“ Ihr fiel sichtlich schwer, so über Shinichi zu sprechen. Und sie sah die Qual in Rans Gesicht, wusste, dass sie weder ihr, noch sich selbst, diese Frage würde beantworten können. Jetzt nicht. Wahrscheinlich sogar nie. „Er ist es doch…“, murmelte Ran schließlich. Ihre Stimme klang matt, auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Resignation, den Sonoko an ihrer Freundin nie gesehen hatte. „Bestimmt wird er wieder so werden wie…“, hörte sie Ran leise ergänzen; dass sie auch diesen Satz nicht vollenden konnte, zeugte nur umso mehr von ihrer eigenen Unsicherheit. Man hörte aus ihren Worten ganz genau, dass sie selber nicht so recht an das, was sie sagte, glauben mochte. Yusaku Kudô stand am großen Fenster der Bibliothek und starrte hinaus auf die Straße. In der Einfahrt stand sein Wagen, ein silberner Traum aus Chrom und Stahl, Gummi, Leder und Edelholz. Er hatte keine Ahnung, wo der kleine Kunststoffknopf klebte, den Heiji gestern dort mit Sicherheit montiert hatte. Es interessierte ihn auch nicht- er würde nicht danach suchen, denn er wollte ihn auch gar nicht entfernen. Entfernte er ihn, enttarnte er sich. Und das wollte er nicht. So würde er die Chance nutzen, diese kleine Wanze für seine Zwecke zu gebrauchen. Er würde diesen Detektiv in die Irre führen, genauso, wie er seinen Sohn über all die Jahre in die Irre geführt hatte. Er war geübt darin. Und er war gut in seinem Fach. Dass er allerdings das erste Täuschungsmanöver früher als beabsichtigt würde starten müssen, ahnte er noch nicht. Heiji saß wieder einmal auf der Couch des Professors. Neben sich stand eine Kiste mit Büchern, die ihm der alte Mann heute Morgen in die Hand gedrückt hatte – seine persönliche Sammlung handsignierter Bände des Barons der Nacht. In seiner Hemdtasche steckte die Radarbrille. Immer wieder sah er von dem Buch auf, das er gerade las - dem zweiten Band des Barons der Nacht. Immer wieder kontrollierte er, ob das Auto noch in der Einfahrt der Kudô-Villa stand. Bisher hatte sich nichts getan. Er musste gestehen, er kam sich schäbig vor. Heiji hasste es, dass er dem Vater seines besten Freundes hinterherschnüffelte, wie er es mit gewöhnlichen Kriminellen zu tun pflegte. Und immer noch hoffte er, dass er mit seinem Verdacht falsch lag. Aber andererseits… warf er immer wieder seine Überlegungen über den Haufen, die sich darum drehten, seinem Gewissen Genüge zu tun und den Transmitter wieder zu entfernen. Wenn Yusaku Kudô der Boss war… dann war er es Shinichi schuldig, das zu beweisen, solange er selbst es nicht konnte. Wenn dieser begnadete Schriftsteller die Inkarnation seiner eigenen Romanfigur geworden war, dann musste er das beweisen - und Shinichi warnen. Zwar war er sich sicher, dass Yusaku seinem Sohn nichts antun würde – alle Aktionen des Bosses sprachen ja dafür, dass ihm viel am Leben Shinichis lag. Aber eben… als Boss der Organisation musste diese Person sich letzten Endes fügen. Der Organisation. Seinem Schicksal. Sollte Yusaku Kudô wirklich der Boss sein… dann musste sein Leben gerade einem Aufenthalt in der Hölle Konkurrenz machen. Und Heiji fragte sich ernsthaft, ob sich Yusaku, so er der Boss war, seiner Lage bewusst war. Er musste sich doch darüber im Klaren sein, dass dieser Zustand hier nicht auf ewig hielt. Dass weder er dieses Doppelleben noch lange aufrecht erhalten können würde – noch dass er seine Familie auf Dauer würde schützen können. Shinichi stand auf der Abschussliste, und zwar ganz weit oben - keiner wusste das besser als der Boss. Daran, wie er Shinichi das beibringen wollte, wenn er denn den endgültigen Beweis dafür in die Hände bekam, dass sein Vater einer der raffiniertesten und gefährlichsten Männer Japans war… daran… wollte er gerade lieber nicht denken. Am besten wäre es wohl, Shinichi… wenn du dich endlich wieder erinnerst. Auch wenn du vielleicht gerade das nich‘ willst. Langsam senkte er seinen Blick wieder, tauchte ein in die Nacht, in die Szene, die die Buchstaben vor seinen Augen woben, um mit dem Baron seinen nächsten großen Coup zu starten. Shinichi hatte sich nach dem Frühstück wieder dem Manuskript gewidmet. Ihm fiel ohnehin Stück für Stück die Decke auf den Kopf, und da war ihm jede Ablenkung, jede Beschäftigung recht – solange er noch warten musste… warten musste bis morgen. Morgen war der Tag, von dem er sich so viel erhoffte, von dem er sich ein Stück seines Lebens zurückwünschte. Morgen würden sie in die Wälder fahren, an die Stelle, an der man ihn gefunden hatte. Sie würden den Strand besuchen, die Klippen, ihren Zeltplatz – alle Orte, die sie beim Camping aufgesucht hatten. Er merkte, wie sich in seinem Magen ein flaues Gefühl breitmachte, bei dem Gedanken daran. Ein leichter Schauer rieselte von seinen Fingerspitzen zu seinen Zehen, machte sich als leises Prickeln im Nacken bemerkbar. Shinichi konnte nicht verhindern, dass in ihm die Hoffnung keimte, dass irgendwo zwischen den herbstlichen Blättern ein Stück seiner Erinnerung lag… und dort auf ihn wartete, um wieder mitgenommen zu werden. Unwillig seufzte der Oberschüler leise, legte das gerade fertig gelesene Blatt zur Seite, ließ seine Augen über die nächste Seite gleiten. Und so lange er noch warten musste… las er das Manuskript eben fertig. Klar, das hier war ganz offensichtlich das, was man Trivialliteratur nannte; aber sein Vater schrieb wirklich auf extrem hohem Niveau. Die Nacht war sternenklar. Er seufzte lautlos, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte hinauf, sah nichts weiter als die unendliche Finsternis des Weltalls, pechschwarz und still. Pechschwarz und still… und gespickt mit tausenden Sternen – und ein jeder von ihnen funkelte heller als der reinste Diamant. Das All hielt einen Ewigkeitsanspruch inne, der mit keinem irdischen Phänomen vergleichbar war. Wunderschön und unfassbar groß. Und doch wusste er, dass manche dieser Sterne, deren Leuchten er noch sah, längst vergangen waren. Ihr Strahlen bestand noch, ein Abglanz ihrer selbst, ihre letzte Botschaft an jeden, der es sah. Sie selbst waren bereits erloschen, tot – gestorben, Lichtjahre entfernt; und irgendwann würde auch ihr Leuchten vergangen sein, und nichts blieb mehr, das von ihnen zeugte. Genauso würde es bei ihm sein. Ein bitteres Lächeln kroch auf seine Lippen. Mit etwas Glück würde seine letzte Tat über seinen Tod hinaus wirken, alles überstrahlen, das er verbrochen hatte, alle Taten sühnen, die er begangen hatte. Aber irgendwann, dessen war er sich sicher, würde er vergessen sein. Er war es auch nicht wert, in Erinnerung behalten zu werden. Dann holte ein eisiger Luftzug ihn zurück in die Gegenwart, und er wandte seinen Kopf. Er stand auf dem Dach des Millennium Towers, und der Wind, der aufkam, fing sich in seinem Umhang, riss ihn fast mit sich. Kurz wankte er, schaute in die Tiefe, sah Tokio fast einen Kilometer unter sich. ‚Irrwitzig, was der Mensch für Bauwerke in die Gegend stellt… er versucht es doch immer wieder; immer wieder will er den Naturgesetzen trotzen, ihren Gewalten die Stirn bieten, zeigen, dass er es besser kann als sie… und muss sich doch immer und immer wieder eines Besseren belehren lassen. Und diese Lektionen… sind fast immer schmerzhafte.‘ Dann stand er wieder fest, seine Augen durch die schmalen Schlitze seiner Maske starr auf den Boden geheftet. Autos rasten unter ihm in der Dunkelheit vorbei – Ströme aus weißen und roten Lichtern, die so schnell vorbeizogen, dass sie als leuchtende Wirbel erschienen, die sich die Straße entlang wanden. Reklametafeln blinkten und blitzten, besonders Karaokebars machten durch diese Art von Werbung auf sich aufmerksam – und wirkten doch in ihrer Winzigkeit unglaublich unscheinbar. Hier in dieser Höhe verlor das Nachtleben Tokios seine Hektik, seine Lautheit, alles Grelle und Schrille… und das lag einzig und allein an der Stille. Kein Ton drang an seine Ohren, nichts weiter außer dem Rauschen des Windes, der um die Fassade pfiff und an seinem Mantel zerrte. Der Baron zog ihn etwas enger um sich, dann prüfte er kurz noch den Sitz seiner Maske. Sie würde heute fallen… Allerdings – noch nicht jetzt. Einen letzten Dienst würde ihm das starre, bösartige, weiße Antlitz noch erweisen müssen, ehe sie ihr Ende fand. Shinichi starrte auf das weiße Blatt, ohne die Buchstaben zu lesen. Dann wandte er sich um, sah seinen Vater über einem weiteren Blatt sitzen, emsig kratzte die Feder über das blütenweiße Papier. „Was hast du mit ihm vor…?“ Yusaku fuhr auf. Shinichi hatte sich aufgesetzt, einen Packen Blätter in den Händen, sah ihn fragend an. „Was meinst du?“ Yusaku schraubte den Füller zu, legte ihn beiseite, stand dann langsam auf und trat näher. Shinichi verfolgte jede seiner Bewegungen, setzte sich wieder etwas bequemer hin, als er ein unangenehmes Ziehen in seiner Seite bemerkte. Yusaku steckte sich langsam die Hände in die Hosentaschen, schaute seinen Sohn aufmerksam an. Shinichi warf einen kurzen Blick auf das Manuskript, dann hielt er es in die Höhe. „Er hört sich an, als wolle er Schluss machen. Willst du die Reihe beenden? Warum?“ Der Schriftsteller seufzte leise, ließ sich seinem Sohn gegenüber in einen Sessel sinken, langsam. Dann nahm er die Hände aus den Hosentaschen, legte die Fingerspitzen aneinander, ehe er zu einer Antwort ansetzte. „Erstens, ja- will ich. Und zu deiner zweiten Frage: er hat sein Leben einfach satt, so wie es ist.“ Shinichi lächelte, in seinen Augen blitzte kurz Amüsement. „Tatsächlich? Wann hat er dir das gesagt?“ Yusaku grinste kurz – seine Bartspitzen hoben sich, seine Augen jedoch blieben ernst. Shinichi registrierte das, sagte allerdings nichts. „Wir kennen uns nun schon sehr lange, er und ich…“, begann Yusaku langsam, warf Shinichi einen kurzen Blick zu, fand es zu seinem Erstaunen jedoch unmöglich, ihm länger in die Augen zu sehen. Shinichis Blick ruhte ernst auf seinem Gesicht, jeder Anflug von Erheiterung war verschwunden aus seinen Zügen. Der Schriftsteller schüttelte kurz den Kopf, strich sich durch die Haare. Er starrte auf die Kaffeetasse, die auf dem Tisch stand. Sie war noch halbvoll, und der Geruch von starkem, langsam kalt gewordenem Kaffee kroch ihm in die Nase. Er seufzte. „Weißt du, es mag seltsam klingen, aber als ich als Schriftsteller anfing, da kam er mir nicht vor wie eine… erfundene Figur. Er trat in mein Leben, offen für alles. Ich machte einen Mörder aus ihm. Ich hab ihn im ersten Roman gezwungen, zu töten. Ich hab aus einem kleinen Taschendieb einen Meisterdieb und Mörder gemacht. Er hat es geschehen lassen. Ich denke, anfangs war es ein Problem für ihn…“ Er lächelte müde, blickte kurz auf. „Ich denke wirklich, man merkt ihm in den ersten beiden Bänden seine Unmut, seine Reue an. Später, dann… ich denke, er hatte Blut geleckt. Er sah, was er erreichte, wurde immer skrupelloser. Er führte zwei Leben, wie du vielleicht mitbekommen hast; seine wahre Identität, der Mensch, der er tagsüber war, wurde nie enthüllt. Nachts, allerdings… des Nachts war er der Baron. Er stahl, er tötete, er herrschte. Er ist ein Despot in seinem eigenen Reicht der Dunkelheit, ein Gesetzloser, ein Gejagter und ein Jäger in einer Person.“ Unwillig massierte er sich die Schläfen, als er merkte, wie unangenehmes Pochen sich in seinem Kopf ausbreitete. „Du wirst mich sicher für einen Verrückten halten, dass ich über ihn spreche, wie über einen echten Menschen. Natürlich habe ich ihn erfunden, aber irgendwie… schien er immer ein Eigenleben zu haben. Wir haben miteinander gerungen, und irgendwie bekam ich wohl meinen Willen, ich war schließlich der mit der Feder in der Hand. Eine Zeitlang arbeiteten wir dann Hand in Hand und nun… sind wir wieder an einem Wendepunkt angekommen. An unserem letzten… er will nicht mehr… und ich… ich auch nicht.“ Erneut schaute er auf, sein Blick seltsam starr. „Kein Mensch kann mit solchen Taten leben und glücklich sein. Kein lebender, und kein fiktiver.“ Shinichi lehnte sich zurück, legte das Manuskript beiseite. „Klingt schlüssig.“ „Freut mich, dass du das so siehst.“ Yusaku ließ seinen Kopf los, umfasste mit seinen Händen die Armlehnen des Stuhls, atmete langsam aus. „Aber eine Frage hätte ich doch - was war es konkret, dass ihn… euch… zum Umdenken brachte?“ Shinichi faltete die Hände über seinem Knie, beugte sich interessiert nach vorn. Sein Vater lächelte, als er den Ausdruck unverhohlener Neugierde im Gesicht seines Sohns sah. „Ich denke, du wirst es noch erfahren. Lies einfach weiter.“ Shinichi seufzte. „Lies es einfach zu Ende, Shinichi. Die Geschichte verliert an Reiz, wenn man das Ende kennt, bevor man die Geschehnisse nachvollzogen hat, die darauf hinauslaufen.“ Damit stand er auf, drückte ihm kurz die Schulter und verließ das Zimmer, als er merkte, dass in seiner Tasche sein Handy zu vibrieren begann. Shinichi starrte ihm hinterher, mit dem seltsamen Gefühl, dass er aus dem Buch unter Umständen nicht nur eine Geschichte herauslesen konnte. Yusaku unterdessen trat in die Bibliothek, zog sein Handy aus der Tasche, fluchte lautlos, als er die Nummer sah, die ihm das Display zeigte. Er verschwand hinter ein paar Bücherregalen ans andere Ende des Raums, nahm erst dann den Anruf entgegen. „Was ist?!“, zischte er ins Telefon. Er konnte diesen Lackaffen Absinth am anderen Ende der Leitung fast grinsen hören. „Cognac, es tut mir Leid, Sie in dieser Sache zu behelligen müssen, noch dazu… wo es ja durch und durch die Schuld des Triumvirats ist, dass es überhaupt dazu gekommen ist.“ Er zog die Stirn kraus. Ihm war klar, was Absinth plante. „Fassen Sie sich kurz, Absinth. Meine Zeit ist kostbar.“ Yusaku spähte um die Ecke. Die Tür zur Bibliothek war noch immer geschlossen. „Nun, wie Sie ganz richtig festgestellt hatten, ist das Scheitern der Gefangennahme Ihres Sohns unserer Misskoordination und fehlendem Gespür für Taktik und Strategie zu verdanken…“ Yusaku brodelte innerlich. Er wusste, dass Absinth das absichtlich tat, dieses genüssliche Herumreden um den Kern der Sache; aber er wusste auch, dass, wenn er sich noch weiter darüber aufregte, dies keinesfalls zur Beschleunigung der Angelegenheit führen würde. Er atmete also tief durch. „Ja, ich erinnere mich deutlich. Ihr drei hattet fulminant Mist gebaut. Und zwar derart, dass die Folgen immer noch außerordentlich deutlich zu spüren sind.“ Er seufzte, warf einen Blick aus dem Fenster. Vorm Haus des Professors stand immer noch die Zivilstreife der Polizei. Meguré war gründlich, und nicht willens, noch ein weiteres Risiko einzugehen. „Nun, leider zieht diese… etwas missglückte Operation…“ Der Schriftsteller hielt an sich, etwas zu sagen. „… auch Folgen nach sich, was unsere personelle Aufstellung betrifft.“ „Mhm.“ Yusaku dachte kurz nach. „Um welche Mitglieder handelt es sich konkret?“ „Beaujolais. Es wundert mich, dass Sie fragen.“ Yusaku horchte auf. Das spielte ihm ja unter Umständen ausnahmsweise mal in die Karten. „Ich erinnere mich vage, ihren Namen im Bericht gelesen zu haben.“, meinte er dann kühl, schaute dabei aufmerksam um sich, um eventuelle unerwünschte Mithörer zu entdecken. Absinth lächelte. „Der Bericht, ja. Sie war diejenige, die Ihren Sohn unter ihren Augen aus dem Krankenhaus hat fahren lassen.“ Ein grimmiges Lächeln schlich sich auf Yusakus Lippen. Er für seinen Fall war diesmal über die Unfähigkeit dieser Frau sogar mal dankbar. Anmerken durfte er sich das aber nicht lassen. „Welche Art von Ahndung schwebt Ihnen vor, Absinth?“, meinte er dann langsam. „Was ihren Fall und die daraus folgenden disziplinarischen Maßnahmen betrifft, hätte ich doch gern, dass Sie sich darüber mit uns dreien unterhalten, Cognac. Schließlich wollen wir uns ja durchaus kooperativ und loyal zeigen.“ Eine leise Drohung schwang in diesen Worten mit, und der Schriftsteller wusste genau, worauf sie abzielte. Yusaku beugte sich vor, sah den Gang nach vorne, wo Shinichi immer noch auf dem Sofa mehr hing als saß und sein Manuskript durchging. „Da wir momentan genug zu tun haben, hält das Triumvirat es für sinnvoll, dieser Angelegenheit sofort Aufmerksamkeit zu schenken- je eher die Sache vom Tisch ist, umso besser.“ Die Stimme des Triumviratsmitglieds klang fest, und hörte sich keinesfalls so an, als würde sie Widerspruch dulden. Yusaku überlegte kurz. Tatsächlich wäre es momentan möglich, sich für ein paar Stunden zu verabschieden; Shinichi las, Heiji und Kazuha waren beim Professor und Yukiko würde es nicht auffallen, wenn er sich unter dem Grund, sich kurz mit seinem Verleger zu treffen, aus dem Staub machte. Er musste ihr nur einen Grund nennen… und am besten traf er sich auch wirklich noch mit seinem Verleger, für den Fall der Fälle, dass sie sein Alibi nachprüfen wollte. Also nickte er langsam. „Schön, Absinth. Bereiten Sie alles vor, ich bin in etwa einer Stunde bei Ihnen.“ Heiji fuhr hoch, als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel vernahm. Als er sah, wer das Haus verlassen hatte und auf sein Auto zusteuerte, warf er das Buch, in dem er bis gerade eben gelesen hatte, achtlos neben sich aufs Sofa, sprang auf und rannte in den Flur. Ai warf ihm einen fragenden Blick aus hochgezogenen Augenbrauen zu. Heiji bemerkte ihn gar nicht, sondern beeilte sich, in seine Schuhe zu kommen, griff sich im Laufen seine Jacke, dann hielt er inne, machte vorsichtig die Haustür auf, wartete, bis das Auto an ihm vorbeigefahren war. Dann lief er zu seinem Motorrad, das in der Auffahrt parkte. Kazuha erschien etwas atemlos in der Haustür. „Heiji! Wo willste denn hin?“ Er antwortete nicht, hatte sich bereits auf sein Motorrad geschwungen, die Brille auf der Nase, und erweckte sein Gefährt mit einem Kick zum Leben. Einen Augenblick später war er unter lautem Geratter um die Ecke gebrettert und aus Kazuhas Blickfeld verschwunden. Ratlos starrte sie ihm hinterher. Neben ihr erschien Ai in der Tür, ihre Hände vor der Brust verschränkt, auf ihrem Gesicht ein ernster Ausdruck. Sie ahnte, was Heiji vorhatte. Sie hatte die Brille, die er seit gestern mit sich herumtrug, sofort erkannt, auch wenn man sie in der Tasche seines Hemds fast nicht sah. Ihn verdächtigst du also, Heiji? Ich gebe zu, der Gedanke ist nicht abwegig… Aber wir sollten uns doch wünschen, dass du dich irrst. Für ihn. Heiji hingegen raste durch den Vormittagsverkehr Tokios, versuchte, den blinkenden Punkt auf seinem Radar nicht zu verlieren, und fragte sich gerade ernsthaft, wie Kudô das immer geschafft hatte, mit dem Ding auf der Nase irgendwem zu folgen. Er fand es irrsinnig schwer, gleichzeitig dem Verkehr als auch seinem Ziel die nötige Aufmerksamkeit zu schenken - und noch dazu wollte er Yusaku Kudô nicht zu sehr auf die Pelle rücken, schließlich sollte der Mann nicht mitbekommen, was hier lief. Was er nicht wusste, war, dass Yusaku Kudô natürlich schon lange wusste, dass ihm der beste Freund seines Sohns auf den Fersen war. Zwar war diese erste Konfrontation nicht geplant gewesen, allerdings hatte er schon eine konkrete Ahnung, wie er vorgehen wollte. Auch wenn ihm, das musste er zugeben, die Tatsache, sich um Heiji auch noch kümmern zu müssen, gerade in diesem Moment etwas ärgerte. Als ob ein Schülerdetektiv nicht reichen würde. Er warf einen schnellen Blick in den Rückspiegel, stellte fest, dass er den Jungen aus Osaka nicht sah; also verfolgte ihn der Kerl wohl außerhalb Sichtweite. Das hatte einen Vorteil; er bekam nicht mit, wohin er fuhr, oder wenn er ausstieg und das Fahrzeug wechselte- wenn er schnell war. Ein spöttisches Lächeln schlich ihm auf die Lippen. Heiji Hattori – wenn du wüsstest. Ich bin schon mit allen Wassern gewaschen – nichts, das du tust, kann mich noch überraschen. Dann lenkte er seinen Wagen Richtung Innenstadt. Sein Ziel war das nächste große Einkaufszentrum. Das nächste große Einkaufszentrum mit mehrstöckiger Tiefgarage. Als Heiji das Auto endlich gefunden hatte, war das Objekt seiner Beschattung längst über alle Berge. „Verdammt!“ Ein paar weitere unflätige Schimpfwörter füllten das Parkdeck, die ihm eindeutig entsetzte Blicke einbrachten, sowohl von einem älteren Ehepaar, das gerade nach ihrem Auto fahndete, als auch von einer jungen Mutter, die ihrem Kind schleunigst die Ohren zuhielt. Heiji hingegen ließ sich gegen einen der Pfeiler sinken, die die Decks stützten, und verschränkte die Arme vor der Brust, überlegte. Was suchte Yusaku Kudô hier? War er Einkaufen gegangen? Wenn ja, was? Ihn hier zu suchen kam der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleich. Wenn er hier sein Auto abstellte, um anschließend in die Innenstadt zu gehen, aus welchen Gründen auch immer – eine Metapher für diese Art von Suche kam ihm nicht in den Sinn. Einen Mann mittlerer Größe und mittleren Alters, im Sportsakko in der Innenstadt Tokios zu finden, war wie ein Sechser im Lotto. Selbst einen Elefanten würde man hier nicht so schnell finden, geschweige denn eine Person, die aussah wie ungefähr vierzig Prozent der sich zu dieser Tageszeit in diesem Raum bewegenden Personen. Unwillig drehte er sich um, ging zu seinem Motorrad. Er schätzte es für leidlich sinnlos ein, hier auf den Mann zu warten – er war sich sicher, dass er ihm dann ohnehin nur nach Hause folgen würde. Egal ob Kudôs Vater der Boss war oder nicht – für heute war die Beschattung gelaufen. Yusaku Kudô war über Umwege ins Hauptquartier gekommen. Er hatte sich, nachdem er aus der Kaufhaustiefgarage getreten war, ein Taxi genommen, das ihn in die Nähe des Gebäudes brachte; anschließend hatte er sich von Sharon, wie schon so oft, aufgabeln lassen. Sie war es nun, die ihr Auto die letzten Kilometer zum Hauptquartier lenkte, und sich von Yusaku auf den neuesten Stand bringen ließ. „Beaujolais?“ Sie zog die Augenbrauen hoch, nickte dann aber. „Tja, das wundert mich nicht. As far as I recall, she did really bad. Die Gute hat richtig Mist gebaut.“ Sharon lächelte kurz. „Mist im Sinne der Organisation, to be correct. Was uns betrifft - uns konnte ja nichts Besseres passieren, als dass sie den guten Shinichi, die lebende Leiche, unter ihren Augen aus dem Krankenhaus hat fahren lassen. Exceptionally stupid, indeed.“ Sie parkte ihren BMW schwungvoll ein. Yusaku griff unwillkürlich nach der Armlehne, sah sie an. „Allerdings. Er wär sonst tot.“ Fahrig strich er sich übers Gesicht. Ihr war das Lächeln von den Lippen gebröckelt; ernst sah sie ihn nun an – ein Ausdruck auf ihrem Gesicht, den man bei ihr nicht gewohnt war. Ein Ausdruck, der die alte Sharon verriet, die sie sonst so sorgsam versteckte. „Yusaku, that mustn’t ever happen again. Nie wieder darf das Triumvirat etwas solches tun - nie wieder darf es so hinter deinem Rücken entscheiden. Or else, he’ll be dead without our notice. Wir werden sonst nur noch seine Beerdigung mitbekommen.” Er nickte nur, stieg wortlos aus, schritt gemessenen Schrittes über den Hof. Hinter sich hörte er kurz die Zentralverriegelung des BMW klicken, dann folgte ihm das abgehackte Stakkato von Sharons High Heels über die großen, grauen Betonpflastersteine. Unwillig ließ er seinen Blick nach oben schweifen. Von außen betrachtet sah das Gebäude aus wie eine stillgelegte Fabrik. Eine überaus hässliche, stillgelegte Fabrik, ein schmuckloser, schwarzgrauer Betonklotz mit Fensterbändern und Flachdächern. Eine weitere Bausünde, wie sie in Japans Landschaft leider zu oft anzutreffen war. Was für ein Ameisennest sie beherbergte, war keinem bewusst, der das Bauwerk aus der Ferne – oder auch aus der Nähe sah. Erst, wer es betrat, bekam eine Ahnung von den Geschäften und der Geschäftigkeit, die ihm innewohnten. Allerdings kam kein Unbefugter je so weit. An den Haupteingangstoren standen Mitglieder der Organisation in Pförtner- und Wachmannuniform, um jeden abzuwimmeln, der sich doch hierher verirrte - mit dem Hinweis auf die Lagerung von Gefahrenstoffen ließ sich für gewöhnlich jeder noch so neugierige Wanderer loswerden. Und für die Behörden war das hier auch nichts anderes – ein Lager und eine Entsorgungs- und Aufbereitungsanlage für Altöl und ähnliches. Mit ein paar Mitgliedern der Organisation in den entscheidenden Positionen und ein paar Millionen Yen Bestechungsgeldern jährlich ließ man sie hier ganz gut in Ruhe – dort, wo man überhaupt noch von ihnen wusste. Für alle anderen war dieses Gebiet hier ohnehin ein weißer, beziehungsweise grüner Fleck auf ihrer Landkarte. Was ihn betraf - für die Mitglieder, die ihn sahen, war er einer der ihren; keiner wusste von seiner Identität als Boss, keiner ahnte, dass er die vielbeschworene und ominöse, gefürchtete „graue Eminenz“ war. Der Verein hier war mit den Jahren so groß und damit so anonym geworden, dass längst nicht mehr jeder jeden kannte. Auch Beaujolais kannte ihn nicht. Sie würde ihn auch nicht kennenlernen. Ganz davon abgesehen pflegte er eher selten den Haupteingang zu benutzen; er bediente sich mit Vorliebe der Geheimgänge, und er kannte sie alle. Heute jedoch steuerte er den nächsten Eingang an, den er sah. Er hatte es eilig, und sich durch die Geheimgänge bis in die Chefetage winden, das stahl Zeit – es musste heute reichen, wenn er den Rest ungesehen zurücklegte. Er zückte seinen Ausweis, wurde vom Pförtner durchgewunken, genauso wie Sharon hinter ihm. Dann eilte er den Gang entlang, zum nächsten Aufzug. Wie immer blitzte alles vor Sauberkeit; die hausinterne Putzkolonne arbeitete ordentlich und in Schichten. Ungeduldig drückte er auf den Knopf, um den Lift zu rufen, warf dabei Sharon einen ernsten Blick zu. Sie erwiderte ihn nicht, starrte stattdessen auf die Aufzugtüren mit ihrer Oberfläche aus gebürstetem Stahl, als könne sie sie per Telekinese dazu zwingen, sich zu öffnen. Als wenige Augenblicke ein leises ‚Ping!‘ die Ankunft der Kabine ankündigte und die Türen fast lautlos beiseite glitten, traten sie ein, drehten sich um und stellten sich beide mit dem Rücken gegen die Wand. Yusaku starrte nach draußen, während Vermouth mit der flachen Hand auf die gewünschte Etage klatschte. Etwa bei der Hälfte der der Fahrt hielt sie den Aufzug an. Yusaku zog einen Schlüssel hervor, hebelte mit einer geschickten Bewegung die Bedientafel auf und steckte den Schlüssel in das dafür vorgesehene Schloss. Hinter ihnen klickte es mechanisch, und er wusste, dass der Schließmechanismus betätigt worden war. Sharon griff nach der Rückwand, die ein Stück vorgesprungen war, und zog sie auf; dahinter erstreckte sich ein weiß gekachelter Gang. Yusaku zog den Schlüssel ab und klopfte die Schalttafel wieder fest, ehe er in den Gang trat und die Tür eilig hinter sich schloss. Sie würde allein nach oben fahren und den gewöhnlichen Weg zu ihm ins Büro nehmen. Je weniger Aufmerksamkeit sie beiden vom Triumvirat auf sich zogen, umso besser. Wenige Minuten später und ein paar Treppen höher betrat er sein Büro, das, wie er erfreut feststellte, verschlossen und leer war, ganz so, wie er es zurückgelassen hatte. Allerdings verrieten ihm Stimmen vor der Tür, dass schon jemand auf ihn wartete. Er seufzte, trank einen Schluck Wasser aus einer Flasche, die er sich aus dem Kühlschrank der Minibar holte. Dann erst bewegte er sich zur Tür und öffnete sie. Innerlich zählte er bis drei ehe er sich umdrehte und sich zu seinem Schreibtisch zurückbegab. Absinth, Cachaça und Rum betraten den Raum, schlossen die Tür hinter sich. „Meine Herren. Ich hoffe, wir kommen hier heute schnell zu einem Konsens - wie Euch bekannt sein dürfte, bin ich ein beschäftigter Mann.“ Er lächelte zynisch. „Wenn Ihr mir nun also kurz und bündig den Sachverhalt darlegtet?“ Die drei Männer ließen sich ihm gegenüber in die Sessel sinken, tauschten Blicke aus, aus denen sich schwer etwas erkennen ließ. Yusaku lehnte sich zurück, legte seine Fingerspitzen aneinander. „Heute noch, bitte.“ Rum räusperte sich, ein Ton, der wie entferntes Donnergrollen klang. Sein Gesicht war unbewegt wie eh und je, seine ganze Haltung sprach von unaufdringlicher Selbstsicherheit und Gelassenheit. „Wie Sie mittlerweile wissen, Cognac, war das Ziel jener missglückten Operation vor ein paar Tagen im Krankenhaus, den Entflohenen zurückzubringen…“ Yusaku zog seine Augenbrauen zusammen. „Macht euch nicht lächerlich. Ihr habt Gin auf ihn angesetzt, und Ihr wusstet, das er ihn keinesfalls nur zurückbringt…“ „Wir machten keine Angaben darüber, in welchem Zustand er sein würde, wenn er wieder hier ist.“, bemerkte Absinth spitz, lächelte breit. Yusaku lehnte sich vor, lächelte mindestens genauso breit. „Und Ihr könnt von Glück sprechen, Absinth, dass euer Plan missglückt ist - denn hättet Ihr ihn an jenem Abend umgebracht, hätte ich euch wegen eigenmächtigen Handelns mit weitreichenden Folgen vom Dienst suspendieren und entsprechend bestrafen können – und dieser Paragraph bezieht sich eindeutig auf das willkürliche Töten von Mitgliedern oder wichtigen Gefangenen. Ihr solltet euch, bevor Ihr das nächste Mal eine kleine Vendetta an mir plant, oder irgendwelche anderen Intrigen spinnt, das Regelwerk durchlesen, dass unser Miteinander hier gewissen Ordnungen unterwirft.“ Yusaku war aufgestanden, hatte einen dicken Wälzer aus dem Regal gezogen und ließ ihn vor Absinth auf den Tisch fallen, schlug ihn auf, deutete mit dem Finger auf eine Stelle. „Also wäre eure Aktion von vorneherein regelwidrig gewesen, hättet Ihr ihn umgebracht. Und jetzt erzählt mir nicht, Ihr hättet ihn in Watte gepackt nach Hause gefahren. Dafür wäre Gin nämlich, und das wisst Ihr, nach der Vorgeschichte der beiden, der falsche Mann gewesen. Aber darum…“ Er schlug das Buch mit einer eleganten Handbewegung geräuschvoll zu, bemerkte mit Genugtuung die steinernen Mienen des Triumvirats. „… geht es ja jetzt nicht. Es geht um Beaujolais, die Ihr, wenn ich das Recht verstehe, wegen ihres Versagens bestrafen wollt – ich stimme euch zu, so ein kapitaler Fehler, der ihr unterlaufen ist, sollte tatsächlich nicht passieren, bei einer echten Operation wäre das indiskutabel. Was schlagt Ihr also vor?“ Shinichi lag Rücklings auf dem Sofa, starrte an die Decke. Neben ihm auf dem Boden lag der Papierstoß, den er nun vollständig durchgelesen hatte. Er kannte das Ende noch nicht; er wusste, sein Vater hatte noch ein paar Kapitel vorgeschrieben, aber noch nicht getippt, und so sehr ihn auch seine Neugier dazu trieb, so sah er sich doch vor, die Blätter anzurühren. Er wollte kein entgegengebrachtes Vertrauen enttäuschen. Außerdem… was er bis jetzt zu lesen bekommen hatte, gab ihm ohnehin schon genug zu denken. Unwillkürlich zog er die Augenbrauen zusammen, schloss die Augen. Irgendwie hatte ich die letzten Tage über das Gefühl, als würde er mir ausweichen… wenn er mit mir spricht, kann er mich nicht lange ansehen; wenn es geht, spricht er mich gar nicht erst an. Bis vorhin… Kurz dachte ich, jetzt erfahre ich etwas über ihn. Als er mir erzählt hat, wie er schreibt, wie er den Baron der Nacht erfunden hat. Aber selbst dann… dann weicht er wieder aus. Gibt auf keine Frage eine Antwort, und verzieht sich so schnell es geht. Er fragt mich nicht nach meiner Meinung, er fragt nicht, wie’s mir überhaupt geht. Er erzählt mir nichts von sich, nichts von uns. Und ich frage mich… warum…? Dann roch er den Duft von Rose und Sandelholz, öffnete die Augen. Wie er erwartet hatte, hatte sich seine Mutter über ihn gebeugt. In den Händen hielt sie zwei Teller mit je einem Sandwich, reichte eins ihrem Sohn. „Da dein Vater gerade mal wieder abgedampft ist, dachte ich, wir kochen abends und behelfen uns jetzt mit einem Snack.“, meinte sie, als sie sich neben ihn niederließ. Shinichi rutschte bereitwillig ein Stückchen beiseite. „Macht er das öfter?“ „Hm?“ Yukiko hatte gerade ein Stückchen von ihrem Sandwich abgebissen, sah ihn fragend an. „Naja… du sagtest, er wäre mal wieder abgedampft. Daraus schließe ich, er macht das wohl öfter.“ Er sah sie an, führte dann sein Brötchen zum Mund und biss hinein, ließ sie jedoch nicht aus den Augen. Seine Mutter kaute bedächtig, ließ dann den Teller in ihren Schoß sinken, wandte den Blick ab. Ein betrübter Ausdruck machte sich auf ihrem Gesicht breit. Shinichi stellte sein Teller ab, beugte sich vor. „Ist etwas? Hätte ich… nicht fragen sollen, ich meine…“ Er wurde rot, geriet ins Stottern. Yukiko sah ihn an, merkte, in welche Richtung seine Gedanken ging, kam nun nicht umhin, doch kurz zu kichern; allerdings wurde ihre Miene sofort wieder ernst. „Wenn du meinst, er hat eine andere… nein. Nein.“ Sie lächelte kurz. „Nein. Das ist es nicht… und eigentlich verschwindet er nicht einfach so, nicht so häufig. Diesmal hat er zwar gesagt, er müsste kurz zu seinem Verleger, was nicht unwahrscheinlich ist, eigentlich… aber er war die letzten Tage so oft einfach mal weg, unauffindbar, auf unbestimmte Zeit, dass es mir schwerfällt, ihm das jetzt zu glauben.“ Ein leises Seufzen kroch ihr über die Lippen. „Du denkst also, er verheimlicht dir was?“ Sie wiegte langsam den Kopf, ihr Gesicht verriet ihren Unwillen deutlich. Sie kaute auf ihrer Lippe, verschränkte die Arme vor der Brust. „Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber ja. Irgendwie schon.“ „Dann sind wir schon zu zweit.“ Shinichi starrte auf die Tischplatte, wo sein Sandwich stand – der Appetit war ihm irgendwie vergangen. Yukikos Kopf war herumgefahren, ob der Aussage ihres Sohns, sah ihn erstaunt an. „Wie kommst du darauf?“ Shinichi fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. „Nun, ich meine, ich weiß, ich bin momentan schwer zu ertragen. Ich erkenn euch nicht, ich bin misstrauisch und skeptisch, ich fühl mich fremd, und ich denke, ihr merkt das.“ Er lächelte traurig. „Dabei bemüh ich mich, das hier für alltäglich zu finden, mich zu gewöhnen, aber es geht nicht. Aber im Gegensatz zu dir, die sich ständig kümmert, die nach mir sieht, mich fragt, wie’s mir geht, mir erklärt und erzählt… sagt und tut er nichts von sich aus. Gut, ich mach auch nichts, weil ich nicht weiß, wie weit ich gehen kann. Ich weiß ja nichts mehr über unser Verhältnis. Aber irgendwie… dachte ich doch, das wär anders. Ich dachte, er erzählt mir von sich. Von unserer Beziehung. Er fing erst zu sprechen an, als ich ihn über seinen Roman fragte, und da hatte ich das Gefühl hinterher, dass er jetzt bereut, mir so viel gesagt zu haben. Ich werd nicht schlau aus ihm. Ich dachte, es läge nur an mir, aber wenn du auch sagst, du hättest Veränderungen bemerkt- vielleicht täusch ich mich ja doch nicht…?“ Er beugte sich vor, warf ihr einen fragenden Blick zu. „Klingt das wirr?“ „Nein.“ Yukiko schüttelte den Kopf. „Ich meine, ich kann bestätigen… so sehr wir uns alle bemühen, die Situation ist komisch. Schwer. Und ich muss gestehen… es ist fast unerträglich, dich anzusehen, und in deinen Augen nicht den leisesten Funken von Erkennen zu sehen…“ Sie merkte, wie ihre Stimme brach. Er biss sich auf die Lippen, wandte den Kopf ab. Yukiko schluckte, rang kurz mit sich. „Aber er kommt mir auch anders vor… bedrückter. Als trage er ein Geheimnis mit sich rum, etwas… Schlimmes.“ Shinichi starrte auf die Tischplatte. „Tun wir das nicht alle?“ Yukiko warf ihm einen Blick von der Seite zu, stellte dann ebenfalls ihren Teller ab. „Du wolltest andere beschützen damit, Shinichi.“ Er blickte sie aus den Augenwinkeln an. „Das entschuldigt doch nichts.“, meinte er dann leise. „Ganz ehrlich, das entschuldigt doch rein gar nichts. Es entschuldigt nicht diese riesige falsche Identität, und auch nicht den Traum vom Leben als Meisterdetektiv, den ich Herrn Mori hab träumen lassen, es entschuldigt nicht die unzähligen Lügen die ich Ran aufgetischt hab, es entschuldigt nicht… die vielen Momente, an denen ich das blinde, naive Vertrauen anderer ausgenutzt hab oder euch Kummer und Sorgen bereitet hab. Kein Geheimnis der Welt kann das wert sein. Ich meine, hätte es nicht irgendeinen anderen Weg geben können? Bin ich mir mit meinem Ego einfach nur im Weg gestanden? Hätte ich nicht einfach mal um Hilfe bitten sollen…?“ Er sah sie nun direkt an. „Die Wahrheit sagen, meine Scham und mein angekratztes Ego, meinen Ehrgeiz über Bord werfen, und um Hilfe bitten?!“ Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit. „Und deshalb kann ich ihm Nachhinein nicht verstehen, wie man so etwas machen kann. Wie man seine Familie, seine Freunde, alle die man liebt, gleichzeitig in Gefahr bringen kann, und sie dann auch noch im Unwissenden lässt, mehr noch - bewusst anlügt. Betrügt. Hintergeht.“ Er biss sich auf die Lippen. „Will ich denn so ein Mensch sein…?“ Yukiko starrte ihn sprachlos an. Beaujolais schreckte hoch, als jemand ihr Appartement betrat. Sie war gerade dabei gewesen, den Bericht über ihre missglückte Operation zu lesen; dabei hatte sie sich die Unterlippe zerkaut, was die Lippenstiftspuren auf ihren Zähnen und der fehlende Lippenstift auf ihrer Lippe nur zu deutlich verrieten. Im Türrahmen, das erkannte sie nun, stand Gin. Hinter ihm, im Neonlicht des Flurs, stand Wodka. Die rothaarige Frau stand auf, langsam, merkte, wie ihre Hände kalt wurden. „Das Nachspiel.“, presste sie dann hervor, merkte, dass ihre Stimme auffällig hoch klang, ihre Angst verriet. Gin nickte nur, konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen, als er in ihre vor Furcht geweiteten Augen sah. Er genoss das, das wusste sie. „Was… haben die nun vor?“ „Nichts, worüber sie dich in Kenntnis setzen wollen, Beaujolais.“ Seine Stimme klang kalt wie eh und je. Dann trat er zur Seite, bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, auf den Gang hinauszutreten. Sie merkte, wie weich ihre Knie geworden waren. Und zum ersten Mal fühlte sie am eigenen Körper, wie es all jenen ging, die auf einmal auf der anderen Seite standen - auf der, die der Organisation gegenüber lag. Sie fragte sich, ob er sich genauso gefühlt hatte, als klar war, dass es für ihn keinen Ausweg mehr gab - auch wenn er immer doch noch einen gefunden hatte. Eine kleine Ritze, durch die er sich gequetscht hatte, ein noch so kleines Schlupfloch, durch das er gekrochen und entkommen war. Er, wegen dem sie nun in dieser Lage war. Kudô. Kapitel 38: Kapitel 20: Verdachtsfälle -------------------------------------- Hiho - mit etwas Verspätung ein verhältnismäßig kurzes Kapitel... ich hoffe dennoch, es ist aufschlussreich für euch. Bis nächste Woche! Eure Leira ___________________________________________________________ Kapitel Zwanzig: Verdachtsfälle Sie sah ihm sofort an, dass sein Unternehmen schief gelaufen war. Ai saß auf der Couch, neben sich ein Modemagazin, das sie flüchtig gelesen hatte, und lächelte verhalten, als Heiji sich ihr gegenüber kraftlos wie eine Marionette, der man die Fäden gekappt hatte, ins Sofa fallen ließ und mit geschlossenen Augen liegenblieb. „Lass mich raten - er hat dich abgeschüttelt.“ Heiji öffnete ein Auge träge, schloss es dann wieder. „Ich weiß nich‘ wovon du sprichst.“ Das kleine Mädchen stand auf, trat neben ihm, blieb dicht neben seinem Kopf stehen. „Hör auf damit. Du weißt, was ich meine. Wen ich meine.“ Ihre Stimme war ernst, obwohl sie immer noch so leise sprach, dass er sie fast nicht hörte. „Ich hab einen kleinen Ausflug gemacht. Nichts weiter.“ Er öffnete träge ein Auge, beobachtete sie. Ein Blick aus kristallklaren Augen traf ihn, ihre kindlichen Gesichtszüge viel zu ernst für eine derart süße Grundschülerin. Mein Gott… was fürst du für ein Leben, Haibara? „Hör auf mich zu nerven, Hattori. Du denkst, Yusaku Kudô ist es. Du denkst, Yusaku Kudô ist der Boss.“ Ihre Stimme klang abgeklärt und sachlich, und doch spürte er, wie aufgewühlt sie wirklich war. Das war nicht verwunderlich, dachte er bei sich, denn diese Sache konnte sie alle nicht kalt lassen. Nicht, wenn er Recht hatte. Er merkte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Langsam richtete er sich auf, sah sich zögernd um. Weder vom Professor noch von Kazuha war eine Spur zu sehen. „Beim Einkaufen, bei Ran.“, bemerkte Ai, die wohl seine Gedanken gelesen hatte. „Wir können offen reden. Warum verdächtigst du ausgerechnet ihn? Weißt du, was du für eine Büchse der Pandora öffnest, Heiji? Er ist sein Vater…“ Sie schluckte, merkte, wie ihre Hände kalt wurden. Heiji setzte sich auf, verschränkte seine Hände in seinem Schoß, sah sie nicht an, als er sprach. „Denkste, das weiß ich nich‘?“, fauchte er leise. Der Gedanke verursachte ihm Unbehagen; und es wurde nicht besser, wenn er darüber sprach, stellte er fest. „Und überhaupt… erzähl mir nicht, du ziehst ihn nicht in Betracht.“ Ai schluckte, ließ sich auf die Tischkante sinken. „Das sagte ich nicht.“ „Und doch stellst du mich so hin, als würde ich allein auf diese Idee kommen.“ Heiji zog die Stirn kraus. Ai stieß einen leichten Seufzer aus, beobachtete ihn aus ihren Augenwinkeln, und verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust. „Ich hoffe, er ist es nicht. Ich will nicht nachforschen, weil es eine Katastrophe wäre, wenn sich das bewahrheitet. Wenn er es nämlich ist, Heiji, dann hieße das, dass Shinichi die ganze Zeit umsonst gekämpft hat… ist der Boss sein eigener Vater, verdammt, Heiji… dann hatte er doch nie auch nur die kleinste Chance, diese Sache zu beenden.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Ist Yusaku Kudô der Boss, dann hieße das, Shinichi hat nie, niemals… niemals den Hauch einer Aussicht auf Erfolg gehabt… denn dann konnte er ihm nie einen Schritt voraus sein…!“ Ihre Stimme war lauter geworden, und zunehmend erregter. Abrupt sah sie auf; in ihren Augen lag ein Hauch von Verzweiflung gepaart mit Angst und Abscheu gleichermaßen. „Wenn er es ist, Heiji - weißt du dann, was dieser Mann für ein dreckiges Spiel mit seinem Sohn gespielt hat? All die Jahre? Ich meine, du weißt, was Shinichi durchgemacht hat - auch wenn er sich tapfer gehalten hat, wenn er sich stellenweise vielleicht sogar arrangiert hatte mit dieser absurden Situation, mit seiner zweiten Kindheit… aber dennoch - ich will damit sagen, dass es dennoch ein kräftezehrender Kampf war, den er geführt hat, der ihn gegen Ende immer mehr zermürbt hat, auch wenn man es ihm selten angesehen hat…“ Ihre Stimme verebbte. „Er nahm hin, was ihm momentan nicht zu ändern schien, aber er hat es nie akzeptiert.“, murmelte Heiji leise. Ai nickte. „Wenn es wirklich sein Vater ist, Heiji, dann war das ein Kampf gegen Windmühlen. Oder, um im Bild mit der zweiten Kindheit zu bleiben… dann hat er seinen Sohn die ganze Zeit auf Armeslänge auf Abstand gehalten, wie ein Erwachsener, der einem Kind sein Spielzeug wegnimmt, und es am ausgestreckten Arm in die Höhe hält – das Kind kann springen, wie es will, es kann an den Hemdzipfeln des Erwachsenen zerren und ziehen wie es will… es kommt nicht ran, niemals. Er hatte keine Chance, nie, zu keiner Zeit, wenn Yusaku Kudô der Boss war. Aber spinne den Gedanken doch mal weiter… stell dir vor, er erinnert sich wieder…“ Das Mädchen brach ab. Heiji wurde bleich, wandte seinen Kopf ab. „Du denkst, ein Grund, warum er sein Gedächtnis verloren hat, ist die Identität des Bosses?“ Die rotblonde Grundschülerin nickte gedankenverloren. „Neben der mächtigen Gehirnerschütterung, versteht sich. Aber ich denke, so was haut einen um… jemanden, den man kennt, in dieser Position zu wissen. Und wenn es sein Vater ist… ich denke, dann ist Shinichis Welt nicht mehr die gleiche – und wird es auch nie wieder werden. Das dürfte die Grundfesten seines Glaubens an das Gute und die Wahrheit in der Welt fundamental erschüttert haben… wahrscheinlich so stark, dass alles, was darauf stand, nun in Trümmern liegt. Und wer weiß, ob er es je wieder aufbauen kann, ob er die Kraft dazu findet – oder aufwenden will.“ Heiji verknotete seine Finger, stützte seine Ellenbogen auf seine Knie, sah Ai dann ernst an. „Dir ist aber schon klar, dass gerade das einen starken Hinweis darauf gibt, dass er es tatsächlich sein könnte?“ Ai hob den Kopf. „Ja.“ Dann schüttelte sie ihn sacht, presste ihre Kiefer zusammen, so fest, dass Heiji ihre Zähne knirschen hören konnte. „Aber es wäre so viel besser, er wäre es nicht. Und deshalb… lasse ich meine Finger davon. Und hoffe…“ Heiji lächelte matt. „Du hoffst? Aber ist das nicht eigentlich komplett wider deiner Natur, Shiho?“ Sie zuckte bei der Nennung ihres Namens merklich zusammen, bemühte sich dann um eine säuerliche Mine. „Was weißt du schon von meiner Natur, Hattori.“ Ein abschätziger Blick traf ihn, der ihn allerdings kaum berührte; mittlerweile kannte er sie gut genug, um zu wissen, wie ernst er sie zu nehmen hatte. Ai drehte sie sich um, ging zur Tür. „Ich wollte nur, dass du weißt - du stocherst in einem Hornissennest herum. Sei so gut und halt mit deinen Theorien hinterm Berg, bis du dir sicher bist. Denn selbst wenn Yusaku Kudô der Boss ist - wenn du Recht hast… so können wir doch annehmen, dass er auf seinen Sohn aufpasst, sonst wär Shinichi längst tot. Gefährde das nicht…“ Damit verließ sie das Wohnzimmer, ging um die Ecke, ließ sich in der Küche gegen den Kühlschrank sinken. Und wenn es stimmt und er der Boss ist… dann hat er meine Eltern auf dem Gewissen. Er oder das Triumvirat, aber welchen Unterschied macht das… Der Vater meines besten Freundes… hätte meine Eltern und meine Schwester auf dem Gewissen… Was… Ist er der Boss, dann ist er ein Mörder… und Shinichi sein Sohn. Das darf nicht wahr sein. Das darf einfach nicht wahr sein. Wie absurd wäre das … So grausam kann das Schicksal doch nicht sein?! Langsam rutschte sie zu Boden, als ihre Beine nachgaben, als sie sich der Tragweite dieses Szenarios völlig bewusst wurde. Wie wirst du damit umgehen, Shinichi… Sollte das tatsächlich stimmen, was wirst du tun? Wirst du jemals wieder an Gerechtigkeit glauben können? Was für ein irrer Scherz wäre das… Und wie werde ich damit umgehen…? Solltest du der Sohn desjenigen sein, der meine Familie zerstört hat. … Yukiko stand im Türrahmen, blickte zu Shinichi ins Wohnzimmer. Er saß immer noch regungslos auf dem Sofa und brütete vor sich hin - sah dabei frappierenderweise aus wie immer, und doch gleichzeitig so anders, so fremd. Sie kannte diese Haltung von ihm, kannte diesen Gesichtsausdruck, wenn er nachdachte… und doch war sie da, in seinen Augen, in diesem Blick. Diese Leere. Aber du bist es doch, Shinichi… Yukiko schüttelte die trüben Gedanken ab, trat ins Zimmer. Shinichis Kopf fuhr hoch, als er sie kommen hörte; dann warf er ihr einen fragenden Blick zu. Yukiko kniff die Lippen zusammen, schüttelte dann ihr Haupt; ihre goldbraunen Locken wogten dabei sachte hin und her. Sie verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust, ehe sie zum Sprechen ansetzte. „Irgendwie denke ich, dass ich das nicht so stehen lassen kann, Shinichi… was du da von dir behauptest.“ Sie ließ sich ihm gegenüber in den Sessel sinken, atmete tief ein, dann wieder aus. Er hob den Kopf, sagte nichts; einzig eine Augenbraue rutschte fragend in die Höhe, bedeutete ihr, weiter zu reden. „Du siehst das momentan sehr schwarz und weiß, scheint mir.“ Sie blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, lächelte kurz. „Du siehst nur, dass du gelogen hast, du siehst nur, was du angerichtet hast – aber du siehst nicht das Warum, und auch nicht all die Dinge, die du verhindert hast, dadurch. Statt darüber nachzudenken, wieso du das alles getan hast, ergehst du dich in deiner Selbstverachtung.“ Sie sah ihn an, ernst. Er schwieg, wartete darauf, dass sie fortfuhr. „Du hast dein Gedächtnis verloren, du weißt es nicht mehr… aber dieses Syndikat muss ungeheuer groß sein, mit Spitzeln in allen Instanzen und Institutionen. Du wusstest, wenn sie herausfinden, dass du noch lebst, dann hätten sie alles daran gesetzt, um dich zu kriegen, um dich umzubringen. Es kann sein, dass du damals einfach nur ein lästiger Zeuge warst, der zu viel gesehen hatte – aber du wurdest, und das ging an ihnen nicht vorbei, zunehmend gefährlich, weil du immer mehr herausfandest, dich immer mehr verstricktest in diese ganze Sache – und dir wurde klar, dir musste einfach klarwerden, dass das dein Geheimnis bleiben musste, denn… es ist etwas anderes, einen lästigen Zeugen aus dem Weg zu räumen, der im Grunde genommen von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, als eine Gefahr des Kalibers, wie du sie wurdest. Physisch warst du sicher zu keiner Zeit ein Problem für sie, aber die Art und Weise, wie du suchtest und sammeltest, kombiniertest und analysiertest, und deine Schlüsse zogst – und nur darauf hinarbeitetest, der Polizei endlich den wasserdichten Fall zu liefern, den sie brauchten, um sie alle auszuheben, das wurde ihnen zunehmend zur Gefahr. Sie bekamen es lange nicht mit, du hieltest das alles gut unter Verschluss, und solange dem so war, so lange warst du sicher. Doch mit der Zeit…“ Sie schluckte. „Mit der Zeit kamen sie wohl nicht mehr umhin, auf einen kleinen bebrillten Jungen aufmerksam zu werden, der sie an der Nase herumführte, und deshalb… musstest du dein Geheimnis umso sorgfältiger hüten, denn langsam aber sicher rückten auch die, die du liebst, in den Fokus dieser Organisation – auch wenn sie lange nicht wussten, nach wem sie da suchten. Leider ist es nun mal so, dass ein Geheimnis am besten geheim bleibt, wenn nur wenige davon wissen… je weniger es wussten, desto sicherer warst du - und desto sicherer waren auch die, die dir lieb und teuer sind.“ Sie sah ihn mit abgeklärter Miene an. Er bewegte sich unruhig, wich ihrem Blick aus. „Shinichi… wie hättest du um Hilfe bitten können? Du weißt, welche Schwächen du hast, was dich angreifbar macht. Und du weißt, dass die das jetzt auch wissen… Kannst du da noch glauben, du hättest vorher eigenmächtig und gedankenlos gehandelt? Ja, sicher…“, begann sie, würgte ihn mit einer raschen Handbewegung ab, als er einen Einwand machen wollte. „… was du getan hast, hat weitreichende Folgen für viele. Aber überleg dir mal, ob es wirklich besser, anders… gekommen wäre, hättest du von Anfang an reinen Tisch gemacht. Ich wage nicht, das zu beurteilen.“ Er ließ sich in die Kissen sinken, starrte auf seine Finger, die auf seinen Knien ruhten. „Ich weiß es nicht. Das ist ja gerade mein Problem. Wenn ich darüber nachdenke, dann glaube ich, ich würde es wieder tun… wieder alle raushalten wollen und wieder meine Suppe alleine löffeln.“ Er seufzte laut, starrte auf seine Finger, die er zu Fäusten geballt hatte. „Aber ich sehe, sehr deutlich, was ich angerichtet habe… durch eben genau diese Eigenbrötlerei.“ Er blickte auf, unsicher. „Und das lässt mich zweifeln, an der Richtigkeit meiner Entscheidung, weißt du. Gerade… wo ich eben nichts mehr weiß. Ich kann nur wissen, was ich sehe, nur analysieren, was jetzt passiert. Was war, kann ich nicht einfließen lassen in meine Analysen, weil ich es nicht weiß. In meiner Gleichung sind momentan viel zu viele Unbekannte.“ Er versuchte ein schiefes Lächeln, strich sich mit seinen Fingern unwirsch durch die Haare. „Damit musst du jetzt klarkommen, Shinichi.“ Yukiko lächelte sanft. „Und das wirst du auch. Du bist schon mit ganz anderen Sachen klargekommen. Und überhaupt…“ Sie stand auf, beugte sich zu ihm. „…denke ich, solange dir dein Gewissen sagt, was Recht und Unrecht ist, du erkennst, wann eine Lüge sein muss, und wann nicht - musst du dir keine Sorgen um dich machen. Und so lange wird dir auch jeder verzeihen.“ Sie legte ihm kurz eine Hand auf den Arm. „Auch wenn es schwer fällt… manchmal müssen wir das Falsche tun, um das Richtige zu tun… und das weißt du auch.“ Er stöhnte entnervt auf, starrte an die Decke. „Ja schön. Nur hilft mir dieses Wissen momentan nicht die Bohne.“ Yukiko grinste. „Du kriegst das schon gebacken, Sohnemann. Zuerst brauchst du aber dein Gedächtnis wieder…“ Ihr Blick verlor sich kurz, als sie sich auf die Tischkante sinken ließ. „Morgen vielleicht.“, murmelte er leise. Sie blickte ihn ernst an. „Glaubst du daran?“ Er schaute sie aus den Augenwinkeln an, seufzte lautlos. „Ich möchte gern. Aber ich will nicht zu enthusiastisch sein.“ Er grinste matt. „Wobei ich denke, enthusiastisch ist sowieso kein Adjektiv, das mich momentan gut beschreibt.“ Yukiko lachte leise, fuhr ihm mit ihren Fingern durch die Haare. Er verzog das Gesicht, wich unwillig aus, warf ihr einen mürrischen Blick zu. Sie grinste ihn keck an. „Das kommt wieder.“ Damit stand sie auf. Er zog die Augenbrauen kraus. „Das bezweifle ich.“, bemerkte er trocken. Yukiko lächelte immer noch, strich sich elegant eine Strähne aus der Stirn. „Wart’s ab, Shinichi. Ich geh das Abendessen vorbereiten…“ Sie hielt inne, als sie von draußen ein Geräusch vernahm. „Nun, das hört sich ganz nach deinem Vater an. Du kannst dich ja mal mit ihm auseinandersetzen… vielleicht hast du mehr Glück als ich, herauszufinden, was ihn gerade so umtreibt.“ Sie starrte gedankenverloren Richtung Eingang; dann drehte sie sich um und verschwand in der Küche. Shinichi griff nach dem Manuskript, das immer noch auf dem Tisch lag. Seine Mutter hatte Recht. Vielleicht war die Gelegenheit günstig. Er musste auch nicht lange warten; kaum hatte er sich seiner Jacke und seiner Schuhe entledigt, schlenderte sein Vater ins Wohnzimmer, in seiner Hand eine brennende Zigarette und offenbar in Gedanken versunken. Tatsächlich war er das wirklich; er dachte nach, über Beaujolais, die wohl gerade ihr neues Quartier in den Kellerräumen bezogen hatte, bis man sich klar war, wie man weiter mit ihr verfuhr. Eine Exekution für ihr Vergehen war ihm als Strafe zu hart erschienen, aber es war klar, dass sie bis auf weiteres bei künftigen Operationen nichts zu melden haben würde. Das Triumvirat hatte sich ausbedungen, sich die Möglichkeit offenzulassen, sie als Testperson für ihr neuestes Mittelchen im Auge zu behalten; er hatte dem zugestimmt, versucht, dabei nicht allzu widerwillig auszusehen. Das „neueste Mittelchen“ war ein Nachfolger des APTX, und wenn es nun klappte… wenn ihre Wissenschaftler endlich den Durchbruch erzielt hatten. Wenn sie nun endlich der Zeit ein Schnippchen schlugen… Dann… Als er zu seinem Auto zurückgekehrt war, hatte er erfreulicherweise von Heiji keine Spur gesehen; offenbar war seine Strategie aufgegangen. Die Bestätigung dafür hatte er bekommen, als er das Motorrad des Oberschülers geparkt vor Professor Agasas Hauseingang gefunden hatte. Shinichi zog die Augenbrauen hoch. Offenbar hatte sein Vater ihn noch nicht bemerkt. Er fragte sich, was den Schriftsteller so beschäftigte, dass er nichts um sich herum zu sehen schien. Ein leises Lächeln schlich sich auf seine Lippen, dann räusperte er sich unauffällig, setzte sich auf. „Und, was spricht der Verlag?“ Yusaku fuhr zusammen, starrte seinen Sohn an, der ihn unverwandt anblickte, biss sich gerade noch auf die Lippen, um zu verhindern, dass ihm ein gedankenloses „Welcher Verlag?“ rausrutschte. Shinichi zog eine Augenbraue hoch. Yusaku schluckte. Immerhin war er noch kurz bei seinem Verleger reingeschneit. Ein Alibi für jeden Ausflug, den er unternahm. „Er ist sehr zufrieden bislang.“ Langsam fand er seine Fassung wieder. „So zufrieden, dass er bereits schon wieder quengelt, weil ich das Ende noch nicht habe.“ Ein zynisches Lächeln glitt ihm über die Lippen. Shinichi zog die Augenbrauen hoch. „Das würde mich allerdings auch interessieren.“, meinte er dann. „Was ich dich aber eigentlich fragen wollte, war etwas anderes…“ Unsicher sah er auf, wusste auf einmal nicht mehr, wo er anfangen wollte. Wollte er nun herausfinden, wo sein Vater immer steckte, oder warum er sich momentan so benahm, wie er sich benahm oder wollte er wissen, wie ihr Verhältnis früher war? Er sollte sich wohl für eins entscheiden… vielleicht ergab sich daraus dann das andere. Und am besten fing er mit dem einfachsten an. Mit Ihrer Vergangenheit. „Wie war unser Verhältnis? Als… Vater und Sohn, meine ich?“ Shinichis Stimme war langsam leiser geworden, und er hatte ihn nicht angesehen, als er sprach. „Ich meine, irgendwas muss vorher gewesen sein, und irgendwo müssen wir wieder anfangen, und… ich wüsste gern, wo dieser Punkt ist.“ Shinichi… Der Schriftsteller versuchte, sich zu entspannen, ließ sich im Sessel seinem Sohn gegenüber nieder. Wenn es nur so einfach wäre… Dann seufzte er, räusperte sich laut. „Nun, einiges weißt du ja schon…“, fing er langsam an, abwiegelnd, abwägend – und wurde prompt von seinem Sohn unterbrochen. „… aber so vieles noch nicht!“ Shinichi starrte ihn an. „Bitte fang so nicht an! So geht’s nämlich nicht weiter…“ Er schluckte. „Diese Gedanken führen ständig in eine Sackgasse. Es reicht nicht zu wissen, dass ihr die meiste Zeit in den USA wart und ich ach so selbstständig und schlau bin.“ Ein bitteres Lächeln huschte ihm über die Lippen, kurz wandte er seinen Blick ab. „Das reicht nicht. Daraus kann ich nichts machen… ich muss wissen, wie du zu mir stehst.“ Yusaku rieb sich das Kinn, überlegte kurz. „Du bist mein Sohn, Shinichi. Ich will das Beste für dich.“ Shinichi verdrehte die Augen. In seinen Ohren hörte sich das sehr nach Ausrede und Pauschalantwort an. „Was hältst du von mir? Das will ich wissen…“ Der Schriftsteller schaute ihn vorsichtig an. Er ahnte, wie Shinichi diese Antwort auffasste. Er jedoch meinte sie anders – er meinte sie ernst. Jedes Wort. „Du bist mein Sohn.“, wiederholte er leise, betonte jede Silbe. „Abgesehen davon, dass du dich nicht abhängig machen solltest von meiner Meinung über dich – von der Meinung irgendjemandes über dich – sollte dieser Satz dir alles sagen.“ Er beugte sich vor. „Du bist mein Sohn. Und was immer passiert, zweifle nie – zweifle NIE daran – dass ich immer das Beste für dich wollte und will. Auch wenn das manchmal nach hinten losgeht, ich… will das Beste für dich. Für dein Leben.“ Shinichi hob den Kopf, seufzte leise. „Das… ist ehrenwert. Aber so wie ich das verstehe… So wie du das sagst, hört es sich an, als hättest du schon mal in guter Absicht zu meinem Nachteil entschieden…“ Yusaku schaute in ernst an. „Welcher Vater hat das nicht…“ Dann fuhr er sich durch die Haare, schüttelte den Kopf. „Aber ja, du hast Recht. Konkret habe ich das bereits öfter… immer mit den besten Absichten, versteht sich. Aber wie heißt es so schön? Gut gemeint ist schlecht gemacht.“ Er lachte leise, und bitter. „Als ich dich allein ließ und in die USA ging, Punkt eins. Als ich mir von dir versichern ließ, du kämest allein klar und bräuchtest meine Hilfe nicht, nach der Sache mit Conan, Punkt zwei. Ein paar… kleinere und größere Fehlentscheidungen in den letzten Tagen im Umgang mit dir.“ Er knetete seine Hände. Yusaku musste sich eingestehen, das Gespräch tat ihm gut, erleichterte ihn etwas, aber andererseits merkte er, wie sie bereits in Gewässer fuhren, die er vermeiden wollte. Shinichi war auf der Couch zurückgesunken, knetete seine Hände und fixierte blicklos einen Punkt vor sich in der Luft. Yusaku sah ihm an, was ihn beschäftigte. Ihm war klar, dass Shinichi ihn nicht einschätzen konnte, und das war es, was ihn so störte. Yukiko gab sich ihm gegenüber wie ein offenes Buch, in dem er blättern durfte, genauso wie es alle anderen taten… Ran, Heiji, der Professor, selbst Meguré. Nur er nicht. Und Shinichi zog daraus seine Schlüsse, handelte entsprechend. „Du vertraust mir nicht.“ Der Satz war ihm herausgerutscht, ohne dass er ihn hatte äußern wollen. Shinichi hob den Kopf. „Ich würde lügen, würde ich das Gegenteil behaupten.“ Er schluckte. „Ich würde gern. Das würde ich wirklich. Aber du bist… wie ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Alle Antworten, die du mir gibst, sind unverbindlich, offen, in jede Richtung interpretierbar. Du windest dich aus jeder Situation wie ein Aal, du gehst, ohne zu sagen wohin, du lenkst ab oder gibst auf Fragen keine Antwort. Das… schafft nicht wirklich Vertrauen… das musst du zugeben. Und ich frage mich…“ Shinichi hielt kurz inne. „Ich frage mich, warum du das tust. Müsstest du nicht ganz anderes im Sinn haben, wenn du sagst, du willst mein Bestes? Wenn du willst, dass es mir besser geht? Müsste dein Verhalten nicht ganz anders sein?“ Yusaku blinzelte. „Du hast Recht.“ Er fuhr sich durch die Haare. „Natürlich hast du Recht. Das Problem ist nur…“ Er hob den Kopf, langsam. „Du wirst mich hassen und verabscheuen, wenn ich dir all die Fehler aufzähle, die ich an dir begangen habe. Und eines Tages… wenn du dich wieder daran erinnerst… dann wirst du genau das tun, und mit vollem Recht. Du wirst mich hassen. Und mich verabscheuen.“ Shinichi atmete scharf ein, wollte zu einer Antwort ansetzen. „Nein.“ Yusaku hob die Hand, dann stand er auf. „Lass das auf uns zukommen. Bis es soweit ist, habe ich mich entschlossen, keinen weiteren Fehler zu machen.“ Er schluckte, merkte, wie schwer es ihm fiel. Seit Jahren hatte er dieses Gefühl nicht mehr gespürt – dieses Gefühl von Kloß im Hals, das ihm nun das Sprechen fast unmöglich machte. Er versuchte, sich zusammenzunehmen. „Shinichi, solange du dich nicht erinnerst, lass mich der Vater sein, den du verdienst. Und wenn es dann soweit ist… bin ich hier und warte. Ich werde alles akzeptieren, was du mir entgegenzusetzen hast. Solange, ich bitte dich… solange frag nicht weiter.“ Damit drehte er sich um, verschwand in die Bibliothek. Shinichi saß auf der Couch, wie vom Donner gerührt. Ran seufzte, ihre Hände in ihren Haaren vergraben. Mittlerweile war die Sonne längst aufgegangen, befand sich auf ihrer Wanderung schon fast auf ihrem Zenit. Auf dem Tisch stand die zweite Kanne Kaffee, und im Brotkorb lag immer noch ein einsames Croissant. Ihr Gespräch war schleppend weitergelaufen, über irgendwelche Dinge, und schließlich komplett eingeschlafen. Sonoko leistete ihr still Gesellschaft, starrte sie an, seufzte schwer, wusste nicht, was zu sagen war – wusste sie doch, dass Ran nicht bei der Sache war, egal, welches Thema sie anschnitt, um sie abzulenken. Deshalb saßen sie nun hier, und schwiegen sich an, auf eine Weise, wie sich nur gute Freundinnen anschweigen konnten, ohne dass diese Stille unangenehm wurde. Und sie beide bekamen nicht mit, als eine dritte weibliche Person die kleine Küche der Môris betrat. Erst als leises Klappern der Schranktüren die Stille durchschnitt und sich ein schlanker Arm an ihren Köpfen vorbeischob um nach der Kaffeekanne zu greifen. Sonoko und Ran schauten synchron auf, als Eri Kisaki sich eine Tasse Kaffee einschenkte, um dann die Kanne sachte wieder abzustellen. „Ich hoffe, ich störe nicht?“, fragte Rans Mutter schließlich. Rann schüttelte betrübt den Kopf. „Nein, Mutter. Ein Croissant?“ „Wenn ihr noch eins übrig habt, gern.“ Die elegante Anwältin ließ sich den beiden Mädchen gegenüber auf einen Stuhl sinken, nahm mit einem Lächeln und einem Nicken das Hörnchen entgegen, das Sonoko ihr reichte, genehmigte sich dann einen Schluck Kaffee, ließ ihren Blick über die Mädchen schweifen. „Oh je.“, meinte sie dann, seufzte leise. „Irgendwie kommen mir diese langen Gesichter so fürchterlich bekannt vor.“ Sie stellte ihre Tasse ab. Ihre Tochter schaute auf, warf ihr einen fragenden Blick zu. Eri lächelte schmal. „Wann, fragst du? Na, als du dein Gedächtnis verloren hattest. Nur war es nicht du, der hier saß und Trübsal vom Feinsten blies.“ Rans Mutter ließ sich zurücksinken, krümelte die Ecke ihres Croissants ab. „Ran, warum bist du hier? Warum seid ihr nicht bei ihm? Ganz ehrlich…“ Sie runzelte die Stirn. „Er war nicht wegzukriegen von dir, wenn du dich nicht grad aus dem Staub gemacht hattest. Es wundert mich ein wenig, dass du hier rumsitzt und…“ Ran wurde rot, merkte, wie sich ihr Magen zu verknoten schien. „Damals war das noch nicht so kompliziert.“ „Nun, das finde ich nicht. Ich denke, für ihn war es ungleich komplizierter… wollte er doch bei dir sein, aber konnte es nicht. Soweit ich aber weiß, versteckst du dich gerade nicht hinter einer Grundschüleridentität. Also, was ist los, und was zur Hölle macht es denn so kompliziert…?“ „Sie haben sich geküsst, Frau Kisaki.“ Sonokos Stimme klang nüchtern durch den Raum, gefolgt von einem lauten „AUA!“, als Rans Fuß ihr Schienbein traf. Eris linke Augenbraue schob sich nach oben. „Ran?“ Ran seufzte, merkte, wie ihr schon wieder die Tränen in die Augen stiegen. Eri beugte sich vor, merkte die Veränderung in ihrer Tochter deutlich. Ran belastete die Sache sehr, das hatte sie schon tags zuvor gemerkt, aber da hatte sie es noch auf seinen Allgemeinzustand geschoben… dass der Hintergrund solcher Natur war, hatte sie nicht geahnt. „Ich weiß nicht, was mich geritten hat, ich meine…“ Rans Stimme war kaum zu verstehen. „Wann…?“, murmelte Eri. „Nacht nach dem Überfall aufs Krankenhaus. Ich… ich war wohl selber so neben mir, ich war so froh, ihn endlich zu sehen, ihn endlich wieder zu haben, dass ich… dass ich… etwas übereilt war, ich hab ihn überrumpelt, ich meine, ich… war wohl sehr überzeugend, und da…“ Sie schluckte schwer, sah auf. Eine Träne rann ihr aus dem Augenwinkel. „Im Prinzip haben wir das Gespräch geführt, dass wir schon lang hätten führen sollen… das wir irgendwie auch schon länger führen wollten, aber es hat nie wirklich geklappt.“ Ran verknotete ihre schlanken Finger, bemerkte, wie weiß sie waren. Und wie kalt. „Nur haben wir’s jetzt geführt, zu einem Zeitpunkt, der nicht schlechter gewählt sein konnte… und ich denke, er weiß nicht so recht, was er jetzt machen soll. Wir haben schon geredet, über unsere Freundschaft, über alles, aber es ist nicht so, wie es sein sollte… weil…“ Eri lächelte traurig. „Weil er immer noch fehlt.“ Ran strich sich mit zitternden Fingern über die Augen. „Was, wenn ich mit meiner übereilten Aktion in dieser Nacht alles kaputt gemacht hab, was wir hatten? Ich hab das Gefühl, er…“ Sie brach ab. Sonokos geräuschvolles Rühren in ihrer Tasse erfüllte den Raum. „Du wirst abwarten müssen, wie er reagiert, wenn er sich wieder erinnert. Ich denke, er will nur auch nichts kaputtmachen… nichts tun, was er nicht… tun würde, wäre er er selbst.“ Sonoko schaute auf. „Das denke ich zumindest. Und ich denke, erinnert sich Kudô erst mal wieder, lässt er sicher nix mehr anbrennen.“ Sie grinste breit. Eri lachte leise, wurde aber schnell wieder ernst. „Nun, dass er dich liebt, steht außer Frage. Und ich denke, da muss mehr passieren, als ein Gedächtnisverlust, damit sich das ändert. Aber was das jetzt und hier betrifft, Ran… was willst du tun? Ich denke, ihr solltet euch auf eine freundschaftliche Basis…“ Ran schüttelte den Kopf. „Nein.“ Sie schaute auf. „Nein. Dazu sind wir schon zu weit, und wie wirkt das… nicht konsequent…“ Sie schluckte. „Was denkt er denn von mir, wenn ich ihm sage, entschuldige, Shinichi, aber solange du nicht du selbst bist…“ Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. „Ich will, dass er weiß, dass ich ihn liebe. Denn ich liebe ihn doch… auch wenn… es irgendwie anders is, es sich seltsam anfühlt, nicht so… nicht so, wie ich es kenne…“ Sie schaute auf, ihr Blick entschlossen. „Er soll wissen, dass ich zu ihm halte. Dass er nicht allein ist. Dass ich meine, was ich sage, dass ich ihm helfen will. Er braucht das doch, er braucht etwas, auf das er sich verlassen kann, stützen kann, das will ich doch…“ Eri trank leise ein Schlückchen Kaffee. „Aber doch sitzt du hier, Ran.“ Ihre Tochter biss sich auf die Lippen. „Denkst du denn, du hältst das aus? Du merkst doch jetzt schon, wie es dich zerreißt. Eine Freundschaft unter diesen Umständen ist schon schwer, eine Beziehung, die auf solch tiefe Gefühle gründet, die ihr eigentlich hattet, aber jetzt verschüttet sind, die weder du noch er gerade spüren könnt, mehr ahnt als… wirklich fühlt, das dürfte… unmöglich sein. Überleg dir das…“ Ran schüttelte nur den Kopf. Er seufzte leise, warf einen Blick auf die Uhr. „Ich fürchte, ich muss los, Ran, die Arbeit ruft, es ist schon fast Mittag… aber ich rate dir, überleg es dir…“ Kapitel 39: Kapitel 21: Die Schlinge zieht sich zu -------------------------------------------------- Aloha! Entschuldigt die Verspätung, aber momentan wächst mir hier recht viel über den Kopf... Angst vor einem neuerlichen Abbruch der Geschichte braucht ihr dennoch nicht haben. Nächste Woche geht's dann... ab ins Grüne ;D Viel Spaß mit der Ruhe vor dem Sturm, eure Leira _______________________________________________ Kapitel einundzwanzig: Die Schlinge zieht sich zu Heiji lehnte sich mit finsterer Miene gegen den Klingelknopf der Villa Kudô, die Arme vor der Brust verschränkt, sein Baseballcap tief in die Stirn gezogen. Seine Augenbrauen stießen fast zusammen, als er darüber nachgrübelte, ob er Shinichi nun sagen sollte, was er dachte, oder nicht. Was, wenn es war is‘, und er es is‘? Was, wenn sein Vater wirklich der Boss is‘… Es spricht so viel dafür… seine Alleingänge, bei denen keiner weiß, wo er is‘… wie ich ja erfahren durft‘ is er mindestens so’n Meister im Verschwinden wie sein Sohn. Die Sache mit dem Baron der Nacht… irgendwie isses ja schon seltsam, dass er derart… sensationell gut… über einen Mörder schreiben kann. Man glaubt, er kennt den Mann persönlich… Er schreibt über seine Psyche, gibt Einblicke, die zu real scheinen, um fiktiv sein zu können… Was, wenn er über sich schreibt? Über sich selbst… Und wenn er der Boss is, was dann? Was hat er mit Shinichi vor – oder was hatte er mit ihm vor, zum Teufel?! Ihn in die Organisation integrieren, ihn!? Ausgerechnet ihn… Allerdings… wenn das die einzige Möglichkeit war, um ihn zu retten, wer weiß… Seine Gedankengänge wurden abrupt unterbrochen, als jemand die Tür öffnete, und Heiji auf einmal nicht mehr blicklos gegen eine recht massiv aussehende Haustür starrte, sondern geradewegs ins Gesicht des Hausherrn. Yusaku Kudô stand im Türrahmen, hatte den Griff der Eingangstür immer noch in der Hand, schaute ihn mit unergründlichem Gesichtsausdruck an; die andere Hand hatte er scheinbar lässig in seiner Hosentasche vergraben. Er räusperte sich kurz, gab dem jungen Mann Gelegenheit, sich zu fassen, ehe er sprach. „Hallo Heiji.“ Was willst du hier? Heiji zuckte unmerklich zusammen, als er die sonore Stimme des Autors hörte, nickte dann, zwang sich dann sein unverbindlichstes, höfliches Lächeln auf die Lippen. „Herr Kudô! Einen schönen Tag wünsch ich. Ich dacht‘ ich statt‘ Ihrem Sohn mal wieder `nen kurzen Besuch ab, damit er sich nicht so langweilt. Isser da? Kann ich mit ihm sprech’n?“ Yusaku musterte den jungen Detektiven einen Augenblick zu lange, das wusste er. Eigentlich, dessen war er sich sicher, wussten sie das beide. Dann trat er zur Seite, machte eine einladende Geste mit seiner rechten Hand. „Sicher. Er ist im Wohnzimmer. Ich denke, er freut sich, dich zu sehen, er langweilt sich tatsächlich zu Tode.“ Was wirst du ihm sagen, Heiji? Heiji trat an ihm vorbei, legte seine Jacke ab und strich sich seine Straßenschuhe von den Füßen, stieg umständlich in die Hauspantoffeln, die für Besucher wie immer bereitstanden. „Na, dann werd ich ihn mal beschäftigen.“ Er zerrte ein breites Grinsen auf seine Lippen, wollte sich auf den Weg zum Wohnzimmer machen, als er innehielt. „Übrigens, Herr Kudô, was ich Ihnen sagen wollte – ich lese momentan Professor Agasas Ausgaben Ihrer Bücher. Sie schreiben tatsächlich sensationell gut, wenn ich Ihnen das Kompliment machen darf. Ich hab offengestanden noch nie so ein Profil eines Serienkillers gelesen, und ich lese viel – wenn auch nicht immer das gleiche wie ihr Sohn.“ Ein schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht, begleitet mit einem Hauch von Sorge, der kurz seine Augen verdunkelte. Dann riss er sich zusammen. „Wie auch immer. Es is‘ beeindruckend. Sie müssen sehr gründlich sein, bei Ihren Recherchen.“ Yusaku schluckte, hoffte, dass man ihm nicht ansah, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken rann; dennoch hielt er dem bohrenden Blick des Detektiven stand. „In der Tat, Heiji, das tue ich. Ich recherchiere sehr genau. Danke für das Kompliment.“ Heiji, was willst du? Worauf spielst du an? Wie viel… ahnst du? Oder weißt du gar etwas? Wenn ja, woher? Der Oberschüler steckte seine Hände in seine Hosentaschen, ließ seinen Blick sinken. „Nichts zu danken. Verraten Sie das Ende?“ Der Schriftsteller setzte sich ein mysteriöses Lächeln auf, hoffte damit, die aufkeimende Panik zu kaschieren, die er immer deutlicher spürte. Er hasste sich dafür, dass er sich nicht besser im Griff hatte – und gehabt hatte, vor ein paar Tagen. Er hatte sich selbst verdächtig gemacht mit seinem Verhalten, das wusste er. Er hätte daran denken sollen, dass er beobachtet wurde, und zwar nicht nur von seiner Frau – sondern auch von Leuten, die etwas von ihrem Fach verstanden. Nun bekam er prompt die Quittung, und Heiji war verdammt nah dran an der Wahrheit. Aber er durfte Shinichi nichts sagen… auf gar keinen Fall. Wenn Shinichi sich damit beschäftigte, wer er wirklich war, dann lief hier alles aus dem Ruder, in diesem Boot, das ohnehin nicht mehr so wirklich seinem Steuer und dem Willen seines Kapitäns gehorchte. Unter Umständen brachte er sich dann durch unüberlegtes Verhalten in Gefahr – ganz davon abgesehen, was in der Organisation los sein würde, käme seine Identität auch nur ansatzweise ans Licht. Nein… Dann merkte er, dass Heiji noch eine auf eine Antwort wartete, und lachte leise, klang dabei irgendwie künstlich; verlegen strich er sich mit einer Hand durch seine Haare, versuchte den geheimnisvollen Autor zu spielen, wie er ihn so oft schon vor seinen Verlegern inszeniert hatte. „Heiji, welcher Schriftsteller tut das schon? Damit nimmt man sich selber den Wind aus den Segeln. Du wirst es beizeiten erfahren, wie jeder, der meine Romane liest. Viel Vergnügen dabei noch.“ Er hatte die Hand zum Gruß erhoben und wollte sich gerade umdrehen, als er merkte, dass Heiji immer noch lächelte. „Danke, ich bin mir sicher, den werde ich haben.“ Damit drehte er sich um, öffnete die Tür zum Wohnzimmer, ließ den wie zur Salzsäule erstarrten Autor stehen. Yusaku Kudô sah ihm nach, bis er ihm Türrahmen verschwunden war, stemmte seine Fäuste in seine Sakkotaschen, unschlüssig, was er tun sollte. Widerwillig zog er seine Packung Zigaretten aus der Innentasche des Jacketts, puhlte einen Glimmstängel heraus und zündete ihn an, merkte dabei, dass seine Finger zitterten und fluchte lautlos. Als es ihm endlich gelungen war, die Spitze der Zigarette zum Glühen zu bringen, zog er nervös daran, ließ die Tür zum Wohnzimmer nicht aus den Augen. Verdammt, kannst du dir keine normalen Freunde aussuchen, Shinichi? Auch wenn er nichts weiß… er weiß, wie er seine Opfer weichkocht. Wie du wohl auch. Heiji hatte die massive Tür zwar hinter sich zugezogen, bis er das beruhigende Klacken hörte, das ihm bestätigte, dass das Schloss eingerastet war - und merkte doch, dass es nichts half; er spürte die Blicke des Schriftstellers noch immer im Rücken, drehte sich um, unwillkürlich. Natürlich sah er nur das dunkle Furnierholz der Tür, aber er traute sich wetten, dass der Schriftsteller immer noch in der Halle stand - und immer noch genau diese Tür anstarrte. Und er fragte sich zum wiederholten Male, wie richtig er tatsächlich mit seiner Vermutung liegen könnte. Und ob er nicht gerade zu weit gegangen war, mit seinen Ködern, die er ausgeworfen hatte; wenn Yusaku Kudô tatsächlich der Boss der Organisation war, dann… war der sich wohl spätestens jetzt bewusst, vor wem er sich in Acht nehmen musste und nicht verdächtig machen durfte. Verdammt, Hattori, du und deine große Klappe… Wie willste denn jetzt jemals Beweise kriegen? Du weißt doch, wessen Vater er is… wenn er dir keine geben will, wirste keine kriegen, jetzt erst Recht nicht mehr. Aber vielleicht isses besser so… und… Am Ende issers vielleicht gar nich… Angestrengt starrte er die Tür an, seine Kiefer so fest aufeinandergepresst, dass seine Zähne dabei knirschten. Langsam hob er eine Hand, legte die Handinnenfläche auf das kühle Holz, atmete gepresst aus. Dann riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. „Willst du da Wurzeln schlagen?“ Shinichi hatte aufgeblickt, als jemand das Zimmer betreten hatte. Ein Teil von ihm hatte gehofft, dass es sein Vater war, ein anderer, dass er es nicht war – einerseits wollte er wissen, was er mit seinen kryptischen Äußerungen von gerade eben gemeint hatte, andererseits wusste er nicht, ob er wirklich jemals wissen wollte, was genau das war. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass die Sache, worüber sein Vater nicht mit ihm reden wollte, vielleicht sogar die Ursache für seinen Gedächtnisverlust war. Dann aber stellte sich unausweichlich die Frage, ob sein Vater… mit Schuld hatte an dem, was ihm passiert war. Und das – das wollte er nicht glauben, wollte er vielleicht sogar… gar nicht wissen. Und wollte es doch, denn die Wahrheit – die Wahrheit musste ans Licht, und auch er durfte sich nicht vor ihr verschließen. All seine Gedanken liefen allerdings in diesem Moment vorerst ins Leere, als er merkte, wer das Zimmer betreten hatte. Es war Heiji, der nun unschlüssig in der Tür stehen geblieben war und diese anstarrte, als versuche er, sie mit seinen Augen zu durchleuchten. Shinichi setzte sich auf. „Nun gut, sag Bescheid, wenn du dich von der Schönheit dieses Musterexemplars einer Wohnzimmertür losreißen kannst… aber tu dir keinen Zwang an. Ich kann warten, mir läuft nix weg.“ Heiji zuckte zusammen, grinste dann, griff sich verlegen an den Hinterkopf, zog sich dann die Kappe vom Kopf und setzte sich in Bewegung. „Entschuldige. Ich war nur in Gedanken, irgendwie, und es is immer noch etwas komisch…“ „Sehr.“ „Häh?“ „Sehr komisch, meinst du wohl.“ Shinichi zog eine Augenbraue hoch und grinste schief. Heiji presste sich seine Mütze wieder auf die Haare, nahm ihm gegenüber Platz, nickte widerwillig. „Leider, ja. Und ich wollte, es wäre nicht so, aber es ist so seltsam… du sitzt mir gegenüber, irgendwie benimmst du dich auch wie du dich immer benimmst, aber…“ „Die Füllung fehlt.“ „So wie du’s sagst, klingt’s gemein.“ „Ist mir egal, offen gestanden.“ Shinichi lehnte sich zurück. „Was führt dich her?“ Heiji wich seinem Blick aus, unwillkürlich. Shinichi stutzte. „Schlechte Neuigkeiten?“, fragte er vorsichtig. Der Osakaer Detektiv schaute auf, kam nicht umhin, ihm innerlich Respekt zu zollen; auch wenn Shinichi amnestisch war, ihm entging keine Regung seines Gegenübers. „Nicht direkt. Ich meine, irgendwie… doch. Ahhh…“ Er stöhnte auf, vergrub seine Hände in seinen Haaren, schob sich dabei die Kappe vom Kopf. Shinichi zog die Augenbrauen hoch. „Was nun? Heiji warf einen unsicheren Blick zur Tür. „Sind wir hier ungestört? Ich meine, kann uns wer hören?“ „Wer soll uns denn nicht hören dürfen?“ Unwillig biss sich Heiji auf die Lippen; ihm wurde jetzt erst klar, wie seltsam seine Frage in den Ohren seines Gegenübers geklungen haben musste. Sie waren schließlich hier bei ihm daheim. Der Ort, an dem er großgeworden war. Sein Zuhause. Sie waren an dem Ort, an den man ihn gebracht hatte, weil man dachte, dass er dort sicher war. Sicher. Kudô – wie erklär ich dir das…? Eine Erklärung war allerdings im nächsten Moment überflüssig. „Du willst nicht, dass meine Eltern dich hören?“ Seine linke Augenbraue war nach oben gerutscht, verharrte in ihrer Position, als er weiter sprach. „Darf ich raten? Du willst vor allem nicht, dass mein Vater dich hört? Heiji, was ist los, zum Teufel?“ Heiji wurde nervös. „Woher…“ „Ich hab euer Gespräch grad gehört, Schlaumeier.“ Shinichi verzog das Gesicht, Skepsis breitete sich auf seinen Zügen aus. Starr fixierte er Heiji, nicht willens, locker zu lassen. „Was ist los?“ „Wie ist es nun, kann uns hier wer hören oder nicht?“ „Kommt drauf an, worüber du mit mir reden willst.“ Shinichi schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Ich wollte mit dir über den reden, den du vergessen hast, um ehrlich zu sein. Eigentlich wollte ich…“ Heijis Stimme war auf ein leises Flüstern gesunken. „Da gibt’s ein paar Kandidaten, mein Lieber.“ Shinichi machte sich nicht die Mühe, zu flüstern. „Über… über…“ „Ja?“ Heiji merkte, wie er unter Shinichis Blick zu schrumpfen schien – erst jetzt wurde ihm klar, was er hier eigentlich machte. Sollte er wirklich seinem besten Freund seine noch nicht beweisbaren Vermutungen über dessen Vater offenbaren, stieß er ihn geradewegs noch weiter in das Dunkel zurück, aus dem er sich gerade mühsam herauszutasten versuchte. Abgesehen davon, dass er ihm wohl den Schlaf raubte – der Gedanke, dass der eigene Vater, mit dem er unter einem Dach wohnte, der Anführer eines Verbrechersyndikats sein könnte, war wohl kaum ein gutes Schlafmittel. Er schluckte, merkte, wie schwer ihm das fiel; in seinem Mund schien von einem Moment auf den anderen Trockenzeit ausgebrochen zu sein, und die breitete sich rasant in seinem Gaumen die Speiseröhre hinab aus. Er hustete. Mein Gott, darf ich das? Sollt‘ ich dir das wirklich sagen? Was, wenn ich mich irr‘ – mein Gott, lass mich irren… ich will nich‘ Recht haben, dieses eine Mal nich‘, wirklich nich... Er rieb sich den Hals, starrte auf die Tischplatte, versuchte erneut, seine Kehle zu befeuchten. Aber was, wenn ich Recht habe, und Himmel, es spricht so viel dafür… Was, wenn er es is‘… dann sitzt du hier, vor ihm aufm Präsentierteller… Shinichi schaute ihn an, Ungeduld zeichnete sich in seinen Zügen ab. „Hör zu, Heiji, sprich einfach. Bitte fang du auch nicht noch an mit Rumstammeln und Ausreden suchen und kryptische Aussagen machen, die kein Mensch versteht…“ „Wer… wer macht denn kryptische Aussagen?“ Der Detektiv des Westens hatte seine Sprache wieder gefunden. Shinichi zuckte zusammen. Offenbar waren ihm die letzten Worte unwillkürlich herausgerutscht. „Mein Vater.“, seufzte er dann. Seine Stimme klang leise, etwas unsicher. Auf seinen Zügen war die Ungeduld einem Ausdruck von Enttäuschung und Gedankenversunkenheit gewichen – das Fragezeichen, das wohl hinter all seinen Gedanken um seinen Vater stehen musste, stand ihm dick und fett ins Gesicht geschrieben. „Er sagt, ich würde ihn hassen und verabscheuen, wenn er mir all die Fehler aufzählte, die er an mir begangen hätte. Und er denkt, wenn ich wieder alles weiß, meine Erinnerungen zurückgekehrt wären, würde ich ihn hassen und verabscheuen, und das seines Erachtens mit Recht.“ Shinichi atmete scharf ein, hob die Hand, als Heiji ihn unterbrechen wollte. „Nein, das war’s noch nicht. Er sagte noch, dass er, bis es soweit wäre, keinen Fehler mehr machen will. Der Vater sein will, den ich verdient hätte. Und wenn es soweit wäre…“ Er schluckte. „Dann wartet er auf mich…“ Heiji starrte ihn an, zwang sich dann ein Lächeln auf die Lippen. „Na, da bereut aber wer seine Erziehungsmethoden gründlich…“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Findest du das lustig?“ Heijis Miene wurde schlagartig ernst. „Nein. Eigentlich nicht. Aber…“ „Aber?“ Heiji wand sich innerlich unter dem forschenden Blick, mit dem Shinichi ihn bedachte. Augen, die seinen sehr ähnlich waren. Yusaku Kudô stand vor der Tür und lauschte, in seiner Hand immer noch die Zigarette, die leise vor sich hinglomm und an der er seit ihrem Entzünden kein einziges Mal gezogen hatte – und hoffte, dass Yukiko nicht aus der Küche kam, und ihn so vorfand. Er würde wieder unangenehme Fragen beantworten müssen, und davon hatte er eigentlich die Schnauze voll fürs erste. Dennoch ließ ihm keine Ruhe, was Heiji seinem Sohn erzählen würde. Er ahnte, dass der Junge ihn verdächtigte, der Kerl war nicht blöd – allerdings etwas zu offensichtlich und schlampig beim Verstecken seiner Spuren. Er durfte ihm auf gar keinen Fall mehr Futter für seine Theorie geben, allerdings… musste er wissen, was er Shinichi erzählte. Er musste es einfach wissen. Und deshalb lauschte er jetzt an dieser Tür, auch wenn er sich schäbig vorkam. Heiji schluckte. Vorsicht und Misstrauen hatte er gesehen, in diesen Augen. Vielleicht ahnte der Schriftsteller was von seinem Verdacht… – ach was, nicht nur vielleicht. Leider, das musste Heiji sich eingestehen, war er wohl viel zu offensichtlich. Allerdings… Diese Worte, die er nun von Shinichi gehört hatte, sie bestätigten eigentlich seine Vermutung, was die Identität des Bosses betraf. Es würde so gut passen. Allerdings… Passe nie die Fakten deiner Theorie an, Watson. Klar, sie spielten ihm in die Karten. Sie passten wie die Faust aufs Auge, und auch Yusakus Haltung ihm gegenüber – aber – was, wenn er sich das einbildete? Er hatte keinen Beweis. Und er wollte so verbissen endlich diesen Fall lösen, dass er wohl sehr geneigt war, jeden Hinweis in eine Richtung zu biegen. Solange es aber nur bei Hinweisen blieb, und kein Beweis auftauchte, waren alle Theorien nicht zu halten. Und so lange er den nicht hatte, stürzte er Shinichi buchstäblich ins Chaos, wenn er ihm seine Theorie unterbreitete, denn Shinichi war momentan nicht der Shinichi, als den er ihn kannte. Er verschlimmerte seine Lage nur noch, indem er ihm sein Zuhause nahm, das eigentlich sein sicherer Hafen sein müsste – zwar war es momentan noch weit davon entfernt, aber setzte er Shinichi nun die Idee in den Kopf, der Boss wäre sein eigener Vater, welche ruhige Minute hätte er dann noch? Welchen Stein brachte er damit ins Rollen? Er konnte die Folgen nicht mal ansatzweise abschätzen. Egal ob ich nun richtig liege oder nicht, Shinichi muss einen Ort haben, an dem er lernt, sich sicher zu fühlen, und das sollte sein Zuhause sein. Er sollte Menschen haben, zu denen er Vertrauen aufbaut, und das sollten seine Eltern sein. Und selbst wenn Sie der Boss sind, Herr Kudô… ich schätze, nur wegen Ihnen lebt er noch. Also passen Sie auf ihn auf… auch weiterhin. Heiji seufzte, dann ging er zur Tür, ließ einen verdutzten Shinichi auf dem Sofa sitzen, und öffnete sie. Im Gang stand niemand, nur leichter Tabakrauch stieg ihm in die Nase. Er hätte schwören können, dass sie jemand belauscht hatte. „Heiji, was wolltest du mir nun eigentlich sagen?“ Shinichi war aufgestanden und hinter ihn getreten. „Dein Vater schreibt phänomenal gut. Ich hab die ersten Bücher innerhalb der letzten zwei Tage verschlungen. Ich kann kaum abwarten, wie es weitergeht.“ Shinichi zog eine Augenbraue hoch. Sie wussten beide, dass Shinichi ihm die Ausrede nicht abnahm – aber er fragte auch nicht weiter, sondern zog die Tür hinter sich zu. Er wusste nicht, was es gewesen war, das er ihn den Augen des Schriftstellers gesehen hatte, als er ihn reingelassen hatte. Zumindest da hatte er es nicht gewusst – er hatte es für Abscheu gehalten, für Wachsamkeit und Unwillen. Jetzt wusste er es besser. Angst. Und langsam begriff er. Und ahnte, wie nah er der Wahrheit war – und hatte doch keine Ahnung, was hinter all dem steckte. Das hier war eine weit größere Sache, als er es sich vorgestellt hatte, und da jetzt vorschnell zu handeln, könnte fatal sein. Das wusste er. Er kaute auf seiner Unterlippe, unschlüssig, schaute sein Spiegelbild auf den Boden an. Ein unwilliges Knurren verließ seine Kehle, als er frustriert den Kopf schüttelte. Was für ein Chaos. Dann klingelte das Telefon. Die Tür zur Küche ging auf, und Yusaku betrat die Eingangshalle, warf den beiden jungen Männern einen Blick zu. „Ich werd dann gehen… Herr Kudô. Wir sehen uns morgen.“ Er nickte dem Herrn des Hauses kurz zu, quetschte sich dann an Yusaku vorbei nach draußen. Kurz kreuzte sich ihr Blick, und er wusste nicht, ob er es sich schon wieder einbildete. Aber er glaubte, einen Hauch von Dankbarkeit in den Augen des Autors gelesen zu haben. Langsam stieg er die Treppe hinunter, rammte seine Fäuste in seine Hosentaschen, biss sich auf die Lippen. Selbst wenn Sie es sind, Herr Kudô… so ist es wohl noch nicht an der Zeit. Und nicht an mir, es ihm zu sagen. Wer weiß, ob er mir überhaupt glauben würde… Und wenn Sie es sind, Herr Kudô… Baron der Nacht… Dann passen Sie auf ihn auf! Besser als bisher, wenn ich darum bitten darf. Als Heiji beim Professor ankam, fand er Kazuha in der Küche, die das Dessert fürs Abendessen kochte; sie rührte in einem großen Topf Schokoladenpudding an. Er sah sie an, fühlte dieses seltsame Prickeln in seiner Magengegend und seufzte. Er liebte Schokoladenpudding, aber das war es nicht, das in seinem Magen rumorte. Er liebte sie. Und wenn er daran dachte, wie zwei, die sich auch liebten, momentan miteinander umgingen, wurde ihm seltsam zumute. Er hatte hier die einmalige Chance, endlich klar Schiff zu machen, während Ran und Shinichi… sie vielleicht verpasst hatten. Sie nicht wieder bekamen. Selbst, wenn er sein Gedächtnis wieder zurückbekommen würde, wer wusste, wie er dann zu Ran stand. Nach allem, was passiert war… vielleicht war ihm seine Opferbereitschaft für sie dann doch langsam auch selbst unheimlich. Wobei… Nein… Er lächelte traurig. Dafür liebt er sie zu sehr. Aus diesem Grund macht er nicht mir ihr Schluss… erst wenn er merkt, er tut ihr nicht mehr gut, dann… Und nur dann. Er rieb sich unwillig die Nase. Kazuha bemerkte ihn aus dem Augenwinkel, wandte sich um. „Wie geht’s ihm?“ Sie nickte Richtung Kudô-Villa. „Unverändert.“ Kazuhas Miene umwölkte sich mit Sorge. „Er hat‘s momentan nich leicht…“ „Nein, hat er nich.“ Er lehnte sich gegen die Theke neben dem Herd. Kazuha rührte beständig weiter. Gerade als Heiji etwas sagen wollte – so genau wusste er eigentlich gar nicht, was er hatte sagen wollen, er wusste nur, es hatte was mit dem Prickeln in seiner Magengegend zu tun – wurde die Tür einen Spalt aufgeschoben und Ai trat ein, eine Schüssel mit Beeren in den Händen. „Bitte.“, murmelte sie gelangweilt und schob die Schüssel auf die Theke, wo sie Kazuha dankend entgegennahm, Heiji den Rührbesen in die Hand drückte und mit den Früchten zur Spüle ging, um sie abzubrausen. Ai nutzte die Gelegenheit, dem Detektiv einen fragenden Blick zuzuwerfen. Er verzog die Lippen, schüttelte den Kopf. Sie schien etwas erleichtert. Besser so, Heiji. Wenn es stimmt, was du vermutest, sollte er es selbst herausfinden. *** Unschlüssig stand er da, seine Finger spielten nervös mit dem Faden, der die Maske davon abhielt, einfach von seinem Gesicht abzublättern wie Farbe von feucht gewordenem Mauerwerk. Ihm gegenüber stand er, seine Augen unverwandt auf ihn gerichtet, hielten ihn fest. Kommissar Koichi Endo. Schweiß brach ihm aus allen Poren, machte ihm das Tragen der Maske unerträglich, eigentlich. Aber noch wollte er sie nicht ziehen – auch wenn sie heute noch fallen würde. Soviel war klar. Seine andere Hand umklammerte die Glock, unsichtbar für den Kommissar, verdeckt durch den weiten Mantel – obgleich der Kommissar sicher wusste, dass sein Gegenüber bewaffnet war, und er wusste auch, dass er seine Waffe nutzen würde, gab er ihm einen Anlass. Genau genommen brauchte er nicht einmal den. Aber das war heute nicht sein Ziel; den Kommissar zu töten war nie sein Ziel gewesen, eigentlich. Heute war er hier, um ein Ende zu finden für diesen Alptraum von einer Geschichte. „Ich wüsste nicht, wie sie mir helfen könnten, Baron.“ Endos Stimme klang leicht spöttisch. Das war etwas, das der Baron an ihm schätzte; selbst im Angesicht eines so mächtigen Gegners wie er ihn abgab, behielt der Mann Haltung. Blieb seinen Prinzipien treu und ließ sich nicht einschüchtern. Ein Schauer rann ihm über den Rücken, als er seine Augen über die letzten Zeilen huschen ließ. Ihm lief die Zeit davon, hier wie dort, und er fragte sich, woher er die Muße nahm, seine Geschichte zu beenden, aber irgendwie… Irgendetwas sagte ihm, dass er genau das jetzt tun sollte. Die Geschichte beenden. Heijis Besuch hatte ihm gezeigt, wie dünn der Faden war, aus dem sein Lügengespinst gestrickt war. Er hatte erkannt, es war Zeit, einen Schlussstrich ziehen, das Leben des Barons aufzuräumen… und damit seins. Unwillkürlich fasste er sich mit seiner Linken an den Hals, rieb sich die Haut an seiner Kehle; dann setzte er den Füller auf das Papier. Die Parallelen waren immer deutlicher geworden, im Laufe der Jahre, zwischen dem Leben des Barons und seinem eigenen Dasein. Diesem Doppelleben… Tags der strahlenden Schriftsteller, Nachts der Herrscher über die Schattenwelt. Er würde es beenden. Zuerst diese Geschichte. Dann eine andere. Und so merkte er nicht, wie es langsam dämmerte, die Schatten im Zimmer immer länger wurden. Merkte nicht, wie die Zeiger der Uhr immer weiter vorrückten. Hörte nicht, dass Yukiko ihn kurz ansprach; sie gab es auf, ihn zu fragen, ob er Hunger hatte, als sie sah, wie versessen sein Füller über das Papier kratzte. Shinichi trat leise hinter sie, lehnte neben ihr in der Tür. „Ist das normal?“, fragte er leise. „Es kommt selten vor, ist aber nicht ungewöhnlich. Warts ab, morgen kannst du wohl das Ende lesen.“ Sie lächelte sanft. Es war ihr fast peinlich, sich einzugestehen, wie sehr sie dieser Anblick erleichterte; ihren Mann so eifrig beim Schreiben zu sehen. Er war in seinem Element, so ganz bei sich – einmal, in dieser langen Zeit, war er der Mann, den sie geheiratet hatte, zumindest ein Teil von ihm. Der Schriftsteller. Wenn sie gewusst hätte, was ihn so antrieb, wäre sie sicher nicht ganz so erleichtert gewesen. Yusaku schaute nur kurz auf, als der Luftzug der sich schließenden Tür seine Blätter kurz aufflattern ließ. Yukiko? Kapitel 40: Kapitel 22: Ausflug ins Grüne ----------------------------------------- Hallo Leute! Heute kommt das Kapitel wieder etwas pünktlicher... und ich kann euch hiermit verkünden, wir fangen das letzte Drittel dieser Fanfiction an. Viel Spaß beim Lesen, vielen Dank für jeden Kommentar! Eure Leira _________________________________________________ Kapitel zweiundzwanzig: Ausflug ins Grüne Shinichi hatte nicht gut geschlafen. Er fühlte sich, als ob er die ganze Nacht kein Auge zugemacht hätte, und eigentlich war dem auch fast so. Mühsam unterdrückte er ein Gähnen, als er aus halb geöffneten Augen seine Mutter beobachtete, die sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte und leise mit seinem Vater sprach – was sie sagte, ging im lauten Gebrodel der Maschine unter, aber anscheinend ging es um ihn, denn ihr Blick huschte ständig in seine Richtung. Shinichi tat so, als bemerkte er es nicht, und starrte stattdessen in den Quadratmeter Luft vor seiner Nase, seufzte leise. Sein Kopf ruhte schwer in seinen Händen. Langsam rutschten seine Ellenbogen zur Seite, und seine Stirn sank mit einem dumpfen Geräusch auf die Tischplatte, haarscharf neben seiner Kaffeetasse. Ein lautloses Stöhnen entwich seinen Lippen. Heiji, der an der Fensterbank lehnte, betrachtete ihn nachdenklich. Er konnte sich nur schwerlich ausmalen, was im Kopf seines besten Freundes momentan vor sich ging. Aber dieser Zustand muss endlich ein Ende haben. Das is ja kaum auszuhalten. Dann trat er näher, packte ihn am Kragen und zog ihn auf dem Stuhl zurück. „Lass dich mal nich so hängen, Mann!“ Seine Stimme klang gelassener, als er es war, aber nicht halb so aufmunternd, wie er es geplant hatte. Shinichi warf ihm einen schrägen Blick zu, verkniff sich aber einen Kommentar. Sein Kinn sank auf seine Brust, nachdenklich griff er nach seiner Tasse Kaffee, schnupperte daran. Die Tasse fühlte sich heiß an in seinen Händen. Langsam schlürfte er einen kleinen Schluck, warf dann einen Blick auf die Uhr. Heiji tat es ihm gleich. Mittlerweile war es knapp vor acht Uhr – gleich sollte es losgehen. Und dann würde sich zeigen, was dieser Trip in den Wald wirklich brachte, ob er hielt, was man sich von ihm versprach… oder ob sie am Ende des Tages genauso schlau waren, wie jetzt. Shinichi starrte schweigend nach draußen, schlürfte nur ab und an seinem Kaffee. Heiji griff nach der Scheibe Toast, die ihm Yukiko in die Hand gedrückt hatte, stopfte sie sich gedankenverloren in den Mund und kaute, spülte dann mit einem Schluck Tee nach. Ihnen gegenüber setzte sich Yusaku, der wie gerädert aussah und mittlerweile die dritte Tasse Kaffee schwarz in kleinen Schlucken sehr zügig leerte; er musste wohl bis spät in die Nacht noch über seinem Manuskript gesessen haben, mutmaßte Shinichi. Genau genommen sieht er fast so aus, als hätte er durchgemacht. Genau genommen sieht er so aus, wie ich mich fühle. Allerdings hatte seine Mutter nicht Recht behalten, mit ihrer Vorhersage, Shinichi würde das Ende bald zu lesen bekommen; sein Vater hatte das Manuskript heute Morgen in seiner Schreibtischschublade verschlossen und den Schlüssel eingesteckt. Als er gesehen hatte, dass sein Sohn ihn beobachtete, hatte er nur lächelnd den Kopf geschüttelt. Du willst das Ende nicht wissen, Shinichi. Nicht jetzt schon. Dann klingelte es an der Haustür, und Yusaku erhob sich ächzend, um zu öffnen. Shinichi legte seinen Toast ab, an dem er gerade angefangen hatte, lustlos darauf herumzukauen; so recht wollte sich der Appetit nicht einstellen. Heiji leerte seine Tasse, stellte sie mit einem lauten „Klonk!“ auf dem Tisch ab, lehnte sich an die Tischkante und verschränkte die Arme vor der Brust. Auf seinem Gesicht war ein sehr nachdenklicher Ausdruck getreten. „Was denkstde, passiert heute?“ Shinichi blickte nicht auf, als er antwortete. „Was weiß ich…“, murmelte er lautlos. Zu mehr kam er auch nicht, denn die Tür ging wieder auf; herein trat sein Vater, gefolgt von Ran. Hinter ihr stand Herr Mori, wirkte ernst, aber sehr gefasst. Ran hingegen sah katastrophal aus. Heiji erschrak sichtlich, als er sie erblickte; sie wirkte mitgenommen, ihr Teint war fahl, und sie sah aus, als hätte sie geweint, bevor sie gekommen war. Shinichi warf ihr einen Blick zu, schluckte. Der Gedanke an sie hatte ihn auch heute Nacht verfolgt, und was er nun vor sich sah, bestätigte ihn in seinem Entschluss. Ran… Sie starrte ihn an. Shinichi war langsam aufgestanden, und rang mit sich. Er ahnte, dass die normale Reaktion gewesen wäre, auf sie zuzutreten, sie zu umarmen. Auch wenn sie es doch langsamer angehen wollten, zumindest diese Geste hätte kommen müssen – und dennoch brachte er sie nicht über sich. Er stand da, wie festgewurzelt und versteinert gleichermaßen, wartete, und wusste nicht, auf was eigentlich - merkte dabei nur, wie sein Magen auf wundersame Weise an Gewicht zuzulegen schien, bis er sich anfühlte, als hätte ihn jemand mit fünf Kilo Kieselsteinen befüllt. Yusaku beobachtete ihn, verriet mit keiner Regung seines Gesichts, was er dachte. Er hatte eine vage Ahnung, was in Shinichi vorging; und kam nicht umhin, die Situation für unglaublich makaber zu befinden. Er wusste, wie sehr Shinichi dieses Mädchen liebte, er hatte gesehen, was er für sie aufzugeben bereit war, und er hatte eine gute Ahnung, welche Art von Freund sein Sohn unter normalen Umständen abgeben würde; fürsorglich, liebevoll, engagiert und über jede gemeinsame Minute glücklich. Und stand er einfach da, steif und starr, und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, weil er sich selbst nicht traute – und ihr nicht wehtun wollte. Und das war der springende Punkt. Wie so oft wollte er ihr nicht weh tun – und tat es damit doch. Und mit Ran… mit Ran sah es nicht anders aus. Er seufzte lautlos, bemerkte, dass Yukiko ebenfalls hinter ihm erschienen war, sah den mitfühlenden Blick auf ihren Zügen. Wahrscheinlich malte sie sich diese Szene momentan auch gerade ganz anders aus – oder erinnerte sich an all die Besuche, die Ran früher diesem Haus und ihren Bewohnern abgestattet hatte. Keiner war jemals so trübe gewesen… außer vielleicht der, als sie als kleines Mädchen weinend vor der Tür gestanden hatte, weil ihre Eltern sich getrennt hatten. Hier und heute ging es um ein anderes Paar. Sein Schicksal nahm Ran unglaublich mit, das wusste er; sie liebte ihn, sie wollte ihm helfen, und wusste doch nicht wie; sie wollte ihm nahe sein, ihm beistehen und doch… war sie ihm wohl nie ferner gewesen, als gerade jetzt. Sie waren nie weiter voneinander entfernt gewesen als in diesem Moment in dieser Küche... es trennten sie nur wenige Schritte, und doch schien die Distanz unüberwindbar. Allein ihre Körpersprache sagte alles, ihre Mimik und Gestik. Sie waren sich fremd geworden, obwohl sie wussten, dass sie das nicht sein sollten. Dass sie es auch gar nicht sein wollten. Selbst als Conan noch den Platz seines Sohnes eingenommen hatte, waren sich die beiden näher gewesen. Und doch verzog sich Rans Miene zu einem tapferen Lächeln, als sie Shinichi erblickte. Er erwiderte es zaghaft. Yusaku seufzte, fuhr sich über seinen Bart. „Setz dich doch, Ran, solange wir auf die anderen warten.“, schlug der Schriftsteller vor, lächelte sie freundlich an. Er fasste sie an der Schulter, zog sie ein wenig weiter ins Zimmer, erschauderte unwillkürlich. Sie fühlte sich seltsam zerbrechlich an, und er fragte sich, ob er sich das einbildete. Seine und Kogorôs Blicke trafen sich. Die Sorge in den Augen des ehemaligen Polizisten um seine Tochter war unübersehbar. Es wurde Zeit, dass das ein Ende nahm. Yusaku wandte sich wieder der Freundin seines Sohnes zu. „Möchtest du eine Scheibe Toast mit Marmelade und eine Tasse Kaffee? Die Polizei kommt zwar bald, aber Zeit für ein kleines Frühstück ist sicher noch. Yukiko…, würdest du…?“ Ran schüttelte den Kopf, lächelte höflich. „Nicht nötig, Herr Kudô, aber danke…“ „Ach was, Ran.“ Diesmal war es Yukiko, die sprach. Sie ergriff Rans Hand, zog sie auf einen Stuhl neben ihrem Sohn, der sich ebenfalls wieder setzte, und wandte sich um, um ein kleines Frühstück zuzubereiten. „Du siehst aus, als hättest du heute Morgen noch nichts gegessen. Wie ein anderer jemand auch.“ Sie funkelte ihren Sohn mahnend an, der daraufhin gelangweilt in den Toast biss. „Wenn ich keinen Hunger hab…“ Unwillig motzend stopfte er den restlichen Toast in seinen Mund, wohl wissend, das Widerspruch zwecklos war. Yukiko nickte zufrieden, stellte Ran eine gebutterte und mit Marmelade bestrichene Scheibe Toast und eine Tasse Kaffee vor die Nase. „Brav so.“ Sie tätschelte ihm den Kopf, fing sich einen wütend-genervten Blick von ihrem Sohn ein und lächelte verschmitzt. Ran sah den beiden zu, kam nicht umhin, auch ein wenig zu lächeln; die Szene kam ihr so vertraut vor. Und doch wirkt es so anders. Sie hob die Kaffeetasse an, bemerkte, dass Bewegung in Heiji kam; er stieß sich vom Tisch ab, schaute angestrengt nach draußen, als er zwei Gestalten erblickte. „Der Professor und Ai kommen.“, stellte er unnötigerweise fest. Ran schnupperte an ihre Kaffee, ehe sie einen vorsichtigen Schluck der heißen Flüssigkeit nahm, blickte aus den Augenwinkeln nach draußen und sah den dicklichen, alten Mann und das kleine Mädchen, das wie immer viel zu ernst dreinschaute. Sie hatte ihre kleinen Hände in die Taschen ihres hellblauen Wollmantels gesteckt, der ihr ausgezeichnet stand; ihr Kinn hatte sie soweit an die Brust gezogen, dass ihr Gesicht bis zur Nasenspitze hinter dem Kragen ihres Dufflecoats verschwand. Dann fuhr ein weiterer Wagen vor, und der ließ Shinichi neben ihr hochfahren. Sie wandte den Kopf, sah Anspannung in seinen Zügen, seine Augen blickten ernst auf den Kleinbus, aus dem nun mehrere Personen stiegen – die Polizei war angekommen. Es konnte losgehen. Wenige Minuten später hatte sich die Küche in der Villa Kudô geleert. Rans Marmeladentoast lag immer noch unberührt auf seinem Teller. Es regnete leicht, als sie am Waldrand ankamen. Nichtsdestotrotz war Shinich froh, als er den Wagen endlich verlassen konnte; tief atmete er die torfig riechende, feuchte Waldluft ein, genoss den kühlen Wind, ehe er sich umdrehte, um Ran aus dem Wagen zu helfen. Es war eng gewesen in diesem Bus, der sie zum Waldrand brachte. Fast alle waren mitgefahren; neben Ran und ihrem Vater, Herrn Môri waren auch Heiji und Kazuha mit von der Partie, der Professor, Kommissar Meguré, Sato und Takagi, sowie James Black und Jodie Starling. Außerdem noch zwei Polizisten aus der Region, die abbestellt worden waren, um ihnen die Gegend zu zeigen. Aus organisatorischen und sicherheitstechnischen Gründen hatten sie beschlossen, alle gemeinsam zu fahren - was damit endete, dass Shinichi nun glaubte, eine gute Ahnung zu haben von dem Gefühl, das eine Sardine in einer Dose empfinden musste – und genauso quollen sie jetzt gerade aus den Türen des Kleinbusses. Ran fiel ihm fast entgegen, Matsch spritze hoch, als ihre Füße in eine Wasserlache traten. Als sie am Zeltplatz ankamen, regnete es schon etwas stärker; den mesten von ihnen klebten die Hosenbeine bereits an den Knöcheln. Regenschirme stießen gegeneinander, als man sich sammelte, um die Lage zu sondieren. Den Wagen hatten sie am Eingang des Waldgebiets abgestellt, um zu Fuß hierher zu gehen, schon allein, weil wohl der Bus mit Sicherheit im leicht morastigen Boden eingesunken wäre. Schweigend waren sie den Pfad entlang gewandert, und schweigend standen sie nun hier, auf der Lichtung, in der nichts mehr davon kündete, dass hier vor kurzem eine Campingtruppe gezeltet hatte - bis auf einen kleinen Flecken verkohlter Erde, wo sich ihre Feuerstelle befunden hatte. Shinichi fröstelte. Er rammte seine Fäuste noch tiefer in die Hosentaschen, als ohnehin schon, trat dann langsam vor, sich der Blicke, die an ihm klebten und jeden seiner Schritte verfolgten, vollstens bewusst. Sie waren im unangenehm, aber er wollte nichts sagen; schließlich waren sie alle wegen ihm hier, sie meinten es nur gut mit ihm, wollten ihm ja helfen. Unvermutet blieb er stehen, ließ seinen Blick übers Gelände schweifen. Wind kam auf, trug einen salzigen Geschmack mit sich. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter, dann begann er dem Pfad zu folgen, der sich in die Richtung wand, aus der auch der Wind blies – leises Rauschen aus der Ferne bestätigte die Ahnung, die er hegte. Dort lag das Meer. Und dort wollte er hin. Ran schluckte. Kogorô merkte, wie sich seine Tochter neben ihm unruhig bewegte. „Willst du ihm nicht hinterher?“, murmelte er dann leise, ohne sie anzusehen. Sein Blick ruhte auf der Stelle, wo er ins regenfeuchte Dickicht des Unterholzes eingebrochen war, dem etwas matschigen Pfad folgend, der zum Strand führte. Rans Lippe bebte leicht. Sie zitterte. Kogorô sah sie an, bemerkte, dass sie erbärmlich fror – allerdings wusste er, dass auch noch etwas anderes sie Zittern machte. Angst. Der Detektiv sah seine Tochter aufmerksam an. „Weiß er’s denn? Dass du… das Telefonat…“ Er brachte es nicht fertig, den Satz zu vollenden. Ran schloss kurz die Augen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Also… nicht von mir.“ Dann straffte sie ihre Schultern. „Aber du hast Recht, ich sollte… nach ihm sehen.“ Damit ging sie los, zielstrebig ihrem Freund hinterher, wohl wissend, dass sie sich dem Ort näherte – dem Ort, an dem sie ihn verraten hatte, ohne es zu wissen. Dem Ort, an dem alles begonnen hatte. Die anderen sahen ihnen nach, ehe sie sich daran machten, die Augen offen zu halten und nach Hinweisen zu suchen. Nach Hinweisen, die auf sie hindeuteten – eine Spur in ihr Quartier, ein Zeichen ihrer Anwesenheit. Meguré bemerkte, wie die zwei Polizisten, die ihnen als Hilfe zugewiesen worden waren, Ran und Shinichi folgten, nickte zufrieden. So konnten er und seine Männer sich den wichtigen Dingen zuwenden. Ran hatte ihn schnell eingeholt, ging neben ihm her, still, warf ihm immer wieder einen kurzen Blick von der Seite zu. Er verriet mit keiner Regung in seinem Gesicht, wie es ihm ging, oder ob er überhaupt wahrgenommen hatte, dass sie da war. Nun standen sie am Meer. Sie war ein paar Schritte zurückgeblieben, beobachtete ihn stumm. Shinichi hatte ihr den Rücken zugedreht, die Hände in den Hosentaschen vergraben, seine Schultern wirkten seltsam gebeugt, als würden sie eine schwere Last tragen. Wahrscheinlich stimmt das auch. Ran seufzte, strich sich eine vom Nieselregen leicht feuchte Haarsträhne aus den Augen. Wind peitschte das Meer, fegte ihm die Gischt ins Gesicht, aber er schien es gar nicht zu merken. Sie schluckte, fühlte sich hilfloser als je zuvor. Wollte etwas sagen, und wusste doch nicht was – jedes Wort schien hier fehl am Platz zu sein. Wellen spülten ungestüm an den Strand, bewegten die zahllosen Sandkörnchen unablässig. Und genauso unruhig wie das Meer, nicht an einen Moment des Stillstands denkend, genauso trüb und bewölkt wie der Himmel, keinen Sonnenstrahl durchlassend, genauso unruhig und hoffnungslos fühlte er sich. Shinichi atmete tief ein, schmeckte die salzige Luft auf seiner Zunge, fühlte, wie sich seine Lungenflügel weiteten. Irgendwie tat sie gut, diese feuchte Seeluft; und irgendwie zeigte ihm das Meer ein Abbild seiner Selbst. Trüb, undurchsichtig, keinen Blick auf den Grund zulassend und unruhig, nervös, nicht zur Ruhe kommend. Kurz schloss er die Augen, um die Realität auszublenden, schaffte es doch nicht ganz; die Geräusche drangen nichtsdestotrotz an seine Ohren, das Rauschen des Meeres, das Brausen des Windes; und nach wie vor spürte er kalte, kleine Regentröpfchen auf seiner Haut, merkte, wie sie ihn immer mehr durchnässten. Er hob die Hände, vergrub sein Gesicht ihn ihnen, unterdrückte den Wunsch, seinem Frust durch lautes Schreien einfach Luft zu machen. Schließlich war er nicht allein. Klar, er hatte noch nicht viel gesehen… sie waren die Straße entlang hergefahren, wo man ihn gefunden hatte, hatten ihm die Stelle gezeigt, wo man ihn aufgegabelt hatte… Und sie waren ja noch nicht lange hier angekommen… er hatte noch nicht viel gesehen. Trotzdem war er sich sicher, dass auch dieser Trip nichts bringen würde. Dass er umsonst gehofft hatte – und das hatte er wirklich. Er hatte gehofft. „Shinichi?“ Rans Stimme klang zaghaft an sein Ohr. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Langsam ließ er die Hände sinken, drehte sich um. Und sah sie. Sie sah aus, als würde sie der Wind jede Minute mit sich reißen. Ihre Jacke blähte sich im Wind, ihr Rock flatterte um ihre Beine, ihre langen, braunen Haare umtanzten ihr Gesicht, folgten einer unhörbaren Melodie. Shinichi hob fragend die Augenbrauen. „Hm?“ Sie wich seinem Blick aus, starrte auf ihre Finger, die sie ineinander verschlungen hatte. „Er… erinnerst du dich an etwas?“ Sie sah auf. Er schüttelte den Kopf, langsam. „Nein.“ Er räusperte sich, strich sich einen Wassertropfen von der Schläfe. „Nein, leider nicht. Wir sollten…“ Unwillkürlich brach er ab, als er ihr Gesicht bemerkte. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, ihre Unterlippe bebte. Sie hatte eine Hand gehoben, an ihren Hals gelegt, atmete heftig. „Ran, ist dir nicht gut?“, fragte er besorgt. Der alarmierte Ton in seiner Stimme ließ sie aufschauen. „Nein…“ Sie jammerte. „Es ist, weil…“ Shinichi stutzte. „Weil was…?“ Ran starrte ihn an, wich ihm aus. Er fixierte sie, trat einen Schritt zur Seite, so dass er wieder in ihr Gesicht sah, hob die Hand an ihr Kinn. „Was, Ran?“ Seine Stimme klang drängend. „Es gibt etwas… etwas… das du noch nicht weißt…“ Sie sah auf, sah den verwirrten Blick in seinen Augen. Blickte in dieses Gesicht, das sie so sehr liebte, und fühlte diese Schuld in sich toben wie nie zuvor. „Was?!“, hörte sie ihn fragen. Der Wind riss ihm das Wort förmlich von den Lippen. Irre Angst machte sich in ihr breit. Sie sah auf, sah in sein Gesicht, sah ihn - zum ersten Mal in diesen Tagen tatsächlich ihn. Unverwandt starrte sie in seine Augen, in denen momentan Shinichi deutlicher zu sehen war als je zuvor seit seiner Rückkehr – Shinichi, der auf der Suche war, nach der Wahrheit, der angebissen hatte, und nicht loslassen würde, ehe er nicht die ganze Geschichte kannte. Sie fühlte, wie sie innerlich kapitulierte, wusste sie doch, dass sie keine Chance hatte. Sie hatte ja beschlossen, es ihm zu sagen, er brauchte dieses Teil für sein Puzzle. Und dennoch… hatte sie Angst. „Weißt du, warum deine Tarnung aufgeflogen ist…?“ Ihre Stimme war kaum zu hören, als sie sich endlich zum Sprechen durchgerungen hatte. „Nein.“, bekannte er. Es überraschte ihn, er hatte sich darüber nie Gedanken gemacht, dabei war das doch eigentlich offensichtlich. Tränen rannen über ihr Gesicht, immer mehr. Und plötzlich war er sich gar nicht mehr sicher, ob er überhaupt wissen wollte, was sie ihm beichten wollte. Er merkte, wie er blass wurde, als eine Ahnung sich in ihm breitmachte. „Wegen mir…“, hörte er sie sagen. Er las es mehr von ihren Lippen ab, als dass er es tatsächlich hörte. Sie schluckte, ihre Lippen zitterten. „Wegen mir. Ich… ich hab dich verraten, und deswegen muss ich dir doch helfen, ich bin Schuld, ich… wenn… schon alles andere nicht klappt, wenn ich dir schon anders nicht helfen kann, dann bin ich dir doch schuldig, wenigstens alles zu tun, damit du…“ Sie brach ab, als sie den Blick in seinen Augen wahrnahm, merkte, wie ihr innerstes zu Eis gefror. „Wie… bitte?“ Seine Stimme war heiser, kaum zu hören. Ran schaffte es nicht länger, ihm in die Augen zu sehen. „Ich weiß nicht genau, wie es passiert ist. Du und ich, wir… haben telefoniert.“ Sie zögerte kurz. „Hier… warst du wohl. Du… saßest am Strand, ich war… auf Izu. Und ich hab dir gesagt, dass ich dich liebe, am Telefon. Du hattest die die Wochen so seltsam benommen, und nun – du weißt ja Bescheid über unser Dilemma…“ Ran knetete nervös ihre Finger. „Wir redeten und diskutierten, und als… ich dir meine Liebe gestand, da… da war es eine Zeitlang still in der Leitung…“ Shinichi schluckte, wandte sich ab, fuhr sich mit zitternden Fingern fahrig über die Augen. „Ich nannte dich recht laut beim Namen, hatte Angst, du hättest aufgelegt. Es war wohl… laut genug, dass jemand anders den Namen auch gehört hat. Jemand, der eins und eins zusammenzählen konnte…“ Er drehte sich um. „Du hast es nicht… absichtlich…“ „Nein!“ Ran schluckte, trat näher. „Nein, natürlich nicht! Du hast keine Ahnung, wie sehr ich… das bereue, ich…“ Langsam schüttelte Shinichi den Kopf. „Dann mach dir keine Gedanken…“ Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. „Du wusstest nicht, was du tust… dann musst du dir auch nicht die Schuld geben, Ran.“ „Aber dennoch ist es meine Schuld! Und allein schon deshalb…“, begann Ran von neuem, hielt allerdings inne, als Shinichi den Kopf schüttelte. „Nein.“ Er lächelte erneut, diesmal allerdings war es ein trauriges Lächeln. „Ich bin selbst Schuld, wenn überhaupt jemand Schuld hat daran. Aber danke… dass du es mir gesagt hast.“ Das muss dich unglaublich belastet haben… belastet dich immer noch. Ran. Dummkopf… Er schluckte, trat langsam auf sie zu, griff ihre Hände mit seinen, lehnte seine Stirn gegen ihre. Ran schloss die Augen, atmete langsam aus. Shinichi spürte, wie sie zitterte, konnte die angestaute Hoffnung in ihr fast sehen – den Schmerz, den sie fühlte, sah er tatsächlich. Und deshalb, wusste er, musste er ihr nun seinerseits eine Wahrheit erzählen, die nicht sehr angenehm war. Er presste die Lippen zusammen, schaute sie traurig an. „Es funktioniert nicht.“, wisperte er schließlich leise. Der Wind riss seine Worte förmlich von seinen Lippen. „Was?“, murmelte sie fragend; eigentlich war die Frage rhetorisch, sie wusste, was nicht funktionierte. „Dass du dich nicht erinnern kannst? Das ist nicht schlimm, Shinichi, irgendwann…“ „Das meine ich nicht, und das weißt du.“ Er löste sich von ihr, schaute sie an, fest. Sie hatten es versucht, sie hatten getan, was ihnen möglich war, aber jetzt war Schluss. Er schluckte. Der Wind zerrte an seiner Jacke, an seinen Haaren, immer stärker fiel der Regen nun auf sie nieder, sorgte dafür, dass binnen Sekunden seine Kleidung ekelhaft feucht wurde. Ihr hing eine Strähne klamm ins Gesicht, ihre Lippen hatte sie aufeinandergepresst, fest, eisern fast. Versuchte mit allem, was sie hatte, nicht zu weinen, aber er wusste es doch, dass ihr zum Heulen zumute war. Er sah, wie sie den Kampf um ihre Fassung einmal mehr verlor, wie sich ihre Mundwinkel nach unten zogen, als sich das erste Aufschluchzen mit Gewalt ein Ventil suchte. Ran wandte den Kopf ab, schnell. Viel zu schnell, als dass es nicht verdächtig gewesen wäre, und viel zu langsam, andererseits, als dass er es hätte nicht sehen können, wie sie kurz nach Luft schnappte, ihr die ersten Tränen aus den Augenwinkeln quollen, sich vermischten mit dem Regen auf ihrem Gesicht. Er streckte die Hand nicht aus, um sie ihr wegzuwischen. Sie an sich zu ziehen, zu trösten, ihr zu sagen, dass alles gut werden würde, auch wenn alles in ihm ihn dazu drängte, genau das zu tun. Ihr Leid lindern, ihr eine heilere Welt vorgaukeln, als es sie gab. Das wäre gelogen, und bei Gott- er wollte doch endlich aufhören damit. Und so starrte er sie nur an, wusste, was los war, auch ohne, dass sie sprach. Er wusste es einfach. Sie hielt es nicht mehr aus, dieses Suchen und doch nicht Finden, dieses Reden, ohne etwas gesagt zu haben... Ihm ins Gesicht zu schauen, und doch nicht den anzusehen, den sie so sehr zu erblicken hoffte. Genauso wenig, wie er es noch aushielt. Ran stand da, die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, den Blick starr auf den Boden geheftet. „Ist es… ist es, weil…“ „Nein.“ Seine Stimme klang fest. „Deswegen nicht, das meine ich ernst. Du kannst nichts dafür. Aber… sieh dich an, Ran. Das alles… tut dir nicht gut. Ich… tu dir nicht gut. Du willst mir unbedingt helfen, und weißt nicht wie, und ich bin niemand, der sich gut helfen lässt. Du suchst nach jemandem, der nicht da ist, und das macht die Situation fast unaushaltbar für dich. Du würdest alles tun, wenn es nur etwas bringen würde – und ich kann dir sagen, momentan sind all deine Anstrengungen umsonst. Deshalb… kann ich nicht länger mitansehen, wie du…“ Er brach ab, als er in ihre Augen sah. „Warum gehst du nicht einfach, wenn du’s nicht ertragen kannst?“, fragte er schließlich leise, aber drängend. Seine Worte gingen im Geprassel des Regens, der langsam an Intensität zunahm, fast unter, aber sie verstand sie dennoch. Wort für Wort. „Warum zum Teufel tust du dir das an?“ Ein Zittern rann durch ihren Körper. „Weil ich nicht so bin. Ich lass nicht einfach meine Freunde im Stich.“ Er atmete tief durch. „Das ehrt dich.“ Shinichi schluckte schwer, seine Augen immer noch starr auf ihre schmale Gestalt geheftet, merkte, wie ihm irgendetwas die Luft abschnürte; als stünde hinter ihm jemand und drückte seinen Hals zu, erwürgte ihn, langsam, ganz langsam… aber unaufhörlich, unerbittlich. Und ungeheuer genussvoll. Unwillkürlich zuckte seine Hand zu seinem Hals, sein Blick schweifte ab, glitt auf den Boden, wo Spuren im Sand von ihrer Anwesenheit zeugten, bis der Regen sie weggespült hatte. Das würde bald der Fall sein. Dann schüttelte er den Kopf, schaute sie wieder an, holte tief Luft, versuchte es wenigstens… ehe er sprach. „Ran, sehen wir doch der Wahrheit ins Gesicht. Du vermisst Shinichi, aber der ist nicht hier. Keiner weiß, wann er wieder kommt. Und ich… ich bin nicht wie er. Ich seh aus wie er, aber ich bin es nicht… er ist weg. Also… geh einfach. Ich denke, das ist am besten für uns beide. Verschwinde und dreh dich nicht um, ich denke, sollte Shinichi mal wieder aufkreuzen…“, seine Stimme verlor sich, „meldet er sich… vielleicht.“ Ihr Kopf fuhr hoch, Schrecken stand in ihren Augen. Er erwiderte ihren Blick, versuchte, ruhig zu wirken, biss sich erneut auf die Lippen, fester dieses Mal, bis er Blut schmeckte. „Glaub mir, ich nehm's dir nicht übel. Du bist mir… wirklich nichts schuldig. Du hast getan, was du konntest, aber jetzt… geht es einfach nicht mehr weiter für uns. Du weißt es, und ich… weiß es auch. Und ich kann nicht länger verantworten, dass du so… leidest. Wegen mir. Deshalb will ich, dass du gehst. Mich nicht mehr besuchst. Nicht… so bald, zumindest. Vergiss, was war.“ Er biss sich auf die Lippen. Ran schaute ihn an, merkte, wie ihr Herz gegen ihren Brustkorb schlug, ihre Finger kalt wurden. „Du machst Schluss…?“ Er schaute sie an, versuchte zu lächeln, merkte doch, wie sich seine Mundwinkel nach unten zogen. „Ich bin ein Niemand, Ran. Kann denn… ein Niemand Schluss machen?“ Er lächelte bitter, seine Stimme troff vor Zynismus. „Ich nähm’s dir nicht übel, würdest du gehen, wirklich nicht. Ich dank dir für deine Hilfe bis hierher… und für deine Ehrlichkeit.“ Sie trat ein paar Schritte nach vorn, blieb vor ihm stehen. Shinichi wandte den Blick ab, schluckte hart. „Geh einfach.“ Seine Stimme war kaum lauter als ein Wispern. Er merkte, wie seine Augen zu brennen anfingen, aber er beherrschte sich. Sie tat das nicht. Ran fing nun hemmungslos zu schluchzen an. „NEIN!“ Sie schrie ihn an, hämmerte mit ihren Fäusten gegen seine Brust, ließ dann ihren Kopf gegen seinen Hals sinken, ihre ganze Gestalt bebte. Frustration, Verzweiflung, Trauer suchten sich ein Ventil und fanden es. Rans Weinen nahm kein Ende mehr. „Ran…“, fing er an. Er war blass geworden, mit der Reaktion hatte er nicht gerechnet und sie erschütterte ihn zutiefst. Sie hob den Kopf, ihre Augen waren binnen weniger Sekunden rotgeädert und verquollen, ihre Lippen bebten, doch auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck tiefster Entschlossenheit. „Ich werde dich nicht verlassen. Ich geb' dich nicht auf. Ich will…“ Sie starrte ihn an, nahm seinen Kopf in ihre Hände. „Ich will dich wiederhaben…“ Eine Träne verließ ihren Augenwinkel, perlte über ihre Wange. Er widerstand erneut dem Drang, sie wegzuwischen, sah ihr zu, wie sie zu ihrem Kinn rann, und von dort auf ihre Bluse tropfte, im hellgelben Stoff versickerte. Vorsichtig griff er sie an den Schultern, drückte sie sanft ein wenig weg von sich. „Was ist, wenn er nicht wiederkommt…?“ Seine Stimme klang rau; irritiert griff er sich an den Hals. „Das wird er.“ Sie schaute ihn an; ihre klaren, blauen Augen nahmen ihn gefangen, machten es ihm unmöglich, ihr auszuweichen. Er atmete durch, bewegte sich nervös in seinen unangenehm feuchten Klamotten, dann schüttelte er den Kopf, ohne sie aus den Augen zu verlieren. „Ganz ehrlich, Ran... Nachdem, was ich in den letzten Tagen über mich… über diesen Shinichi Kudô… erfahren habe, glaube ich nicht, dass der, den du verloren hast, an jenem 13. Januar, jemals wiederkommt. Auch wenn… ich mein Gedächtnis wiederbekommen sollte, so schätze ich, haben mich die letzten zwei Jahre so verändert, dass ich dennoch nicht wiederzuerkennen sein werde.“ Ran fühlte sich, als hätte ihr jemand ins Gesicht geschlagen. Schock fiel über sie wie eine eiskalte Dusche. Sie starrte ihn an, schüttelte wortlos den Kopf, konnte kaum glauben, was sie gehört hatte. Er sah sie traurig an, lächelte müde. „Ich liebe dich. Das… tue ich. Und ich denke, auch… mein altes Ich tut das. Immer noch. Wahrscheinlich, so lange ich lebe.“ Er senkte seinen Blick, vergrub seine Hände tief in seinen Jackentaschen, merkte, wie ein kalter Regentropfen ihm die Schläfe hinabrann, an seiner Wange entlang, über seinen Hals in seinen Kragen. „Aber sieh dich an. Du bist fertig mit den Nerven, mit der Welt. Dich zerreißt die Sorge um mich. Ich glaub dir, wenn du sagst, du liebst mich. Und du bist das Beste, was mir dieser Tage passiert ist. Aber ich kann nicht länger mit ansehen, wie du dich aufreibst, auf der Suche nach jemandem, den du so schrecklich vermisst, der vielleicht nicht mehr kommt… und den ich nicht ersetzen kann. Wir haben es versucht, und sind gescheitert, wir haben den Karren hübsch in eine Sackgasse gefahren, und ich will das alles nicht noch schlimmer machen, als es jetzt schon ist. Ich denke, damit ist eigentlich…“, er schluckte hart, „alles gesagt.“ Eine einzelne Träne lief ihm aus dem Auge. Er wischte sie weg, schnell, unwillig, seine Schwäche zu zeigen. „Es tut mir Leid, Ran.“ Damit drehte er sich um, ließ sie stehen. Ran blieb zurück, merkte, wie mit jedem Schritt, den er sich entfernte, ihre Sicht immer mehr verschwamm. „Denkt ihr, er findet was?“ Kogorô war langsam an die Gruppe der Polizisten herangetreten, nachdem der letzte Suchtrupp zurückgekommen war, der die Umgebung nach Spuren und Hinweisen abgesucht hatten, die auf die Anwesenheit der Organisation hingedeutet hätten – erfolglos. Auch der Versuch, nachzuvollziehen, wie Shinichi in den Wald geraten war nach seiner Flucht, war bisher auf wenig fruchtbarem Boden gelandet – eigentlich war es fast schon lachhaft. Die Organisation konnte nicht weit sein, das Quartier quasi in Wurfweite – aber bis auf eine amtlich eingetragene Giftstofffabrik mit angeschlossenem Labor war nichts zu finden. Meguré runzelte die Stirn. Natürlich war ihm der Gedanke gekommen, dass an der Fabrik etwas faul war – allerdings hatte man ihn und Black freundlich empfangen, bereitwillig, wie es sich für ein japanisches Unternehmen gehörte, die amtliche Eintragung und alle dazugehörigen Papiere gezeigt. Bis auf diesen Gebäudekomplex gab es nur noch ein paar abgeschlossene, zum Teil halbverfallene Bausünden, die er sich mit Sicherheit in den nächsten Tagen genauer ansehen würde. Was ihn und auch Black, der neben ihm stand und seinen Bart gedankenverloren zwirbelte, beschäftigte, war der Verbleib von Ran und Shinichi. Die beiden waren nun schon seit einer halben Stunde verschwunden. Sein Blick wanderte nachdenklich Richtung Meer; allerdings hielt ihn irgendetwas ab, den beiden zu folgen. Er ahnte, dass sie nicht nur auf der Suche nach Shinichis Erinnerungen waren – die beiden beschäftigte noch etwas ganz anderes. Er schauderte, als die nasse Kälte in seine Kleidung kroch, zog sich seinen Hut fester in die Stirn, wandte sich um, um Takagi eine Frage zu beantworten, die dieser gerade gestellt hatte. Kapitel 41: Kapitel 23: Black strikes back ------------------------------------------ Nach einer kleineren Pause geht's nun weiter - entschuldigt bitte, und viel Vergnügen beim Lesen, eure Leira _________________________________________________________________________ Kapitel dreiundzwanzig: Black strikes back Für einen Moment schien die Welt still zu stehen – ehe sie sich weiterdrehte, und die Realität sie wieder einholte. Ran stand immer noch da, wie zur Salzsäule erstarrt, Tränen rannen lautlos über ihre Wangen, vermischten sich mit den auf sie niederprasselnden Regentropfen, perlten über ihre Haut, tropften von ihrem Kinn. Der leichte Nieselregen hatte sich mittlerweile zu einem ausgewachsenen Schauer gesteigert – sie war völlig durchnässt, ihre Haare klebten in Strähnen auf ihrer Haut, in ihrer Stirn, an ihrem Hals. Sie fixierte immer noch die Stelle, an der er im Wald verschwunden war – ihre Augen weit offen, ohne zu blinzeln und konnte immer noch nicht fassen, was passiert war, was er gesagt hatte. Sie schluckte, wischte sich über die Stirn, die nassen Fransen aus den Augen, schüttelte unwillig den Kopf. Aber er hat ja Recht… Eine Gänsehaut lief ihr über den Körper. Sie betastete ihre Arme, spürte die Härchen, die buchstäblich zu Berge standen, seufzte. Es tat weh, sich das einzugestehen, aber er hatte Recht gehabt, ja. Sie hatte auf Teufel komm raus versucht, in ihm den alten Shinichi zu sehen; zumindest musst diese Botschaft bei ihm angekommen sein, nachdem sie ihn alle nicht so nehmen wollten, wie er nun mal jetzt war. Sie hatte zwar beständig beteuert, ihm helfen zu wollen, aber wem – wem hatte sie im Grunde wirklich helfen wollen? Sie hatte ihm das Gefühl gegeben, nicht er selbst zu sein. Hatte ihn nach sich selbst suchen lassen, an seiner eigenen Identität zweifeln lassen, mehr noch, als er es ohnehin schon tat. Dabei, und das hatte sie doch eigentlich selbst schon festgestellt, war er das nicht mehr. Er war nicht mehr der alte Shinichi, egal ob mit oder ohne Gedächtnis. Wie konnte er auch, nach Conan und allem, was er noch so erlebt hatte. Und eigentlich… eigentlich hatte sie ihn gern gehabt, so wie er als Conan gewesen war. Conan war selbstsicher, aber nicht mehr so arrogant und selbstverliebt, wie der alte Shinichi es gewesen war, mit seinen Fanbriefen und diesem Titel, den ihm die Presse aufgedrückt hatte. Sherlock Holmes der Heisei-Ära, Retter der japanischen Polizei… nein, das bist du nicht mehr. Du bist eher wie Sherlock Holmes aus Doyles‘ Romanen… der geachtete, aber im Hintergrund arbeitende Detektiv, der Lestrade die Lorbeeren kassieren ließ, aber dennoch um seinen Wert und sein Können wusste. Ein beratender Detektiv… wie er es war. Keine Frage, Shinichi war immer noch unglaublich intelligent, gewitzt, schlau, aber ließ es nicht mehr so raushängen, führte den anderen seine Fehler nicht mehr so vor Augen. Er war ein wenig leiser geworden, verpasste dabei aber nie den Moment, wo man den Mund aufmachen musste, wo etwas gesagt werden musste. Das waren Eigenschaften, die sie schätzen gelernt hatte, an Conan und die sie an ihm auch schätzte, an Shinichi. Er war ein Gentleman. Wie Holmes einer war. Aber anstatt ihm das zu sagen – hatte sie ihm die Geschichte seiner Enttarnung erzählt. Und er konnte jetzt doch gar nicht anders, als zu glauben, dass der Grund, der sie jetzt noch bei ihm hielt, der war, dass sie sich ihm verpflichtet fühlte. Toll gemacht, Ran. Sie schaute in den Himmel, dieses endlose, bleierne Grau, sah, wie der Regen die Oberfläche des Meeres in Milchglas verwandelte, schniefte. Sie rieb sich die Arme, unfähig, sich zu bewegen. Sie hatte keine Ahnung, wann und wie sie zurückgehen sollte; sie wusste nicht, wie sie ihnen begegnen sollte, den anderen - und ihm. Genervt merkte sie, wie sich erneut Tränen in ihren Augen sammelten. Sie wollte doch eigentlich nicht mehr flennen. „Warum mach ich alles falsch…“, flüsterte sie lautlos; ihre Worte gingen unter im Regen und dem Rauschen der Wellen, die sich am Strand brachen. Ran starrte in den Sand vor ihren Füßen, in die jeder Regentropfen einen kleinen Krater schlug, bevor er versickerte – ganz, als hoffe sie, dort die Antwort auf ihre Fragen zu finden, von Zauberhand geschrieben, sichtbar nur für sie. Fast ein wenig sauer schüttelte sie den Kopf über ihre eigene Unfähigkeit, sich selbst zu helfen, wedelte dann mit ihren Armen – ihre Ärmel klebten an ihrer Haut, troffen vor Nässe, und dieses Gefühl war auch kein schönes. Wie geht’s jetzt weiter? Was mach ich jetzt? Sollte ich mit dir noch mal reden? Wirst du mir denn nochmal zuhören, Shinichi? Was willst du hören von mir? Und was… will ich hören von dir? Man kann es mir wohl auch schwer recht machen… Langsam schloss sie die Augen, versuchte, Klarheit in ihre Gedanken zu bekommen, spürte, wie ihr die Regentropfen übers Gesicht rannen, ihren Hals hinab in ihren Kragen. Und bemerkte dabei nicht, wie sich ihr von hinten jemand näherte. Erst viel zu spät hörte sie die Schritte im nassen Sand. Sie erstarrte, drehte sich in Windeseile um, wusste noch während sie sich bewegte, dass es nicht Shinichi war, der zurückgekommen war. Ihre Nackenhaare sträubten sich, als sie in das Gesicht eines hageren, schwarz gekleideten Mannes starrte. Lange helle Haare, schwarzer Mantel, Hut… Ihre Gedanken rasten. Gin… Wortlos formten ihre Lippen seinen Namen. Er lächelte hämisch, zog seine Waffe. „Exakt. Und ich nehme an, vor mir befindet sich Ran. Ran… Môri.“ Unversehens ging sie in Kampfposition, suchte sich einen festen Stand, winkelte ihre Arme an und ballte ihre Fäuste, hatte nicht vor, tatenlos zu kapitulieren – allerdings, weit kam sie nicht. Auf einmal stand er hinter ihr, der zweite von ihnen, und drückte ihr eine Waffe zwischen die Rippen. Ran sah ihn nur aus den Augenwinkeln, den untersetzten Mann mit Hut und Sonnenbrille. Gins Lächeln verbreiterte sich vor Genugtuung. „Ich rate dir, sei nicht genauso dumm wie dein Freund, zu glauben, du hättest eine Chance. Er hatte sie nicht, du wirst sie auch nicht haben. Er spielt nur auf Zeit, und diese Zeit läuft ab…“ Ran lief es eiskalt über den Rücken – was sie für den Bruchteil einer Sekunde tatsächlich überraschte, schlotterte sie ja ohnehin schon vor Kälte. „Was haben Sie mit ihm…“, begann sie, mit erstaunlich viel Kraft in der Stimme. „Ah.“ Er hob den Finger, schnitt ihr das Wort ab. „Die Fragen stelle ich. Und nun… sei ein braves Mädchen.“ Gin strich ihr über die Wange, mit einem Fingernagel nur. Ran erschauderte, das Gefühl, das diese Bewegung auf ihrer Wange hinterließ, war ihr höchst unangenehm. Abgesehen davon dachte sie nicht daran, brav zu sein. Unversehens und aus heiterem Himmel rammte die Karatemeisterin dem Mann hinter ihr ihren Ellenbogen in die Magengegend, hörte ihn laut aufjaulen, und wusste, sie hatte ins Schwarze getroffen. Sie zögerte nicht länger, stürzte los, wollte laufen, nur noch weg, weg… Und dann fing sie an zu rutschen im nassen Sand, rannte weiter, merkte jedoch panisch, wie unendlich schwer ihr das Laufen fiel. Immer wieder glitten ihre Schuhe über den rutschigen Boden, sie geriet ins Straucheln, sie sank ein. Sand war kein guter Untergrund für eine Flucht. Nicht für sie – und erst recht nicht für einen Grundschüler… Shinichi… Hinter sich hörte sie die beiden Männer laufen - glücklicherweise erging es ihnen nicht besser als ihr. Vielleicht… vielleicht hab ich doch eine Chance… wenn ich es schaffe… Dann fiel sie. Und ehe sie es sich versah, war er über ihr, drehte sie unsanft auf den Rücken, um ihr das Aufstehen zu erschweren, kniete auf ihren Beinen. Sie keuchte, starrte ihn ängstlich an, auch wenn sie versuchte, gerade das nicht zu sein. Ängstlich. „Du willst doch nicht, dass er noch unglücklicher wird, als er schon ist…?“, fauchte er, umgriff hart ihr Handgelenk, als sie eine Hand voll Sand nach ihm warf und nach ihm schlagen wollte, spuckte ein paar Sandkörner, die ihr Ziel gefunden hatten aus, fluchte lauthals und presste ihr dann ein nasses Tuch, dass er aus einer Tüte schüttelte, über Mund und Nase. Was dann geschah, bekam sie bereits nicht mehr mit. Sie roch es noch kurz, ein Hauch von Äther, als ihr Gin das mit Chloroform getränkte Tuch ins Gesicht drückte, war viel zu überrascht, um die Luft anzuhalten, atmete ein, schnell, flach. Langsam zog Nebel über ihre Sinne, machte ihr das Denken schwer. Ihre Sicht flatterte, als sie gegen die Ohnmacht ein letztes Mal ankämpfte; ihre Glieder wurden schwer, ihr Kopf schien sich mit Watte zu füllen - dann sank sie in samtige Dunkelheit. Ihr Körper erschlaffte. Gin stand auf, klopfte sich den Sand von seiner Hose, fluchte ungehalten. Dann zog er Ran am Arm hoch, warf sie sich über die Schultern, drehte sich um zu Vodka. „Hast du das mit dem Handy schon erledigt?“ Wodka nickte entspannt. Alles war erledigt. Diesmal würde nichts schiefgehen. Er wusste nicht, warum er auf einmal innehielt. Unsicher hob Shinichi seine Hände, sah, wie sie zitterten – und seltsamerweise war er sich aber sicher, dass es nicht die Kälte, und auch nicht die Nässe waren, die sie dazu brachten. Shinichi biss sich auf die Lippen. Unruhe keimte in ihm auf, Sorge, Angst. Ist das das schlechte Gewissen? Ich war wirklich etwas harsch zu ihr, aber… ist es nicht besser so? Ich sollte sie noch ein wenig allein lassen… Wenn sie später noch nicht zurück ist… dann… Unruhig huschte sein Blick hin und her. Später… bestimmt überlegt sie nur, vielleicht weint sie… Ich sollte sie in Ruhe lassen, ich hab genug angestellt. Er fröstelte, trat einen Schritt nach hinten. Andererseits… Was ist das nur…? Was ist das für ein Gefühl, so plötzlich…? Er warf einen Blick in die Richtung, aus der er gekommen war. Keine Ran war in Sicht; und nichts war zu hören, außer dem Prasseln des Regens auf die Blätter der Bäume. Was…, wenn… Dazu, den Gedanken zu Ende zu denken, kam er nicht. Auf dem Absatz machte er kehrt und begann zu laufen, getrieben von einer inneren Stimme, die ihm beharrlich und immer lauter ins Ohr flüsterte, dass er bereits viel zu spät war. Als er schließlich aus den Büschen brach und am Strand ankam, traf ihn fast der Schlag. Keine Sekunde kam ihm die Idee, dass Ran nur einen anderen Weg zurückgenommen haben könnte, und bereits bei den anderen war. Seine Augen glitten suchend über den Sand, er wagte nicht, einen unbedachten Schritt zu tun. Spuren verliefen in hektischen Bahnen durch diesen so verräterischen Boden, zeigten ihm genau, was seit seinem Weggang hier passiert war. Da waren nicht nur seine Spuren, die er deutlich zuordnen konnte, wegen des welligen Profils der Turnschuhe – und auch nicht nur Rans Fußabdrücke, die bei weitem die kleinsten waren. Ein mittelgroßer Herrenschuh und der Abdruck eines Mannes mit wahren Quadratlatschen. Und vor ihm aufgewühlter Sand, Abdrücke von Händen. Das hier war ein Tatort. Und darüber, welches Verbrechen verübt worden war, wer die Täter und wer das Opfer gewesen waren, gab es keinerlei Zweifel. Nein, nein, nein!!! Seine Beine gaben fast nach, als er sorgsam neben den Spuren herlief, bis zu der Stelle, wo sie sie geschnappt hatten. Der Abdruck ihres zierlichen Körpers zeichnete sich im Sand ab, deutlich. Er sank auf die Knie, streckte eine Hand aus, berührte den Boden an der Stelle, an der sich ihr Rücken befunden haben musste, biss sich auf die Lippen, schmeckte Blut und biss noch fester. Ran. Und plötzlich schien die Realität zu kippen. Die Wolken hatten sich verzogen, warme Sonne strahlte auf sein Gesicht, es regnete nicht mehr – oder hatte es nie. Wind strich mit ihm mit seinen kalten Fingern durch die Haare, zerrte an seiner Kleidung. Dann hörte er es. „Hallo, Shinichi…“ Er wirbelte herum, stutzte. Anstatt eines Gesichts sah er nur zwei schlanke Beine, die in eleganten Sportschuhen steckten. Beine? Guter Gott, er stand doch aufrecht, wie… Dann fiel es ihm ein. >Conan! Zweifellos ist das die Perspektive eines Kindes, nicht meine…< Er erstarrte, schaute hinauf in das Gesicht dieser Frau. Ihre roten Haare glühten im Licht der Morgensonne, schienen fast in Flammen zu stehen. „Ich heiße Conan. Sie verwechseln mich mit jemandem.“, hörte er sich sprechen, und hörte sie zum ersten Mal. Sie machte ihn Schaudern. Conans Stimme. „Du kannst aufhören, mir etwas vorzumachen, Hosenscheißer. Ich hab gestern mehr von deinem Telefonat mitgehört, als dir lieb sein dürfte.“ Sie lächelte diabolisch. „Es wird sicherlich interessant sein, zu erfahren, was der Boss darüber denkt, dass einer, der bei ihm auf der Gedenktafel seiner Opfer steht, noch lebt…“ >Boss?! Mein Gott, ist sie das? Hat sie mich… ist sie ein Mitglied der Organisation!?< Seine Gedanken rasten. Er merkte, wie er rückwärts trat, langsam, merkte, wie er in den Sand einsank, warf kurz einen Blick nach unten. Nicht unbedingt optimale Bedingungen für eine Flucht. Sie lächelte immer noch teuflisch, nickte zufrieden. „Ich sehe, du erkennst die Gefahr, wenn sie vor dir steht - Shinichi Kudô. Und das ist auch gut so.“ Conan drehte sich um, begann wider besseres Wissen zu rennen. >Eigentlich ist das zwecklos, der Knirps hat keine Chance. Aber ich muss etwas tun… irgendetwas musste er tun, er konnte ja nicht einfach stehen bleiben und mit ihr mitgehen. Sicher nicht. Schreien hilft nichts, die Brandung des Meers, das Rauschen der Wellen ist viel zu laut, und wir beide viel zu weit weg von den anderen, als dass seine Rufe die Ohren der anderen erreicht hätten…< Conan rannte, stolperte durch den Sand, in dem er immer wieder versank, der in seine Schuhe rieselte, ihm das Laufen zusätzlich schwer machte. Es kam, wie es kommen musste - nach ein paar Metern hatte sie ihn eingeholt, hielt ihn fest. Conan trat um sich, schlug nach ihr, kämpfte verbissen, versuchte doch zu schreien, eine Verzweiflungstat, das wusste er - doch dann kriegte sie ihn zu fassen, hob ihn hoch, drückte ihm Mund und Nase zu. Er klammerte seine Hände um ihre Finger, versuchte ihren Griff zu lockern, ihn zu brechen - aber seine kleinen Finger waren zu schwach. Wenn er sich nicht wehrte, hielt der Sauerstoff länger, das wusste er. Wenn er sich nicht wehrte, würde sie ihn dann umbringen? Er glaubte ja nicht, dass das ihr Ziel war. Allerdings… was war, wenn er irrte? Panik ergriff ihn. Er kniff die Augen zusammen, als ihn der Atemreflex zu quälen begann, fing nun doch an, zu strampeln, sich zu winden, irgendwie freizukämpfen… Sie hielt ihn zu fest. Sie war zwar nur eine Frau, aber ihm doch kräftemäßig weit überlegen. >Ich bin nichts weiter als ein Kind…völlig wehrlos…!< Wehrlos. Der Gedanke schoss durch seinen Kopf, löste in ihm nun vollends Panik aus, ein Gefühl, das der nicht mochte, und das eigentlich auch nicht zu ihm passte, aber… Von einem Sechsjährigen unterschied ihn nun kräftemäßig nichts mehr. Und damit war sein Schicksal besiegelt. Er riss die Augen auf, griff sich an den Hals, wollte nach Luft zu schnappen - hörte das dumpfe Geräusch der Wellen… sah über sich die Sonne durch die Wolken scheinen, die Strahlen brachen durch die Lücken, die sie ließen, wie durch das Blätterdach eines Waldes, brachen sich auf den Wellen, streuten Sterne auf die Wasseroberfläche, wo sie mit dem Wellengang tanzten und hüpften.… ein wahrhaft märchenhafter Anblick. Er riss die Augen auf, keuchte. Shinichi schnappte nach Luft, sein Atem ging schnell, sein Puls raste, als wäre er gerade wirklich um sein Leben gelaufen, als hätte ihn gerade wirklich jemand bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt. Er schluckte, schmeckte Blut, hustete. Während dieser Episode hatte er sich wohl weiter fest auf die Lippen gebissen. Shinichi würgte den metallischen Geschmack runter, fuhr sich durchs Gesicht, spürte nasse, kalte Haut unter seinen Fingern, merkte, dass er am ganzen Körper zitterte, und wusste nicht, ob es wegen dieser Erinnerung war, die ihn da überfallen hatte, oder ob es wegen der Feuchtigkeit und Kälte war. Wahrscheinlich beides. Unwillkürlich griff er sich an den Hals. Dann fiel sein Blick wieder auf die Spuren im Sand. Ihre Spuren. Sie war erwachsen gewesen, hatte aber wie er keine Chance gehabt. Sie waren zu zweit gewesen, Ran allein. Allein, und aufgewühlt. Sie hatten nur auf sie gewartet. Sie war zwar kein Kind gewesen, aber sie war mindestens genauso wehrlos gewesen wie Conan. Das ist meine Schuld! Warum musste ich auch ausgerechnet hier dieses Gespräch mit ihr führen – wir wussten doch, wie nahe wir ihnen sind, bestimmt haben die nur darauf gewartet, und jetzt - Ihm wurde kurz schwindelig. Die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen – die Ähnlichkeit zwischen Conans Verschwinden und der Szene, die sich hier abgespielt hatte. Jetzt ist sie weg. Unwillkürlich folgten seine Augen den Spuren, die sich von diesem Platz fortbewegten; ein paar Fußabdrücke sanken nun mit jedem Schritt deutlich tiefer in den Sand ein. Sie hatten sie weggetragen, mitgenommen. Wie von der Tarantel gestochen fuhr er hoch, sein Atem beschleunigte sich. Weit können sie eigentlich noch nicht sein! Shinichi wollte gerade loslaufen, als er stutzte - in seiner Tasche vibrierte etwas. Irritiert hielt er inne, schob seine Hand in seine Jackentasche um einen kleinen, rechteckigen, abgerundeten Gegenstand zu fassen zu kriegen. Er zog ihn heraus, starrte ihn verblüfft an. Es war ein Handy. Und gerade rief ihn jemand an. Unsicher schaute er um sich. Conans Handy? Shinichi schluckte, starrte es an, wog es in seiner Hand, fragte sich, warum es ihm nicht vorher aufgefallen war, dass er es in seiner Jackentasche hatte. Wann bin ich denn dazu gekommen? Ihm fiel nur eine Gelegenheit ein, als man ihm etwas hatte zustecken können; und das war, als sie vorhin so dichtgedrängt im Polizeibus gesessen hatten. Etwa einer dieser ortsansässigen Polizisten, neben dem ich saß, im Bus? Aus dem Dickicht heraus, in einiger Entfernung, beobachteten die beiden Männer in Schwarz aus Gins Wagen heraus ihr Opfer. Gespannt spähte Wodka durch das Fernglas, neben ihm saß Gin, mit seinem Handy am Ohr, lauschte kühl lächelnd dem Freizeichen. Shinichi klappte es auf, merkte, wie seine Finger kalt und klamm wurden. Eine Ahnung beschlich ihn; und er konnte nicht behaupten, dass es eine gute war. Unwillkürlich begann er, seine Kiefer zusammenzupressen, als er das Handy ans Ohr hielt. „Hallo, Kudô.“ Shinichi schloss kurz die Augen. So muss es sich anfühlen, wenn einem sprichwörtlich das Innerste zu Eis gefriert… „Gin.“ Er schaute sich um, langsam, unauffällig, konnte aber niemanden sehen. Sie müssen doch hier sein! Ich traue mich wetten, dass sie mich sehen… „Du wirst uns nicht finden.“ Gin lachte leise in sein Ohr. Shinichi erschauderte unmerklich, blieb stehen. Still. „Was wollt ihr?“, wisperte er schließlich, riss sich zusammen, damit seine Stimme nicht zitterte. Er konnte Gins Grinsen nicht sehen, aber er wusste, er tat es. Bestimmt grinste er von einem Ohr bis zum anderen. „Dich, was sonst? Du solltest es gemerkt haben, im Krankenhaus. Ich dachte eigentlich, ich wäre ziemlich deutlich gewesen in meiner Ausdrucksweise.“ Shinichi presste das Handy an sein Ohr. „Warum sollte ich mich von euch umbringen lassen wollen?“, murmelte er dann, bemühte sich um einen sachlichen Ton. „Weil wir deine Freundin haben.“ Gin klang ebenso sachlich, ließ sein Opfer nicht aus den Augen. Shinichi war noch etwas blasser geworden, seine Atmung etwas flacher, ansonsten verhielt er sich ruhig – und dennoch wusste Gin, dass es nun soweit war. Er kannte die Zeichen, so subtil sie auch waren. Sie hatten ihn. „Sie war leichte Beute, nach dem, was du mit ihr gemacht hast, Kudô, aber das brauch ich dir wohl nicht erzählen...“ „Was habt ihr ihr angetan?!“, zischte Shinichi, ließ kurz seine Selbstbeherrschung fahren, merkte, wie in ihm zwei Gefühle um die Herrschaft kämpften. Angst und Hass. „Noch nichts.“ Gin lachte leise. „Bis jetzt, heißt das. Der Rest liegt an dir…“ Shinichi atmete aus, gepresst. „Hör zu.“ Gins Stimme klang leise an sein Ohr. „Wenn du nicht willst, dass ihr was passiert, solltest du tun, was ich dir jetzt sage. Und ich warne dich jetzt, und nur einmal - wenn du der Polizei oder dem FBI ein Sterbenswörtchen verrätst, ist sie tot. Verstanden?“ Shinichi nickte. „Verstanden?!“ Er schluckte. „Ja.“, murmelte er dann leise. „Gut.“ Gin legte das Handy beiseite, steckte sich in aller Seelenruhe eine Zigarette an. Wusste, dass der junge Detektiv es nicht wagen würde, aufzulegen. Er wusste, er hatte ihn in der Hand. „Du wirst jetzt mit den anderen nach Hause fahren.“, sagte er dann, als er die ersten Züge gepafft hatte, und das Handy wieder aufgegriffen hatte. Er beobachtete den Rauch, der in Kringeln nach oben stieg und gegen das Fenster wallte, auseinandertrieb. „Wenn irgendwer nach ihr fragt, wirst du sagen, Officer Miyazaki habe sie heimgefahren, weil sie sich nicht gut fühlte.“ „Okay.“, murmelte Shinichi, strich sich eine regennasse Haarsträhne aus dem Gesicht. Dicke Tropfen fielen immer noch auf ihn herab, hatten ihn schon längst durchnässt bis auf die Knochen. „Wie du dir denken kannst, gehört Officer Miyazaki zu uns. Bei weiteren Fragen nach deiner Freundin wirst du erklären, sie läge in ihrem Bett, um sich aufzuwärmen, später schläft sie und dürfe nicht geweckt werden, weil sie erschöpft sei. Jeder wird dafür Verständnis haben. Dafür wirst du mit zu den Môris fahren, mit der Begründung, dort etwas für dein Gedächtnis tun zu wollen. Du bleibst dort über Nacht.“ Gin zog an seiner Zigarette. „Verstanden?“ „Ja.“ Shinichis Stimme ging im Geprassel des Regens fast unter. „Gut. Gegen Mitternacht wirst du aus dem Haus kommen. Eine Straße weiter um die Ecke werde ich auf dich warten. Ein schwarzer Porsche 356 A. Dann sehen wir weiter. Ich hoffe, dein lädiertes Hirn kriegt das auf die Reihe.“ Er legte auf, ohne ein weiteres Wort. Shinichi stand im Regen, starrte das Handy an, glaubte nicht daran, sich auch nur einen Millimeter bewegen zu können. Ran…! Was hab ich getan… „Und wieso ist sie gegangen, ohne mir etwas zu sagen?“ Kogorô starrte ihn an. Shinichi sah ihm an, dass er ihm kein Wort von der Geschichte, die er ihm aufgetischt hatte, glaubte. Es wunderte ihn nicht, er selbst hätte die Geschichte auch nicht geglaubt. „Ihr ging’s nicht gut, sie war sehr müde…“ Shinichi schluckte. „Ich meine, du hast sie ja heute auch gesehen, sie…“ Er wusste, dass das Argument zog. Fast in dem Moment, als er es geäußert hatte, drehte Kogorô betroffen seinen Kopf weg; ihm war der Zustand seiner Tochter natürlich nicht entgangen. Shinichi merkte, wie ihm ein Schauer über den Rücken rann. Wegen mir sieht sie so aus. Wegen mir… Und nun ist sie weg, wegen mir. Entführt, wegen mir. Und dir darf ich es nicht sagen. „Der Officer kam uns entgegen, und war so freundlich, ich dachte… es wäre okay. Nachdem sie so mitgenommen wirkte…“ Er starrte auf seine Füße, schaffte es nicht, seinem Gegenüber ins Gesicht zu blicken. Kogorô seufzte. „Nun gut, wir sind hier wohl ohnehin fertig.“ Der Mann bedachte den Oberschüler mit einem mitfühlenden Blick. Er sah mitgenommen aus, blass, abgehetzt. Erschöpft. Offenbar hatte er keine Eingebung gehabt. Keinen Teil seiner Erinnerungen wieder gefunden. Als sie wieder aufwachte, befand sie sich in einer kleinen, weißen Kammer ohne Fenster. Rund um sie herum war alles gefliest und das kühle, nüchterne Licht einer Neonröhre tauchte den Raum in beunruhigend sterile Helligkeit. Sie lag auf dem Boden, in der Mitte des Raums, hingestreckt. Sie spürte kalte, harte Kacheln unter ihren Fingern und an ihrer Wange, blinzelte. Langsam richtete sich auf, stemmte sich auf beiden Händen hoch, leise stöhnend, griff sich an die Stirn, hinter der es aufs Unangenehmste zu Pochen anfing, als sie halbwegs aufrecht auf dem Boden kauerte. „Ahhhh…“, murmelte sie, blinzelte, nahm ihre Umgebung etwas genauer in Augenschein, mit dem Ergebnis, dass ihr zweiter Eindruck identisch mit ihrem ersten war. Ihr Kopf schmerzte, schien explodieren zu wollen, fühlte sich an, als versuche jemand, mit einem Schlagbohrer durch ihre Schädeldecke zu brechen. Offenbar vertrug sie Chloroform nicht wirklich gut. Dann blieb ihr Blick an einem kleinen Haufen Klamotten hängen. Sie robbte auf Händen und Knien näher, nahm die Sachen in die Hand, stutzte. Die Ahnung, die sich in ihr während der letzten Sekunden manifestiert hatte, bestätigte sich. Conans Sachen. Also warst du… auch hier. Bevor sie allerdings die Sachen genauer untersuchen konnte, ging die Tür auf, und sie fuhr herum, um zu sehen, wer ihr da die Ehre seines Besuchs gewährte; als sie sah, wer es war, fiel ihr fast buchstäblich die Kinnlade herunter. Langes, glänzendes, blondes Haar wellte sich über ihre Schultern, ihr Teint makellos, ihre Züge fast symmetrisch, ebenmäßig - schön. Eisblaue Augen fingen ihren Blick. Ran wagte nicht, ihr Gesicht abzuwenden, auch nicht, als sie aufstand und etwas nach hinten taumelte, weil die Nachwirkungen des Chloroforms sie schwindeln machte. „Chris… Vineyard?“, bemerkte sie dann fragend, stutze, als sie merkte, wie heiser ihre Stimme klang. Sharon stieß die Tür hinter sich zu, seufzte. Sie konnte gut verstehen, warum er ihr so verfallen war. Sie war bezaubernd, auch jetzt, wo sie so mitgenommen aussah, so blass war. Im Gegenteil – diese Verletzlichkeit verlieh ihr einen besonderen Reiz. Und das obwohl, wie sie wusste, sie bei weitem nicht so verletzlich war, wie es den Anschein hatte. Nein, bist du nicht… Du bist eine Kämpferin, und doch… Du wünschst ihn dir, einen Gefährten an deiner Seite, jemanden, der dich auffängt, wenn du fällst… und deine Wahl fiel schon vor langer Zeit, noch bevor du selbst es wusstest, auf ihn. Deine Wahl war keine schlechte, auch wenn er… gerade einen kleinen Durchhänger hat. Ein schmales, bitteres Lächeln stahl sich auf ihre Lippen bei diesem Gedanken; dann trat sie langsam näher. Sie war gekommen, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen. Gin war vor ein paar Minuten im Konferenzraum erschienen, hatte vollmundig das Gelingen seiner Aktion verkündet, hatte sich die Lorbeeren eingeheimst von Absinth, dessen Teint vor Häme und Freude puterrot geworden war. Jetzt stand sie hier, sah, dass es wahr war, obwohl eigentlich ohnehin keinerlei Zweifel bestanden hatte. Und in ein paar Stunden, zweifellos, würde er hier sein. Ihr zweiter Gast. Er würde tun, was man ihm sagte, denn auch wenn er sich an sie nicht erinnerte – er liebte sie, und ganz bestimmt würde er sie beschützen wollen. Um jeden Preis. Wie du es immer getan hast. Du kannst nicht anders. Silver bullet… Dann riss sie sich am Riemen, als sie merkte, dass sie etwas lange weggetreten war, schüttelte den Kopf. Rans Augen hafteten auf ihren Zügen, als sie sprach. „Nein, Ran. Nicht Chris…“ Ran schluckte, hielt sich den Kopf, schloss kurz die Augen. „Sharon?“ Die Blondine nickte langsam, trat noch näher, bis sie ganz knapp vor Ran zum Stehen kam. Sie sah die Enttäuschung in ihren Augen, als sie eins und eins zusammenzählte, was ihre Verjüngung sowie ihre Anwesenheit in diesem Raum und ihre schwarze Berufskleidung betraf. „Warum?“, murmelte sie fragend. Sharon schüttelte den Kopf. „Das ist meine Geschichte, Ran, und die gehört nicht hierher.“ Sie wandte den Blick ab, fokussierte einen Punkt hinter Ran an der Wand. „Viel wichtiger ist es, was mit dir hier passiert. Und was aus ihm wird.“ Ran fröstelte, rieb sich mit ihren Händen ihre Oberarme. „Sie erpressen ihn mit mir.“ Sie begann, sich die Lippe zu zernagen. „That’s the way they work.“, antwortete Sharon mit erstaunlich sachlicher Stimme. „Wird er kommen?“ Das Mädchen merkte, wie ihr Herz gegen ihren Brustkorb zu hämmern begann. Vermouth verschränkte die Arme vor ihrer Brust, wandte sich nun wieder Ran zu, die noch blasser geworden war, sofern as überhaupt möglich war. „Make a guess, angel. Of course he will. He loves you, although he doesn’t remember your name, your face… you.“ Sie schluckte, warf einen Blick auf ihre tadellos manikürten, rot lackierten Nägel. „Er wird kommen. Heute Nacht noch. Und dann wird diese Geschichte seinen Lauf nehmen, in die eine oder andere Richtung, unweigerlich.“ Ran wandte den Blick ab, krallte ihre Hände kurz in ihre Haare, merkte, wie unbändige Verzweiflung in ihr hochstieg. „Können Sie ihn treffen? Können Sie ihm sagen, er soll nicht kommen? Bitte?!“ Ihre Augen glänzten, ihn ihnen stand wilde Entschlossenheit zu lesen. Sharon lächelte bitter. „You fool.“ Sie schüttelte den Kopf. „Er wird kommen, egal was ich ihm sage. Und nun schüttle nicht den Kopf, denn du würdest das Gleiche für ihn tun.“ „Aber…!“ „No.“ Vermouth trat einen Schritt zurück. „Du kannst ihn nicht davon abhalten, zu tun, was er tun muss. Auch ich kann das nicht…“ Ran merkte, wie sie ärgerlich wurde, langsam. „Was tun Sie dann hier? Wenn Sie uns nicht helfen können, was tun Sie dann…“ „Ran, ich sagte doch…“ „Nein!“ Trotz sprach aus Rans Blick. „Sie sind Mitglied des Verbrechersyndikats, das Shinichi das alles angetan hat! Sie sind hier, sie arbeiten hier, sie haben dieses gleiche Gift genommen, Sie…! Und nun stehen Sie hier und sagen mir, dass er in sein Verderben rennt, wegen mir, und wollen mir nicht helfen! Wer sind Sie?! Macht Ihnen das Spaß, zuzusehen, wie…“ Rans Stimme war zu einem wütenden Zischen geworden, ihre Wangen vor Zorn gerötet. Sharon lächelte traurig. „Verabscheue mich ruhig, du hast jedes Recht dazu, glaub mir. Aber ich…“ „Sie waren mein Idol.“ Ran flüsterte die Worte nur noch, aber die Schärfe und auch die Enttäuschung in ihrer Stimme waren deutlich zu vernehmen. Die ehemalige Schauspielerin schaute sie traurig an. And you were my angel, dear… But it’s not the time for idols and angels anymore… At least not for me. You’re someone else’s angel now. Sharon drehte sich um, ging ohne ein weiteres Wort. Ran eilte ihr hinterher. „Hey!“ Die Frau ignorierte sie, griff nach der Türklinke. „Hey!!“ Vermouth drehte sich um. „Sei so gut und tu was man dir sagt, hier. Mach ihm nicht noch mehr Schwierigkeiten, als er schon hat, und bitte – mach ihn nicht noch unglücklicher, als er schon ist, indem du ihnen einen Grund gibst, dich zu töten. Denn das werden sie – they’ll kill you, for sure. Just to see him crash on the floor. This issue is far bigger than you know. He… did know…” Ran stand da, atemlos, starrte sie an. „Und was… was soll ich dann tun?“ „Nichts, Ran. Du bist nicht in der Lage, zu handeln. Du… wirst warten müssen. Just wait. And hope. Pray. If there’s a god out there, willing to help you.“ Sie wandte sich ab, schloss die Tür hinter sich. Dann zückte sie ihr Telefon. Er musste davon wissen. Sofort. Yukiko seufzte, schaute beklommen auf das unberührte Stück Toastbrot von heute Morgen. Sie waren so schnell aufgebrochen, dass Ran nicht mehr zum Essen gekommen war – mittlerweile war es trocken geworden, die Marmelade klebrig und zäh. Eine Fliege hatte den süßen Duft gerochen und war dabei, sich daran gütlich zu tun. Yukiko verzog das Gesicht. Sie hasste Fliegen. Und hier im Haus hatten sie gleich dreimal nichts zu suchen. Unwirsch nahm sie den Teller, kippte das vergessene Frühstück in den Mülleimer, und versuchte dann, die Fliege mit einer Zeitung zu verscheuchen. Yusaku sah ihr von der Tür aus zu. Sie hielt inne, als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkte, ließ den Arm sinken. „Woran denkst du?“ Yusaku seufzte, rieb sich die Stirn. „Ich weiß nicht. An vieles. Ich fürchte, an viel zu viele Dinge auf einmal.“ „Denkst du, es war eine gute Idee, ihn bei Kogorô und Ran zu lassen?“ Sie legte die Zeitung auf dem Tisch ab; die Fliege hatte sie völlig vergessen. Langsam ging sie auf ihren Mann zu, legte ihre Arme um seinen Oberkörper, schmiegte sich an ihn. Er zuckte mit den Schultern, ließ sein Kinn vorsichtig auf ihren Kopf sinken, holte tief Luft, atmete den Duft ihrer Haare ein. „Ich weiß nicht.“, murmelte er dann langsam. „Vielleicht… ich meine, er war ja doch lange da. Bei Kogorô und Ran. Im Prinzip sind sie für ihn zu einer zweiten Familie geworden.“ Er spürte, wie Yukiko nickte, genoss die Nähe, die er mit ihr teilte, und merkte doch, wie sich langsam ein bitterer Beigeschmack dazugesellte; ein leiser Pieks, den er schon immer gespürt hatte, aber in letzter Zeit immer bohrender geworden war. Sanft strich er ihr über den Rücken, merkte, wie sie ihn noch fester an sich zog, schluckte hart. „Ich mach mir nur Sorgen… um seine Sicherheit. Aber ich denke, Kogorô passt auf, und die Polizei…“ Yukiko schloss die Augen, atmete langsam aus. „Ich fürchte fast, Yusaku, egal wo er ist, wirklich sicher ist er momentan nirgendwo.“ Sie schaute auf. In ihren Augen stand Sorge. „Aber wenn es ihm hilft, und vielleicht auch ein wenig Ran, dann…“ Er nickte nur, gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie schloss die Augen, seufzte. Sie hatte das vermisst, musste sie sich eingestehen; diese Nähe, diese Offenheit, dieses Gefühl, sich einfach fallen lassen zu können und gefangen zu werden. Es tat gut, sich an ihn anzulehnen; er hatte ihr gefehlt, in diesen letzten Tagen. Sie hob ihre Hand, berührte sein Kinn, schaute ihn aus klaren, blauen Augen an. Er biss sich auf die Lippen, kurz, legte seinerseits eine Hand an ihre Wange, strich mit dem Daumen über ihre Haut. „Ich liebe dich.“, flüsterte er leise, seine Stimme klang belegt. Yukiko seufzte leise, strich mit ihrer Nasenspitze zart gegen seine Wange, griff nach seinem Kragen, zog ihn zu sich, langsam. Dann zerriss ein Handyklingeln die Stille. Yusaku schloss die Augen, seufzte laut, ließ seine Stirn kurz gegen die seiner Frau sinken; dann löste er sich aus ihrem Griff, warf ihr einen bedauernden Blick zu, fischte sein Handy aus seiner Tasche, warf einen Blick aufs Display. Dann räusperte er sich. „Ich muss leider rangehen, Yukiko, du entschuldigst mich…?“ „Nein, tu ich nicht. Lass es doch klingeln.“, wisperte Yukiko. Er schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, es ist wichtig…“ „Wichtiger als ich…?“ Er starrte sie an. „Yusaku?“ Unsicher warf er einen zweiten Blick aufs Display. Das Handy bimmelte hartnäckig weiter. Dann traf er seine Entscheidung; tief holte er Luft, und schaltete das Handy aus. „Du hast Recht.“, meinte er leise. „Du hast ja Recht…“ Sie lächelte ihn an, Erleichterung stand in ihrem Gesicht geschrieben, ein Anblick, der sein schlechtes Gewissen weckte. Eigentlich sollte sie sich seiner Liebe sicher sein; erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr sein Verhalten in den letzten Tagen ihr Vertrauen in ihn ins Wanken gebracht hatte. Langsam atmete er aus, schloss die Augen, ließ sich fallen. Sharon war kurz davor, das Handy wütend gegen die Wand zu schmettern. „You damned fool!“, zischte sie wütend, funkelte das Telefon an. „Was zur Hölle machst du?! Geh an dein Telefon!!“ Frustriert schnaubte sie, steckte dann ihr Handy weg. Es half nichts, der Teilnehmer war nicht erreichbar, wie ihm die freundliche blecherne Stimme seiner Mobilbox mitteilte. Sie würde sich selbst Gedanken machen müssen, wie sie die beiden da raushauen konnte… nur leider, das musste sie sich eingestehen, standen die Chancen denkbar schlecht. Unwillig ließ sie sich in einen Sessel sinken, verfiel in angestrengtes Grübeln. Heiji klapperte einen Tick zu laut für seinen Geschmack mit dem Geschirr, als er sich damit beschäftigte, Teller für das Essen zu suchen. Kogorô warf ihm einen leicht genervten Blick zu, den der Oberschüler tunlichst ignorierte; leider hatte sich Heiji ihnen angeschlossen, als Shinichi mit der Bitte bei ihm angekommen war, die Nacht bei ihm zu verbringen. Er hatte seinen Wunsch nicht begründet, aber Kogorô wusste den Grund auch so; warum Heiji allerdings unbedingt mitkommen hatte müssen, war ihm schleierhaft. Die Fahrt zurück nach Tokio war sehr bedrückt verlaufen. Sie alle hatten sich mehr von dieser Tour erwartet – einer wohl ganz besonders. Kogorô Môri warf dem jungen Mann neben sich einen nachdenklichen Blick zu. Shinichi war auffallend still geworden – noch stiller, als er sonst in letzter Zeit zu sein pflegte – nachdem sie wieder in den Bus eingestiegen waren. Auf seine Bitte, heute bei Ihnen schlafen zu dürfen, war er ohne großes Nachdenken eingegangen; es war klar, dass der Junge nach jedem Strohhalm griff, den er erreichen konnte, und Tatsache war, dass Conan den Großteil seiner Existenz bei ihnen gelebt hatte. Hier war er daheim gewesen, hier waren Erinnerungen zu finden, wenn überhaupt. Nicht in seinem Zuhause, nicht in Shinichis Haus. Und daher, das ahnte er, war die Wahrscheinlichkeit, dass Shinichi sich an irgendetwas wieder erinnerte, hier definitiv am Größten. Nun saß er in der Küche, die Hände um eine Tasse Tee gelegt, die er ihm gemacht hatte. Ran lag seiner Aussage nach zu urteilen in ihrem Zimmer; Shinichi war kurz bei ihr gewesen, um nach ihr zu sehen, er selbst hatte nur einen Blick von der Tür aus ins Zimmer geworfen, hatte ihren Körper unter der Bettdecke ausgemacht. Ran hatte es schwer, in letzter Zeit, die Sache nahm sie sehr mit. Ein wenig Schlaf tat ihr sicher gut. Môri setzte sich dem Oberschüler gegenüber an den Tisch, blickte in das bleiche, müde Gesicht, das sonst vor Entschlossenheit und Vitalität nur so sprühte; auch an ihm gingen diese Ereignisse nicht spurlos vorbei. „Willst du… reden?“, murmelte er dann leise fragend. Shinichi blickte auf. „Worüber?“, murmelte er langsam. „Ich denke nicht, dass es etwas zu bereden gibt.“ Er verknotete seine Finger, biss sich auf die Lippen. Ihm ging nicht aus dem Kopf, was Gin zu ihm gesagt hatte. Heute Nacht würde er zurückgehen, an den Ort, dem er das hier alles zu verdanken hatte – zu den Leuten, die ihm das hier angetan hatten. Ihm war nicht wohl dabei. Er hätte es gerne jemandem erzählt, aber er wusste, er spielte mit ihrem Leben, tat er das. Und so schwieg er, schüttelte stumm den Kopf, und begriff langsam, warum er all die Jahre geschwiegen hatte. Er hatte nie eine Chance gehabt. Wenigstens das weiß ich jetzt. Sehr tröstlich ist das allerdings nicht. Kogorô drängte ihn nicht zum Reden, und dafür dankte er ihm im Stillen – und hoffte, er konnte ihm seine Tochter heil zurückbringen. Ihn hier und jetzt anzulügen war Folter. Und das soll ich jahrelang ausgehalten haben? Hut ab. Dann fuhr er hoch, als Heiji ihm geräuschvoll einen Teller vor die Nase knallte und die Tüte mit Fertiggerichten aus einem Restaurant auf den Tisch platzierte; nachdem sie den Nachmittag in fast schon erdrückender Stille verbracht hatten, hatte er sich dazu entschlossen, das Essen zu holen. Er warf seinem Freund einen kalkulierenden Blick zu, als er die Tüte raschelnd auspackte und die kleinen Schachteln und Aluminiumblechbehälter wahllos auf den Tisch stellte. Shinichi hatte nicht sehr begeistert gewirkt und schien es auch jetzt noch nicht zu sein, dass er hier war; und das hatte ihn in seinem Entschluss nur noch bestärkt, hier zu bleiben. Er fiel auf einen Stuhl, ließ seinen linken Arm über die Lehne baumeln und taxierte seinen besten Freund. Irgendwas is im Busch. Irgendwas is passiert, im Wald, worüber du nich‘ sprechen willst. „Essen is‘ fertig.“ Kogorô warf ihm einen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu, zog dann wortlos eine Schachtel zu sich, griff nach einem Paar Essstäbchen und öffnete den Pappcontainer. Angewidert verzog er das Gesicht, hielt Heiji den Behälter unter die Nase, aus dem es einigermaßen streng roch. „Ich schätze, deins.“ „Stimmt.“, Heiji grinste, griff nach der Schachtel und einem Paar eingetüteter Essstäbchen. Kogorô schüttelte den Kopf, griff sich einen Becher und puhlte den Deckel ab, brummte zufrieden und begann, Reis mit Gemüse und Fisch aus dem Aluteller in seinen Mund zu schaufeln. Kogorô zog die Augenbrauen hoch. „Und für was sind jetzt die Teller?“ Heiji schaute sinnierend auf das Essgeschirr. „Nun, vielleicht mag jemand nicht aus der Schachtel ess’n. Dacht ich mir.“ „Aha.“ Kogoro schob sich den nächsten Bissen in den Mund. Shinichi seinerseits machte keinerlei Anstalten, sich ans Essen zu machen; so wie er aussah, dachte er nicht mal ans Essen, obgleich er den sich langsam ausbreitetenden, durchaus verführerischen Duft sicher riechen musste. Heiji zog sich nachdenklich seine Mütze ins Gesicht. „Wolln wir Ran wecken und fragen, ob sie was essen will…?“ „Nein!“ Kogorô und Heiji schauten auf. Die Antwort war ihnen etwas zu schnell gekommen – und Shinichi wusste das. „Iiich…“, begann er langsam, seufzte dann, brach ab. Gedanken rasten durch seinen Kopf. „Ich finde, wir sollten sie schlafen lassen.“, meinte er dann. Er rieb sich über die Augen, merkte, dass er selber eigentlich auch ziemlich müde war. „Ich meine, essen kann sie immer, aber das mit dem Schlaf ist, fürchte ich, momentan so eine Sache…“ Kogorô schaute ihn an, überlegte. „Wahrscheinlich hast du Recht.“ Er seufzte. „Sie sah ziemlich fertig aus, heute Morgen. Ich muss gestehen, ich mach mir echte Sorgen.“ Der ehemalige Meisterdetektiv schaute Shinichi abwartend an. Der junge Mann kaute auf seiner Lippe, ließ seinen Kopf dann in beide Hände sinken, fuhr sich durch die Haare, sah nicht auf, als er sprach. „Ich mir auch.“ Heiji, der immer noch damit beschäftigt war, sein Essen in seinen Mund zu schaufeln, hielt inne, sah ihn wachsam an. Die erste Aussage an diesem Tag, die ich dir abkaufe. Was is nur los? Dann beobachtete er, wie Shinichi lustlos nach einem Karton griff, und ohne darauf zu achten, was es war, damit anfing, dessen Inhalt in seinen Magen zu befördern. Er hatte Heijis skeptischen Blick genau gesehen. Kapitel 42: Kapitel 24: Flashback --------------------------------- Hi Leute... ich weiß, es dauerte wieder mal sehr lange, und das tut mir Leid. Ich bitte um Geduld mit mir, die Arbeit frisst mich momentan auf; ich vergess euch aber nicht, versprochen. Viel Spaß beim Lesen, beste Grüße, eure Leira _______________________________________________________ Kapitel vierundzwanzig: Flashback Die Stille dehnte sich aus, mit jeder Sekunde, die sie länger wartete. Ihr Zeitgefühl hatte sie schnell verloren, und daher hatte Ran auch keine Ahnung, wie spät es war. Sharon war seit ihrem Besuch nicht mehr aufgetaucht; stattdessen war Hidemi Hondo hier gewesen, hatte sich als Kir vorgestellt, ihr kurz erklärt, was Sache war – nämlich dass sie als Undercover-Agentin des CIA hier im Einsatz war, eine Tatsache, die sie doch einigermaßen erleichtert hatte, wusste sie jetzt wenigstens, dass sie hier nicht allein war – und ihr eine Flasche Wasser sowie etwas zu Essen gebracht. Lange war sie allerdings nicht geblieben; ihr war die Anspannung ins Gesicht geschrieben, offenbar ging es in der Organisation momentan hoch her. Ran seufzte laut, ein gespenstisches Geräusch in diesem leeren Raum, in dem es so absolut und vollkommen still war. Alles, was zu hören war, war ihr eigener Atem, und langsam kam ihr das Rauschen des Bluts in ihren Ohren unangenehm laut vor. Sie warf einen frustrierten Blick auf den unberührten Teller vor sich; ein Sandwich, dass langsam vor sich hintrocknete; die Ränder des Schinkens wellten sich bereits, der Salat sah bei weitem nicht mehr so frisch aus, wie zu dem Zeitpunkt als ihr der Teller überreicht worden war. Sie wagte nicht zu essen, fühlte keinerlei Appetitgefühl, obgleich ihr Magen langsam vor Hunger zu schmerzen begann und sie beständig angrummelte und -knurrte . Sie hätte doch das Frühstück noch hinunterwürgen sollen, heute Morgen, dachte sie bei sich – das Wasser war mittlerweile aber so gut wie leer. Durst hatte sie dennoch. Und so saß sie hier und wartete, gelehnt an die Rückwand ihrer Zelle, Conans Sachen an sich gepresst, atmete ein und wieder aus, ein und wieder aus… und dachte an ihn. Nur an ihn. Shinichi. So harrte sie der Dinge, die da kommen würden. Und kommen würden sie, soviel war gewiss. Es war mittlerweile spätnachts. Shinichi wurde zunehmend nervös; er teilte sich mit Heiji die Sofas im Wohnzimmer, und dieser Kerl wollte und wollte nicht schlafen gehen. Dachte gar nicht daran, sich endlich aufs Ohr zu hauen. Der Oberschüler fluchte lautlos, überlegte fieberhaft, wie er diesen aufdringlichen Typen loswerden konnte. Kogorô hatte sich vor einer Stunde ins Bett verabschiedet; und Shinichi überlegte seither, wie er Heiji entwischen konnte. Sich mal schnell auf die Toilette entschuldigen und ausbüchsen würde sicher gehen - optimal wäre aber, der Oberschülerdetektiv aus Osaka würde nicht sofort merken, dass das Objekt seiner Observierung verschwunden war, denn dann würde den Männern in Schwarz ein Vorsprung bleiben, bis sie ihn hier weggekarrt hatten… und damit waren sie wohl auch wohlwollender Ran gegenüber. Wenn ihnen allerdings bereits nach fünf Minuten die Polizei auf den Fersen war, könnte dieses Wohlwollen sich in Null Komma Nix in Luft auflösen. Shinichi seufzte unterdrückt, versuchte, sich seinen Frust und seine Nervosität nicht anmerken zu lassen und zog eine rote Fliege aus der Schachtel, die ihm Kogorô in die Hand gedrückt hatte, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen; angeblich waren dies Conans alte Sachen. „Sag mal, wozu soll das Ding denn gut sein?“, fragte er, hob die Fliege in die Höhe. „Stimmentransposer.“, meinte Heiji, der kurz vom Skateboard, dass er einer näheren Begutachtung unterzogen hatte, aufsah und trat näher. „Man verändert damit die Frequenz seiner Stimme. Damit hast du den Tonfall anderer Leute nachgeahmt, vor allem halt den Alt’n. Du hast ihn schlafen geschickt, dann mit seiner Stimme den Fall gelöst. Die sollt‘ eh voreingestellt sein.“ Er hob sich die Fliege an die Lippen; Shinichi zog die Augenbrauen hoch, wartete. Heiji stand auf, taumelte kurz theatralisch, ließ sich in einen Sessel fallen und schloss die Augen. „Ich sage Ihnen, verehrte Anwesende, der Mörder is der Gärtner! Denn es is immer der Gärtner, weil es ihm am leichtesten fällt, seine Opfer unter die Erde zu bringen…“ Shinichi grinste kurz, stand dann auf und nahm ihm die Fliege weg, schüttelte gedankenverloren den Kopf. „Was für ein Theater.“ „Das du bis zur Perfektion kultiviert hast.“ Heiji sah ihn ernst an. Shinichi erstarrte kurz, für Sekundenbruchteile; dann warf er ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu, sah dann nervös auf die Uhr. Er hatte vielleicht noch eine Viertelstunde, er musste hier weg. Schnell. Und Heiji am besten ablenken, beschäftigen, K.O.-Schlagen… Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. „Und wie… wie hab ich ihn schlafen gelegt? Eins über die Rübe gezogen werde ich ihm als Knirps kaum haben…“ Heiji schaute ihn an; dann beugte er sich über die Schachtel, zog eine Uhr heraus. Shinichi zog die Stirn kraus. „Warum liegt hier eine Uhr drin?“ Sein Freund schüttelte den Kopf. „Nicht nur Uhr. Das ist ein Narkosechronometer. Da sind kleine Kügelchen drin, die einen für eine gewisse Zeit schlafen legen. Was meinste, wie du den Onkel zum Schweigen gebracht hast, damit du deine Show abziehen konntest? Mit dem Ding. Soweit ich weiß, muss man einmal hier drücken –“, er klappte die Zielvorrichtung aus, „und dann hier…“ „Zeig mal.“ Shinichi nahm ihm das Narkosechronometer aus der Hand, besah es sich genauer. Legte an, zielte auf den jungen Detektiv, der ihm gerade den Rücken zugewandt hatte. Tja. Tut mir Leid, Heiji, aber du bleibst besser hier. Ich hoffe, das Ding funktioniert wirklich. Dann ging es ganz schnell. Heiji hatte sich kurz umgedreht um aus der Schachtel die superelastischen Hosenträger herauszuholen, als er ihn spürte. Einen kleinen Stich am Hals. Er fuhr herum, warf Shinichi einen Blick zu, ungläubig, ehe er merkte, wie ihm die Beine ihren Dienst versagten. Verdammt…! Wie blöd bin ich… die ganze Zeit weiß dich doch, dass er mich loswerden will, und ich… … drück ihm das Mittel dazu noch in die Hand… Shinichi griff nach Heijis Hand, bevor er umkippte, ließ ihn zu Boden sinken, langsam, damit er sich nicht verletzte und schluckte schwer. In ihm wühlte das schlechte Gewissen, als er ihn bewusstlos vor sich auf dem Boden liegen sah. Aber du hättest mich nicht gehen lassen. Und alles andere wäre unverantwortlich gewesen… gegenüber dir, und gegenüber Ran. Es tut mir Leid. Du… scheinst ein wirklich guter Freund zu sein… Nur manchmal solltest du nachdenken, bevor du redest, Heiji. Ein letztes Mal warf er einen bedauernden Blick auf den jungen Mann zu seinen Füßen, dann löschte er das Licht, verließ das Haus lautlos. Keiner bekam mit, dass er verschwunden war. Als er schließlich in der Straße ankam, sah er den Wagen schon von weitem, der schwarze Porsche war nicht zu übersehen – auch wenn es finstere Nacht war. Er stand genau unter einer Straßenlaterne und tat das, was ein Porsche zu tun pflegt – nämlich die Blicke anderer auf sich zu ziehen, in diesem Fall seine eigenen. Shinichi schluckte, merkte, wie in ihm alles zu Eis gefrieren schien. Angst manifestierte sich in ihm, schien sich auf wundersame Weise in seinen Füßen zu sammeln, die bleischwer wurden, ihn am Gehen hinderten, als er sich langsam auf das Auto zubewegte. Er fühlte sich, als ob er durch Wasser waten würde. Als er noch ungefähr zwei Meter vor dem Auto stand, blieb er stehen. Er sah, wie sich die Tür öffnete und der kurze, gedrungene Mann ausstieg, der vor ein paar Tagen mit Gin schon in seinem Krankenzimmer gestanden hatte. Er öffnete die Tür zum Fond, wortlos, und bedeutete ihm lediglich mit einem kurzen Nicken einzusteigen - nicht allerdings, ohne ihm zuerst die Hände auf den Rücken zu fesseln. Shinichi sagte zu alledem nichts, ließ sich widerstandslos auf die Rückbank verfrachten. Gin, der auf dem Fahrersitz saß, wandte sich um, lächelte. „Sehr brav.“ Shinichi warf ihm einen kalkulierenden Blick zu, kämpfte sich in eine aufrecht sitzende Position. „Was ist mit Ran?“ Der Oberschüler bemühte sich um eine feste Stimme, merkte er doch, wie sich sein Hals auf einmal wie ausgetrocknet anfühlte; er schaffte es jedoch, zu seiner Genugtuung, den Satz einigermaßen bestimmt zu äußern, sich seine Schwäche nicht anmerken zu lassen. „Es geht ihr gut. Noch.“ „Und warum sollte ich das glauben?“ „Warum fragst du, wenn du uns ohnehin nicht glaubst? Gin lachte leise, zündete sich eine Zigarette an. Vodka grinste, soviel sah Shinichi im Spiegelbild, das der Hüne auf die Frontscheibe warf. Er biss sich auf die Lippen, ärgerte sich über seine eigene Unbedachtheit. „Aber wenn es dich tröstet, du wirst Gelegenheit bekommen, sie zu sehen.“ Shinichi schaute ihn an, sagte nichts. Die Vorfreude in Gins Stimme konnte nichts Gutes bedeuten und sprach genauso deutliche Worte wie die Tatsache, dass man sich nicht die Mühe machte, ihm die Augen zu verbinden; es war egal, dass er den Weg, den sie fuhren sah. Er würde die Gelegenheit zur Flucht nicht bekommen. Wahrscheinlich überlebte er nicht einmal mehr diese eine Nacht. Es spielte also keine Rolle, ob er nun wusste, wo das Hauptquartier lag, oder nicht – er würde nicht mehr dazu kommen, es jemandem zu erzählen. Langsam sank er mit der Stirn gegen die Scheibe, schloss die Augen, spürte den Rhythmus seines eigenen Atmens und seufzte. Nun, vielleicht fällt es leichter, zu sterben, wenn man ohnehin kein Leben hat, dem man nachtrauern kann… Sharon ihrerseits tickte fast aus, etwas, das ganz und gar unüblich für sie war. Seit Stunden versuchte sie nun, diesen Kriminalschriftsteller zu erreichen, aber der gnädige Herr hatte sein Handy ausgeschaltet. Sie seufzte, strich sich unwillig eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Sie befand sich am Fenster im Konferenzraum, der in vollständiger Finsternis lag, um nur keine Aufmerksamkeit zu wecken; sie hatte diesen Platz gewählt, weil man hier am ehesten sah, wenn jemand ankam, der Ausblick führte genau auf die Parkplätze heraus. Abgesehen davon, dass die Aussicht perfekt war, hatte sie sich aber auch aus einem ganz anderen Grund für diesen Ort entschieden – hier drin fand und vermutete sie keiner. Hätte sie draußen am Gang gewartet, hätte man sich Gedanken gemacht, was sie da tat, warum sie hier war; hier drinnen jedoch entging ihr seine Ankunft nicht, und nebenbei blieb sie unbemerkt. Dann zog der schwarze Porsche, der gerade einbog, ihre Aufmerksamkeit auf sich. So it’s time now. The game has started… Sie wusste, was nun passieren würde. Ran war bereits im Verhörraum; mit Shinichi würde man sich unterhalten, ehe man ihm das Schauspiel vorführen würde. Langsam drehte sie sich um, verließ das Konferenzzimmer. Sie würde jetzt warten müssen – warten, bis man sie rief. Und das würde man. Sicher. Shinichi stolperte über die Schwelle hinein in das große Firmengebäude; sie führten ihn vorbei an der Pforte, wo ein grimmig aussehender, ebenfalls ganz in schwarz gekleideter Pförtner saß und ihnen nur kurz zunickte. Dann ging es weiter durch eine Reihe weiß gestrichener, mit grauem Linoleum ausgelegter Gänge; sie sahen alle gleich aus. An den Seiten links und rechts die gleichen hellgrauen Türen, mit den gleichen verchromten Türklinken, hin und wieder ein Mann oder eine Frau in Schwarz; selbst sie sahen gleich aus in ihrer Kluft. Ab und an ging es eine Treppe bergauf oder bergab, oder durch eine Glastür, die sich vor ihnen öffnete und hinter ihnen schloss – und er war sich sicher, dass sie nur von einer Seite zu öffnen war. Er ertrug das alles mit stoischer Gelassenheit. Zu schreien und sich zu wehren machte keinen Sinn; er war ihnen unterlegen, und unter Umständen ließ man den Unmut, den sein Ungehorsam verursachte, an Ran aus. Er presste die Lippen zusammen. Ran. Im Wohnzimmer der Môris kam Heiji stöhnend wieder zu Bewusstsein, fühlte sich, als hätte ihn gerade ein Bus mit Vollgas überrollt. Allerdings brauchte sein malträtiertes Hirn keine fünf Sekunden, um zu rekonstruieren, was passiert war. „VERDAMMT!“ Er rappelte sich hoch, machte sich nicht die Mühe, nach ihm zu suchen; es war klar, dass der Schuss aus dem Narkosechronometer kein Versehen gewesen war. Shinichi hatte ihn gezielt ausgeschaltet, um sich aus dem Staub zu machen. Die Frage war nur, warum; und wohin. Irgendwas is in diesem blöden Wald passiert - wahrscheinlich hat er diese Männer getroffen, und wir haben mal wieder nix mitgekriegt – und der Vollidiot sagt nix, weil er wieder den Helden spielen muss, dieser… dieser… Er rannte zu Kogorô ins Zimmer, riss die Tür auf, klatschte mit der flachen Hand auf den Lichtschalter, nestelte mit der anderen Hand in seiner Hosentasche, um sein Handy aus der engen Tasche zu ziehen. Kogorô blinzelte ihn aus verschlafenen Augen an. „Verdammt, Heiji, ich reiß dir den Kopf ab… was ist denn los?!“ „Shinichi is weg.“ Heiji hielt sich nicht mit den Details auf. „Er hat mich mit der Narkoseuhr lahmgelegt und is weg. Ich geh Ran wecken, und ich ruf die Polizei, ziehn Sie sich an, Herr Môri, es eilt! Wer weiß, was…“ Mehr brauchte er nicht sagen. Kogorô fiel regelrecht aus seinem Bett, verhedderte sich in der Bettdecke, stürzte der Länge nach hin und stand unflätig fluchend wieder auf. Worin genau der Inhalt dieser Flüche bestanden hatte, interessierte Heiji nicht genauer; er hatte sein Handy in der Hand und die Nummer der Polizei gewählt, stand nun vor Rans Tür und klopfte. „Ran?“ Keine Antwort. Heiji seufzte, merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Eigentlich hatte er nicht vor, einfach so in das Zimmer eines Mädchens zu spazieren. Und so klopfte er nochmal, lauter. „Ran!? Ran, wach auf!!“ Wieder keine Reaktion. Er seufzte; dann drückte er die Klinke runter und öffnete die Tür einen Spalt weit, drückte den Lichtschalter sachte runter. „Ran?“ Langsam wurde er unruhig. Er ließ seine Bedenken fahren, trat ins Zimmer, ging sachte und auf Zehenspitzen zum Bett, um sie nicht zu erschrecken – Und begann lautstark zu fluchen, wobei er Kogorô in Sachen unflätiger Ausdrücke noch überbot. „VERDAMMT!!!!“ Er riss die Decke vom Bett, und sah, was sich darunter verbarg; eine sorgsam geformte Silhouette aus Kleidern und Kissen. Dann merkte er, wie jemand da Zimmer betrat, drehte sich um. In der Tür stand Kogorô, kreidebleich auf das Bett starrend. „Mein Gott, ist sie mit ihm mitgegangen? Ich bring den Kerl um, wenn…“ Heiji schüttelte den Kopf. „Nicht mitgegangen, Onkelchen. Verstehn se nich? Wir warn die blöden… selbst wenn er nicht er selbst ist, spielt er so überzeugend Theater, dass man ihm die Rolle abkauft…“ Kogorô lehnte sich gegen den Türrahmen, als er verstand. „Sie war nie da.“ „Nein, war se nich.“ Heiji schüttelte den Kopf, ließ die Decke zu Boden gleiten. „Mein Gott, wie blöd waren wir. Wie blöd! Wie dumm, wie dämlich, wie…“ Er trat wütend nach der Decke, drehte sich um. „Die müssen ihre Tochter im Wald entführt haben. Und ihm haben se’s gesagt, und mit ihm ausgemacht, dass er sich stellen soll. Jetzt. Also vor ein paar Minuten oder so.“ Heiji drehte sich um, ging an Kogorô vorbei mit unfokussiertem Blick nach draußen, sinnierte vor sich hin, schien mit sich selbst zu sprechen. „Gleich mitnehmen konnten sie ihn nich, weil dann hätten wir Wind davon bekommen und sie geschnappt. Wir warn ihnen da ja sehr nahe… also haben sie sie mitgenommen, ihn instruiert, uns diese Scharade vorzuspielen, und nachzukommen… und er hat’s gemacht. Und ich hab mir noch gedacht, dass irgendwas nich stimmt, aber anstelle, dass ich ihn genau beobachte, lass ich mich ausknocken von ihm! Verdammt! VERDAMMT, VERDAMMT, VERDAMMT!!!“ Kogorô strich sich übers Gesicht. „Mausebein…“, murmelte er nur leise. Heiji warf ihm einen kurzen Blick zu. Dann ließ er den Kopf sinken, blickte auf das Handy in seiner Hand. „Ich ruf die Polizei. Die sollen dem FBI auch gleich Bescheid sagen. Vielleicht…“ Der ehemalige schlafende Meisterdetektiv warf ihm einen eher hoffnungslosen Blick zu. Man hatte ihm die Fesseln abgenommen. Und nun stand er hier, vor ihm saßen drei Herren in grauen Anzügen. Nicht schwarz. Hm. Anscheinend sind die was Besonderes. Absinth starrte ihn hämisch grinsend an. „Hallo, Armagnac. Wie schön, dich doch noch einmal in unserer Runde willkommen zu heißen – nachdem du dich so unehrenhaft und unangemessen von uns verabschiedet hast…“ Shinichi starrte ihn an, zog die Augenbrauen hoch. „Genau genommen hast du dich ja gar nicht verabschiedet. Du hieltest es wohl nicht für nötig, uns Lebwohl zu sagen. Wie soll ich das bloß finden?“ Shinichi verdrehte die Augen kurz. „Und Sie sind…?“ Absinth grinste. „Absinth… und ich denke, den Namen wirst du kein zweites Mal vergessen.“ Er lehnte sich entspannt zurück. Shinichi hingegen zog die Augenbrauen hoch. „Lassen Sie mich raten – die Zeit, die ich noch lebe, wird zu kurz sein, um irgendetwas zu vergessen.“ Absinths eisblaue Augen blitzten amüsiert. „Ich sehe, du schaffst es noch immer, die Sachen auf den Punkt zu bringen. Eigentlich wäre dein Gedächtnisverlust eine unschätzbare Chance gewesen… dich doch noch umzudrehen… nur leider fanden dich die falschen Leute zuerst…“ Shinichi lächelte spöttisch. „Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen. Selbst wenn Sie mir erklärt hätten, dass Sie mein Vater wären und ich hier aufgewachsen wäre, schätze ich, hätten Sie sich die Zähne daran ausgebissen an der Aufgabe, aus mir einen Verbrecher zu machen.“ Er starrte den Mann an, blinzelte nicht. Absinth war das Lächeln auf den Lippen gefroren. Er tauschte einen kurzen Blick mit seinen Mitgliedern aus; dann gewann er seine Souveränität zurück. „Sprich nicht über deinen Vater, solange du ihn nicht wirklich kennst… Detektiv.“ Er stand auf. „Aber deswegen sind wir nicht hier. Wir wollten dir ja, da du so brav und gehorsam, wenn auch ein wenig vorlaut warst, den letzten Gefallen gewähren, dein Mädchen zu sehen…“ Shinichi fuhr hoch. „Ich hoffe von hinten, wie sie aus diesem Bau rausspaziert!“, meinte er bissig. Rum lachte dunkel, während Cachaça ein leises Kichern entschlüpfte. Shinichi warf ihm einen angewiderten Blick zu. „Ich fürchte, ganz so großzügig wird unser Geschenk an dich und sie nicht ausfallen.“ Shinichi starrte ihn an. Es überraschte ihn nicht; eher im Gegenteil. Allerdings, und das musste er sich eingestehen, hatte er doch gehofft, wenigstens ihr Leben retten zu können. Wenigstens ihrs. Hass stieg in ihm hoch. Seine Blicke kreuzten die Absinths, der nur noch breiter lächelte. „Schau mich nicht so böse an, Detektiv… es ist nicht meine Schuld. Du hättest dich nicht mit uns anlegen sollen… du nicht, und jemand anders auch nicht.“ Er lehnte sich zurück, entspannt, ungeheuer zufrieden mit sich selbst. „Los, führt ihn ab. Er soll es sehen. Und dann – dann knallt ihn endlich ab, ich kann seine Visage nicht mehr ertragen.“ Damit zerrte Gin ihn an seinem Arm hoch, raus aus der Tür. Hinter Shinichi ging Vodka, hatte eine Pistole gezückt und presste sie ihm in den Rücken. Sharon stand am anderen Ende des Gangs, als die Tür aufging, und man ihn abführte. Sie wusste, wohin sie unterwegs waren, und wollte ihnen gerade folgen, als ihr Handy leise piepte. Eine SMS war eingegangen. Sie zückte das Handy, klappte es auf, las die Mitteilung, und merkte, wie ihre Hände kalt wurde, fast schon zitterten. Folgender Teilnehmer ist wieder erreichbar: Cognac Sie drückte sich um die Ecke, wählte die Nummer und lauschte atemlos dem Freizeichen. Yusaku zuckte zusammen, als sein Telefon losbimmelte, gerade, als er es wieder eingeschaltet hatte. Eigentlich wollte er gerade eine Tasse Kaffee kochen und sich überlegen, wie er weiter vorgehen sollte in dieser Geschichte. Er hob das Telefon an, nahm den Anruf entgegen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Yukiko außer Hörweite war. „Vermouth. Was ist?“ „Why on earth have you switched off your phone, you goddamned…” “Vermouth. Was. Ist. Los?“ Sie verdrehte die Augen kurz, holte tief Luft und riss sich am Riemen. „Mein lieber Yusaku, ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber ich habe heute schon öfter als einmal versucht, dich zu erreichen – hier brennt nämlich grad die Hütte. Heute Vormittag haben Gin und Vodka im Wald Ran entführt, und…“ Yusaku wurde bleich. „Bitte, was?“ Sharon merkte, wie Wut und Ärger in ihr wieder hochkochte. „Hättest du mich nicht aufgelegt heute Mittag, dann wüsstest du das längst! Idiot!“ Ihre Stimme war auf ein leises Zischen herabgesunken. „Und nun darfst du raten, wen sie damit erpresst haben…“ Yusaku schloss die Augen. „Shinichi.“ „So ist es.“ Sharon schluckte, merkte, wie ihre Sorge ihren Zorn langsam vertrieb. „Mein Gott, ich muss zu Kogorô. Er ist…“ „…hier, Yusaku. He’s just arrived. You’re far to slow… er ist hier, und sie haben sich gerade mit ihm unterhalten. Ich nehme an, sie werden ihn jetzt teilhaben lassen, wie Ran auf das Wahrheitsserum reagiert, und dann… dann werden sie ihn töten. Und sie auch.“ Yusaku legte wortlos auf. Dann begann er zu laufen. Shinichi fand sich in einem kleinen, weißen Raum wieder, der auf einer Seite eine große Glasscheibe hatte, die den Blick auf ein weiteres Zimmer freigab. Wie diese Verhörräume auf dem Polizeirevier… Er verzog das Gesicht, als er sah, wer ihm gegenüber saß. Ran. Irgendwie kam ihm die Szene seltsam bekannt vor… als er sie sah, wie sie da saß, in diesem weißen Raum, an einem Tisch, vor ihr Absinth, der gerade den Raum betreten hatte, mit einer Ampulle in der Hand. Shinichi begann langsam zu schwitzen. Er ahnte, dass in der Ampulle nichts Gutes sein konnte. Neben ihm stand Rum; sein aufdringliches Aftershave biss ihn in die Nase. „Was wollt ihr denn von ihr noch? Sie…“, begann der junge Detektiv, schaute den Mann neben sich dabei nicht an; er beobachtete seine Reaktion anhand der Spiegelung in der Scheibe. „…weiß auch einiges, das uns von Nutzem sein könnte.“ Rums Stimme war tief und sonor wie sein Lachen. „Sie kennt dich gut, und sie hat, wie wir denken, einen guten Einblick bekommen in dein Leben der letzten paar Jahre… deswegen werden wir sie jetzt fragen, was sie weiß. Du lässt uns keine Wahl, nachdem du es uns vor ein paar Tagen nicht sagen wolltest…“, er drehte sich zu Shinichi, sah ihm gelassen in die Augen, „und uns jetzt nicht sagen kannst.“ Shinichi merkte, wie in ihm der Hass wieder hochkochte, begann, sich zu winden, wollte seine Hände aus den Fesseln ziehen, was nur zur Folge hatte, dass Vodka und Gin ihn fester griffen. Shinichi schluckte, merkte, wie sein Atem immer schwerer wurde, ihm irgendetwas die Luft abschnürte. Er starrte sie nur an, ihr bleiches Gesicht, wohl wissend, dass sie nicht reden würde, egal was man ihr antun würde… und wohl wissend, dass ihr ihr Schweigen nichts nützte, weil er bereits hier war. Sie konnte ihn nicht mehr schützen. Das hier war nur Folter. Folter für sie, die so unnütz diese Schmerzen ertragen wollte und für ihn, der es mit ansehen musste, wie sie litt. Und dann würde sie sterben. Diese Tatsache brachte ihn fast um den Verstand. Mein Gott, wie konnte es nur soweit kommen…? Wie konnte das passieren, ich kann es nicht glauben… Wie kann ein einzelner Mensch nur so viel Mist bauen, das ist doch nicht möglich… So kann es doch nicht enden - Ran ihrerseits versuchte ruhig zu bleiben, und merkte doch, wie schwer der Kampf um ihre Selbstbeherrschung war. Sie hatte Angst. Ganz entsetzliche, ihr Denken lähmende, ihr Herz gefrierende Angst. Dieses Gefühl hatte sie fest in seinen eiskalten Klauen. Vor ihr hatte ein Mann Platz genommen, den sie noch nie gesehen hatte und lächelte sie auf die unsympathischste Weise an, die sie sich vorstellen konnte. „Hallo, Ran.“ Sie sparte sich die Antwort, starrte ihn nur an. Er legte eine Spritze vor sie auf den Tisch, lächelte immer noch. Beobachtete, wie ihre Augen seinen Bewegungen folgten, die Spritze fixierten. Und die Angst griff noch fester zu. Dann fasste sie sich, hob den Kopf. „Was ist mit Shinichi?“ Ihm rann ein Schauer über den Rücken, als er ihre Stimme hörte. Unverwandt starrte er sie an, vergaß sogar, dass er sich wehren wollte. Schaute sie nur an, merkte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug, verfluchte sich, der ihr das eingebrockt hatte. Dann riss Absinths Stimme ihn aus seinen Gedanken, und er verfolgte das Geschehen wieder mit vollster Aufmerksamkeit. „Es geht ihm gut, noch. Wenn es dich interessiert, er steht hinter dieser Glasscheibe und kann uns in diesem Moment sehen – auch wenn du ihn nicht siehst. Diese Scheibe funktioniert wie die dir wahrscheinlich bekannten Fenster in den Verhörräumen der Polizei.“ Sie schluckte. „Woher soll ich wissen, dass sie die Wahrheit sagen?“ „Ah, du bist genauso misstrauisch wie er. Aber gut.“ Absinth lächelte; dann schnippte er kurz mit den Fingern, und die Scheibe wurde klar. Ran fuhr hoch, so heftig, dass ihr Stuhl umkippte. Sogleich war hinter ihr ein Mann in Schwarz zur Stelle und drückte sie wieder auf ihren Stuhl. Sie musterte ihn; er war blass, seine Augen jedoch unverwandt auf sie gerichtet, unfähig, irgendetwas zu sagen. Das Schuldbewusstsein in seinem Gesicht sprach jedoch Bände. Sie schluckte, lächelte matt. Er würde mit ihr tauschen, sofort, wenn er das könnte. Soviel wusste sie. Sie würden beide sterben… und sie ahnte, soviel wusste er auch. Absinth winkte kurz und die Scheibe wurde wieder dunkel, und alles was Ran noch sah, war ihr eigenes, blasses Gesicht, dass sie mit großen, blauen Augen ansah. Sie biss sich auf die Lippen, seufzte. Es war offensichtlich gewesen, dass er sich immer noch nicht erinnerte; aber allein, dass er da war, beruhigte sie irgendwie – auch wenn sie ihn viel lieber meilenweit von hier entfernt gewusst hätte. Shinichi stand auf der anderen Seite der Scheibe, merkte, wie er innerlich zu kapitulieren anfing und hasste sich dafür. Er hatte den Karren gegen die Wand gefahren, es so dermaßen vergeigt, dass eines gewiss war; es gab keinen Weg mehr zurück, und nach vorn ging’s erst recht nicht. Aber aufgeben sollte er doch nicht – eigentlich wollte er es auch gar nicht. Allein die Idee fehlte ihm, was er tun konnte. Er drehte seinen Kopf, starrte Gin und Vodka kurz an. Sie waren allein in diesem Zimmer, außer ihnen dreien und Rum war keiner hier. Er fuhr wie ein Verrückter. Yusaku war ohne nachzudenken aus dem Haus gestürmt, hatte sich hinters Steuer gesetzt und war losgefahren; er hoffte, er kam noch rechtzeitig. Rechtzeitig wofür wusste er allerdings noch nicht; er hatte keine Ahnung, was er tun würde, wenn er angekommen sein würde. Aber irgendetwas musste er tun, soviel war klar. Regen hatte eingesetzt, peitschte ihm entgegen; der Scheibenwischer arbeitete ohnehin schon auf Hochtouren, kam den Wassermassen aber dennoch kaum mehr nach. Als sein Auto dann ins Schwimmen geriet aufgrund von Aquaplaning, musste er sich zwingen, vom Gas zu gehen. Es brachte nichts, wenn er verunglückte. Sharon betrat das Verhörzimmer, leise. Ran drehte sich um, fing ihren Blick, kurz. Dann wandte sie sich wieder dem Mann zu, der ihr gegenübersaß, und dessen Lächeln immer noch wie festgemeißelt auf seinen Lippen ruhte. In diesem Moment verbreiterte es sich jedoch, als er die Injektionsnadel zückte; ein Lichtblitz hüpfte über kaltes Metall, Rans Augen wurden groß, als sie sich auf das Folterinstrument in der Hand dieses Mannes hefteten. Folter. Shinichi schluckte, er fühlte miserabel, merkte, wie sich sein Herzschlag fast unerträglich beschleunigte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren brach, ihm fast schwarz vor Augen wurde. Er versuchte mit aller Macht, dieses Gefühl zurückzudrängen und beobachtete weiterhin angestrengt die Szene, die sich in dem kleinen Raum vor seinen Augen abspielte. „Nun, Ran. Bevor wir euch beide gemeinsam in einen anderen Daseinszustand versetzen…“ Er lehnte sich entspannt zurück, wippte die Nadel sachte in seinen Fingern. „…möchte ich nun doch noch sehen, ob wir dem Gedächtnis deines Freundes nicht auf die Sprünge helfen können. Gedächtnisforschung und Medizin sind meine Steckenpferde, weißt du… und genau in dieser Situation in diesem Raum befand auch er sich, vor gar nicht so langer Zeit. Hier fing es an, für ihn. Hier hat er uns seine Treue geschworen… im Austausch für dein Leben. Er hat seinen Schwur gebrochen, und damit… muss er mit den Konsequenzen leben. Oder sterben, vielmehr.“ Ran schluckte schwer, unterdrückte einen Würgereiz. „Ich denke aber, es wäre nur fair, wenn er weiß, warum er sterben muss. Und warum er mitansehen muss, wie du stirbst. Dafür aber… brauche ich deine Hilfe, meine Liebe…“ Er ergriff ihren Arm. Ran schauderte, wollte ihn wegziehen, merkte, wie jemand hinter sie trat und ihre Arme festhielt. Sie starrte auf die Nadel, die sich genussvoll langsam ihrem Unterarm näherte, konnte ihre Augen nicht mehr davon abwenden, merkte, wie sie zu zittern anfing und nun echte, nackte Angst in ihr hochstieg, ihr Denken benebelte und die Steuerung übernahm. Sie begann sich zu winden, zu zappeln, versuchte, ihren Arm zu befreien, schrie. Shinichi starrte unverwandt auf die Szene, die sich ihm bot, merkte, wie er den Kampf gegen die Übelkeit und Ohnmacht zu verlieren drohte. Kurz schwindelte ihm, dann überdeckte sich das Bild des Raumes mit einem anderen Bild… einer Erinnerung. Zuerst nur flackernd, wie ein Wackelkontakt in einer Lampe. Dann war es da, deutlich und irreal scharf. Und er ahnte, dass es kein normales Gefühl von Übelkeit war. Und auch keine drohende Ohnmacht, die ihn überwältigen wollte. Ein fast schon familiäres Pochen in seinem Schädel stellte sich ein, als das Bild sich entwickelte, sich die Szene bewegte, Laute an seine Ohren drangen, stechend schrill zuerst, dann immer verständlicher. Es war alles gleich… Nur eines nicht. Die Person am Tisch war nicht Ran. Nicht Ran, sondern… Er selbst. Und dann war es vorbei mit ihm. Er kollabierte, schrie auf, wollte sich an den Kopf greifen, als immer mehr Bilder auf ihn herein zu brechen begannen, auf ihn einstürzten wie die Fluten eines Stroms bei Hochwasser, ihn fast mit sich rissen. Wer ist Sherry? Wieviel weiß das FBI? Er sah sich in diesem Raum, hörte die Fragen… spürte Schmerzen in seinen Gliedern, wusste, sie rührten vom Verhör. Er hörte Stimmen und Geräusche, kaum zu unterscheiden, ein Gewirr von Wörtern und Sätzen, die wieder zurückzufallen schienen, in all die sprichwörtlichen Schubladen und Fächer in seinem Kopf. Er wusste wieder, warum er eingetreten war in diese Organisation, er wusste, wie es so weit gekommen war, er erinnerte sich daran, wie er Gin und Vodka das erste Mal begegnet war in dieser Achterbahn, und was nach seiner Schrumpfung passiert war. All die Fälle, all die Gesichter; all die Leute, die er vergessen hatte, der Professor, die Kinder, Ai, Heiji… Kogorô, seine Eltern. Er erinnerte sich an diesen Campingausflug, an diese rothaarige Hexe, die ihn belauscht hatte, und ihn dann überwältigt und ins Hauptquartier gebracht hatte. Er wusste wieder, worum es in diesem Telefongespräch gegangen war. Dieses verfluchte Gespräch… Shinichi keuchte, krümmte sich, wollte sich den Kopf halten, und konnte es doch nicht, weil seine Hände immer noch hinter seinem Rücken gefesselt waren. Er sah diese Nacht vor seinen Augen, in dieser Gasse. Dieser Kerl mit dem Falschgeld – er hörte ihn wimmern, konnte ihn vor sich im Dreck der Straße kriechen sehen. Er vernahm Gins hämische Kommentare, den Befehl ihn zu töten; er erinnerte sich an die Polizei im Auto, ganz wie Meguré es erzählt hatte. Und er wusste, dass er nicht geschossen hatte. Er wusste auch, warum. Der Gang in sein Büro, dieses quälende Gespräch, diese Enttäuschung, dieser Schmerz, diese Wut… Bilder flackerten in seinem Kopf auf, Bilder von einem Büro, seinem Vater und Vermouth… Und wieder sein Vater, der versuchte, sich zu erklären, sich zu rechtfertigen, irgendwie... Vater... Überdeutlich stand ihm die Szene vor Augen, als er aus den Schatten trat, in seinem Büro. Er konnte den leicht muffigen Geruch des alten Teppichs riechen, und Sharons Parfum, die neben ihm gestanden hatte, als... Wie konntest du nur? Und die Flucht. Der Regen, der Schuss, der Sturz... Er wusste wieder, wer er war. Wer sie war. Ran. Und das Gefühl, das er mit dem Gedanken an sie verband, riss ihm fast das Herz aus der Brust. Er hatte gewusst, dass er sie liebte… aber was er tatsächlich fühlte für dieses Mädchen hatte er nicht ermessen können. All das und noch viel mehr war wieder da, alles, sein ganzes Leben zurückgekehrt in Bruchteilen einer Sekunde - und es kostete ihn fast den Verstand. Dass er ihn nicht komplett verlor, hing nur mit einem Umstand zusammen… der Person im Raum hinter der Scheibe. Ran. Er durfte ihr nichts antun. Wenn das Zeug in der Spritze wirklich Wahrheitsserum war… „NEIN!“ Er schrie, bäumte sich auf, als er wieder einigermaßen Herr über seinen Körper wurde und zerrte an seinen Fesseln, wollte sich losreißen, trat um sich. „NEIN!!! Lasst die Finger von ihr! Absinth! Lass sie in Ruhe!“ Der Mann im Raum hinter dem Glas schien ihn gar nicht zu hören. Shinichi wurde fast wahnsinnig, als er sah, wie sich die Spritze dem Arm seiner Freundin immer mehr näherte. Er überlegte fieberhaft; er kam nicht los, die beiden hielten ihn zu fest, amüsierten sich hörbar über ihn. Gin lachte, und Shinichi fragte sich, wie er dieses Gelächter je hatte vergessen können. Ein Schauer rann ihm über den Rücken, als er atemlos innehielt, sich ein Gedanke in seinem Kopf formulierte. Vielleicht… Shinichi drückte sich ruckartig gegen Gin, griff nach hinten, bekam seine Pistole an seinem Gürtel unter seinem Mantel zu fassen, entsicherte sie hinter seinem Rücken und drückte ab. Die Kugel schoss geradewegs in den Fußboden, aber der Lärm war ohrenbetäubend. Gin ließ ihn kurz los, versuchte dann ihn wieder zu überwältigen, aber Shinichi tritt um sich, stieß gegen ihn und Vodka, der ins Straucheln geriet, seinerseits gegen Rum fiel, der von den Ereignissen völlig überrumpelt schien, und gegen die Wand prallte – gegen den Schalter, der die Scheibe verdunkelte. Und plötzlich war alles wieder ruhig. Gin presste Shinichi gegen das Glas, atmete heftig. Shinichi schluckte, merkte, wie die Scheibe von seinem Atem beschlug, sah aus den Augenwinkeln Ran, die aufgesprungen war, als sie ihn sah. Er lächelte bitter. Rum seinerseits stieß Vodka angewidert von sich, warf Absinth einen verärgerten Blick zu. Absinth indes erhob sich ohne Eile, in seinen Augen ein interessiertes Funkeln - dann suchte er Augenkontakt zu Gin, winkte ihn zu sich. Shinichi merkte, wie man ihn wieder fester griff und auf den Gang zerrte, durch die nächste Tür wieder rein in den Verhörraum. Shinichi schluckte, hatte nur Augen für sie, suchte ihren Blick; Ran saß auf dem Tisch, ihr Teint war blass, in ihren Augen war ihre Unruhe zu lesen. Und leises Erkennen. Seine Augen sprachen eine allzu deutliche Sprache, auch wenn sein Gesicht keinerlei Gefühlsregung zeigte. Also bist du wieder da... aber scheinst nicht erfreut über deine Erinnerungen zu sein, Shinichi... Absinth lächelte kühl. „Wie schön.“ Shinichi wandte langsam seinen Kopf von ihr ab, schenkte Absinth seine Aufmerksamkeit, der sich vor dem Oberschüler aufbaute, ihm gelassen, fast erfreut, von Kopf bis Fuß musterte. „Der große Detektiv weilt wieder unter uns. Ich muss gestehen, selten hat uns jemand so auf Trab gehalten wie du. Damit ist jetzt allerdings Schluss.“ Er griff in sein Sakko, zog eine Pistole heraus, schaute sie interessiert an, streichelte ihr fast liebevoll über den Lauf. „Ich denke, du weißt ja jetzt, bei wem du dich bedanken kannst.“ Shinichi schluckte, biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte. Ran starrte ihn an. „Shinichi?“ Er warf ihr einen Blick zu, schüttelte nur den Kopf. „Ah.“ Absinth grinste. „Du willst es ihr nicht sagen, was? Lieber als dein kleines Geheimnis mit ins Grab nehmen? Nun… mir soll das egal sein. Sie wird ohnehin vor dir sterben.“ Ran merkte, wie ihr langsam übel wurde. „Nein!“ „Du weißt, dass es nicht anders geht. Wir hatten eine Vereinbarung. Deine ungeteilte Loyalität und dein absoluter Gehorsam gegen ihr Leben. Du hastuns betrogen. Du trägst die Konsequenzen. Gin…“ Er warf dem blonden Mann ein gönnerhaftes Lächeln zu. „Ich denke, du hast es dir verdient.“ Dazu, sein Geschenk entgegenzunehmen und auszupacken, kam er allerdings nicht mehr; Gin starrte Absinth nur an, verdrehte dann die Augen und sackte zusammen. Vodka neben ihm tat es ihm gleich. Absinth fuhr herum, beunruhigt, fast panisch. Shinichi merkte, wie ihm jemand von hinten Mund und Nase zuhielt, als er sah, wie Rum umfiel wie ein gefällter Baum und neben ihm mit einem leisen Seufzen Ran zu Boden sank. „Vermouth!“ Absinth starrte sie an, begann zu husten. „Du…! Ich hätte…“ Vermouth lächelte nur, sah ihm zu, wie auch er das Bewusstsein verlor. Dann löste sie schnell Shinichis Fesseln, bedeutete ihm wortlos, die Luft anzuhalten und Ran mitzunehmen. Er bückte sich, hob sie auf und folgte der blonden Frau eilig aus dem Raum. Sie schloss hinter ihm die Tür ab, schnappte nach Luft. Er rang ebenfalls um Atem schaute sie ungläubig an. „Ein Betäubungsmittel in Gasform?“ „Ganz Recht.“ Sie seufzte, strich sich über die Stirn. Sie nickte zu Ran, die bewusstlos in seinen Armen lag. „She’ll wake up quickly, breathing in fresh air. Die anderen Trottel da drinnen werden noch ein wenig länger schlafen. Allerdings haben wir nichtsdestotrotz nicht viel Zeit, also sollten wir uns beeilen… silver bullet.“ Sie schlug entschlossen eine Richtung ein; Shinichi hetzte ihr hinterher. „Warum…?“ „Sprich nicht, du brauchst die Luft zum Laufen. Bevor wir allerdings hier rauskönnen, sollten wir noch ein paar Dinge erledigen.“ Sie gingen vorsichtig die Korridore entlang, immer auf der Hut, damit sie nicht erwischt würden. Dann bog sie in ein Zimmer ab, sperrte hinter sich ab. Shinichi sah sich um, schluckte bitter. Er hatte geahnt, wohin die Reise ging, als sie losgelaufen waren; und nun standen sie hier in diesem Büro, in dem er die schrecklichsten Minuten seines Lebens verbracht hatte. Shinichi legte Ran in einem Sessel ab, strich sich die Haare aus der Stirn. „Warum silver bullet, Sharon? Und warum nennst du sie angel?“ Er schaute sie an, unverwandt. Sie lächelte sanft. „You remember, when we first met?“ „Sure. We were at the theatre…“ “Right. She saved that girls life, then… and learned afterwards, that Rose was a murderer herself. Nevertheless, she showed me, what grace and mercy mean. She taught me, that this kind of soul still exists – es gibt sie noch, die Unschuldigen und Tapferen. Sie hat Rose gerettet; und damit mir gezeigt, dass auch ich noch gerettet werden kann. Auch ich bin verloren, bin eine Mörderin, wie Rose es war; aber sie hat aus dieser großen Geste nichts gelernt, sie hat ihn trotzdem umgebracht. Für mich begann an diesem Tag ein Umdenken. Ich habe gesehen, dass es sich lohnt, sich zu ändern, dass man nicht verloren ist, solange man daran glaubt, dass einem noch vergeben werden kann. Und sie zeigte mir, dass es noch etwas gibt, das man beschützen kann, und für das zu kämpfen es sich lohnt. Es gibt noch einen Gott… der vergibt, wenn man Reue zeigt. Und dann kamst du. Silver bullet.“ Sie lächelte breit. „Du erinnerst dich an den Serienmörder, der…“ „Klar.“ Shinichi warf ihr einen gelangweilten Blick zu. „Das warst du. Das war mir recht schnell klar.“ Sie warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Wie…?“ Er winkte ab. „Komm, ich denke, dafür ist keine Zeit. Also, warum nennst du mich silver bullet?“ „Weil, mein lieber Shinichi, es nur eine silberne Kugel vermag, die Untoten zu vernichten – und sag mir, was sind wir, wenn nicht eine Horde Untote – manche im wahrsten Sinne des Wortes, du hast die Wirkung selbst kennengelernt.“ Sie seufzte. „Abgesehen davon, braucht so eine Silberkugel ein Ziel vor Augen, Durchschlagskraft und Präzision in der Planung. Du – bist brillant. Zielstrebig, intelligent und willensstark – und von einem Gerechtigkeitsgefühl geprägt, das seinesgleichen sucht.“ Sie seufzte. „Deshalb silver bullet. Und nun werde deinem Namen gerecht, mein Lieber… wenn wir hier draußen sind, weißt du hoffentlich, was zu tun ist.“ Sie zog eine Schublade auf, holte einen kleinen, quadratischen, flachen Gegenstand heraus, reichte in ihm. „Er kann’s nicht tun, du weißt warum. Gib ihm nicht…“ „… die Schuld?! Was sonst? Ich bitte dich, Sharon…“ Ehe sie zu einer Antwort kam, hielten sie allerdings beide inne. Ein leises Stöhnen hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. Ran rührte sich etwas, schlug zögernd und träge die Augen auf. Er trat auf sie zu, half ihr vorsichtig, sich aufzusetzen. „Alles in Ordnung, Ran? Wie fühlst du dich?“ Sie starrte ihn nur an, sagte nichts. Er ging vor ihr auf die Knie, besorgt. „Ran?“ Ran schluckte, blinzelte, merkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Langsam rutschte sie vom Sessel, sank gegen ihn, schlang ihre Arme um seinen Hals. Er blinzelte perplex, drückte sie dann sanft an sich. „Schhht.“ Sie schluchzte leise, nur einmal, nur kurz, schmiegte sich an ihn. Langsam ließ er sein Kinn auf ihren Kopf sinken, drückte ihr einen Kuss auf die Haare. Ran schluckte, vergrub ihre Finger in seinem Pullover, schloss die Augen. Er hielt sie kurz fest, dann löste er vorsichtig ihren Griff, schob sie ein wenig von sich, blieb ihr aber immer noch nahe genug, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. „Wir müssen hier raus, Ran.“ Er flüsterte die Worte nur. Sie schniefte leise, nickte dann. „Ich weiß. Will ich auch…“ Er ließ sie los, stand auf und zog sie hoch. Bevor er jedoch durch die Geheimtür in der Wand steigen konnte, hielt sie ihn an der Hand zurück. Er drehte sich um, sah den drängenden Ausdruck in ihren Augen. „Du willst das nicht tatsächlich jetzt von mir wissen?“, fragte er ungläubig. „Wenn ich dich daran erinnern darf, wir sollen abgeknallt werden, und überhaupt solltest du mächtig auf mich sauer sein, dass ich dich mit in diese Sache gezogen hab…“ Ran schloss die Augen. „Wer weiß, ob wir noch einmal dazu kommen. Wie du schon sagst, wir sollen abgeknallt werden.“ Sharon grinste leise in sich hinein. Shinichi drehte sich um, warf ihr einen genervten Blick zu. „Könntest du… vorgehen, bitte?“ „As you wish.“, meinte sie spöttelnd, stieg durch die Tür. Shinichi drehte sich wieder um, holte tief Luft. „Ran... Ich könnte mir schönere Orte vorstellen, und romantischere, und ich…“ Er merkte, wie ihm die Hitze zu Kopf stieg, war sich sicher, dass Ran genau sah, wie nervös er war. „Lass uns warten, bis das hier vorbei ist, bitte. Wir habens schon einmal geschafft, das zur falschen Zeit am falschen Ort bereden zu wollen und ich denke… hier ist es nicht besser. Außerdem… Ich will das nicht… nicht einfach so...“ Ein schüchternes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus; dann hob sie die Hand, legte ihren Zeigefinger sanft auf seine Lippen. Er starrte sie überrascht an, nahm ihre Hand in seine. „Du hast Recht.“ Ein leichter Rotschimmer breitete sich auf ihren Wangen aus. „Das muss jetzt aber dennoch anders laufen, Shinichi.“, meinte sie dann leise, schmunzelte. Er strich ihr über die Nase, zart. „Wird es, vorausgesetzt, wir überleben das.“ Er deutete zur Tür. „Nach dir.“ Sie griff seine Hand, fest, ehe sie durch die Geheimtür stieg und ihn mit sich zog. Die Geheimtür endete im Aufzugschacht, wie sich herausstellte; sie stiegen unbemerkt in den Aufzug ein, fuhren nach unten. Und damit, das merkte Shinichi sehr schnell, war der leichte Teil der Flucht geschafft. Nun galt es am Pförtner vorbeizukommen. Sharon seufzte, warf ihm einen ernsten Blick zu. „Hör zu. Er wird uns nicht freiwillig aus dem Haus lassen. Ich muss ihn… ablenken. Ihr lauft. Hört ihr? Run. For your lives.“ Ran schluckte, schaute von Shinichi zu Sharon. Die zog einen Umschlag aus ihrer Jacke und überreichte ihn gemeinsam mit dem flachen Gegenstand, der sich bei genauerer Untersuchung als Festplatte entpuppte, Shinichi, der sie in seine Jackentasche steckte. „Den Umschlag gibst du bitte deiner Mum.“ Shinichi seufzte. „Willst du ihr das nicht selbst…?“ Vermouth griff nach ihrer Pistole, entsicherte sie, warf ihm nur einen langen Blick zu. Er seufzte, schaute sie betrübt an. „Nun gut. Ich geb ihn ihr.“ „And don’t forget, what I told you. I’m counting on you; you came this far, this…”, sie deutete auf die Festplatte in seiner Jackentasche, “will explain anything that’s not cleared yet. And there’s plenty of evidence stored in it. Destroy them… silver bullet. Und jetzt…“ Sie ging einige Schritte nach vorn. „Lauft.“ Damit zielte sie und drückte ab. Shinichi reagierte gerade noch rechtzeitig, griff nach Rans Kopf, drückte ihn gegen seinen Hals, damit sie nicht sah, wie der Pförtner zusammensackte. Nichtsdestotrotz stand der Schrecken in ihren Augen zu lesen, als er sie ansah, ihr über die Wangen strich. Sie biss sich auf die Lippen, warf Sharon einen undeutbaren Blick zu, schluckte dann hart. „Danke.“, presste sie hervor. Sharon nickte nur, warf einen Blick den Korridor hoch, trat dann ein paar Schritte vor, signalisierte dann mit einem kurzen Winken, dass die Luft rein war. Shinichi seufzte nur kurz, schüttelte sich, nickte dann der blonden Ex-Schauspielerin zu. „Good luck.“ Dann griff er Rans Hand fester und fing an zu laufen. Hinter ihnen wurden erste Rufe laut, Schüsse fielen. Shinichi sah nicht zurück, lief nur noch. Er kannte ja den Weg. Allerdings hatten sie schlechte Karten, das wusste er, wenn sie wieder eine ähnliche Hetzjagd veranstalteten wie bei seiner letzten Flucht. Beunruhigt wandte er sich kurz zu Ran um. In ihrem Gesicht stand der Schrecken geschrieben. Er hätte ihr den Tod des Pförtners gern erspart; und überhaupt diesen ganzen Tag heute. Es war immer noch stockfinster draußen, und er orientierte sich nur grob an Merkmale in der Landschaft, an die er sich erinnerte, versuchte, so schnell wie möglich die Straße zu finden. Tatsächlich stieß er bald auf den asphaltierten Waldweg, lief neben ihm her, bereit, in den Wald zurückzulaufen, wenn es sein musste. Ab und zu hielt er inne, um zu horchen. Die Rufe waren ihnen aus dem Gebäude heraus gefolgt, aber schienen einigermaßen weit weg zu sein. Er atmete heftig, merkte, wie es in seiner Seite zu stechen begann, betastete vorsichtig seine Verletzung. Ran schaute ihn besorgt an. „Alles in Ordnung.“ Shinichi versuchte ein beruhigendes Lächeln. „So in Ordnung, wie es momentan sein kann, schätze ich. Mach dir keine Sorgen um mich, ich kann was ab.“ Er seufzte, späte in die Finsternis. Ran schauderte. „Das weiß ich.“ Sie griff seine Finger fester. „Und darüber müssen wir auch noch reden.“ Langsam drehte er den Kopf, sah die Sorge und die Schuld in ihrem Gesicht. „Hör mal – jetzt ist nicht die Zeit und nicht der Ort, um darüber zu diskutieren. Aber wenn… du das wirklich willst, diese Art von Beziehung mit mir, dann… musst du dich daran gewöhnen, an den Gedanken, dass ich alles – wirklich alles tun würde für dich. Und jetzt… sollten wir wohl weitergehen.“ Sie grummelte etwas Unverständliches; er schmunzelte ob ihres leisen Widerstands, allerdings nicht lange. Seine Nerven schienen zum Zerreißen gespannt, seine Sinne übersensibel und alarmiert. Als ihnen ein Auto entgegenkam, erschrak er, wollte gerade wieder tiefer in den Wald laufen, als er den Wagen erkannte. Und den Fahrer. Die Bremsen quietschten, als der Wagen neben ihnen hielt, Wasser spritzte hoch, Tropfen trafen ihm im Gesicht; Kies knirschte unter den breiten Reifen der Limousine. Dann wurde die Tür aufgestoßen. „Steigt ein!“ Shinichi blinzelte, starrte ihn an, merkte, wie sich alles in ihm verkrampfte. Hinter ihn trat Ran, schaute zu Yusaku, dann zu Shinichi, der wie versteinert schien. „Herr Kudô, was tun Sie…“, fing sie an, wurde dann aber von der energischen Stimme des Schriftstellers unterbrochen. „Los, steigt doch ein, wir müssen hier weg…!“ Shinichi blinzelte, wurde aus seinen Gedanken gerissen. Einerseits hatte er Recht… sie waren dicht hinter ihnen, sie mussten wirklich so schnell wie möglich weg hier… Andererseits… war dieser Mann überhaupt erst Schuld… „Shinichi!“ Yusakus Stimme wurde drängend. Shinichi warf ihm einen berechnenden Blick zu, dann trat er nach hinten, machte die Tür zum Fond auf, half Ran, die ihn fragend anschaute, beim Einsteigen; er ignorierte das wohlweislich. Stattdessen schlug er die Tür hinter ihr zu, nahm selber auf dem Beifahrersitz Platz, kam kaum dazu, die Tür zu schließen und sich anzuschnallen, als sein Vater schon das Gaspedal durchtrat, sodass es Shinichi und Ran in die Sitze drückte. „Wow.“, murmelte Ran von hinten. „Ich dachte immer, ihre Frau wär die Kamikazefahrerin der Familie.“ Yusaku grinste; allerdings fiel ihm das Lächeln sehr schnell von den Lippen, als er den Blick in den Augen seines Sohns bemerkte. Es war klar… er hatte es schon gewusst, als er Shinichi gesehen hatte, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Er wusste es wieder. Alles. Kapitel 43: Kapitel 25: Unruhe ------------------------------ Aloha! Ihr seht hier, Zeugnis meines guten Willens – eine Woche ist verstrichen und das neue Kapitel ist da! Ich bemüh mich echt, nicht nochmal so ne lange Pause einreißen zu lassen, aber manchmal… funktioniert das nicht. In diesem Sinne, meinen herzlichsten Dank für die vielen Kommentare zum letzten Kapitel, ich war echt baff! Beste Grüße, viel Spaß beim Lesen!!! Eure Leira ________________________________________________________________________________ Kapitel Fünfundzwanzig: Unruhe Auf dem Heimweg war ihnen die halbe Polizei Tokios entgegengekommen. Shinichi erinnerte sich lebhaft an das Meer blinkender roter Lichter in der Dunkelheit der Nacht auf der Landstraße, das sich ihnen entgegenschlängelte wie eine Perlenkette, zuckend und grell. Er hatte gemerkt, wie die Knöchel seines Vaters weiß hervorgetreten waren, als er das Steuer immer fester umklammerte, das Lenkrad mit seinen Fingern regelrecht umkrampfte. Ihm tat jetzt noch das Kiefer weh davon, wie sehr er seine Zähne zusammengebissen hatte und sich beherrscht hatte, um nichts zu sagen. Nicht, so lange Ran noch im Fond saß; auch wenn sie langsam einnickte, wie er bemerkte, als er einen Blick nach hinten geworfen hatte. Das war heut ein langer Tag für dich, nicht wahr…? Wahrscheinlich ist auch das Schlafmittel noch Schuld. Aber etwas Schlaf sollte dir ohnehin ganz guttun… Sie war kurz wach geworden, als sie anhielten, um Entwarnung zu geben, hatte sich nach vorn gebeugt und ihr Kinn auf der Schulterlehne des Beifahrersitzes gestützt. Den sanften Hauch ihres Atems spürte er immer noch an seinem Ohr. Shinichi schluckte, massierte sich mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger seiner rechten Hand die Stirn. Die Erleichterung war den Polizisten ins Gesicht geschrieben gestanden; da sein Vater ihnen aber nicht sagen konnte, wo das Hauptquartier war, weil er ja nur in den Wald gefahren war um sie zu suchen – Shinichi hatte an der Stelle wirklich, wirklich aufpassen müssen, nicht laut zu lachen oder auch nur bitter zu lächeln – waren sie, hinten und vorne eskortiert durch Polizeistreifen, nach Hause gefahren. Das war der Zeitpunkt gewesen, an dem auch er langsam müde geworden war. Man hatte ihn nicht angesprochen, und sein Vater, das ahnte er, würde den Teufel tun, etwas zu sagen. Und Ran – tja, Ran war tatsächlich eingeschlafen, noch während sein Vater draußen kurz mit Meguré gesprochen hatte. In diesem Moment, als er sie hinter sich leise Murmeln hörte, und bemerkte, dass sie wieder ins Polster der Rückbank gesunken war und schlummerte, hatte er sich eingestehen müssen, dass sie wirklich süß aussah, wenn sie schlief. Und dass sich das alles gelohnt hatte. Solange sie nur glücklich war, und unversehrt. Angesichts der also sehr offensichtlichen Tatsache, dass sowohl Ran, als auch Shinichi einigermaßen fertig mit der Welt aussahen, beließ man es für die Nacht mit der erfreulichen Wendung, die beiden Jugendlichen heil und am Leben zurück zu wissen. Ran war dann mit ihrem Vater nach Hause gefahren; sie war kaum wach geworden, als ihr Vater sie in sein Auto gehoben hatte. Er hatte es nicht über sich gebracht, mit Shinichi zu sprechen; schlicht und ergreifend, weil er nicht wusste, ob er sich bedanken sollte, dafür, dass er seine Tochter wieder hatte, oder er ihm den Kopf abreißen sollte, dafür, dass er sie überhaupt erst in solche Gefahr gebracht hatte. Allerdings hatte, und das war auch dem jungen Detektiv aufgefallen, Kogorô ihm länger ins Gesicht geschaut hatte, als es nötig gewesen wäre. Und er fragte sich, ob er etwas ahnte. Ob man es ihm ansah… Ob in seinen Augen etwas zu lesen war, das er nicht verheimlichen konnte. Shinichi selber hätte ihm Stehen schlafen können. Er hatte sich auch jetzt nicht über sein wiedergefundenes Gedächtnis geäußert, und sein Vater tat es auch nicht. Er wollte seine Ruhe, wollte sich erst einmal selber über die Dinge klar werden, ehe er sich diesem ganzen Mist würde stellen müssen. Die vielen Fragen beantworten würde müssen. Antworten auf Fragen geben, von denen er nicht wusste, ob er sie geben wollte. Entscheidungen treffen musste, von denen er nicht sicher war, ob er das konnte. Überhaupt... Allerdings, dessen war er sich ziemlich sicher, hatte Ai es bemerkt. Der Blick in ihren Augen hatte mehr gesagt als tausend Worte. Sie hatte es gespürt. Und er dankte ihr im Stillen, dass auch sie nichts gesagt hatte. Und nun lag er im Bett, todmüde, und doch irgendwie auf einmal viel zu aufgewühlt, um Schlafen zu können. Erst jetzt, da alles still und ruhig war, drangen all die Fragen auf ihn ein, die sich stellten, hörte er sie in seinen Ohren rauschen, spürte sie in seinen Fingern prickeln, in seinem Magen rumoren. Und diese Bilder vor seinen Augen. Jetzt, da er wieder wusste, was passiert war. Jetzt… Er atmete aus, tief. Langsam wurde ihm erst wieder klar, in welchem Dilemma er tatsächlich steckte. Er wusste, er konnte nur noch bis morgen geheim halten, dass er sein Gedächtnis wieder hatte; bis Ran aufwachte. Sein Vater würde ihn sicher nicht verraten, aber Ran – Ran würde die freudige Nachricht sofort verbreiten wollen. Ran. Er geriet ins Grübeln. Dachte an den Blick in ihren Augen, als sie erkannt hatte, dass er wieder zurück war; im Verhörraum. Dachte an das kurze Gespräch im Büro seines Vaters in der Chefetage; er wusste, was sie hören wollte. Eigentlich gab es auch nichts, das er ihr lieber sagen wollte. Nichts wünschte er sich mehr, als morgen einfach aufzuwachen, all seine Probleme gelöst vorzufinden, und ihr endlich, endlich sagen zu können, was er für sie empfand. Ich liebe dich. Wirklich, weißt du… aber ich weiß nicht, wann der Zeitpunkt kommt, es dir auch zu sagen… Er würde ihr alles erzählen, solange er sie glücklich machte damit. Nur diese drei Worte kamen ihm nicht über die Lippen, nicht jetzt. Noch nicht. Und dabei, das wusste er, wartete sie nur darauf; jetzt noch mehr als je zuvor, weil sie es doch wussten. Sie wussten beide, was sie füreinander empfanden. Aber erst, wenn sie es aussprachen, dann würde es… echt sein. Erst ab dann galt es. Aber… Angesichts der Entwicklung, der Umstände, in denen er immer noch steckte, war es da schlau, jetzt eine Beziehung mit ihr anzufangen? War er überhaupt fähig für so etwas? Und dennoch wollte er. Am besten jetzt gleich. Er schluckte, als er sich an jene Nacht erinnerte, als er nach seiner Flucht aus dem Krankenhaus in der Küche der Môris auf sie gestoßen war. Es ist der schiere Wahnsinn, was diese Gefühle mit einem anstellen. Shinichi seufzte, massierte sich die Schläfen. Das Gefühl, sie in den Armen zu halten, die Wärme ihres Körpers zu spüren, ihren Atem auf seinem Gesicht… und erst der Kuss. Er merkte, wie es auf seinen Lippen leicht zu kribbeln anfing. Wie gerne würde er das wiederholen, am besten jetzt gleich. Und es noch einmal spüren, dieses absolut irre Gefühl, von ihr geliebt zu werden. Es nicht nur zu ahnen, zu wissen, sondern es zu spüren, mit jeder Faser seines Körpers und jedem Gedanken seines Seins, einzig und allein in dem Augenblick, wenn sie sich an ihn drückte, ihre Finger in sein Hemd krallte und ihn an sich zog. Ein erneuter, noch lauterer Seufzer entfloh seinen Lippen, befreite sich aus einem irgendwo tief in seiner Brust gelegenem Ort. Er konnte sie vor sich sehen, ihr lächelndes Gesicht, ihre strahlenden blauen Augen; er konnte fast den Duft ihrer Haare riechen. Dann presste er die Lippen aufeinander uns schallt sich einen Idioten. Verdammt hör auf damit! Hör. Auf. Du hast momentan etwas Dringenderes zu tun… Allerdings gab es jetzt erst einmal ganz andere Probleme zu klären – nämlich seine nächsten Schritte in diesem Fall. Was sollte er machen? Sollte er seinen Vater denunzieren? Meguré anrufen und ihm die Wahrheit erzählen über einen seiner besten Freunde, über Yusaku Kudô? Sollte er ihn belasten, ihn in den Knast bringen, vor ein Gericht – das ihn zum Tode verurteilen würde? Er merkte, wie sein Innerstes zu Eis erstarrte. Ich könnte sein Todesurteil unterschreiben. Jetzt gleich. Was tu ich da eigentlich? Was soll ich Mutter sagen? Sie weiß wohl… noch gar nichts, von allem… Was hatte seinen Vater überhaupt dazu getrieben? Wollte er das eigentlich wissen? Was sollte er tun? Er brauchte eine Strategie für morgen… er musste wissen, wie er den anderen entgegentrat… was er der Polizei erzählte, und was nicht. Wie er diese Organisation ausheben konnte, restlos und endgültig. Dass er vor einer gewaltigen Aufgabe stand, das ahnte er. Verdammt, was mach ich? Was mach ich? Ich kann ihn nicht hinhängen, noch nicht, nicht, bevor ich nicht alles weiß, bevor ich einen Plan habe, bevor ich… Sherlock Holmes hat auch nie vorschnell mit Fakten und Theorien um sich geworfen, nicht, bevor er nicht das Bild als Ganzes sah… aberich seh hier nur Teile. Durcheinandergeworfen, mit dem Gesicht nach unten, nicht erkennbar und zum Teil noch verschollen. Das Bild hat immer noch weiße Flecken, Lücken, die muss ich erst füllen, bevor ich eine Entscheidung treffe, die so schwerwiegende Folgen hat… Aber trotzdem… …muss ich morgen der Polizei etwas erzählen… Sie werden kommen, sicher… Er wälzte sich unruhig auf die Seite, schluckte, merkte, wie ausgetrocknet sein Mund war. Sein Blick blieb an den beiden Gegenständen hängen, die neben ihm auf dem Nachttisch lagen; die Festplatte und der Brief von Sharon. Ihn würde interessieren, was aus ihr geworden war; er fürchtete allerdings, dass sie den Tatsachen ins Auge sehen mussten. Sharon… Chris… Vermouth… oder wie auch immer sie geheißen hatte, hatte diese Nacht kaum überleben können. Wenn sie nicht im Gefecht gestorben war, dann hatte man sie sicher hingerichtet als Verräterin. Shinichi schluckte, stellte zu seiner Überraschung fest, dass ihm das Schlucken außergewöhnlich schwer fiel, bei dem Gedanken, dass sie vielleicht tot war. Überhaupt… fühlte er sich momentan leicht planlos und etwas überfordert. Er hatte keine Ahnung, wie er weitermachen sollte; nun, da wer wusste, was gewesen war. Wer sein Vater war. Er ahnte, dass das Gespräch mit ihm unausweichlich war; immerhin hatte der ihm ja vor ein paar Tagen versprochen, ihn anzuhören. Sich alles anzuhören, was er ihm vorzuwerfen hatte, und das würde nicht wenig sein. Aber war er bereit, sich denn anzuhören, was er ihm zu erzählen hatte? Wollte er die Geschichte hören, die Yusaku Kudô zu dem gemacht hatte, wer oder was er war? Er merkte, wie in ihm wieder Wut hochkochte. Du hast mir mein Leben versaut, verdammt… Sowas hab ich nicht verdient, und Mutter auch nicht. Warum zum Henker hast du das getan? Warum hast du dich an ihre Spitze gesetzt? Einen guten Grund kann es dafür doch gar nicht geben… Gut, wahrscheinlich… warst du vielleicht in einer ähnlichen Situation wie ich. Aber es ist das eine, sich einmal diesem Druck zu beugen. Über zwanzig Jahre eine Organisation zu führen, die mordet, stiehlt, erpresst und betrügt, das… ist etwas anderes. Warum hast du nichts getan? Verdammt, warum… Warum hast du nie etwas getan… warum hast du nie etwas gesagt…? Mittlerweile war er wieder hellwach; Adrenalin strömte durch seine Adern, und er fragte sich beinahe, wie er angesichts diesen Problemen und dieser gewaltigen Aufgabe überhaupt an Schlaf hatte denken können. Seine Augen hafteten immer noch auf der Festplatte. Vielleicht wäre das ein Mittel, ein paar weiße Flecken zu füllen. Auch wenn ich am liebsten einfach nur meine Ruhe hätte – am besten doch gleich wieder alles vergessen möchte… sollte ich mir das mal ansehen. Allzu viel Zeit kann ich mir nicht lassen… die wissen, dass ich wieder alles weiß, die wissen, wer Vater ist, ich fürchte… die Reaktionszeit wird nicht lange sein. Der Gegenschlag wird bald kommen… und wir müssen dem zuvor kommen. Aus der Nummer komm ich nicht raus. Und sie verlässt sich auf mich. Silver bullet. Aus irgendeinem Grund traut sie mir das zu. Er lächelte bitter. Weiß der Geier, warum. Unwillig schälte er sich aus dem Bett; anscheinend kam er doch noch nicht so schnell zum Schlafen. Er griff nach der Festplatte, schlüpfte in einen Hausmantel und schlich sich leise aus seinem Zimmer, die Treppe runter, ins Arbeitszimmer. Schaltete den PC ein und stöpselte die Festplatte an, wartete, bis er auf die Daten zugreifen konnte, unterdrückte ein Gähnen. Das blaue Licht des Bildschirms tauchte den Tisch und seine Hände in gespenstisches Licht. Er merkte, wie sein Puls zu rasen anfing, als er die Festplatte öffnete, sich die Ordner anzeigen ließ. Las die Titel der einzelnen Dateiordner, und merkte, wie ihm das Blut in den Adern zu gefrieren schien. APTX 4896 – Stand Atsushi und Elena Miyano APTX 4896 – Stand Shiho Miyano Versuchsperson a_Sharon Vineyard Versuchsperson b_Alan Vineyard_(†) Fall_Miyano Fall_Starling Fall_Hondo Fall_Kudô Shinichi schloss die Augen, fuhr sich mit eiskalten, schweißnassen Händen über sein Gesicht. Sein Puls raste. Fall Kudô. Dann zwang er sich, die Augen wieder zu öffnen, riss sie weiter auf als Nötig, um die restlichen Ordnernamen zu lesen. Neben ein paar weiteren „Fällen“ beinhaltete die Festplatte noch die Kassenberichte, Mitgliederlisten und Lagepläne der Gebäudestruktur sowie Grundrisszeichnungen. Dann klickte er auf die Akte Fall_Miyano, öffnete sie; seinen eigenen Fall zu öffnen brachte er nicht über sich. Wahrscheinlich würde ihn dort nichts neues erwarten, aber sich selbst als wissenschaftliches Experiment auf einer Festplatte zu finden bereitete ihm doch einigermaßen großes Unbehagen. Zwei Unterordner kamen nach dem Doppelklick auf „Fall Miyano“ zum Vorschein; er klickte auf den ersten, und fand eine minutiöse Auflistung der Forschungsergebnisse, ein genaues Protokoll über die Beschlussfassung der Ermordung des Ehepaars Miyano, sowie den genauen Verlauf der Exekution, und eine wasserdichte „Unfall“-Version für die Hinterbliebenen. Dazu noch ein paar Berichte, die erst zu der Ermordung des Ehepaars geführt hatten. Einer davon war von Scotch. Reporting Member: Scotch Forschungsbericht „Operation Jungbrunnen“ Medikament: APTX 4869 Atsushi und Elena Miyano zeigen in den letzten Wochen leider unerfreulichen Widerstand gegen die weitere Erprobung des sich in der Entwicklung befindlichen Apoptoxins. Ziel des Gifts ist nach wie vor eine dauerhafte Verjüngung des Menschen zu erreichen; bis dato reicht es leider nur als hervorragendes Mittel zur spurenlosen Liquidierung. Das erste freiwillige Testsubjekt (Alan Vineyard) ist nach kurzer Zeit an den Folgen des Giftes gestorben, weshalb einige Modifikation vorgenommen werden mussten. Nach vielversprechenden Testreihen an Mäusen wird nach einem zweiten Testsubjekt gesucht; allerdings sträuben sich die Miyanos, weitere Versuche am Menschen durchzuführen. Ich schlage daher vor, diese Arbeitsbehinderung durch ein Abziehen des Ehepaars Miyano vom Fall zu beheben. Da die beiden Forscher merkliche ethische Skrupel, was die Arbeit unserer Organisation generell betrifft zeigen, schlage ich vor, das Ehepaar dauerhaft handlungsunfähig zu machen. Ergebenst, Scotch Darunter die handschriftliche Notiz. Bewilligt, Cognac Seine Haare stellte sich auf. Dann klickte er eifrig weiter, um sich nicht zu lange mit seinen persönlichen Problemen aufzuhalten. Es folgte ein Zeitungsartikel über den Unfall der Miyanos, gefolgt von einem Exekutionsbericht, der den Unfall ad absurdum führte; Shinichi überflog ihn, merkte, wie ihm flau im Magen wurde. Shihos Eltern… wurden wirklich ermordet… Und er hat es gestattet. Er hat… Er überwand sich, klickte sich weiter durch die Ordner. Der zweite Unterordner dieser Akte befasste sich mit der Ermordung Akemi Miyanos. Seine Augen blieben an einer Passage hängen. Er schluckte schwer, als er die Zeilen las. … aufgrund des hohen Störpotentials durch Akemi Miyano, das sich als arbeitsschädlich auf das Werk ihrer Schwester Shiho auswirkt, wird mit der heutigen Sitzung die Liquidierung Akemi Miyanos beschlossen. Das Vorgehen ist folgendes: Miyano A. wird mitgeteilt, dass sie ihre Schwester freikaufen könne. … Die Geschichte kannte er. Shinichis Augen glitten nach unten. Der Auftrag zur Liquidierung wird dem Mitglied Gin übertragen. Beschlossen durch: Darunter waren vier Unterschriften zu sehen. Absinth. Rum. Cachaça. Cognac Eindeutig die Schrift seines Vaters. Ihm wurde schlecht. Shinichi stieß sich vom Tisch ab, stand auf, ging ein paar Schritte zurück, atmete schwer. Immer wieder strich er sich mit den Händen durch die Haare. Dann schluckte er hart, ging zurück, setzte sich an den Tisch. Nach ein paar weiteren tiefen Atemzügen griff er wieder nach der Maus. Im Anschluss wurden noch ein Foto und eine Sounddatei aufgeführt; er sparte sich, sich das Bild anzusehen; er war dabei gewesen, als sie gestorben war. Akemi. Shinichi schluckte schwer, massierte sich die Schläfen, als er sich der Tragweite dieser ganzen Ereignisse bewusst wurde. Deine Schwester, Shiho, starb, weil mein Vater den Befehl dazu gab. „Verdammt…“ Er schloss die Datei. Das alles war schön und gut; Beweise waren genügend vorhanden, da hatte Sharon nicht gelogen. Allerdings half ihm das noch nicht weiter, was die Zerstörung dieses Syndikats betraf. Dass er sie zerstören musste, war ihm in den vergangenen Minuten so klar wie nie zuvor geworden. Und dafür… waren wohl ganz andere Dinge viel interessanter. Sein Blick fiel auf die Ordner „Mitgliederliste“ und „Lagepläne“. Damit war sicher was anzufangen. Allerdings fragte er sich dennoch, warum ausgerechnet ihm die Ehre zuteilwurde, sich mit der Entsorgung dieses verrottenden Apfels zu beschäftigen. Wenn es so einen Fundus gab, hier, auf dieser Festplatte – warum hatte sie es nicht selbst erledigt? Warum musste er das machen? Seine blauen Augen starrten unfokussiert auf den Monitor. Warum ich? Nur weil ich so ein Gerechtigkeitsfanatiker bin? Nur weil ich nicht in den Knast wandere, wenn ich euch den Garaus mache – wenn ihr es selber tätet, müsstet ihr euch outen, und ihr wärt genauso dran wie eure Mittäter. Aber kann das ein Grund sein? Kann man so feige sein? Ist es deshalb, weil ich bis an die Grenzen gehe… weil es mir egal ist, was aus mir passiert? Übersteht denn so eine Silberkugel den Schuss? Was wird aus ihr, wenn sie getroffen hat? Wird sie ebenso zerstört? Mit Sicherheit wird sie gezeichnet sein… nie mehr so makellos und rein sein, wie sie es war. Auf was hab ich mich eingelassen, Sharon, warum ich? Warum ich? Er seufzte. Wahrscheinlich gab es gar keine echte, logische Begründung. Er hatte den Fehler gemacht, ihr in New York das Leben zu retten, und nun hatte er den Salat. Anscheinend hatte er dermaßen Eindruck geschunden, dass sie seither auf diesen Augenblick hingearbeitet hatte. Sie wusste, er hatte die Vorrausetzungen dafür; er war schlau, er war entschlossen und mutig genug. Oder einfach nur dumm. Ein bitteres Lächeln glitt ihm über die Lippen. Er wusste, er würde es jederzeit wieder tun. Er würde jederzeit wieder jedem Menschen das Leben retten, sofern er in der Lage dazu war. Und er würde auch vor dieser Aufgabe nicht davonlaufen. Es bedurfte wirklich keiner logischen Begründung, um jemanden zu retten. Genausowenig, wie der Kampf gegen ein Verbrechersyndikat wie der Schwarzen Organisation einer bedurfte. Aber braucht es auch keinen Grund… um jemanden zu verzeihen? Er seufzte, dann doppelklickte er auf die Mitgliederliste, öffnete die Worddatei, wunderte sich, warum es ihn nicht wunderte, zahllose prominente Namen zu lesen. Sein eigener war netterweise auch schon darunter. Fast entfuhr ihm ein Lachen, allerdings nur fast. Er druckte die Liste aus, wandte sich dann den Plänen zu. Das ist nun doch schon deutlich interessanter. Vor seinen Augen öffneten sich detaillierte Pläne über die Räumlichkeiten der Schwarzen Organisation. Darunter einige Pläne, die sich mit Geheimgängen befassten; ähnlich dem, den sie zu ihrer Flucht benutzt hatten. Shinichi lächelte. „Interessant.“ Er griff nach einem Blatt Papier, begann sich Notizen zu machen, druckte einzelne Pläne aus. Wollte er diese Organisation ein für alle Mal vernichten, musste er sicher gehen, dass sie alle in diesem Gebäude, am allerbesten in einem Raum, anwesend waren. Langsam manifestierte sich in seinem Kopf ein Ansatz. Wenn so viele prominente Gesichter darunter waren, so viele Personen der Öffentlichkeit, dann reichte es nicht, eine Mitgliederliste zu haben. Diese Leute hatten die besten Anwälte, und so eine Liste allein bewies noch gar nichts – aber sie half ihm, all diese Leute zu kontaktieren. Und das würde er tun. Genau jetzt. Langsam wandelte sich der Schock in Tatendrang, führte ihn heraus aus einer gefühlten Handlungsunfähigkeit von vor ein paar Minuten. Er verließ den Allgemeinbenutzer auf dem Computer, meldete sich ab, und wählte das Profil seines Vaters. Mit etwas Glück fand er hier auch seine… Firmenemailadresse. Und von dieser Adresse aus würde er einen Verteiler einrichten, der alle Mitglieder zu einem Treffen bat. Das Treffen würde einen triftigen Grund brauchen, aber den würde er sich ausdenken – da fand sich sicher etwas Nettes. Shinichi grinste breit. Die Enttarnung ihrer zweiten Identität war so ein Grund. Sie würden wie die aufgescheuchten Hühner angerannt kommen. Und er würde da sein. Allerdings nicht die Polizei. Es war davon auszugehen, dass man die Augen doppelt wachsam offenhalten würde, nun, da er frei war, und sich in der Organisation wohl keiner mehr der Position ihres Chefs sicher war. Für diese Aktion hatte er genau eine Chance; eine zweite würde er nicht kriegen. Gedankenversunken starrte er auf den Bildschirm, als ihn die Anmeldeaufforderung wieder in die Realität zurückholte. Benutzername:_ Passwort:_ Auch bei Professor Agasa brannte noch Licht. Heiji saß mit einer Tasse Kaffee am Tisch, auf seinem Gesicht ein nachdenklicher Ausdruck wie man ihn selten sah; ihm gegenüber Ai und Shuichi Akai. Der Professor war bereits ins Bett gegangen. Heiji jedoch hatte nicht schlafen können, und irgendetwas sagte ihm, dass dieses kleine Mädchen etwas zu sagen hatte. Akai war als Aufpasser abgestellt worden; nun, da die Hütte langsam aber sicher wirklich am Brennen war, hatte man es nicht gewagt, den Professor, das Mädchen und die beiden Jugendlichen aus Osaka allein zu lassen. Vor dem Haus der Kudôs stand eine Polizeistreife, James Black und Jodie Starling waren mit zu den Môris gefahren. Ai schlürfte leise an ihrer heißen Schokolade. „Er weiß es.“, bemerkte sie dann nüchtern. Ihre Stimme klang sachlich, nicht der Hauch einer Emotion war darin zu hören. Sie war ihm unheimlich, und wurde ihm immer unheimlicher. Etwas genervt atmete er aus, provozierte kleine Ringe auf der Oberfläche seines Kaffees. „Wer weiß was? Kannste vielleicht etwas deutlicher werden?“ Ai warf ihm einen kurzen, eindeutig genervten Blick aus Halbmondaugen zu. „Der Blick in seine Augen war zu eindeutig, auch wenn er aufgepasst hat, sich nicht zu verraten. Hast du das nicht gesehen?“ „Weißte, eigentlich kuck ich Kudô so tief nich in die Augen…“, giftete Heiji gereizt. „Also, was is nu?“ Das rotblonde Mädchen schüttelte seinen Kopf. „Das hättest du mal sollen. All die Tage jetzt, waren sie… leer; fragend, suchend, aber leer. Heute aber… war in ihnen nur Chaos. Schmerz, Wut, Hass, Verzweiflung. Eine teuflische Mischung.“ Sie schaute auf. Heiji starrte sie an, presste seine Lippen kurz zusammen. In seinem Gesicht stand die Ungeduld deutlich zu lesen, dahinter drei Ausrufezeichen. Akai lehnte sich zurück, ließ dabei die Straße vor dem Fenster nicht aus den Augen. „Er hat seine Erinnerungen wieder.“, bemerkte er dann sachlich. Ai nickte ernst, schaute auf ihre kurzen Kinderfinger, die sie auf der Tischplatte flachdrückte. Heiji ächzte, beugte sich nach vorn. „Bitte, WAS?!“ Er stürzte zum Fenster, seine Augen suchten die in Dunkelheit getauchte Villa der Kudôs. Dann drehte er sich wieder um, sichtlich aufgewühlt. „Warum sagt er denn nichts? Wär ja nich‘ so, als ob wir alle Zeit der Welt hätten, ihm muss doch klar sein, dass…“ Ai seufzte, schaute ihn aus unergründlichen Augen ruhig an. „Ich sagte dir doch, man hat es ihm angesehen. Seine Welt steht Kopf, gerade, ich will nicht wissen… wie es in ihm aussieht. Lass ihm Zeit, zu sich zu kommen. Du weißt, der Boss ist jemand, mit dem ihn viel verbindet. Du weißt, er hat viel durchgemacht. Er… muss in Ruhe darüber nachdenken. Er wird sich die Zeit nehmen, die er braucht, und die er sich nehmen kann, angesichts der Entwicklungen, das weißt du. Er wird nichts tun, das uns gefährdet. Aber überstürzt handeln wird er auch nicht.“ Akai nickte langsam. „Aber…“, begann Heiji entrüstet, drehte sich unwirsch um, um anschließend wieder zum Haus der Kudôs zu starren, ganz so, als versuche er seinen Detektivkollegen mit purer Gedankenkraft herauszulocken. „Kein aber.“ Ai schnitt ihm das Wort ab. „Lass ihn in Ruhe. Er wird kommen, wenn er etwas zu sagen hat. Und du weißt genauso gut wie ich, dass er der letzte Mensch ist, der diesen Haufen Abschaum davon kommen lassen wird.“ Heiji seufzte, strich sich durch die Haare. „Ich hoffe, ihr habt Recht. Kudô… tendiert leider dazu, manchmal etwas emotional zu reagieren, gerade wenn es um Menschen geht, die auf irgendeine Weise Vorbild für ihn sind. Die er zu kennen glaubte, und in denen er sich getäuscht hat.“ Heiji trat zurück an den Tisch, setzte sich. In Gedanken war er bei jenem Abend, als er es einmal hatte mitansehen müssen… zusehen hatte müssen, wie Shinichi stur nicht glauben wollte, dass er sich in seinem Idol so hatte täuschen können. So stur gewesen war, dass er sich geweigert hatte, diese Option überhaupt in Betracht zu ziehen. Ai schaute ihn fragend an. „Das hört sich an…“ „Als ob ich das schon erlebt hätte? Hab ich. Der Fall Ray Curtis.“ Shuichi hob interessiert die Augenbraue. „Die eiserne Festung?“ „In diesem Fall wohl eher der König des Freistoßes.“, murmelte Heiji bedächtig. „Aber ja, genau dieser Ray Curtis. Der Profifußballer. Das große Idol unseres Fußballfanatikers Shinichi Kudô.“ Er warf einen nachdenklichen Blick auf das Nachbargebäude. „Ich hatte bis dahin keine Ahnung, dass er so sein kann. Dass er so begeistert für eine andere Sache is‘ außer für seinen Holmes. Dass er tatsächlich ein existierendes Idol hat. Und dass er in seiner Sicht so festgefahren sein kann.“ „Nun mach’s nicht so spannend.“, meinte Akai kühl. „Allerdings.“, stimmte Ai ihm zu. „Was war denn nun?“ „Ray Curtis sitzt mittlerweile im Knast; Shinichi hat ihn dann doch überführt. Es ging um einen Mordfall bei der Neueröffnung eines Restaurants, das Curtis zusammen mit Ricardo Balleira und Mike Norwood gegründet hatte. Wir warn als Gäste da – also ich, der Kurze, Ran und Onkelchen. Der Mord geschah während des Abends; ein Klatschreporter war getötet worden. Der Verdacht lag nahe, dass einer der drei Ex-Profisportler späte Rache genommen hatte; das sah Shinichi schon genauso. Aber für ihn kam Ray für den Mord einfach nicht in Frage. Schlicht und ergreifend, weil es Ray war. Ich hab mich mit ihm gestritten, deswegen.“ Er seufzte. „Er hat weiter ermittelt, fest entschlossen, den Mann zu entlasten, und hat doch nur immer mehr Beweise für seine Schuld gefunden. Irgendwann kam er nicht mehr umhin, es zu sehen.“ Heiji kratzte sich am Kopf. „Die Sache war sehr unschön. Die Enttäuschung in seinen Augen, und die Anklage, die er seinem Idol an den Kopf geworfen hat… aber er hat’s gemacht. Immerhin kann man ihm nicht Betriebsblindheit vorwerfen; allerdings hat die Einsicht etwas gedauert… und ich fürchte, die Zeit für lange Einsichtsprozesse haben wir diesmal nicht.“ „Du hast ihm also doch mal in die Augen geschaut.“, frotzelte Ai. Heiji warf ihr einen ungnädigen Blick zu, schüttelte dann den Kopf. „Ich meine, wenn’s der ist, den ich für den Boss halte, dann…“ Akai sah ihn nachdenklich an. „Ich denke, die Einsicht muss er nicht mehr gewinnen. Er kennt die Wahrheit. Einzig und allein, wie er damit umgeht, dafür braucht er noch ein wenig Zeit.“ Ai nickte. „Ich denke auch, zumindest die wenigen Stunden bis zum Morgen sollten wir ihm lassen. Dann wird er ohnehin nicht mehr verheimlichen können, dass er es weiß…“ Ai gähnte. „Und ich für meinen Teil hau mich solange aufs Ohr. Ich bin schließlich noch ein kleines Kind und brauch meinen Schlaf. Gute Nacht, die Herren.“ Sie rutschte vom Stuhl, schlurfte in ihren Puschelpantoffeln aus der Küche, gähnte leise. Akai schmunzelte kurz, wurde aber sofort wieder ernst. Er trat in durch die Tür, bemerkte nicht, dass im Arbeitszimmer jemand war. Yusaku hatte nun schon zum dritten Mal versucht, sie zu erreichen, erfolglos. Sharon. Wahrscheinlich mussten sie der Wahrheit einfach ins Gesicht sehen. Vermouth war tot. Dann wurde er sich gewahr, dass er nicht allein war. In der Tür stand er, starrte ihn unverwandt an. Shinichi zog die Festplatte ab, hielt sie so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten, schaltete den Computer aus. „Ich nehm sie dir nicht weg.“ Shinichi erwiderte nichts, ließ seinen Vater nicht aus den Augen, der die Tür hinter sich schloss und langsam näher trat. „Wenn du denkst, dass ich jetzt mit dir darüber rede, irrst du dich.“ Shinichis Stimme klang bissig. „Ich seh nicht ein…“ „Das ist nicht sehr fair von dir.“ Yusaku massierte sich die Schläfen. „Was ist schon fair.“ Sein Sohn lachte bitter auf. „Nach den letzten Erkenntnissen muss ich leider feststellen, dass dieses verdammte Leben auch nicht fair zu mir war. Da braucht es von mir auch keine Fairness erwarten.“ Er strich sich über die Oberarme, starrte zu Boden, blinzelte. Yusaku konnte genau sehen, wie sehr Shinichi kämpfte, mit den Ereignissen der letzten Tage. „Ich sehe, an deiner Einstellung mir gegenüber hat sich nichts geändert.“, seufzte der Schriftsteller. Shinichi blickte auf, in seinen Augen ein merkwürdig mitleidiger Ausdruck. „Ich bitte dich, sei realistisch. Du bist der Boss des wahrscheinlich größten Verbrechersyndikats in Japan, allein das reicht für mich, um dich zu verabscheuen, abgesehen mal davon, was du mit mir die letzten Tage und Jahre veranstaltet hast.“ Er wollte sich an ihm vorbeidrücken, aber Yusaku hielt ihn fest. Shinichi schüttelte unwillig seine Hand ab. „Was hast du jetzt vor?“ „Zur Polizei gehen. Zum FBI. Was sonst?“ Shinichi schaute ihn nicht an, als er sprach. „Das schaffst du?“ „Was? Dich hinzuhängen?“ Der junge Detektiv kaute auf seiner Lippe, stöhnte auf. „Verdammt, es wäre schön, wäre es so einfach.“ Er sah auf. „Ich will dich hassen. Ein Teil von mir tut das auch. Aber wenn ich dich an die Polizei ausliefere, dann bringen… dann bringen die dich um.“ Seine Stimme war auf ein kaum hörbares Minimum gesunken, und das Entsetzen, das dieser Gedanke bei ihm auslöste, war nur zu deutlich in seinem Gesicht zu lesen. Ein Zittern durchlief seinen Körper. „Ich kann dich nicht laufen lassen. Aber hinhängen… wenn ich dich hinhänge, dann unterschreibe ich dein Todesurteil. In Japan gibt’s die Todesstrafe, wie du weißt, ja noch – und für deine Taten…“ Yusaku seufzte schwer. „Würde ich sie bekommen. Und man würde sie auch ausführen.“ Er sah, dass Shinichi würgte bei dem Gedanken. Alles in ihm rebellierte, und er wusste, dass ihn diese Entscheidung zerriss. Dass er sie eigentlich nicht treffen wollte. Er würde sie treffen, nichtsdestotrotz. „Hör zu.“, murmelte Yusaku leise. „Es tut mir Leid, dass du…“ Shinichi schaute auf, in seinen Augen blitzte die blanke Wut. „Es tut dir Leid?! Und was hilft mir das?!“ Er schrie ihn an, sein Atem ging schnell. Dann verstummte er, schaute hektisch in den Flur, lauschte. Alles blieb ruhig. Als er weitersprach, senkte er deutlich seine Stimme, der scharfe Tonfall jedoch blieb. „Verdammt, was hast du dir dabei gedacht – ach was, nein, lass stecken, ich will es gar nicht wissen, ich kann das ohnehin nicht verstehen, wie man…“ „Shinichi!“ Yusaku stand da, herrschte seinen Sohn an. „Nun lass mich dir doch erklären, was-…“ „Ich will's nicht hören! Es interessiert mich nämlich nicht, warum du dort warst.“ Shinichi atmete gepresst aus. „Lass mich in Ruhe.“ Damit drückte er sich an ihm vorbei, stieg die Treppe in sein Zimmer hoch. Yusaku starrte ihm hinterher, wortlos. Shinichi seinerseits stand in seinem Zimmer, seufzte. Ihm kam vor, als würde sich sein Kopf unabhängig von seinem Körper drehen, so schnell fuhren seine Gedanken darin Karussell. Er würde hier nicht bleiben, nicht heute Nacht. Er hatte das Gefühl, dass die Decke ihm auf den Kopf stürzen würde, bliebe er hier. Er musste hier raus. Dringend. Einen klaren Kopf bekommen, nachdenken, und das ging nicht hier – nicht hier, wo er Tür an Tür mit seinem Vater war. Er griff in den Schrank, zog sich ein paar Sachen heraus und schlüpfte hinein. Er schob die Festplatte ein, vergewisserte sich, dass seine Tasche nicht einfach aus Versehen aufgehen konnte, und öffnete das Fenster. Die frische Nachtluft strich um seine Nase. Er seufzte tief, atmete die kühle Brise ein und schwang sich dann aus dem Fenster. Es war ja nicht das erste Mal, dass er ausbrach. Und so rutschte er das Verandadach nach unten und kletterte über das Rosenspalier, das unter seinem Gewicht etwas ächzte, nach unten. Weich landete er im Gras, schlich sich dann durch den Hinterausgang aus dem Garten und wanderte die verlassenen Straßen entlang. Sein Ziel war das Haus, das ihm in den letzten Jahren zu einem neuen Zuhause geworden war. Jodie stieß James an, als sie eine dunkle Silhouette näher kommen sah. Angestrengt starrte sie nach draußen, als sie die Person erkannte, die vor der Tür stehen geblieben war. Sie stöhnte leise auf, konnte sich ein leises Lächeln jedoch nicht verkneifen. „Mein Gott, der Kerl ist schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe.“ James lachte kurz. „In der Tat. Aber lassen wir ihn.“ Sie beobachteten, wie die Tür geöffnet wurde, und er sie sich hinter sich wieder schloss, lehnten sich wieder zurück. „Eigentlich sollte uns das aber schon zu denken geben.“, murmelte Jodie nüchtern, gähnte. Er hatte ihm geöffnet, stand nun wortlos vor ihm. Kogorô starrte ihn an, zögerte kurz; in ihm kochte es, all die Anspannung der letzten Tage suchte sich ein Ventil, wollte raus, an die Oberfläche – und der Verursacher dieser Anspannung stand vor ihm. Eigentlich die Gelegenheit. Shinichi holte Luft, wollte etwas sagen, aber Kogorô schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab, als es aus ihm herausbrach. „Du bist das Letzte, Shinichi Kudô. Weißt du eigentlich, in welche Gefahr du uns gebracht hast? Hast du eine Ahnung,-“ Shinichi biss sich auf die Lippen, wandte den Blick ab. „Mehr als jeder andere hier, fürchte ich.“ Kogorô stutzte, hielt inne. Erst jetzt sah er ihm genauer ins Gesicht, sah die Erschöpfung in seinen Zügen, aber noch etwas anderes. Und die Ahnung von vor ein paar Stunden bestätigte sich nun. Der Blick aus seinen Augen war ein anderer. Er kannte den Unterschied, er hatte ihn bereits einmal sehen dürfen – bei seiner Tochter. Bei Ran. Nichtsdestotrotz starrte er ihn ungläubig an. „Häh?!“ Shinichi hob den Kopf, blickte ihn aus müden Augen an. „Sie denken schon richtig, Herr Môri. Ich… weiß es…“ „Dann musst du zur Polizei.“ Der Mann drehte sich um, um die Treppe nach oben zum Telefonieren zu gehen. Shinichi schüttelte den Kopf, heftig, merkte, wie sein Kopf davon zu schmerzen anfing und ließ es wieder bleiben. Er eilte einen Schritt nach vorn, griff Kogorô am Arm. „Nein!“ Kogorô drehte sich um, sah ihn genervt an. „Hör zu. Es ist keine Zeit, den Helden zu spielen oder einen Alleingang machen zu wollen…“ „Verdammt, das weiß ich! Aber so einfach… ist das nicht, ich…“ Der Mann sah, dass es ihn fast zerriss. Shinichis Stimme klang gepresst, so als halte er nur mit Mühe zurück, was er eigentlich nur zu gern loswerden würde. Kogorô sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich. Shinichi schluckte, wandte den Blick nicht ab. „Bitte.“, flüsterte er schließlich. „Keine Polizei. Heute noch nicht.“ Er schluckte schwer. Kogorô schaute in nachdenklich an; Shinichis Reaktion ließ eigentlich nur eine Schlussfolgerung zu. „Du wirst mir nicht sagen, wer es ist, nicht wahr?“ „Nein. Ich… kann nicht. Nicht weil… ich es nicht wüsste.“ Er stöhnte auf, ließ Rans Vater los, rieb sich mit den Handballen über die Augen. „Ich kann nicht. Noch nicht. Ich wollte eigentlich nur… Ihnen meine aufrichtige Entschuldigung aussprechen, bevor wieder etwas dazwischen kommt.“ Ein bitteres Lächeln huschte ihm über die Lippen. „Und auch wenn es dreist in Ihren Ohren klingt, und seltsam, so wollte ich doch fragen, ob ich… heute Nacht noch einmal auf ihrer Couch…“ „Warum schläfst du nicht zuhause? Oder beim Professor?“ Kogorô hatte ihn unterbrochen, schaute ihn etwas verwirrt an. Eine Antwort wurde Shinichi allerdings erspart, als die Tür der Wohnung aufging und eine zerzaust aussehende Ran ihren Kopf aus dem Türrahmen steckte. „Paps, was ist los? Wer ist denn…“ Sie stockte, trat dann näher, auf ihrem Gesicht breitete sich eine Mischung aus Freude und Sorge aus. „Shinichi?“ Langsam stieg sie die Treppe runter. „Was machst du hier?“ Er strich sich übers Gesicht. „Ich fürchte, das weiß ich nicht, ich…“ Sie lächelte, umarmte ihn, vergrub ihren Kopf an seinem Hals. Er zögerte, ehe er die Arme hob, sie sanft an sich drückte, merkte, wie gut ihm diese flüchtige Berührung doch tat. Unsicher schaute er zu Kogorô, der kurz die Augen verdrehte. „Na schön. Aber du pennst auch wirklich auf der Couch.“ „Wird er nicht, Paps, und halt die Klappe bitte. Ich bin erwachsen.“ Sie löste sich von ihm, lächelte ihn an und zog ihn die Treppe hoch. Kogorô schaute ihnen nach, seufzte, zuckte dann mit den Schultern. „Ich kann dir sagen, warum du gekommen bist, Westentaschendetektiv.“, grummelte er leise, lächelte dann aber, allerdings nur kurz. Du bist nach Hause gekommen. Zu ihr. Ran zog ihn ins Zimmer, drückte hinter sich die Tür zu, schob ihn zum Bett. Shinichi zog sich etwas unbeholfen die Jacke aus. „Hör zu, die Couch wär absolut okay gewesen… ich will keinen Stress mit deinem Vater, Ran…“ „Den kriegst du schon nicht.“ Sie seufzte, nahm ihm die Jacke ab. „Aber nun, warum bist du wirklich da?“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Ich meine, ich freu mich, dich zu sehen, aber…“ Sie schaltete ihre Nachttischlampe an und erschrak, als sie den bedrückten, niedergeschlagenen Ausdruck in seinen Augen sah. „Ran, ist es… okay, wenn ich einfach nur hier bin?“ Er rieb sich die Augen. „Ich will eigentlich nicht darüber reden. Ich will… nur hier sein. Einfach nur hier sein, weil ich es woanders nicht aushalte, ich…“ Ran starrte ihn an. „Shinichi…“ „Bitte.“ Er starrte auf seine Finger, sah ihr dann ins Gesicht. „Bitte. Ich will nicht darüber reden, ich will nicht… darüber nachdenken, nicht einmal das. Ich will nur… hier sein. Ich weiß nicht genau warum, aber…“ Ein sanftes Lächeln huschte für Sekundenbruchteile über seine Lippen. „Doch, du weißt es, Shinichi.“, murmelte Ran leise. Sie streckte die Hand aus, strich ihm durch die Haare. „Du warst als Conan zwei Jahre hier. Und nun…“ Sie fing seinen Blick mit ihren Augen, lächelte ihn warm an. „Du...“ Sie brach ab. Er schluckte, sah sie an. Merkte, wie ihn das gleiche Gefühl von Hilflosigkeit ihr gegenüber befiel wie vor ein paar Tagen in der Küche. Sie schaffte es, ihn zu entwaffnen, ihm all seine Schlagfertigkeit zu nehmen, und dabei stand sie nur vor ihm, in ihrem Nachthemd, mit zerzausten Haaren und etwas Schlummer in den Augen. Und er wusste, dass er nichts mehr wollte, als einfach jetzt mit ihr zusammen zu sein. Sie festzuhalten, sie dicht an sich zu spüren, ihren Atem zu fühlen, ihr Leben… und ansonsten nichts weiter zu tun. Nur fühlen, dass du da bist… „Ich…“, begann er, brach dann ab. Dann griff er nach ihrer Hand, zog sie an sich, küsste sie auf die Stirn. Ran schluckte, legte seine Arme um ihn, schmiegte sich an ihn, merkte, wie er sie noch fester an sich presste, seine Arme um ihren Rücken und ihre Taille legte, seine Nase in ihren Haaren vergrub. … liebe dich… Shinichi kniff die Augen zusammen, seufzte leise. „Danke, dass du da bist, Ran…“, flüsterte er leise. Seine Stimme klang rau. Ran kniff kurz die Augen zusammen, merkte, wie sich in ihrem Hals ein Kloß bildete, beherrschte sich aber. Sie merkte, wie er sie langsam wieder los ließ, sah ihm eindringlich in die Augen. Sie sah, sie fühlte, dass ihn etwas bedrückte, mehr als das. Shinichi hatte echte Probleme, litt wirkliche Qualen. Ein leises Seufzen entfloh ihrer Kehle. „Immer für dich, das weißt du. Ich würde mir nicht vergeben, wäre ich das nicht. Allerdings wäre mir lieber, du würdest mir sagen, was los ist. Was passiert ist, Shinichi.“ Er lächelte bitter, schüttelte aber bestimmt den Kopf. „Ich kann nicht. Ich habs deinem Vater gerade gesagt. Es geht nicht. Noch nicht. Es… hängt zu viel daran… und momentan hab ich keine Ahnung, wie ich dem Herr werden kann.“ Müde ließ er sich auf die Bettkante sinken, stützte seine Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln ab. Langsam hob er den Kopf, griff nach ihrer Hand, zog sie neben sich. Ran ließ sich neben ihm aufs Bett sinken, kuschelte sich an ihn. Was ist nur passiert, dass es selbst für dich zu viel wird, Shinichi? Er spürte, wie sie Luft holte, ahnte, dass sie etwas sagen wollte; und er sollte sich nicht irren. „Du musst mir nicht sagen, was passiert ist. Wir müssen über überhaupt nichts reden.“ Shinichi drehte den Kopf etwas, um ihr in die Augen zu sehen. „Aber?“ Ran presste ihre Lippen zusammen. „Ich weiß nicht, ob es dir hilft, aber… ich schätze, dass der Fall wohl eingetreten ist.“ Sie lächelte traurig. Er schaute sie perplex an. „Welcher Fall?“ Sie konnte nicht widerstehen, gab ihm einen kurzen Kuss auf die Nase, ehe sie ihre Stirn gegen seine lehnte, griff nach seinen Fingern. „Erinnerst du dich… ich hab dich mal gefragt, was du tun würdest, hättest du den Verdacht, dass jemand aus deinem Umfeld, in diesem Fall war es Professor Agasa, ein schweres Verbrechen, zum Beispiel einen Mord, begangen hätte.“ Sie merkte, wie er erstarrte, seine Augen kurz in die Leere blickten. Dann wandte er sich ihr wieder zu, das Leben schien ihn in zurückzukehren. „Ja. Ich erinnere mich.“ „Ich weiß es auch noch ganz genau.“ Ran lächelte, strich ihm über die Augenbraue. „Ich fragte dich, ‚Was würdest du tun, wenn du herauskriegst, dass Professor Agasa ein Mörder ist?‘- und weißt du noch deine Antwort?“ Er nickte. „Ihn darauf ansprechen.“ Sie schluckte, schaute ihn fest an. „Sowas würdest du dich wirklich trauen?“ Er wandte den Kopf nicht ab. Ein erstaunlich ernster Ausdruck war auf sein Gesicht getreten, als er in die Vergangenheit eintauchte. „Ich würde ihm direkt ins Gesicht sagen: ‚Sie sind ein Mörder, Professor.‘“ Ran blickte ihn aufmerksam an, dann lächelte sie kurz, als sie ihre Worte von damals wiederholte. „Cool… ich bewundere dich, Shinichi.“ Er schaute kurz weg, als er über seine Antwort nachdachte; er sah die Szene lebhaft vor seinen Augen. „Das hat doch mit cool nichts zu tun. Ich würde ihn nur darauf ansprechen, wenn ich hundertprozentig sicher bin. Bevor man jemandem unterstellt, ein Verbrecher zu sein, sollte man sauber recherchiert haben, aber die Wahrheit muss immer ans Licht…“ Ran griff sein Gesicht mit beiden Händen, sah ihn ernst an. „Und bist du dir wirklich sicher, hast du Beweise dafür…? Hast du sauber recherchiert?“ Shinichi schaute sie an, ernst. Atmete tief ein und aus, ehe er antwortete. „Ja.“ Dann schüttelte er den Kopf, seine Züge etwas gelöster. „Ich muss mit ihm sprechen, du hast ja Recht. Ich wollts eigentlich vermeiden, weil es mich… aber du… hast Recht. Und ich auch, seinerzeit. Ich muss wohl…“ Ran drückte sich an ihn. „Das ist der einzige Weg aus deinem Dilemma, Shinichi. Wenn er dir solche Entscheidungen aufdrückt, dann musst du wissen, wieso. Auch wenn dich der Gedanke abstößt, angesichts dessen, was du durchmachen musstest, wegen dieser Person. Auch wenn dir das nicht leichtfällt.“ „Ich weiß ja.“ Er rieb sich über die Augen. „Eigentlich weiß ich es ja. Ich… es ist nur…“ „Die Realität ist härter als jedes Gedankenspiel.“ „So sieht’s aus.“ Bedächtig nickte er, sah sie dann an, lächelte kurz. „Danke fürs Gedankensortieren.“ Ran schüttelte den Kopf. „Nichts zu danken. Ich wünschte, ich könnte…“ „Scht.“ Er legte ihr den Finger auf die Lippen, schüttelte den Kopf. Sie seufzte, löschte das Licht. Er ließ sich nach hinten sinken, zog die Decke hoch, nahm sie in den Arm, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie kuschelte sich an ihn, lauschte noch lange in die Dunkelheit, hörte seinen ruhigen Atem, wusste, dass er eingeschlafen war. Und machte sich Sorgen. Ihr war nicht entgangen, dass er es immer noch nicht sagen wollte. Ich liebe dich. Kapitel 44: Kapitel 26: In Konflikt mit dem Gesetz -------------------------------------------------- Tja Leute, neue Woche, neues Spiel. Über Kommentare würde ich mich wie immer freuen, nachdem ich mir hier so ne Mühe mit der Geschichte geb - isses sehr interessant zu erfahren, wie sie denn bei euch ankommt :) Beste Grüße, Leira ____________________________________________________________________________ Kapitel Sechsundzwanzig: In Konflikt mit dem Gesetz Am nächsten Morgen konnte Kogorô Môri es sich nicht verkneifen, möglichst lautlos die Tür zum Zimmer seiner Tochter zu öffnen. Langsam, Millimeter für Millimeter drückte er die Klinke runter, bis er es leise Klicken hörte; dann schob er die Tür auf, ebenfalls Millimeter für Millimeter, hielt den Atem an. Im Zimmer war alles absolut ruhig. Frischer Wind blies durch das geöffnete Fenster in den von der Sonne halb erhellten Raum. Er kniff die Augen zusammen, späte zum Bett. Friedlich lagen sie da und schlummerten, seine Tochter dicht an diesen Westentaschendetektiven gekuschelt. Mpfh. Er grummelte leise, merkte, wie ein leises Gefühl von Unmut ihn etwas zwickte, als er das sanfte Lächeln auf den Lippen seiner Tochter sah. Ach, Mausebein… Kogorô runzelte die Stirn, seufzte leise. Warum werdet ihr Kinder eigentlich erwachsen? Seine Tochter hatte sich einen neuen Beschützer gesucht; es würde sich zeigen müssen, ob er der Aufgabe gewachsen war, sein Mausebein glücklich zu machen. Und gnade dir Gott, wenn nicht, Kudô. Wehe, du bringst sie noch einmal zum Weinen. Dann grinste er breit, ein hinterlistiges, schadenfrohes Lächeln – und gab der Tür einen ordentlichen Stoß, ließ sie mit Schwung geräuschvoll zufallen und klatschte auf den Lichtschalter. Das Ergebnis war das von ihm erhoffte: Shinichi fiel mit einem Aufschrei vor Schreck aus dem Bett, während Ran ihrem Vater einen wütenden Blick zuwarf und ein Kissen nach ihm feuerte. „Paps!!!“ „Guten Morgen, Mausebein.“, meinte Kogorô lakonisch, lächelte dünn. „Guten Morgen, Westentaschendetektiv. Irgendwer sollte sich ums Frühstück kümmern.“ „Wie wär’s, wenn du das mal selber machst?!“, fauchte Ran, warf dann Shinichi einen besorgten Blick zu, der sich vorsichtig die Seite hielt. „Alles in Ordnung?“ „Jaja.“ Er seufzte, zog sich an der Bettkante hoch. „Ich geh schon Kaffeekochen. Ich muss ohnehin bald los, ich fürchte, heute… muss ich dann wohl auspacken.“ Shinichi verzog keine Miene, als er das sagte, griff wortlos nach seiner Jacke. Kogorô warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, wollte etwas sagen, verkniff es sich dann aber doch. Der Oberschüler wandte sich um, warf ihm einen schrägen Blick zu; er hatte den Blick wohl bemerkt. „Sie wissen alle, dass es jemand ist, der mir sehr nahe steht. Den wir alle gut kennen. Und indem ich ihn denunziere, unterzeichne ich sein Todesurteil. Mal abgesehen davon, dass mir hunderte Schwerverbrecher auf den Fersen sind, die nur darauf warten, mir das Licht auszupusten. Oder irgendwem, der mir nahe steht.“ Er schluckte. „Ich bin nicht scharf auf dieses Gespräch, ehrlich nicht. Und ich frage mich… wie es so weit eigentlich kommen konnte. Ich hätte meine Nase nicht in Sachen stecken sollen, die mich nichts angehen, dann wären wir jetzt alle glücklicher. Eigentlich sollte ich so konsequent sein und mich von der Klippe stürzen. Das würde eine Menge Probleme schlagartig lösen.“ Er lächelte schief, als er Rans entsetztes Gesicht sah. „Keine Sorge. Du weißt, ich bin niemand, der es sich so leicht macht.“ Unsicher stopfte er sich seine Hände in die Hosentaschen, starrte kurz an die Decke. „Ich geh wohl immer den Weg des größten Widerstandes, komme, was da wolle.“ Unwirsch strich er sich durch die Haare, schlurfte an Kogorô vorbei Richtung Küche. „Und wer ist es nun?“, rief der ihm hinterher, fing sich dafür von seiner Tochter einen weiteren wütenden Blick ein. „Sie sind’s nicht.“, kam die sachliche Antwort aus der Küche, wo man ihn bald geräuschvoll den Tisch decken hörte. Shinichi seufzte, als er Kaffeepulver in einen Filter schaufelte. Er konnte sich nicht erklären warum, aber er hatte tatsächlich geschlafen – und es hatte ihm wahnsinnig gut getan. Woran das lag, wusste er auch. An Ran. Weil er sich sicher fühlte, bei ihr. Sie gab ihm Halt, wo keiner mehr war, mit einer Selbstverständlichkeit, dass es kaum auffiel. Er schluckte. Und er würde nichts lieber tun, als ihr endlich das geben, was sie sich am Allermeisten von ihm wünschte. Das Bekenntnis, bei ihr zu bleiben. Sie wissen lassen, was er für sie empfand. Das aber würde er erst tun, soweit war er mit sich übereingekommen, wenn er das Versprechen auch halten können würde. Abgesehen davon, das musste er sich eingestehen, stand er noch vor den gleichen Problemen wie gestern. Noch dazu wollte eine E-Mail abgeschickt werden; und das möglichst, bevor ihm die Polizei die Tür einrannte. Vorsichtig goss er frisches Wasser in die Maschine, schlug den Deckel zu und schaltete sie ein; brodelnd erwachte der alte Kaffeeautomat zum Leben. Shinichi seufzte, lehnte sich gegen die Theke, sah der Maschine zu, wie sie anscheinend unter größten Anstrengungen fast tröpfchenweise dunkelbraunen Kaffee produzierte. Er merkte nicht, dass Kogorô die Küche betreten hatte. „Dein Vater…“, begann er, sah, wie Shinichi zusammenzuckte, den Kopf ruckartig hob und ihn erschrocken anstarrte, ehe er sich wieder fing und das gleiche unlesbare Gesicht wie immer aufsetzte. „Hab ich dich erschreckt?“ Der Mann zog die Augenbrauen hoch. Shinichi schluckte, rieb sich den Hals. „Nur ein bisschen. Ich war zugegebenermaßen in Gedanken. Mein Vater…?“, begann er dann unsicher. „… hat angerufen.“ „Ah.“, machte Shinichi, krampfte seine Finger um die Thekenkante. Kogorô entging das nicht. „Er sagt, die Polizei hat sich für zehn Uhr angekündigt. Er fragt, ob du mit den Agents draußen vor der Tür heimfahren willst, oder ob er dich holen soll. Falls das der Fall ist, müsstest du kurz anrufen.“ „Ich fahr mit den Agents. Das passt schon.“ Shinichi seufzte lautlos, schaute zu Boden, ehe er erneut ansetzte; etwas gab es da noch, das er loswerden wollte, bevor er vielleicht nie wieder die Gelegenheit bekam – wer konnte schon sagen, wie die nächsten Tage verliefen. Er straffte seine Schultern, klärte seine Stimme, sah auf. „Hören Sie, Herr Môri, das kam gestern noch nicht so raus – es tut mir wirklich entsetzlich Leid, was ich die letzten Jahre verbockt habe.“ Er schluckte, schmeckte einen bitteren Geschmack auf der Zunge, räusperte sich wiederholt. „Ich hab Sie angelogen, ausgenutzt, in Gefahr gebracht. Ich… bin wirklich das Allerletzte. Und doch… nehmen Sie mich hier auf, reißen mir nicht dafür den Kopf ab, dass ich… Ran…“, er brach ab, schaffte es nicht weiter, dem Mann in die Augen zu sehen. „Du bist im Grunde genommen kein schlechter Kerl.“, murmelte Kogorô. Shinichi schaute überrascht auf, seine Augenbrauen skeptisch zusammengezogen. „Aber…“ „Ran wusste das schon immer; ich weiß es erst, seit ich Conan kennengelernt habe. Dass du dich in Schwierigkeiten gebracht hast, ist natürlich jetzt im Moment eine heikle Sache, und bietet wirklich Grund genug, dir den Hals umdrehen zu wollen. Aber es zählt ja auch… dass du dich nicht absichtlich in Schwierigkeiten gebracht hast, dass du immer versucht hast, uns aus der Sache rauszuhalten, und dass es hier… um eine Organisation geht, die sich wohl mit der Mafia messen kann. Es ist sicher eine ehrenwerte Sache, diesen Leuten das Handwerk zu legen.“ Er seufzte, fuhr sich durch die Haare. „Insofern nehme ich deine Entschuldigung an. Aber ich warne dich…“ Shinichi horchte auf. „Nun, da du mit meiner Tochter… äh…“, er brach ab, hing sich kurz auf an der Frage, ob er nun gut fand, dass dieser Kerl mit seiner Tochter zusammen war und er ja eigentlich immer noch nicht wusste, ob sie zusammenwaren oder nicht, und fuhr fort, „…befreundet bist, erwarte ich, dass du vorsichtiger wirst. Du wirst sie kein zweites Mal in solche Gefahr bringen. Wenn das hier vorbei ist, Kudô, wirst du dein Leben ändern müssen.“ Shinichi schluckte, nickte langsam. „Sicher.“ Er blickte auf. Neben ihm schien die Kaffeemaschine ihr Leben auszuhauchen. Shinichi warf ihr einen Blick zu. „Ich denke, der ist fertig. Ich… mach mich dann mal auf den Weg heim. Und… Danke. Für… alles.“ Wortlos drückte er sich an Kogorô vorbei, schlüpfte in seine Schuhe und verließ die Wohnung ohne ein weiteres Wort. Kogorô schaute ihm nachdenklich hinterher, wunderte sich kein Bisschen, warum er nicht zum Frühstück geblieben war und sich auch nicht von Ran verabschiedet hatte. Seine Tochter trat neben ihm. Er wusste, ohne sie anzusehen, dass sie Angst hatte. Ganz entsetzliche Angst. Sie würde sich zusammennehmen, nichtsdestotrotz. Für ihn. Auch wenn es fast den Anschein haben mochte – diese Schlacht war noch nicht geschlagen. Und es stand noch alles auf dem Spiel. Shinichi ging nicht nach draußen. Er stieg nur ein Stockwerk tiefer, sperrte sich die Detektei auf. Unbemerkt von Kogorô hatte er sich den Schlüssel für die Detektei vom Schlüsselbrett geangelt. Er war zu dem Schluss gekommen, dass es unmöglich war, diese ganze Aktion im Voraus zu planen. Es gab viel zu viele Unbekannte; aber das Ziel stand fest. Es mussten alle Mitglieder inflagranti erwischt werden, und dafür musste er zuallererst eine Mail abschicken und sie alle ins Hauptquartier bestellen. Im Prinzip war es egal, von welchem Computer aus er die Mail verschickte; hier hatte er den Bonus, dass er wohl seine Ruhe hatte. Dann würde er nach Hause gehen… und es darauf ankommen lassen, was ihm passierte, wenn er sich nicht äußern wollte. Denn das wollte er nicht. Diese Aktion brauchte so wenige Mitwisser wie möglich; das Timing war entscheidend. Die Polizei würde genau dann kommen, wenn er sie brauchte. Er vertraute nicht darauf, sie vorher einzuweihen; das letzte Mal hatte ihm ihre Anwesenheit auch mehr geschadet als genutzt. Er spielte mit engem Zeitfenster und viel Risiko, das wusste er. Allerdings – es ging wohl nicht anders. Shinichi schaltete den Computer ein und sah sich auch hier mit der Passwortabfrage konfrontiert. Er seufzte, dann lächelte er; tippte bei Benutzername „Meisterdetektiv“ ein und ins Kennwortfeld „Yoko Okino“, und schüttelte amüsiert den Kopf, als ihm sogleich die Freigabe erteilt wurde. „Onkelchen.“, seufzte er. „Sollte ich wirklich dein Schwiegersohn werden, müssen wir uns über solche Dinge mal dringend unterhalten.“ Er startete den Browser, gab den Online-Emaildienst seines Vaters ein und stand vor der zweiten Benutzernamen- und Kennwortabfrage. /i]Name oder Emailadresse: Cognac Kennwort: Nanatsu no ko Vor ihm öffnete sich der Emailbildschirm. Shinichi starrte auf die unzähligen Mails, merkte, wie seine Hände eiskalt und feucht wurden. Die ganze Zeit hatte ich es vor Augen… vor meiner Nase, noch näher konnte ich nicht kommen. Und doch… war ich so blind. Bei jedem anderen Fall wäre in ihm jetzt ein Hochgefühl sondergleichen aufgekeimt – hier und jetzt fühlte er nur Resignation. Unwillig öffnete er eine leere Email. Umständlich stöpselte er die Festplatte an, öffnete die Mitgliederliste, zog die Mailadressen in die Adressleiste, überlegte. Dann entschloss er sich, eine andere Mail seines Vaters an seine Untergebenen zu öffnen, um den Wortlaut besser imitieren zu können, und hasste sich dafür. Er überflog die Zeilen, schüttelte den Kopf. Der Stil war wiederekennbar der seines Vaters, aber beim Inhalt drehte sich ihm der Magen um. Es ging um das weitere Verfahren mit Beaujolais; er erinnerte sich dunkel, dass das die rothaarige Hexe war, die ihn entführt hatte. Offenbar versauerte sie gerade in einer Zelle und wartete auf ihr Urteil, weil sie ihren Auftrag im Beikaklinikum sensationell versiebt hatte. Shinichi lächelte bitter, konnte sich noch gut an seine Darstellung einer Leiche erinnern. Dann klickte er auf seine begonnene Mail und begann zu schreiben. Betreff: Generaltreffen wegen außerordentlicher Umstände Sehr geehrte Mitglieder, auf diesem Wege möchte ich Sie alle verbindlich zu einem Generaltreffen aller Mitglieder im Hauptquartier am Shinichi überlegte. Es musste schnell gehen, aber heute wäre zu kurzfristig. Morgen. Er hoffte, dass alle kommen würden – wahrscheinlich war es angebracht, seiner Einladung entsprechend Nachdruck zu verleihen. … morgigen Donnerstag, 26. April 2012, 18.00 Uhr, einladen. Aufgrund der neuesten Ereignisse, die unter anderem mit der Flucht des Oberschülers Shinichi Kudô, der einige Zeit in unserer Organisation als Armagnac diente, sowie der fehlenden Treue von Vermouth, die sich als Betrügerin herausgestellt hat, zu tun haben, ist unsere Organisation in akuter Gefahr, aufzufliegen. Das FBI und die Tokioter Polizei sind uns bereits dicht auf den Fersen und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie, nun, da Kudô frei ist und sein Gedächtnis offenbar wiedergefunden hat, vor unserer Tür stehen. Diese außerordentliche Konferenz ist nötig, um das weitere Vorgehen unserer Organisation zu planen; Ihr Erscheinen ist also unbedingt notwendig. Es gibt keine Entschuldigung für ein Nichterscheinen. Jene Mitglieder, die dem Treffen fernbleiben, werden dauerhaft aus der Organisation ausgeschlossen. Gezeichnet, Cognac Shinichi überflog die Zeilen, nickte sich zu. Dann führte er mit klammen Fingern den Cursor der Maus auf den „Senden“-Button, klickte. Es widerstrebte ihm, die Uhrzeit so spät anzusetzen; aber er befürchtete, dass trotz seiner unmissverständlichen Worte vielleicht einige nicht kommen konnten… aus dem banalen Grund heraus, dass sie berufstätig waren. Lächerlich, eigentlich, aber was soll man machen. Er wartete, bis die Sendebestätigung auf dem Bildschirm erschien, dann loggte er sich aus, schaltete den Computer ab und packte die Festplatte ein. Den Schlüssel der Detektei ließ er beim Rausgehen im Schloss stecken; draußen vor der Tür warteten die Agents bereits auf ihn. Und zuhause wartete bereits die Polizei. Shinichi stöhnte unmerklich auf, als er die Wagen vor der Haustür stehen sah, merkte, wie in ihm jetzt doch sehr verstärkt die Nervosität hochkochte. Er stieg aus, sich der Blicke der beiden Agenten voll bewusst. An der Tür angekommen, brauchte er nicht einmal auf den Klingelknopf zu drücken; sein Vater öffnete ihm die Tür. Shinichi schluckte, wicht seinem Blick aus, sich vollstens bewusst, dass der Schriftsteller ihn ansah. Yusaku trat einen Schritt zurück, ließ seinen Sohn, James Black und Jodie Starling herein. Aus der Küche konnte man Stimmen vernehmen; Shuichi Akai, Heiji und Ai, sowie der Professor und seine Mutter waren wohl ebenfalls anwesend. „Sie sind in der Küche.“, hörte er ihn leise sagen. Shinichi nickte nur. Als er die Küche betrat, wusste er bereits, dass sie alles es wussten; er hatte allerdings keine Ahnung, wer ihn verpfiffen hatte, oder ob man es ihm angesehen hatte, gestern. Sein Blick schweifte zu Ai, die ihm mühelos standhielt. Schließlich war es sein Vater, der sprach. „Ich habe alle auf den neuesten Stand gebracht; nachdem du dir ja eine Auszeit genommen hast.“ Seine Stimme klang verständnisvoll; alle anderen sahen ihn eher verständnislos an. Vor allem Meguré schien kurz vorm Siedepunkt zu sein; zumindest, wenn man seine hochrote Gesichtsfarbe als Indikator werten durfte. Er stand auf von seinem Stuhl, starrte ihn an. „Zuallererst mal, Shinichi, du weißt, in welcher Gefahr du schwebst, und da schleichst du dich trotzdem nachts außer Haus, einfach so, ohne uns etwas zu sagen, und…“ Shinichi schaute ihn gelassen an. „Ich kann gut auf mich selbst aufpassen, Kommissar, danke.“ „Das sieht man.“, schnappte dieser zurück, hatte sich aber schnell wieder im Griff. „Entschuldige. Aber du weißt… du liegst uns allen sehr am Herzen, und du hast – nunja – wirklich genug mitgemacht, um…“ „Weil ich keine Wahl hatte, nicht weil ich nicht auf mich aufgepasst habe.“, bemerkte Shinichi leise, setzte sich. „Ansonsten tut es mir Leid, wenn ich Sie schockiert habe, durch meinen Ausflug letzte Nacht zu den Môris. Ich denke aber trotzdem, dass das meine Sache ist.“ Er räusperte sich kurz. „Außerdem, wenn ich das mal vermuten darf, ist das nicht die einzige Sache, die Sie aufregt.“ James Black, der hinter Meguré gestanden hatte, trat vor. „Nunja, ich möchte sagen, dass wir es zumindest etwas merkwürdig finden, dass du nicht sofort zu uns gekommen bist, um uns zu sagen…“ „Sie haben nicht gefragt.“ „So einfach kannst du es dir nicht machen.“, bemerkte Jodie sachlich. „Du hältst Informationen zurück. Zeit vergeht, in der die Gegenseite handelt, und wir sitzen hier und drehen Däumchen, weil du…“ „Glauben Sie, das weiß ich nicht?“ Shinichi massierte sich die Schläfen. „Aber ist es zu viel verlangt, sich zuerst mal selber Gedanken zu machen zu dürfen…?“ „About what?“ „About what I want to tell you, for example.” “I think, that’s easy enough. Everything you remember, nothing more, nothing less.”, bemerkte James Black ruhig, schaute den jungen Mann vor sich ernst an. “And that… is the point, the very problem.”, entgegnete Shinichi langsam, seine Stimme kaum hörbar. “Telling you everything I know is completely impossible.” Shinichi blickte ihn gelassen an. In der Küche war es erstaunlich still geworden, nachdem er die Bombe hatte platzen lassen. „Du willst nicht reden?“, fragte Takagi ungläubig, der bereits sein Notizbüchlein gezückt hatte. Er starrte ihn derart fassungslos an, dass Shinichi fast lachen musste, wäre die Situation nicht so traurig. Takagi sah aus, als hätte er ihm gerade eröffnet, dass man Weihnachten abgeschafft hatte. Stattdessen riss er sich zusammen, biss sich kurz auf die Lippen, nickte dann langsam, aber bestimmt. „So ist es. Ich kann ihnen nichts sagen. Entschuldigen Sie bitte.“ „Aber…“ Meguré fing an, zu gestikulieren. Shinichi sah auf, in seinen Augen eine Ruhe, die man in ihnen lange gesucht hatte. „Kein Aber. Ich verweigere hiermit offiziell die Aussage.“ Der Oberschülerdetektiv lehnte sich zurück, sich der fragenden, verwirrten, verärgerten und geschockten Blicke der Anwesenden vollstens bewusst. Er presste seine Handflächen gegen den Tisch, der ihm erstaunlich warm vorkam; er wusste, dem war nur so, weil seine Hände eiskalt waren. In seinem Magen rumorte es, als hätte er ein Kilo Ameisen verschluckt, aber anmerken lassen wollte er sich davon nichts. „Nicht einen Hinweis? Nichts über den Standort, die Identität des Bosses, nichts? NICHTS?!“ Meguré war bleich geworden. „Nichts.“ Shinichi nickte bestätigend. Sein Gesicht war ebenfalls blass geworden in den letzten Minuten, und keiner zweifelte daran, dass er sich der Tragweite seiner Entscheidung nicht vollstens bewusst war. „Aber hör mal, Kudô – willste dem nicht endlich…“ „… ein Ende machen?“ Shinichi wandte den Kopf, schaute Heiji, der am Fenster stand, geradewegs in die Augen. „Nichts lieber als das. Ehrlich. Nichts… nichts lieber als das.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber so geht es nicht.“ „Sag uns doch einfach, wer der Boss ist, und wir nehmen ihn fest, und dann…“ „Stürmen Sie das Hauptquartier, Inspektor Sato?“ Er lächelte traurig. „Halte ich für keine gute Idee.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust, starrte auf die Tischpatte. „Verrätst du uns wenigstens, warum du die Aussage verweigerst?“ Meguré beugte sich vor. Ihn zerriss es fast vor Wut und Sorge andererseits. Er kannte den Oberschüler gut genug, um zu wissen, dass Shinichi sich nicht einfach einen Spaß draus machte, mit ihnen ein wenig Katz und Maus zu spielen. Keiner kannte den Ernst der Lage besser als er. Und diese Tatsache, gepaart mit dem Faktotum, dass Shinichi dennoch nichts erzählen wollte, obwohl er alles wusste – weckte in ihm große Sorgen um sie alle. „Noch nicht.“, murmelte Shinichi langsam als Antwort auf seine Frage, sah ihn bedauernd an. Meguré schritt langsam auf und ab, zermarterte sich sein Hirn. Dann blieb er stehen, unschlüssig. „Gut, dann… lässt du mir keine Wahl, Shinichi.“ Meguré schaute ihn unglaublich traurig an. Shinichi schüttelte den Kopf, lächelte bitter. „Welche Wahl?“ „Du kennst das Prozedere doch.“ Er räusperte sich, strich sich fahrig über den Schnauzbart. Unbehaglich warf er Yusaku und Yukiko einen Blick zu. „Wenn du dich weigerst, zu reden, können wir ein paar Schritte einleiten, um dich…“ „… gesprächiger zu machen?“ Shinichi lachte auf, kurz; fast amüsiert klang sein Gelächter, wollte sich mit dem bitteren Zug um seine Lippen und dem erschöpften Ausdruck in seinen Augen aber so gar nicht vertragen. Heiji rann ein Schauer über den Rücken. „Kommissar Meguré, bei allem Respekt - Sie vergessen, wo ich herkomme. Denken Sie, irgendetwas, das Sie sagen oder tun, könnte mich zum Reden bringen? Da haben ganz andere schon ganz anderes versucht, erfolglos, wie ich anmerken möchte.“ Unbewusst strich er sich über die Armbeuge seines linken Arms, dort, wo immer noch blaue Flecken von der Folter in der Organisation Zeugnis ablegten. Sie alle sahen ihn betroffen an, wussten, er hatte Recht. Ahnten, wie absurd die Drohung des alten Kommissars in seinen Ohren klingen musste. „Was kann mir schon blühen bei Ihnen? Beugehaft?“ Meguré schien sich richtiggehend zu winden. Takagi und Sato hinter ihm tauschten nervöse Blicke aus. Shinichi lächelte, legte den Kopf schräg. „Na, schön, dann ab in den Knast.“ Er seufzte. „Bestehen Sie auf die Handschellen oder reicht es, wenn ich mich so ins Auto setze? Ich schwöre, ich laufe Ihnen nicht weg.“ Der Kommissar stöhnte auf, nahm seinen Hut ab und begann ihn zu kneten. „Hör zu, sag uns doch einfach, was du weißt, und wir…“ Das Gesicht des Oberschülers wurde schlagartig ernst. „Das ist ganz und gar unmöglich. Ich sagte es schon.“ Takagi seufzte, trat einen Schritt vor. „Shinichi, ich denke, keiner weiß so gut wie du, wie gefährlich die sind. Sag uns doch einfach den Namen, und wir heben das Ding aus, dann-…“ Shinichi warf ihm einen fast mitleidigen Blick zu. „Ja, so ist das wohl. Und gerade eben weil ich weiß, wer die sind, und was die können…“, ein sonderbar leerer Ausdruck trat kurz in seine Augen, doch als er fortfuhr, war davon nichts mehr zu erkennen. „Gerade weil ich weiß, wer und was dahinter steckt, wie groß dieses Netzwerk ist, was sie für Methoden haben und welche Ressourcen sie anzapfen können, Takagi, reicht es nicht, wenn ich Ihnen sage, wer dahinter steckt und wo die Zentrale ist. Sie würden alle in Ihr Verderben rennen.“ „Na, nun hör aber mal!“, brauste Sato auf. „Was denkst du, wer die Tokioter Kriminalpolizei eigentlich ist - glaubst du…“ Shinichi schnitt ihr mit einem scharfen Blick das Wort ab. „Haben Sie mir damals etwa helfen können, in dieser Gasse?“ Seine Stimme war leise. Sato verstummte. „Ja, richtig geraten. Ich hab Sie gesehen. Genauso wie Gin auch, wie Sie ja richtig bemerkt haben. Und was konnten Sie tun, um mir zu helfen? Nichts.“ Er lachte humorlos. „Nicht das Geringste. Und das, obwohl die nur zu dritt waren. Glauben Sie mir, wenn Sie das Hauptquartier stürmen wollten, würden die Sie überrennen. Ich geb Ihnen keine fünf Minuten.“ Unwillig schüttelte er den Kopf. „Dann sag uns den Namen des Bosses, wenigstens! Dann könnten wir der Schlange den Kopf abhacken und…“ „… dafür sorgen, dass ihr drei neue Köpfe wachsen…“, murmelte Shinichi, wurde allerdings komplett überhört. Einzig und allein Yusaku sah ihn betroffen an, in seinen Augen ein nachdenklicher Ausdruck. Er ahnte, worauf Shinichi abzielte, und fragte sich doch, warum er das tat. Meguré sah ihn drängend an. „Verdammt, du weißt den Namen doch! Du musst ihn wissen, wie sonst hättest du zögern können, als…?“ „Vielleicht, weil ich generell kein Mörder bin?“, schnappte Shinichi bissig, merkte doch, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er ballte die Fäuste, schüttelte den Kopf, starrte zu Boden. Er wusste bis heute noch nicht, wie er sich entschieden hätte, wäre sein Vater nicht da gewesen. Er wusste es wirklich nicht. Und das beunruhigte ihn zutiefst. Dann atmete er tief durch, schaute auf. „Ich nenne keine Namen. Keine Standorte. Nichts. Nicht, bis ich es für gut halte, zumindest. Denken Sie selber nach, wenn Sie unbedingt was in dem Fall bewegen wollen, wenn Sie schon so weit sind, dass Sie glauben zu wissen, dass mich mit dem Boss etwas persönlich verbindet. Theoretisch könnten Sie dann jeden hier verhaften.“ Er sah Meguré stur ins Gesicht, konnte dem Mann sein Dilemma ansehen. Es tat ihm leid, dass er ihn vor diese Entscheidung stellen musste, ihm seine Ermittlungen erschwerte. Aber er konnte seinen Vater nicht verraten. Nicht jetzt schon. Nicht an die Polizei. „Machen Sie mit mir, was Sie wollen. Oder müssen. Wie auch immer.“ Meguré setzte seinen Hut wieder auf, sah dabei fast aus, als würde er einen Medizinball auf seinen Kopf wuchten, ein solches Gewicht schien seine Kopfbedeckung auf einmal zu haben. „Dann muss ich dich bitten, uns aufs Revier zu begleiten. Du wirst keine persönlichen Dinge brauchen…“ Unglaublich schwer kamen diese Worte über seine Lippen. Shinichi seufzte. „Ich möchte einen Anwalt.“ Der Kommissar strich sich übers Gesicht. „Du darfst telefonieren, wenn wir da sind.“ Shinichi nickte nur, ging dann voran, verließ ohne einen Blick zurück das Wohnzimmer. Yukiko warf ihrem Mann einen kalkulierenden Blick zu. Für sie gab es nur eine Erklärung für Shinichis Verhalten. Er deckte jemanden. Und er wollte auf keinen Fall die Kontrolle bei diesem Fall aus der Hand geben, wohl aus Angst, dass die Dinge aus dem Ruder laufen könnten. Sie fragte sich nur, wen er deckte. Heiji starrte seinem Freund hinterher, als er die Küche verließ, fuhr sich stöhnend mit beiden Händen übers Gesicht. An der Sache war wohl noch mehr dran, als sie alle ahnten. … und dieser sture Bock Kudô will uns mal wieder alle raushalten, dieser Idiot, dieser… Sie wachte auf, als von draußen etwas gegen die Scheibe ihres Wagens stieß, und wunderte sich, dass sie überhaupt die Augen noch einmal aufschlug. Sharon stöhnte auf, drehte ihren Kopf langsam und blickte in die Augen eines Rehs, das sich aufgrund ihrer Bewegung zu Tode erschrak und eilig das Weite suchte. Ein zynisches Lächeln glitt ihr über die Lippen. Dann betastete sie ihren Körper, ihren Bauch, ihre Beine. Eine Kugel hatte sie in die Brust getroffen, war aber glücklicherweise von ihrer kugelsicheren Weste aufgefangen worden, bevor sie mehr Schaden anrichten konnte, außer ihr wohl offensichtlich eine Rippe anzuknacksen. Sie hielt inne, spürte ein unangenehmes Stechen beim Einatmen, lächelte zynisch. Yeah. Probably it’s even broken, that rib. Eine andere Kugel hatte ihren Oberschenkel gestreift. Der Blutverlust war wohl hoch gewesen, hatte ihr aber anscheinend gerade nicht das Leben gekostet. Ihre Hose klebte ihr am Bein, und als sie es bewegte, schmerzte es höllisch. Sie ahnte, dass sie damit eigentlich zum Arzt müsste, allerdings bezweifelte sie, dass dafür die Zeit war. Sie kletterte aus dem Auto, ungelenkig, öffnete den Kofferraum und holte das Erste-Hilfe-Set heraus, fischte nach dem Klebeband, mit dem man für gewöhnlich Verbände festklebt, schnitt einige Streifen davon ab. Dann vergrößerte sie das Loch ihrer Hose, bis sie die Wunde freigelegt hatte, desinfizierte sie mit dem Spray aus dem Verbandskasten und verklebte die Wundränder mit den Klebestreifen, ehe sie ein großformatiges Pflaster darüber anbrachte. That should do the job. Dann fischte sie nach ihrem Handy, sah, dass er ein paar Mal angerufen hatte. Sie grinste leicht. Mein lieber Yusaku, wahrscheinlich hab ich dir einen Riesenschrecken eingejagt – du muss ja glauben, dass ich tot bin… Eigentlich glaubte ich das ja auch. Dann stieg sie in ihr Auto und startete zufrieden den Motor. Mal sehen, was sich in letzter Zeit so getan hat… Die Fahrt ins Präsidium dauerte nicht lange und verlief in vollkommener Stille. Niemand sprach ihn an; anscheinend hatte man eingesehen, dass man seine Meinung nicht ändern konnte. Im Präsidium übernahm es Takagi, seine Formalien aufzunehmen; und genau das war der Zeitpunkt, an dem die seltsamen Blicke einsetzten. An sein Gesicht hier hatte man sich gewöhnt; allerdings, dass man ihn einbuchtete, das war neu. Ihn auf der anderen Seite des Gesetzes zu sehen kam einer Sensation gleich, und er hasste das. Er versuchte, die Blicke zu ignorieren, die gewisperten Fragen nicht zu hören, beantwortete Takagis Fragen zu seiner Person und zur Sache und verhielt sich ansonsten still. Als sich langsam das ganze Präsidium um Takagis Schreibtisch versammelte, wurde es dann doch auch Meguré zu bunt und er verscheuchte alle mit der harschen Bemerkung, dass sie doch zu arbeiten hätten. Shinichi bedachte er nur noch mit einem kurzen, fast enttäuschten Blick und verzog sich dann ebenfalls in sein Büro. Shinichi seufzte; er konnte es nicht abstreiten, es tat ihm Leid. Aber ändern konnte er nichts. „Shinichi?“ Shinichi schreckte hoch, bemerkte erst jetzt, dass Takagi wohl schon ein paar Mal seinen Namen genannt hatte. „Du darfst mit deinem Anwalt in etwa zwei Stunden telefonieren. Der Haftprüfungstermin ist morgen Nachmittag. Solange musst du leider warten.“ Ein leises Seufzten entwich seiner Kehle, als er nickte. „Ich weiß.“ Dann stand er auf, folgte Takagi die Gänge entlang nach unten in den Zellentrakt, hinter ihm zwei weitere Beamte, die dafür sorgten, dass er nicht türmte, und kam sich vor wie ein Schwerverbrecher. Dann waren sie angekommen, und der junge Inspektor sperrte eine Zellentür auf, hielt sie fest. „Willst du es dir nicht doch noch überlegen? Sag uns doch einfach was du weißt. Du kennst uns doch, wir wollen dir doch nur helfen, Shinichi…“ Der Oberschüler schüttelte langsam den Kopf. „Noch nicht.“ „Dann…“ Der junge Detektiv sagte nichts mehr, trat in den kleinen, engen Raum und hörte hinter sich die Tür zufallen und einen Schlüssel, der sich im Schloss umdrehte. Langsam drehte er sich um, starrte die Tür an. Verdammte Scheiße. Dann starrte er an die Decke seiner Zelle und konnte einfach nicht fassen, dass er es tatsächlich hier rein geschafft hatte. Man hatte ihn tatsächlich in Beugehaft gesteckt. Ein hohles Lachen entwich seinen Lippen, dann setzte er sich auf die Pritsche, die im Raum an der Wand stand, hielt sich den Kopf. „Mein Gott, das ist zum verrückt werden. Da soll man mal nicht den Verstand verlieren, wenn…“ Und jetzt ´nen Tag lang zum Warten verdammt… ich hoffe, Eri kann da was machen, die… Königin des Gerichtssaals. Es klirrte laut. „Inhaftiert?!“ Ran starrte Heiji ungläubig an. Dann bückte sie sich, um die Scherben der Kaffeetasse aufzulesen, die sie gerade hatte fallen lassen. „Wieso das denn? Ich denke, er hat nichts angestellt?“ Heiji setzte sich müde. Kazuha ging ebenfalls in die Hocke und half Ran beim Scherbeneinsammeln. „Hat er auch nich‘.“, bestätigte Heiji. „Leider will er aber auch keine Aussage mach ‘n, und deshalb habense ihn in Beugehaft gesteckt. Haftprüfungstermin is morgen. Nen Anwalt will er sich nehmen, ich denk auch, ich weiß, an wen er denkt.“ Ran sah auf. „Er hat zwar heute gesagt, er wär nicht scharf auf dieses Gespräch, aber… dass er… die Aussage komplett verweigern wollte, davon hab ich nichts geahnt. Allerdings, so geht’s ja auch nicht.“ Sie stemmte ihre Arme in die Hüften, schüttelte verständnislos den Kopf. „Sperren die jetzt schon ihre eigenen Leute ein…? Sie wissen doch, was er durchgemacht hat… was er durchmacht.“ Ran schnaubte. „Ich geh Mama anrufen. Sie soll hinfahren nach der Arbeit und mit ihm reden, vielleicht…“ Entschieden drehte sie sich um, warf die Scherben in die Tonne, dass es nur so klirrte und holte das Telefon aus dem Flur. Kazuha sah ihr nach, seufzte leise, verschränkte ihre Oberarme vor der Brust. „Wann werden die beiden endlich ihre Ruhe haben…?“ Heiji erwiderte nichts, beobachtete sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. Dann kam Ran zurück, mit dem Telefon, war bereits dabei, die Nummer ihrer Mutter einzutippen. Kapitel 45: Kapitel 27: Die Königin des Gerichtssaals und der Meisterdetektiv des Westens ----------------------------------------------------------------------------------------- Viel Spaß! ______________________________________________________ Kapitel Siebenundzwanzig: Die Königin des Gerichtssaals und der Meisterdetektiv des Westens Genervt blickte sie auf, als das Telefon klingelte, legte ihren Kugelschreiber beiseite, seufzte still. „Kanzlei Kisaki, Eri Kisaki am Apparat… Ran?“ Ihre schlechte Laune verflog sofort. „Was ist los, Ran?“ Sie hörte dem ziemlich aufgeregten und daher vollkommen unstrukturierten Redeschwall ihrer Tochter kurz zu, ehe sie sie unterbrach. „Wen hat man eingesperrt, Ran?“ Dass es um eine Inhaftierung ging, hatte sie gerade noch mitbekommen. „Shinichi.“ Ran seufzte. „Entschuldige Mama, das Ganze regt mich nur ziemlich auf. Ich denke, Papa hat dir die Sache gestern erzählt?“ Eri nickte grimmig, seufzte dann leise. „Ja, hat er. Und es freut mich zu hören, dass du dich schon wieder so aufregen kannst.“ Ran lächelte. „Äh, ja. Also. Shinichi sollte heute seine Aussage machen, da er nun ja sein Gedächtnis wieder hat. Nur hat er… die Aussage verweigert.“ Eri lehnte sich zurück, strich sich mit einer Hand über die Haare, auf ihrem Gesicht ein Ausdruck purer Überraschung. „Das ist ja ein Ding. Eigentlich würde man erwarten, dass er nun reinen Tisch macht. Weißt du, warum er nichts sagt?“ Sie hörte ihre Tochter seufzen. „Ich denke, es ist wegen der Identität des Bosses. Die Sache nimmt ihn ziemlich mit. Er will erst selbst in Ruhe mit ihm reden, und ich denke, er hat Angst, dass die Sache unkontrollierbar ausartet, wenn er die Informationen jetzt alle preisgibt. Ich meine, ich war ja drin…“ Sie schluckte. „… er hat sich da wirklich mit jemand Gewaltigen angelegt. Auf jeden Fall hat man ihn jetzt in Beugehaft gesteckt. Um ihn zum Reden zu bringen. Was nichts bringen wird, wenn er nicht reden will, wird er nicht reden und…“ Eri zog die Augenbrauen hoch, beugte sich vor. „Beugehaft, sagst du?“ „Ja.“ „Wann ist Haftprüfung?“ „Weiß ich nicht, Mama.“ Ran klang genervt. „Ich nehme an, wahrscheinlich ruft er dich selber an, aber ich dachte mir, ich…“ Eri seufzte. „Schon gut, Ran. Ich fahr hin und schau mal, was ich machen kann, mit deinem sturen Bock von einem Freund.“ Sie grinste, als sie ihre Tochter lospulvern hörte, legte auf. Nun gut, Shinichi Kudô. Sehen wir mal, was hinter deiner Verstocktheit steckt. Er schätzte, dass etwa eine Stunde vergangen war, als man seine Zelle wieder aufsperrte. Herein kam Chiba, der ihn freundlich aus seinem runden Gesicht anlächelte. „Du hast Besuch, oder so ähnlich. Frau Kisaki ist hier. Ich nehme an, sie vertritt dich in der Sache?“ Shinichi zog die Augenbrauen hoch. „Anscheinend. Es stimmt zwar, ich wollte sie noch anrufen… aber ich kam ja noch nicht dazu.“ Chiba zuckte mit den Schultern. „Dann hat es wohl wer anders für dich getan.“ Er winkte ihn aus der Zelle auf den Gang, wo zwei Beamte bereits warteten. Shinichi verdrehte die Augen. „Ich lauf nicht weg. Und ich hab auch nichts ausgefressen, ist es wirklich nötig, mich wie einen Schwerverbrecher zu behandeln…?“ „Nötig nicht… aber ich schätze, genau weil es dich wohl nervt, möchte der Chef es so. Er hofft immer noch, dass du einlenkst.“ „Da hofft er umsonst.“ Shinichi stopfte seine Hände in seine Hosentaschen, versuchte, entschlossen zu wirken, als er Chiba ins Besucherzimmer folgte. Der Gang dorthin dauerte nicht lange; und wie erwartet saß sie da, mit übereinandergeschlagenen Beinen, wie gewohnt in Rock und Bluse; ihren Blazer hatte sie abgelegt. Vor ihr lag ein Klemmbrett und ein Füller. Er setzte sich ihr gegenüber, sagte nichts, bevor die Tür ins Schloss gefallen war. Dann erst schaute er auf, der Frau ins Gesicht, die ihn ihrerseits aufmerksam taxierte, aber nicht die kleinste Gefühlsregung dabei zeigte. Er sah blass aus, das bemerkte sie wohl. Sie kannte den Jungen nun schon sehr lange, aber so hatte sie ihn selten gesehen; so zerrissen, innerlich. Es war klar, dass er vor einem Problem stand, das zu groß für ihn schien, das er aber nichtsdestotrotz zu bewältigen hatte; dass er eine Entscheidung treffen musste, die er nicht treffen wollte. „Ich nehme an, Ran hat Sie informiert.“ Seine leise, aber durchaus angenehme Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie konnte langsam verstehen, was ihre Tochter an ihm fand; er sah gut aus, war intelligent, er kümmerte sich um sie, er… würde alles für sie tun, soviel war klar geworden. Sie musste zugeben, sie hatte ihn lange nicht gesehen, im Prinzip… seit ihrer Trennung von ihrem Mann nur noch von weitem. Und gesprochen… Gesprochen hatte sie mit ihm schon eine Ewigkeit nicht mehr. „Ganz Recht.“, antwortete sie ihm schließlich. Sie seufzte, ließ ihre steife Körperhaltung fahren, beugte sich nach vorn. „Willst du darüber reden, Shinichi? Einen Grund muss es doch geben, für all das hier.“ Sie ließ ihn nicht aus den Augen. „Nein.“ Er zögerte, schien noch einmal kurz über seine Antwort nachzudenken. „Nein, das Angebot ist nett, aber… nein, danke.“, wiederholte er dann. Sie nickte verständnisvoll. „Was erwartet man von dir?“ „Dass ich ihnen den Namen vom Boss und den Standort des Hauptquartiers liefere.“ „Könntest du das?“ Er schluckte schwer. „Ja.“ „Aber du hast triftige Gründe, warum du nichts erzählst?“ „Abgesehen davon, dass man sie plattmachen würden, die Polizei hätte nicht die geringste Chance – ist das nicht triftiger Grund genug?“ Eri lächelte spöttisch. „Denkst du nicht, du überschätzt dich – und unterschätzt die Polizei?“ Shinichi schaute auf, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. „Waren Sie oder ich eine Woche in den Fängen dieses Syndikats? Haben Sie oder ich seit Jahren mit denen zu tun, mitverfolgt, wo sie ihre Hände im Spiel haben und welchen Einfluss die haben? Und… haben Sie oder ich seit Jahren mit der hiesigen Polizei zusammengearbeitet?“ Eri lachte leise. „Sherlock Holmes wie er leibt und lebt.“ Shinichi grinste kurz. „Nein, so ist das nicht. Ich halte unseren lieben Meguré mitnichten für den Einäugigen unter den Blinden. Es sind viele fähige Männer hier, unter anderem er. Das Problem liegt wo ganz anders.“ Er schluckte. „Ich habe Informationen, wonach sogar in der Polizei Mitglieder der Organisation sind. Sie sind in der Presse, im Stadtrat, in verschiedenen Ausschüssen, an allen wichtigen Positionen. Deshalb… ist das kein Fall für die Polizei. Die Organisation ist groß und gut informiert. Die Polizei hätte, käme sie bis zum Hauptquartier, keine Chance, reinzukommen. Man würde sie niederschießen innerhalb der ersten fünf Minuten. Das ist kein Witz.“ Er war blass geworden. „Mir ist selber auch erst in den letzten Tagen klar geworden, was für Ausmaße das Ding hat. Es übertrifft die Yakuza bei weitem, und, Frau Kisaki, würden Sie denn der Polizei zutrauen, an einem Tag die Yakuza durch einen simplen Polizeieinsatz auszulöschen?“ Die Königin des Gerichtssaals schüttelte wortlos den Kopf. „Sehen Sie. Und… abgesehen davon, dass ich einfach nicht… die hiesige Polizei in ihr Verderben schicken will, gibt es da… noch ein ganz anderes Problem.“ Seine Miene verdüsterte sich. „Der Boss ist aus deinem Bekanntenkreis.“ „Das zu erraten war wohl nicht schwer.“ Eri nickte langsam. „Der Gedanke drängte sich schon nach den ersten Tagen deines Verschwindens auf. Die Tatsache, dass man dich nicht gleich liquidiert hat, die Tatsache, dass man dir das Gegengift gegeben hat, die Sache mit dem Zeitungsbericht. Es liegt einfach nahe…“ Shinichi bewegte sich unruhig. „… und sie stimmt wohl auch.“ „Ja.“ „Wie nah steht dir diese Person?“ „Sehr nah.“ Er blickte auf, Argwohn lag auf einmal in seinem Blick. „Frau Kisaki, als was sind Sie jetzt eigentlich hier? Als meine Anwältin oder als Besucher? Denn wenn Sie mich nur besuchen, dann sollte ich wohl überlegen, was ich sage…“ Sie lächelte amüsiert. „Als das, als was du mich haben willst, Shinichi Kudô.“ Shinichi stopfte seine Hände in seine Hosentaschen, überlegte kurz. „Würden Sie das für mich machen?“ „Engagierst du mich etwa gerade, Shinichi Kudô?“ Sie warf ihm aus ihren Augenwinkel einen belustigten Blick zu. „Sind sie denn in meinem Budget Frau Kisaki? Königin des Gerichtssaals?“, schoss er zurück, lächelte schwach. Sie seufzte, beugte sich zu ihm, drückte ihm kurz die Schulter. „Ich steck dich zu meinen Pro-Bono-Fällen. Mach dir da mal keine Gedanken. Außerdem redet meine Tochter nie mehr ein Wort mit mir, wenn ich dir nicht aus der Patsche helfe. Und da du wohl ohnehin bald zur Familie gehörst…“ Sie lächelte ihn an. Er hob den Blick, versuchte, das Lächeln zu erwidern. Es gelang ihm nicht, und so ließ er den Kopf wieder sinken, merkte, wie sehr ihm die Geschichte doch zu schaffen machte. Warum ausgerechnet du, Vater. Warum muss das mir passieren. Warum… Ich will das nicht. Ich. Will. Nicht. „Also ja. Die betreffende Person… steht mir sehr nah.“ Eri schluckte, merkte, wie sie zu frösteln anfing, als sie ihn ansah. Mit einem Mal schien ihn ein massives Gewicht nach unten zu drücken, die Last auf seinen Schultern war fast schon materiell sichtbar. „Du kannst mit vollem Recht die Aussage verweigern, würdest du damit dich oder einen Angehörigen einer Straftat beschuldigen. Danach wird man dich gehen lassen müssen.“ Langsam schaute er auf, war unter ihren Worten merklich zusammengezuckt. Eri war aufgestanden, hatte ihre Arme vor der Brust verschränkt. Sie dachte nach, und das konnte sie am besten, wenn sie nicht wie festzementiert auf einem Stuhl saß, sondern sich bewegte. Und so drehte sie sich kurz zur Seite, schaute die hellgrau getünchte Wand an, die das Zimmer noch trister erschienen ließ, als es der Anlass ihres Besuchs schon machte; dann wandte sie sich ihm wieder zu. Unruhig spielte sie an ein paar Haarsträhnen, die sich ihrer strengen Frisur entzogen hatten, ihr Blick ruhte ernst auf ihm. In seinen Augen war die Qual, die diese Wahrheit in ihm auslöste, deutlich zu lesen. „Sie wissen, dass er es ist, nicht wahr?“, murmelte er leise. „Nein.“ Sie schüttelte den Kopf, trat wieder näher, stützte sich mit ihren Händen auf ihrer Stuhllehne ab. „Ich weiß es nicht, ich ahne es bestenfalls. Aber ich weiß, dass ich der Person das Leben meiner Tochter verdanke… außerdem bin ich Anwältin, und als solche halte ich es für meine Pflicht, die Menschen auf ihre Rechte und Pflichten aufmerksam zu machen. Du weißt, wenn du da morgen reingehst, zur Haftprüfung, dann darfst du nicht lügen. Du musst die Wahrheit sagen.“ Er starrte blicklos auf die Tischplatte, nickte matt. „Aber du solltest auch wissen, dass du Gebrauch machen kannst, von deinem Recht der Zeugnisverweigerung. Sie können dich nicht hier festhalten. Nicht in einem solchen Fall.“ Shinichi schaute auf, lächelte bitter. „Und was würde es nützen? Es käme einem Geständnis gleich, Eri. Viel Auswahl haben die nicht…“ Die Anwältin lächelte sanft. „Aber sie haben keine Beweise und keine belastende Aussage. Er wäre frei, solange, bis du oder er es euch überlegt, und doch gesteht… oder ihr einen anderen Weg gefunden habt.“ Langsam blickte sie zur Seite, ließ dann den Kopf in den Nacken sinken, starrte an die Decke. „Man sollte von dir nicht verlangen, über Leben oder Tod eines anderen zu entscheiden, erst Recht nicht in so einem Fall. Dass du zu der Entscheidung nicht gemacht bist, hast du doch schon einmal bewiesen.“ Sie trommelte mit ihren Fingern gegen das Holz der Stuhllehne. „Also rate ich dir, mach von deinem Recht Gebrauch. Und ich rate dir, nutz die Zeit. Viel wird dir dieses Manöver nicht bringen.“ Er nickte nur. „Und was ist… mit heute?“ Sie seufzte. „Leider müssen wir den Haftprüfungstermin morgen abwarten. Und da man dich einen vollen Tag lang einsperren darf, Shinichi… müssen wir uns bis morgen Nachmittag gedulden.“ Er stöhnte auf. „Und was mach ich solange, hier? Verdammt, ich…“ Rans Mutter seufzte, schaute ihn mitfühlend an. „Warten, Shinichi. Auch wenn es dir schwerfällt.“ Sie sammelte ihre Sachen ein. „Ich hol dich morgen zur Haftprüfung ab.“ Er nickte nur, in Gedanken ganz woanders. Sie presste die Lippen aufeinander. Dann trafen sich ihre Blicke, als er doch noch einmal aufschaute, sie ansprach. „Eri?“ Sie schaute ihn an, verwundert. Er blickte erschrocken, merkte erst jetzt, dass er sie beim Vornamen genannt hatte. Er wollte sich gerade entschuldigen, als sie abwinkte. „Lass gut sein. Nenn mich ruhig Eri, wir sind beide erwachsen.“ Shinichi nickte, stand dann auf, trat ein paar Schritte näher. „Eri, Sie… Sie sagen doch der Polizei nichts über dieses Gespräch? Die Schweigepflicht…“ „… gilt immer und in jedem Fall, Shinichi. Keine Sorge. Aber überleg dir genau, was du tust.“ Er drehte sich um, atmete langsam und gepresst auf, durchfurchte sich mit den Fingern die Haare, um sich anschließend mit den Händen übers Gesicht zu streichen. Man sah ihm die Müdigkeit, die ihn quälte, deutlich an. „Ich überlege nur noch, glauben Sie mir. Einen Fehler kann ich mir nicht leisten, es hängt zu viel davon ab.“ Eri Kisaki warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, drückte ihm die Schulter. „Was auch immer du tust, sei vorsichtig. Du lebst dein Leben nicht allein.“ Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Kurze Zeit später lag er wieder in seiner Zelle auf der Pritsche, starrte die Decke an, studierte die Struktur des grauen Betons und dachte nach. Sein Coup morgen wollte gut geplant sein. Ran lief zur Tür, als sie das Auto ihrer Mutter ankommen sah, öffnete ihr. Ein angespannter Ausdruck war in ihrem Gesicht zu lesen, ihre Hände krampften sich um die Klinke. „Wie geht es ihm?“ „Ja, Töchterchen, es freut mich auch, dich zu sehen.“ Eri lächelte schwach. „Ich darf über den Fall nicht reden, das weißt du.“ Hinter Ran erschien Heiji, warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Frau Kisaki…“ Eri stöhnte auf. „Also zwei Schülerdetektive an einem Tag sind mir ehrlich gesagt, mindestens einer zu viel. Wartet doch bitte den morgigen Tag ab. Ansonsten schlägt er sich tapfer, ich denke, er hat schon schlimmere Nächte verbracht als eine in einer Gefängniszelle.“ Ran seufzte. „Ich hatte gehofft…“ „Vor der Haftprüfung geht leider nichts, Ran.“ Eri schaute sie mitfühlend an, straffte dann ihre Schultern. „Ist dein Vater daheim?“ „In der Küche.“, murmelte Ran, seufzte, lehnte sich mit ihrer Stirn gegen die Wand, kurz, schloss die Augen, atmete langsam aus. Es war offensichtlich, dass sie sich Sorgen machte. Unsicher, wie als ob sie frieren würde, schlang sie ihre Hände um ihren Oberkörper, stieg langsam die Treppe hoch. Heiji blieb kurz zurück, sah ihr kurz nachdenklich hinterher. „Ich weiß, sie dürfen nichts sagen. Aber…“ „Dann frag mich nichts, Heiji Hattori.“ Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. „Du kränkst sonst meine Berufsehre. Wenn du deinen Verdacht bestätigt wissen willst, frag ihn selber. Die Besuchszeit ist noch nicht um.“ Der junge Mann zögerte kurz. „Fein.“, meinte er dann, machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Haus. Dann würde er ihn eben konkret fragen. Wenigstens konnte er ihm diesmal nicht ausweichen oder einfach davon gehen. Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Eri sah ihm nur nach, steckte sich eine verirrte Strähne weg. Sieht aus, als ob du doch noch nicht deine Ruhe hättest für heute, Shinichi. Eri hob die Hand, strich sich eine lose gewordene Strähne hinters Ohr, stieg dann langsam die Treppe hoch. In Gedanken war sie noch immer bei dem Gespräch, das sie gerade mit dem jungen Mann geführt hatte – in ihrem Kopf immer wieder dieses Gesicht. Diese Endgültigkeit in seinen Augen, diese Niedergeschlagenheit – und die Enttäuschung. In ihr wühlte es, rumorte es; sie konnte es kaum verstehen, dachte irgendwie fast, das alles wäre ein schlechter Scherz. Sie kannten ihn so lange, Shinichi Kudô – und ebenso lange seine Eltern, Yukiko und… Yusaku. Und nun war er es. Dein Vater… Yusaku Kudô. Kein Wunder, dass das deine Welt aus den Angeln riss… Als die Tür erneut geöffnet wurde, war er fast eingedöst. Wieder war es Chiba, der den Kopf hereinstreckte. „Nochmal Besuch für dich.“ Shinichi verdrehte die Augen. „Ich will keinen Besuch. Schicken Sie ihn weg.“ „Das kommt nicht in Frage. Nicht bei dem Kandidaten. Der brät mir noch eins über, damit soll ich im Übrigen auch dir drohen, falls du keine Lust auf ein Gespräch hättest.“ Chiba grinste breit. Shinichi fuhr hoch, in seinen Augen ein ungläubiger Ausdruck. „Hattori?“ „Exakt, der.“ „Nicht doch…“, flüsterte er leise. Er konnte sich denken, warum Heiji gekommen war. Er hatte so oft mit ihm über seinen Verdacht reden wollen, und immer wieder war etwas dazwischen gekommen… aber diesmal wollte Shinichi nicht mit ihm reden. Es ging ihn nichts an. „Sie können ihn wirklich nicht wegschicken?“ „Willst du ihn denn wirklich nicht sehen?“ Shinichi stand auf, sehr langsam. Der junge Inspektor schaute ihn erstaunt an. „Eigentlich wirklich nicht, nein.“ „Ich dachte, ihr seid Freunde?“ Shinichi seufzte. „Eben deswegen.“ Chiba schaute ihn nachdenklich an. „Nun, du musst nicht, wenn du wirklich nicht willst…“ „Es interessiert mich nich‘, ob er will.“ Heiji drängte sich an Chiba vorbei in die Zelle. „Hey! Was machst du hier? Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst im Besuchszimmer warten? Besuch in der Zelle ist verboten…“ „Dann machense eben eine Ausnahme.“ Der braungebrannte Detektiv schaute dem Polizeibeamten herausfordernd ins Gesicht. Shinichi starrte ihn an. Heiji schob den völlig perplexen Chiba, der mit der Situation überfordert schien, kurzerhand aus der Zelle und verschloss hinter sich die Tür. Dann drehte er sich um, langsam, lehnte sich gegen den Ausgang. Verschränkte die Arme vor der Brust, schaute zu Boden, abwartend. Shinichi seinerseits rührte sich nicht von der Stelle, sah ihn nicht an. „Ich will keinen Besuch.“ „Interessiert mich nich‘.“, meinte Heiji gelassen, aber nicht ohne einer gewissen Schärfe in der Stimme. Dann hob er den Kopf, sah seinen Freund ruhig, aber auch ein bisschen herausfordernd an. „Nettes kleines Zimmer haste dir genommen. Nicht sehr geschmackvoll eingerichtet, aber immerhin sauber.“ „Was willst du?“, murmelte Shinichi ausweichend, wandte sich ab, verschränkte die Arme vor der Brust. „Wissen, was dieser Auftritt vor der Polizei heute sollt‘! Verdammt, ich dacht‘ ich wär dein Freund?! Ich will dir doch nur helfen, diesmal… wirklich.“ „Mir hilfst du am besten, wenn du mich in Ruhe lässt.“ „Idiot!“ Shinichi drehte sich um, in seinen Augen lag ein einigermaßen wütender Ausdruck. „Darf ich dich dran erinnern, was das letzte Mal los war, als du mir helfen wolltest? Gin…“ „Hätte dich so oder so gekriegt.“ „Besonders hilfreich warst du dennoch nicht.“ Heiji biss sich auf die Lippen. „Ich geb ja zu, ich hab mich daneben benommen, aber…“ „Kein Aber.“ Shinichi schnitt ihm harsch das Wort ab. „Ich hatte heute eigentlich alles erklärt. Ich will keine Hilfe. Ich will nicht, dass ihr da eure Pfoten im Spiel habt. Ich…“ „… ich, ich, ich…!!!“ Heiji schrie, atmete schwer. „Warum willst du dir nicht helfen lassen, du sturer Bock!?“ „Weil mir keiner helfen kann, verdammt!“ Die beiden starrten sich wütend an, ein Knistern lag in der Luft; die Stimmung war erstaunlich schnell in einen Streit ausgeartet. Chiba streckte seinen Kopf herein. „Jungs…“ „Tür zu!“, blaffte Heiji. Der Inspektor beeilte sich, seinen Kopf wieder zurückzuziehen. Dann wandte sich Heiji Shinichi zu. „Warum zum Henker rückst du nicht raus mit der Wahrheit? Warum erzählst du uns nicht einfach alles, und wir hecken gemeinsam einen Plan aus? Das FBI is nich‘ blöd! Deine Eitelkeit als Meisterdetektiv ist hier echt fehl am Platz…!“ Shinichi starrte ihn wutentbrannt an. „Das hat, bitteschön, rein gar nichts mit Eitelkeit zu tun…! Ich hatte es euch heute erklärt – die sind einfach eine Nummer zu groß…“ „…ja, für die Polizei, aber nicht für den großartigen Detektiv des Ostens, nicht für Shinichi Kudô…“, begann Heiji, seine Stimme troff von beißendem Spott. Shinichi starrte ihn an. „Mein Gott, glaubst du das wirklich? Kennst du mich denn immer noch nicht? Ich wär lieber heute als morgen raus aus der Sache. Hast du eine Ahnung, was ich erlebt hab? Was ich durchmache? Ich…“ „Nein, weil du nichts sagst, Kudô! Ich bin kein Hellseher, verdammt!“ Shinichi schluckte, atmete schwer. Heiji stand ihm gegenüber, atmete mindestens genauso heftig, hatte seine Hände vor Zorn zu Fäusten geballt. Als er den beklommenen Gesichtsausdruck auf Shinichis Gesicht bemerkte, verrauchte seine Wut allerdings ein wenig. „Was is los?“, fragte er leise. „Bitte sag es mir. Was ist los?“ Seine Stimme klang eindringlich. Shinichi ließ sich kraftlos auf die Pritsche sinken. „Ich kann nicht.“ „Warum nicht?“ „Weil ich dein Leben nicht auch noch in Gefahr bringen will. Nicht mehr, als es das ohnehin schon ist, weil du mich kennst. Ran hat man schon entführt, um an mich ranzukommen…“ Er lächelte bitter. „Allerdings, dich würden sie wohl gleich abknallen, du bist zu nervig…“ Heiji grinste kurz. „Ich weiß, dass es ein Riesending ist, an dem du da festhängst. Aber Kudô, ehrlich… das Hauptquartier geheim zu halten, damit keiner von uns dahin geht und erschossen wird, versteh ich ja noch. Aber warum deckst du den Boss?“ Shinichi starrte ihn an, hilflos. Er merkte, wie er langsam nicht mehr konnte; er war diese Gespräche wirklich leid, hatte in den letzten zwei Tagen viel zu viele davon geführt. Langsam ließ er den Kopf sinken, vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Für Heiji war das allerdings schon Antwort genug. „Er isses, nicht wahr?“ Die Stimme des Oberschülers aus Osaka klang erstaunlich ruhig, dafür, wie sehr es in ihm eigentlich tobte. Ein wahrer Orkan wütete in ihm, ja,… aber äußerlich wirkte er ruhig. Er hatte sich heute wesentlich besser im Griff als das letzte Mal. Shinichi presste seine Kiefer zusammen, wollte diese Diskussion jetzt nicht führen. Heiji streckte seine Hand aus, packte ihn an der Schulter. „Sag es.“ „Lass mich in Ruhe, bitte. Ich bin fertig, ehrlich.“ „Du musst…“ „Heiji…“ „Nein!“ Nun war er doch ein klitzekleines Bisschen lauter geworden. „Er isses, nicht wahr? Er is der Boss, nicht wahr? Verdammt, nun gib's doch endlich zu, warum deckste ihn, er…“ „Bitte LASS es einfach…!“ „Nein! Du weißt selbst am besten, was er getan hat, nicht nur dir – du weißt, was das für ein Laden ist! Warum machst du dem nicht endlich ein Ende, warum sagst du’s nicht endlich? Er…“ Shinichi schaute auf, blickte ihm in die Augen. „… ist mein Vater, Heiji.“ Seine Stimme war kaum zu hören gewesen, als er gesprochen hatte, aber Heiji hatte ihn dennoch verstanden. „Er ist mein Vater.“, wiederholte er tonlos. „Das ist es doch, was du hören wolltest. Und ich warne dich, bei aller Freundschaft, wenn du das jemandem erzählst, dann…“ Fahrig wischte er sich über die Augen. „Aber…!“ Shinichi stand auf, befand sich dicht vor Heiji; so dicht, dass dieser seinen Atem auf seinem Gesicht spüren könnte, als er sprach. „Das ist nicht dein Problem. Ich decke ihn nicht aus Sentimentalität. Nicht… nicht nur.“ Er schluckte. „Außerdem ist nicht er es, vor dem wir uns fürchten müssen.“ „Aber…“ „Nein.“ Shinichi biss sich auf die Lippen, schüttelte den Kopf. „Ich weiß, was du denkst, was du von mir hältst, aber du kannst mir glauben, er ist nur die Spitze eines Eisbergs… und du weißt, was man sich über Eisberge sagt, nicht wahr?“ Er seufzte tief. „Glaub mir, ich werde nicht vergessen, was ich durchgemacht habe. Was beinahe Ran passiert wäre. Und ich verzeih ihm nicht, was er getan hat. Aber Fakt ist…“ Sein Gesicht verzog sich kurz, ganz flüchtig konnte Heiji die innere Qual sehen, die seinen Freund wohl schon seit Tagen zerriss. „… ohne ihn wäre ich tot. Und Ran… Ran auch. Meine Mum wohl auch. Wenn du glaubst, das alles lässt mich kalt, irrst du dich. Wenn du glaubst, ich will den Laden so lassen, wie er ist, irrst du auch. Aber hänge ich ihn jetzt hin… mal ganz ungeachtet der Tatsache, dass er mein Vater ist, auch wenn ich ihn dafür hasse, was er mir angetan hat, und dafür, was er ist…“ Er schnappte nach Luft, wie ein Ertrinkender, dessen Kopf von den Wellen ständig überschwemmt wurde, ständig unter Wasser tauchte, weil alles an ihm ihn nach unten zog, in die Tiefe. Heiji konnte fast sehen, wie die Wassermassen über ihm wieder zusammenschlugen, als er weitersprach. „Aber hänge ich ihn jetzt hin, Heiji, dann ist keinem geholfen. Er ist es nicht, der uns umbringen will. Sie sind es. Und ohne seine Hilfe kann ich den Laden nicht ausheben. Außerdem… du kennst die Konsequenzen, man würde ihn zum Tode verurteilen. Ich wäre sein Richter, sein Henker… das kann ich nicht… nicht so ohne weiteres, nicht, ohne mit ihm noch einmal vernünftig gesprochen zu haben, und glaub mir, die letzten beiden Gespräche, die wir geführt haben… “ Er lächelte bitter. „… waren nicht unbedingt das, was man vernünftig nennt.“ Nun war es Heiji, der sich auf die Pritsche setzte, und seinen Kopf auf seine Hände sinken ließ. Shinichi setzte sich neben ihn, lehnte sich gegen die kalte Wand, starrte blicklos an die Decke. „Und was machste jetzt?“ Heiji warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Shinichi überlegte kurz; er würde ihm auf keinen Fall alles sagen. Heiji würde darauf drängen mitzukommen, ihm zu helfen, und das wollte er nicht. Das musste er allein machen. „Morgen auf mein Zeugnisverweigerungsrecht bestehen.“ „Weil du mit einer Aussage dich oder einen Angehörigen beschuldigen würdest.“ Heiji nickte. „Klingt logisch. Dann müssen die dich eigentlich gehen lassen.“ „Ich hoff's. Eigentlich hab ich keine Zeit zum Warten.“ Heiji zog ein Bein an seinen Körper, legte seine Arme um sein Knie. „Und dann?“ „Dann werd ich mit ihm reden müssen, fürchte ich. Und eine Lösung finden. So oder so, morgen wird eine Entscheidung fallen. Gefallen wird sie mir nicht, in keinem Fall… aber was zählt das schon.“ Er wischte sich über die Augen. „Ich dachte ja nie, dass das mal so endet… dass das diese Dimensionen annimmt. Dass… das so persönlich wird.“ Der junge Mann versuchte zu schlucken, merkte, wie ausgetrocknet sein Mund eigentlich war. „Heiji… du… hältst doch dicht? Versprichst du mir das?“ Heiji spürte Shinichis eindringlichen Blick, wandte zögernd den Kopf. „Du unternimmst…“ „Ja.“ Shinichi nickte bestimmt. „Ich lass das in keinem Fall so stehen, das weißt du. Aber ich… würde das gern auf meine Weise klären. Ich will nicht in Megurés Büro sitzen und meinen Vater belasten, der in dieser Zelle hier sitzt. Das… musst du verstehen…“ „Das tu ich.“ Heiji schluckte hart. Eine Weile schwiegen beide, ehe der Detektiv aus Osaka wieder das Wort ergriff. „Hör zu, Kudô, mein Ausraster damals bei euch im Garten, ich…“ Shinichi winkte ab. „Vergiss das.“ „Aber…“ Der junge Mann schüttelte bedächtig den Kopf, warf seinem Freund einen verständnisvollen Blick zu. „Ehrlich, vergiss es. Jede andere Reaktion hätte mich überrascht, auch wenn sie etwas… frustrierend für mich war in der Situation. Ich nehm dir das nicht übel, also… hake es als passé ab.“ Dann sah er ihn an, plötzlich. In seinen Augen ein seltsam ernster Ausdruck. „Heiji, wo wir gerade mal unsere Ruhe haben und uns nicht anschreien - etwas anderes, von Freund zu Freund…“ „Hm?“ Shinichi schaute ihn nachdenklich an. „Was ist eigentlich… mit dir und Kazuha?“ Heiji starrte ihn an, merkte, wie ihm auf einmal unerträglich heiß wurde. „Was soll sein…?“ Shinichi verzog das Gesicht genervt. „Du weißt, was sein sollte. Du solltest ihr endlich sagen, was Sache ist, wie lange willst du das noch rausschieben? Ich meine, sie fährt dir nach, sie…“ „Das tut sie als Freundin…“ „Ja, als die Freundin.“ Shinichi seufzte leise. „Heiji, ehrlich… hast du eine Ahnung, was du dir entgehen lässt? Ich… hab auch viel zu lang gebraucht, hab mich auch viel zu lang nicht getraut, und dann kam der ganze Mist hier…“ Er schüttelte den Kopf. „Aber das alles wird viel erträglicher, wenn ich… an sie denke. Weil ich weiß, sie… wartet. Auf mich.“ Ein kurzes, verschämtes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Eigentlich will ich dir das nicht sagen müssen. Aber da wir befreundet sind, ist es wohl meine Pflicht, dir mal in den Hintern zu treten. Sag ihr was Sache ist, sie wartet doch darauf. Nur deshalb ist sie hier. Sie ist wegen dir hier, nicht wegen mir. Sie passt auf dich auf. Sorgt sich um dich. Du… sollest sie wirklich mal wissen lassen, wie sehr du das schätzt. Eigentlich.“ Unvermittelt ging die Tür auf und Chiba steckte den Kopf herein. Die beiden Detektive starrten ihn einigermaßen erschrocken wie genervt an. „Es ist so leise… habt ihr euch umgebracht, gegenseitig?“ Er seufzte. „Netterweise nicht, prima. Sonst hätte ich ein Problem mit dem Chef.“ Ein schiefes Lächeln huschte ihm über die Lippen. „Die Besuchszeit ist vorbei, ich muss dich bitten…“ Heiji nickte, erhob sich, drehte sich noch einmal zu Shinichi um. „Wir seh’n uns morgen?“ „Aller Wahrscheinlichkeit nach, ja.“ Shinichi nickte, hob die Hand zum Gruß. „Bestell Kazuha Grüße von mir.“ Heiji grinste säuerlich, drehte sich dann um, verließ die Zelle. Kaum stand er auf dem Gang, wich sein Lächeln jedoch einer sehr ernsten Miene. Chiba fiel das sehr wohl auf; allerdings wagte er nicht, ihn darauf anzusprechen. Shinichi hingegen machte sich auf seinem Bett lang, starrte wieder die Betondecke über seinem Kopf an. Ging seinen Plan für morgen durch, seufzte leise. Er wusste, was auf dem Spiel stand. Eine zweite Chance würde er nicht bekommen. Kapitel 46: Kapitel 28: Schlaflose Nacht, rastloser Tag ------------------------------------------------------- Tja... zur Feier des Tages, etwas früher und doch verspätet - ein recht umfangreiches Kapitel. Der Anfang vom Ende. Mit den allerbesten Grüßen, und dem allerherzlichsten Dank für eure Treue und eure Kommentare! Lehnt euch zurück, viel Vergnügen. Eure Leira _______________________________________________________________________________ Kapitel achtundzwanzig: Schlaflose Nacht, rastloser Tag Unruhig wälzte Yusaku sich in seinem Bett. Yukiko lag neben ihm, tat so, als schliefe sie; in Wirklichkeit aber war sie hellwach. Und bekam deshalb sehr wohl mit, dass es sich mit ihrem Mann ebenso verhielt. Irgendwann war er still geworden, starrte mit weit offenen Augen die Decke ihres Schlafzimmers an, sah die silbernen Streifen, die der Mond durch einen Spalt in den Vorhängen vor dem Fenster quetschte, an und seufzte tief. Yukiko drehte sich ebenfalls auf den Rücken, wandte den Kopf. Er hörte es rascheln, leise, wandte sich ihr aber nicht zu. „Yusaku…“, murmelte sie, unfähig, den Satz zu beenden. Sie hatte reden wollen mit ihm, über Shinichi, über alle möglichen Personen, die er decken könnte – bis sie nachgezählt hatte, und auf sehr wenige Menschen gekommen war, die eigentlich noch als Boss in Frage kamen. Es gab nur wenige, die sich immer noch wirklich verdächtig verhielten, es gab nur wenige, denen Shinichi nicht in die Augen gesehen hatte, seit er wieder wusste, was passiert war und nur wenige, denen sie es zutrauen würde, diese Organisation zu leiten. Wahrscheinlich gab es nur einen. Und ganz sicher gab es nur einen, für den, so schätzte sie, Shinichi sich nicht anders zu helfen wusste, um die erste große Katastrophe abzuwenden, als in den Knast zu gehen. Wo er jetzt lag, wohl, und hoffentlich schlief. Irgendwie mochte sie daran so recht nicht glauben; erstens, weil das Gefängnis bestimmt nicht unbedingt ein idealer Schlafplatz war, ganz generell; und zweitens… weil Shinichi mit dem Wissen lebte, dass jemand ein Mörder war, jemand, den er verehrte, gut kannte… wahrscheinlich liebte. „Yusaku…“, begann sie erneut. Er hörte den Zweifel in ihrer Stimme und auch dieses immense Fragezeichen, das der Stille folgte. Der Schriftsteller setzte sich auf, wischte sich über die Augen, müde. Sie brannten, und sein Kopf schmerzte; er fühlte sich wie gerädert, und wusste, woher das kam. Er fühlte sich gehetzt, jetzt schon, obwohl noch nichts passiert war; er sah das Ende kommen, wusste, dass er es nicht verhindern konnte, und hoffte es dennoch. Irgendwie hoffte er es. Dann schwang er die Beine aus dem Bett, langsam. „Versuch zu schlafen, Yukiko.“ Er beugte sich zu ihr, gab ihr einen Kuss auf die Stirn; und wunderte sich, dass sie immer noch nicht zurückzuckte vor ihm. Du bist doch nicht dumm, Yuki… Du weißt es doch schon längst. Aber wahrscheinlich ist es bei dir und mir, wie es mit Shinichi und Ran war… sie wollte es auch nicht glauben, auch dann nicht, als ihr die Wahrheit lauthals und voller Verachtung ins Gesicht lachte. Mach du nicht denselben Fehler. Der Sturz von diesem Lügengebäude kann fatal sein. Damit stand er auf, zog sich seinen Morgenmantel über, verließ das Zimmer schleppenden Schrittes und hängenden Kopfes. Yukiko starrte ihm wortlos hinter her, fröstelte – zog die Decke enger um ihre Schultern, vergebens. Er hingegen stieg langsam die Treppe hinunter, ins Wohnzimmer, ging zu seinem Schreibtisch. Schwerfällig ließ er sich in seinen Stuhl sinken, knipste seine Schreibtischlampe an und dimmte das Licht, bis es gerade noch hell genug zum Schreiben war, nur noch den Platz auf dem Tisch vor ihm sanft erhellte. Dann zog er sich einen Bogen weißes Papier heran, griff nach seinem Füller, schraubte ihn auf, bedächtig, fast feierlich. Langsam setzte er die Spitze aufs Papier. Meine liebe Yukiko, Er biss sich auf die Lippen. Persönlich konnte er es ihr nicht sagen, er konnte ihr dabei nicht ins Gesicht sehen; also würde er ihr die Geschichte aufschreiben. Allerdings, damit durfte er sich nun auch nicht mehr zu lange Zeit lassen. Wer wusste schon, was morgen geschah; morgen, wenn Shinichi reden musste. Irgendetwas flüsterte ihm ins Ohr, dass morgen der Tag der Entscheidungen war. Der Tag… aller Entscheidungen. Und so fasste er sich, murmelte leise Formulierungen vor sich hin, ehe er sich für eine entschied, und wohlüberlegt weiterschrieb. zuallererst… möchte ich dich um Verzeihung bitten, dass du es auf diese Weise erfahren musstest. Einerseits hätte ich es dir gern selbst gesagt, andererseits… weiß ich nicht, ob ich je den Mut gefunden hätte, es dir zu sagen, und dir dabei ins Gesicht zu sehen. Ich hätte heute Nacht die Gelegenheit gehabt, aber ich war zu feige… wie du weißt. Ich bin ein ganz entsetzlicher Feigling. „Ja, das bin ich wohl.“ Er seufzte, kratzte sich an der Nase, schob seine Brille mit dem Ende seines Füllers ein wenig höher. Du liegst jetzt oben in unserem Bett, in unserem Schlafzimmer und weißt dir wohl keinen Rat mehr; eigentlich, Yukiko, ahnst du es doch längst. Ich hab es gesehen, in deinen Augen. Du willst es noch nicht glauben – und glaub mir, ich würde dir so gern sagen, dass das alles gar nicht wahr ist. Dass es nichts weiter ist als ein böser Traum. Ich möchte aufwachen morgen, mit dir, und mit Shinichi und unser Leben führen wie bisher, will diese Dinge alle ungeschehen machen. Der Schriftsteller räusperte sich, strich sich über die Augen. Leider kann ich genau das nicht tun. Wenn du diesen Brief hier liest, bin ich weg – vielleicht im Gefängnis, vielleicht tot, auf jeden Fall… komme ich nie mehr wieder. Ich hoffe, ich kann in diesem Leben noch irgendetwas richtig machen, es wird sich zeigen. Auf jeden Fall… wird es wohl die Runde gemacht haben, mittlerweile, dass der, gegen den Shinichi all die Zeit ohne sein Wissen gekämpft hat, ich selbst war. Ich bin der Boss dieses Syndikats, das so vielen Menschen so großes Unglück gebracht hat. Ich. Als seine Hand zu zittern anfing, hielt er kurz inne, schluckte schwer. Und ich bin auf meine Taten nicht stolz. Wahrscheinlich hasst du mich jetzt, verachtest mich… schämst dich, dass du mir vertraut hast, all die Jahre. Fragst dich vielleicht, wie du darauf hast hereinfallen können, warum es dir nicht aufgefallen ist. Das… tut mir Leid, Yukiko. Lass mich dich dennoch um einen letzten Gefallen bitten. Bitte… hör mir zu. Lies diese Geschichte von vorne, damit du verstehst… Ich will nicht, dass du mir vergibst, aber du sollst verstehen, warum mein Leben so lief, wie es gelaufen ist. Und damit auch deins nun diese Wendung nehmen muss. Er schaute auf, atmete durch; dann nahm er das Blatt in die Hand, las aufmerksam durch, was er bis jetzt zu Papier gebracht hatte; nickte und hatte dabei das Gefühl, sein Kopf müsse mit Blei gefüllt sein, so viel Mühe machte ihm diese kurze Bewegung; und fuhr fort. Yukiko saß immer noch im Bett, starrte die Tür an. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte; sie wollte nicht schlafen, konnte auch gar nicht. Andererseits wagte sie auch nicht, ihm sofort zu folgen, er war so seltsam gewesen, gerade eben. Abweisend, und doch auch wieder nicht. Sie hatte das Gefühl, dass er eigentlich dringend ihre Hilfe brauchte – sie aber um keinen Preis darum bitten wollte und sie auch nicht annehmen würde, bäte sie sie ihm von sich aus an. Unwillig strich sie sich ihre Locken aus dem Gesicht, kämpfte sich dann aus ihrer Decke frei, glitt aus dem Bett, sacht. Langsam und zögernd schlüpfte sie in ihre Pantoffeln, spürte den weichen, warmen Stoff an ihren Füßen, seufzte. Dann stand sie auf, griff nach dem Morgenmantel, der über dem Garderobenständer hing, warf ihn sich über. Kurz hielt sie noch inne; dann verließ auch sie das Schlafzimmer. Sie fand ihn im Wohnzimmer, wo er gerade einen Brief zuklebte. Er sah sie überrascht an, legte das Kuvert dann bedächtig zur Seite, wohlüberlegt so, dass sie den Empfänger, den er bereits darauf geschrieben hatte, nicht sehen konnte. „Yuki, du solltest doch schlafen.“, murmelte er leise, spürte einen Kloß in seinem Hals. Sie seufzte leise, sagte nichts. „Morgen wird ein… sehr anstrengender Tag für uns alle.“, fügte er an, bückte sich ein wenig, griff nach der Topfpflanze, einem Ficus, die neben dem Schreibtisch stand, hob sie aus dem Übertopf und fischte nach dem Schlüssel für die verschließbare Schublade seines Schreibtischs. Yukiko zog ihre Augenbrauen hoch, trat langsam näher. „Da versteckst du den?“ Er nickte langsam, lächelte. Er steckte den Schlüssel ein. „Sag ihm, dass er es lesen soll, bitte. Das letzte Buch. Auch wenn er ihn nicht mochte, den Baron der Nacht...“ Yukiko trat näher, schaute ihn nun definitiv beunruhig an. „Warum sagst du ihm das nicht selbst?“ Yusaku antwortete nicht, rollte nur langsam mit seinem Schreibtischstuhl nach hinten, wollte aufstehen. Yukiko hingegen tippte ihn an der Nase, hielt ihn auf dem Stuhl, ließ sich langsam auf seine Knie sinken. „Yusaku, wenn du darüber reden willst…“ Er schüttelte den Kopf, langsam, presste seine Lippen aufeinander. Sie strich ihm mit der Hand über die Schläfe, langsam, fuhr mit ihren Fingern durch seine Haare. Er schloss die Augen, bedächtig, seufzte lautlos. Sie ließ seine Stirn gegen seine sinken, sah ihn aus blauen Augen sorgenvoll an. „Ich merk doch, dass etwas nicht stimmt, Yusaku.“, flüsterte sie leise. Er öffnete die Augen wieder, sah sie an, griff nach ihrer Wange, strich ihr mit dem Daumen über die Haut. „Ich weiß.“ „Es macht mir Angst, wenn du nicht redest. Dieses Schweigen hat bis jetzt keinem von euch beiden geholfen, Yusaku, dir nicht, und Shinichi auch nicht…“ Er lächelte bitter. „Ich versprech dir, Yukiko, du wirst alles erfahren, zur rechten Zeit. Aber nicht heute Nacht.“ Unwillkürlich schlang er seine Arme um ihre Taille, drückte sie an sich. Sie atmete langsam aus, legte ihre Arme um seinen Hals, strich ihm immer wieder durch die Haare. Sie konnte nicht verhindern, dass in ihr ein unglaublich beklemmendes Gefühl erwachte, dass ihr immer mehr die Luft zum Atmen raubte. Yusaku… Shinichi lag auf seiner Pritsche und starrte die gegenüberliegende Wand an; sein Rücken tat ihm weh, das Bett war schrecklich unbequem. Deshalb hatte er sich auf die Seite gerollt, das winzige Kopfkissen zu einem Knoten geballt unter seinen Kopf gestopft, und lauschte seinem eigenen Atem in der Dunkelheit. Immerhin hatte er das Zimmer für sich allein, und immerhin sah es hier nicht aus wie in diesen Gefängnissen, die man in den amerikanischen Spielfilmen sah; diese offenen vergitterten Käfige, in denen man sich den Blicken des Nachbarn gegenüber immer ausgeliefert wähnte, und in denen man niemals seine Ruhe hatte; Geschrei, Gerede, Gelächter und Geheule überall. Hier hingegen war es still, mucksmäuschenstill, absolut… totenstill. Shinichi streckte einen Arm aus, berührte den Boden mit den Fingerspitzen, hob die Hand und begutachtete den Dreck, der an seinen Fingern klebte. „Du musst mit ihm reden…“ Rans Stimme klang in seinen Ohren. Muss ich das? Muss ich das wirklich? Ich will nicht, eigentlich… Aber es stimmt wohl, ich muss. Wenn ich alles verstehen will, brauch ich alle Fakten… die ganze Wahrheit. Er schluckte schwer. Mit seiner Aussage vor Gericht morgen, beziehungsweise seiner Verweigerung jeglicher Aussage vor Gericht, würde er den Stein ins Rollen bringen, unvermeidlich. Shinichi wusste, er durfte hinterher keinerlei Zeit mehr verlieren; er musste mit seinem Vater reden, und hoffen, dass er ihm half. Der Plan stand, morgen würden alle Mitglieder im Haus sein, und deswegen galt es, sie alle festzuhalten, sowie das Triumvirat auszuschalten… das unter Umständen den Braten schon gerochen hatte. Es durfte keiner entkommen, sonst waren sie erledigt – und nicht nur das. Alles wäre umsonst gewesen. Sollte er scheitern, dann bedeutete das sowohl den Tod vieler, die ihm etwas bedeuteten, und sowie auch den fulminanten Sieg für die Organisation – die auf Jahre hinweg ungehemmt weiter ihr Unwesen treiben würde können. Shinichi setzte sich auf, stützte die Ellenbogen auf die Knie, ließ seinen Kopf in seine Hände sinken. Ein schwerer Seufzer entfloh seinen Lippen. Egal wie der Tag morgen ausging, es würde nie wieder alles sein wie vorher. Er hatte keine Ahnung, was auf ihn zukam, aber er spürte die Veränderung, die dieses etwas mit sich brachte. Fast reuevoll dachte er an die vergangene Nacht; an die Flucht, generell, an seinen Umgang mit Ran. Eigentlich hatte er wieder einmal reichlich unüberlegt und verantwortungslos gehandelt; er hatte doch gewusst, dass das kein gutes Ende nehmen würde, die Hoffnung hatte er aufgeben. Er wollte, dass sie lebte, und es wäre einfacher für sie geworden, hätte er es bei ihrer etwas angeknacksten Freundschaft belassen; diese Berg-und Talfahrt der Gefühle hatte bei ihnen beiden Spuren hinterlassen. Jetzt aber, da sie ahnte, dass er sie liebte, weil… und das gab er ungern zu, sein Verhalten, seine Gesten, die Tatsache, dass er… ihr so nahe gekommen war, eine recht deutliche Sprache gesprochen hatten - würde es umso schwerer werden, wenn er zurückkehrte. Noch dazu als Sohn, der seinen Vater ans Messer geliefert hatte, als junger Mann, der eigentlich schon mehr ertrug, als er tatsächlich zu ertragen bereit war, und das war eigentlich einiges. Er hatte die Schmerzgrenze erreicht, das wusste er. Und er wusste auch, dass nur sie es eigentlich noch erträglich machte. Allerdings hättest du jemand anderes verdient, Ran. Nicht jemanden, dessen Vater ein gesuchter Mörder ist. Nicht jemanden, der diesen Vater deckt… um ihn dann doch auszuliefern. Jemanden, der noch optimistisch in die Zukunft sehen kann, jemand, der nicht so sehr ausnutzt, was du gibst, wie ich. Du hältst mich am Leben, aber wie lebst du…? Ist das denn fair? Shinichi schluckte, stand auf, langsam, ging in seiner Zelle auf und ab. Ich liebe dich… Aber hättest du nicht eine ganz normale Beziehung verdient? Nicht so eine wie mit mir, eine mit derartigen Tiefen… Aber was soll ich tun, wenn ich dich sehe, wenn du vor mir stehst, dann will ich nur, dass du glücklich bist. Ich will dich lächeln sehen. Ich würde alles, wirklich alles, tun, damit du lächelst. Langsam lehnte er sich gegen die Tür, stieß mit der Stirn gegen das kalte Metall, steckte seine Hände in seine Hosentaschen. „Was mach ich nur, Ran?“ Ran saß in ihrem Bett, ein Buch in der Hand, aber las nicht; seit Minuten starrte sie die Buchstaben an, die vor ihren Augen verschwammen und einen trägen Tanz aufzuführen begannen. Ihre Mutter blieb, wie es aussah über Nacht; es war schon spät, aber sie machte keine Anstalten, zu gehen. Sie konnte sie immer noch mit ihrem Vater reden hören, in der Küche. „Eri, erzähl mir nichts. Er deckt ihn.“ Kogorô zog nervös an seiner Zigarette. „Den Boss. Und ich will gar nicht daran denken, aber verdammt, eine große Auswahl haben wir nicht… was passiert morgen, wenn er auspackt?“ Eri nahm ihrem Mann nachdenklich die Zigarette aus der Hand. „Wer sagt, dass er auspackt?“ „Äh…?“ Kogorô schaute seine Frau bass erstaunt an. „Mein Lieber, die können ihn einsperren, solange sie wollen, er wird nicht auspacken. Ich denke, er ist anderes gewöhnt, da sollte der Knast fast Urlaub sein, abgesehen davon, dass ihn die Warterei an den Rand des Wahnsinns treibt, weil er die Kontrolle über das Geschehen verliert, nicht eingreifen kann…“ „Aber… sagtest du nicht…?“ Sie sah auf, Amüsement war in ihren blauen Augen zu lesen, die sie hinter ihrer großen Brille versteckte. Er seufzte, schaute sie fast ein wenig versonnen an; diese Art von Brille trug sie schon immer, aber er hatte gesehen, was dahinter steckte - und sah es auch heute. Er ahnte, auf was sie anspielte, und wusste doch, sie würde es nicht sagen; er war ihr Mandant, sie seine Anwältin, ganz egal, wie sehr er schon Familienmitglied geworden war. Das belustigte Funkeln verschwand aus Eris Augen, als sie sah, dass ihr Mann die richtigen Schlüsse zog. Sie hob die Zigarette an ihre Lippen, sog kurz daran, blies den Rauch dann elegant zur Seite, stand auf. „Bemüh dich nicht, Kogorô, ich weiß noch, wo das Schlafzimmer ist. Aber ich warne dich, ich muss morgen früh raus, und ich werde dich wecken, gnadenlos.“ Kogorô nahm ihr die Zigarette wieder ab, schnaubte nur leise, grummelte etwas Unverständliches und steckte sich die Zigarette wieder in den Mundwinkel, starrte auf die Tischplatte. Er sah ihr aus dem Augenwinkel nach, wie sie verschwand, dachte über ihre Worte nach, und über den Sinn, den sie jetzt ergaben. Wenn du nicht auspackst, Kudô, und aber trotzdem aus dem Gefängnis freikommst, dann geht das nur auf einem Weg… Und dieser Weg beschränkt den Kreis der Verdächtigen auf drei Personen. Dich selbst, Shinichi… und deine Eltern. Ich denke, wir wissen alle, wen wir ausschließen können. Verdammt. Ran schluckte, biss sich auf die Lippen. Eigentlich ließ dieses Gespräch nur einen Schluss zu; die Befürchtung, die sie hegte, seit er bei ihr gewesen war, bestätigte sich einmal mehr. Also ist er es doch, Shinichi. Kein Wunder, dass er so fertig gewesen war. So ratlos; so wütend und verzweifelt gleichzeitig. Er wusste, er rüttelte an den Grundfesten seines Lebens. Und sie ahnte, die einzige echte Konstante, die er noch hatte, war sie. Und ich lauf dir nicht weg. Zwischen uns ändert sich nichts, auch wenn du das befürchtest. Sie seufzte, drehte ihren Kopf ein wenig im Kopfkissen, presste ihre Nase gegen den Stoff; es roch ein wenig nach ihm, dort, wo er gestern gelegen hatte. Ein verwundertes Lächeln huschte ihr über die Lippen; dass es doch so einfach war; jemanden am Geruch zu erkennen? Am Aussehen erkannte man sie am einfachsten, an der Stimme auch – die Menschen, die man liebte. Aber am Duft…? Gedankenverloren strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, klappte ihr Buch zu, legte es beiseite. Was wirst du tun, Shinichi? Nachdem du mit ihm gesprochen hast, und wir wissen beide, das wirst du… wird euer beider Leben nicht mehr so sein wie vorher. Und noch dazu hast du deinen Fall noch nicht abgeschlossen. Du näherst dich dem Ende, langsam, aber beständig, aber die letzten Schritte… … sind die schwersten, nicht wahr? Und die gefährlichsten… *** Er fühlte sich wie gerädert, als er am nächsten Tag aufwachte. Ein leises Ächzen glitt im über die Lippen, als er merkte, wie weh ihm sein Rücken tat – dann gähnte er, strich sich über die Augen. Durch ein winziges Fenster schien etwas Licht ins Zimmer. Das Fenster war zwar weit oben angebracht, allerdings kam es Shinichi doch ein wenig sehr weit weg vor. Kurz überfiel ihn die Angst, über Nacht ein paar Zentimeter Körpergröße eingebüßt zu haben, als er bemerkte, wo er sich befand – und damit auch den wahrscheinlichsten Grund für seine Rückenschmerzen gefunden hatte. Er lag auf dem Boden. Langsam drehte er den Kopf, bemerkte die dünne Wolldecke, die halb über ihm hing; offenbar war er doch noch irgendwann eingeschlafen, allerdings aus dem Bett gefallen, dabei. Irgendwie entwickelte er in letzter Zeit wohl eine Neigung dazu, außerhalb seines Bettes aufzuwachen aus welchem Grund auch immer. Shinichi lächelte säuerlich, strich sich erneut über die müden Augen, streifte sich seine Haare aus der Stirn, besah sich kurz seine Hand – irgendwie musste er sich doch noch vergewissern, dass alles so groß war, wie es sein sollte – ließ sie dann auf den Boden fallen, kraftlos. Ein lautes Seufzen befreite sich aus seiner Brust. Dann raffte er sich auf, setzte sich mühselig auf, kniff die Augen zusammen – sein Rücken schmerzte wirklich fürchterlich – und zog sich an der Bettkante hoch. Unwillig starrte er aus dem Fenster. Es war noch nicht sonderlich hell, das hieß, es war noch früher Vormittag. Und was mach ich so lang? Verdammt. Nachdenklich rieb er sich das Kinn. Dabei fiel sein Blick auf das Waschbecken in der Ecke. Ein Becher stand da, und eine eingepackte Billigzahnbürste, zusammen mit einer Reiseportion Zahnpasta. Und erst jetzt fiel ihm auf, was er für einen schalen Geschmack im Mund hatte. Warum eigentlich nicht? Wenn ich schon hier bin, sollte ich den Service, den dieses Etablissement bietet, auch nutzen. Mit einem schiefen Lächeln stand er also schließlich auf, schlurfte unmotiviert drei Schritte weiter zum Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf und ließ ihn kurz laufen, ehe er sich einen Schluck zu trinken genehmigte. Anschließend fing er an, sich die Zähne zu putzen, und zwar gründlich. Er hatte ja alle Zeit der Welt, offenbar. Gerade als er fertig geworden war und die letzten Reste der viel zu minzlastigen Zahnpasta ausgespült hatte, ging die Tür auf. Herein trat Kommissar Meguré, eine Tüte und einen Pappbecher in der Hand. Shinichi fuhr sich mit dem Ärmel über die Lippen, schaute ihn überrascht an. „Ich hatte keine Ahnung, dass man hier nicht mal Geld für einen ordentlichen Zimmerservice hat, Kommissar. Ich hoffe, sie bekommen wenigstens ein Extragehalt dafür.“ Er sah, wie er Meguré ein kleines Lächeln entlockte mit seiner fast schon dreisten Bemerkung, trat dann näher, setzte sich einer entsprechenden Handbewegung Megurés folgend auf sein Bett. Der Kommissar zog sich den einzigen Stuhl im Raum heran, ließ sich ebenfalls nieder, drückte dem jungen Detektiv ihm gegenüber die Tüte und den Becher, dessen Inhalt sich als Kaffee einer einschlägigen Coffeeshopkette entpuppte, in die Hand. Shinichi warf ihm einen fragenden Blick zu, trank dann jedoch einen Schluck, und kam nicht umhin, ihn zu genießen. „Der hier auf dem Revier schmeckt einfach grauenhaft.“, meinte der Kommissar mit einem gewissen Grad von Abscheu in der Stimme. Shinichi sah ihn an. „Kann ich, glaub ich, nicht beurteilen. Ich hab hier noch nie welchen getrunken.“ Die Tatsache überraschte ihn fast selbst. Meguré lächelte. „Nun, ich war so frei, und hab dir Frühstück besorgt. Und nein, es ist nicht mit irgendwelchen Mittelchen versetzt, die deine Redseeligkeit fördern könnten. Du weißt, solche Aussagen dürfen nicht gewertet werden.“ Er sah Shinichi zu, der die Tüte öffnete und ein Sandwich herausholte. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Kommissar.“ Unwillig schluckte er, merkte, wie trocken sein Hals geworden war. „Ich hoffe auch, sie reißen es mir nicht gleich wieder aus den Händen, wenn ich Ihnen sage, dass ich meine Meinung nicht geändert habe. Ich werde Ihnen nichts sagen. Ich… kann nicht.“ Meguré wiegte schwer seinen Kopf, knetete den Saum seines Mantels, der sich mittlerweile merklich um seine Leibesmitte spannte. „Das habe ich befürchtet, Shinichi. Und auch wenn ich es nicht verstehen will, respektiere ich es. Also iss dein Sandwich ruhig.“ Er lehnte sich zurück. „Ich dachte mir nur, vielleicht willst du ein wenig Gesellschaft.“ Shinichi schaute ihn vorsichtig an, ehe er in das Sandwich biss. Ihn hatte eine gute Ahnung beschlichen, was der Kommissar neben der Tatsache, dass er ihm wohl wirklich einfach nur etwas Gutes tun wollte, vorhatte. Mich in ein Gespräch verwickeln, mich unvorsichtig machen, mir Informationen entlocken, die ich auf gezielte Fragen nicht rausrücken würde, nicht wahr, Kommissar? Ich kenne die Methoden. Leider sind sie oft sehr erfolgversprechend. Shinichi spülte den Bissen mit einem Schluck Kaffee runter. „Tun Sie sich keinen Zwang an, Kommissar. Ich… hab Zeit.“ Er verzog das Gesicht. Meguré schaute ihn bekümmert an. „Du weißt, das müsste nicht sein.“ „Ja.“ Der junge Detektiv wandte den Kopf ab. „Aber es ändert nichts daran, dass es so ist.“ „Eri Kisaki vertritt dich also? Auf was wird sie plädieren?“ Shinichi sah ihn aus den Augenwinkeln an. „Ja. Und das werden Sie dann sehen, Kommissar.“ „Shinichi…“ Der alte Mann seufzte bekümmert. Shinichi schüttelte langsam den Kopf, auf seinem Gesicht ein sorgenvoller Ausdruck. „Ich würde gern… alles erzählen, was ich weiß. Das… müssen Sie mir glauben, und irgendwo in ihrem Kopf, da wissen Sie das auch. Allerdings kann ich Ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählen, jetzt noch nicht. Wenn diese Sache vorüber ist, und das wird sie bald sein… dann werden Sie verstehen. Und wenn nicht, werde ich es ihnen haarklein erklären.“ Der Kommissar sah ihn an. In seinen Augen lag ein etwas niedergeschlagener Ausdruck. „Wenn du dann noch lebst, heißt das.“ Shinichi biss sich auf die Lippen. „Ich denke, darüber sollten wir nicht reden. Gehen wir… einfach mal davon aus.“ „Tust du das wirklich?“ Meguré war aufgestanden, in seiner Stimme lag plötzlich ein Hauch von Schärfe. Shinichi trank seinen Kaffee in einem Zug aus, bereute es fast umgehend. Die heiße Flüssigkeit brannte sich ihren Weg die Speiseröhre entlang in seinen Magen. Er verzog das Gesicht, schluckte. „Darüber will ich nicht reden.“ „Weil du genau das nicht tust. Du gehst nicht davon aus, dass du das überlebst. Du bist wie dieser verdammte Holmes, den du so verehrst. Lieber stürzt du dich mit Moriarty die Reichenbachfälle hinunter, als dass du dir helfen lässt…“ Shinichi stand auf, merkte, wie in ihm die Wut hochkochte. „Das ist nicht wahr!“ Er keuchte. Meguré schaute ihn scharf an. „Und was unterscheidet euch? Wenn ich fragen darf? Ich sehe nur zwei eitle, von sich selbst überzeugte Detektive. Gut, du magst ein wenig jünger sein…“, er lächelte zynisch, „aber im Grunde genommen bist du wie er. Traust keinem anderen etwas zu außer dir selbst und willst alles immer allein machen.“ Shinichi straffte die Schultern. „Ich traue Ihnen sehr wohl etwas zu. Und ich werde Ihre Hilfe auch noch brauchen, aber zu meiner Zeit.“ Er biss sich erneut auf die Lippen, fester diesmal, ehe er fortfuhr. „Und abgesehen davon trieb Holmes nicht die Eitelkeit oder Selbstgefälligkeit. Er wusste, mit wem er es zu tun hatte, und wollte nicht mehr Leute gefährden als nötig. Und das ist bei mir genauso.“ Unwirsch schüttelte er den Kopf. „Abgesehen davon unterscheidet Sherlock Holmes und mich die simple Tatsache, dass… er eine fiktive Romanfigur ist, die nie gelebt hat, und ich ein Mensch bin. Ein echter Mensch.“ Er schaute auf, begegnete dem ernsten Blick des Kommissars. „Und genau das, Kudô, ist der Grund, warum du hier sitzt. Im Gegenteil zu Holmes kannst du wirklich sterben. Du kannst von mir nicht verlangen, dass ich zusehe, tatenlos, wie du in dein Verderben rennst. Und wenn ich es könnte, würde ich dich hier einsperren, bis du schwarz wirst.“ Seine Stimme war gegen Ende seiner Rede immer leiser geworden, hatte sich fast auf ein leises, unverständliches Knurren reduziert. Nun presste er seine Kiefer zusammen, starrte den Jungen, der ihn erstaunt ansah, wortlos an; dann drehte er sich um, verließ den Raum. Stumm. Shinichi stand da, sah die Tür zuknallen, hörte den Schlüssel, der sich im Schloss drehte. Kommissar… Natürlich hatte Meguré ihn nicht grundlos einsperren können, und irgendwie war die Zeit doch vergangen, wenn auch sehr, sehr… seeeeehr langsam. Shinichi schaute aus dem Fenster, genoss die warme Sonne auf seinem Gesicht. Jetzt stand er hier, im dritten Stock des Hauptbaus des Beika-Strafgerichts, und wartete. Starrte sein Spiegelbild an, das aus dem spiegelnden Fensterglas zu ihm herüberblickte. Es sah müde aus. Seine Anwältin warf ihm einen tadelnden Blick zu, stieß ihn unsanft an. „Mach was mit deinen Haaren, du siehst unmöglich aus. Und das, obwohl man dich doch ausschlafen hat lassen.“ Sie grinste ihn spöttisch an. Shinichi griff automatisch mit einer Hand ins Haar, versuchte sie irgendwie zu ordnen, gab es dann auf. Bemerkte Eris immer noch rügenden Gesichtsausdruck und grinste schief. „Wenn ich das bemerken darf, Frau Kisaki, sie sahen auch schon frischer aus.“ Eri zog warnend eine Augenbraue hoch, strich sich dann ihre Haare hinter die Ohren, prüfte ihr Spiegelbild in einem kleinen Klappspiegel, den sie aus ihrer Handtasche hervorzauberte, lächelte dann amüsiert. Shinichi hingegen steckte seine Hände in seine Hosentaschen, versuchte gelassen auszusehen, und merkte doch, wie in ihm alles in Aufruhr war. Sie standen vor dem Gerichtssaal, die schweren Türen immer noch fest verschlossen. Er war unruhig, das spürte sie, aber er stand wie die personifizierte Gelassenheit seit einer Viertelstunde auf einem Fleck und rührte sich kaum. Sie warf einen Blick nach rechts; dort standen die zwei Agents vom FBI, Mr. Black und Miss Starling, sowie Meguré, der auffallend nervös aussah, und Takagi, der einfach nur fertig wirkte – seine Augen rotgerändert, mit tiefen Ringen unterlegt. Als dann endlich die Türen aufgingen, und man sie vor den Richter bat, ging es dann auf einmal sehr schnell. Sie standen keine fünf Minuten im Gerichtssaal; zwar hatten ihn alle Anwesenden fassungslos angestarrt, als er auf sein Aussageverweigerungsrecht bestand, da er mit einer wahrheitsgemäßen Aussage sich oder einen Angehörigen beschuldigen würde, aber nachdem er seine Aussage unterschrieben hatte, durfte er gehen. Shinichi hatte es eilig gehabt, sich aus dem Staub zu machen, er wollte den Fragen entgehen, die man ihm stellen wollte, zumindest, solange es ging. Eri hatte ihn in ihrem Auto mitgenommen und vor seinem Elternhaus abgesetzt, ihm einen langen Blick zugeworfen, den er unmöglich deuten konnte. Als er nun an der Haustür klingelte, hatte ihm sein Vater geöffnet. Shinichi erschrak, als er ihn sah; der Mann sah um Jahre gealtert aus. Und nun stand er da, mindestens seit einer Minute, bewegungslos und sah ihn immer noch an. Dann kam Bewegung in den Körper des Schriftstellers. „Also hat man dich wieder gehen lassen?“ „Offensichtlich.“ Der junge Detektiv bewegte sich unbehaglich, betrat dann die Eingangshalle, ohne seinen Vater aus den Augen zu lassen. „Wo ist Mutter?“, fragte er dann leise. „Mit dem Professor einkaufen. Sie wollte dir dein Lieblingsessen kochen.“ Shinichi merkte, wie in ihm das schlechte Gewissen wühlte, nickte dann kurz. Unsicher glitt sein Blick durch die Eingangshalle, dann blieben seine Augen auf seinem Vater haften. „Also sind wir allein?“, fragte er sachlich. Zumindest, so sachlich, wie das sich ankündigende Zittern in seiner Stimme es zuließ. „So ist es.“ Yusaku ahnte langsam, woher der Hase lief. „Heute also?“ „Heute.“ Shinichi schluckte schwer. „Ich denke, wir sollten noch einmal reden. Über alles. Und wir müssen darüber sprechen, wie es weitergeht. Denn so, wie jetzt, geht es nicht. Um aus dem Knast zu kommen, musste ich von meinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen, und ich meine, die können jetzt eins und eins zusammenzählen. Die nächsten, die verhört werden, werden du und Mama sein.“ Yusaku wandte sich wortlos um, ging in die Bibliothek. Shinichi folgte ihm, ebenfalls stumm. Merkte, wie in ihm etwas zu bohren anfing, pikste und zwickte, fühlte sich schlecht. Einfach nur schlecht. Er wusste, nach diesem Gespräch würde nichts mehr so sein, wie es war. Er wusste, nach diesem Tag würde diese Familie, wie sie jetzt existierte, nicht mehr bestehen. Fest biss er sich auf die Lippen, konzentrierte sich auf den Schmerz, den das verursachte, damit ihn seine Gefühle jetzt nicht übermannten. Heute musste er einen klaren Kopf behalten. Unbedingt. Shinichi ließ sich seinem Vater gegenüber in einen Sessel sinken, sah ihn dann erstaunlich ruhig an. „Ich denke, es ist nur fair dir zu sagen, dass ich unter deinem Namen ein Generaltreffen vereinbart habe, für heute Abend. Im Hauptquartier. Es ist jetzt fast Mittag. Mir ist offen gestanden reichlich egal, was du davon hältst oder mir dazu sagst; ich bin nur hier, um mir jetzt deine Geschichte anzuhören, ich werds zumindest versuchen, und dann werde ich tun, was ich für richtig halte. Aber zunächst… hat jedes Verbrechen ein Motiv. Und du… hast zahllose Verbrechen begangen.“ Shinichi sprach die Worte sehr leise und deutlich aus, und wunderte sich, woher er diese Selbstbeherrschung nahm. „Also interessiert dich jetzt mein Motiv.“ Shinichi starrte ihn an; in seinen Augen glitzerte immer noch unverhohlene Wut, und Yusaku ahnte, dass sein Sohn ihn immer noch hasste. Vor allem wohl, weil er das Leben dieser Familie ruiniert hatte. Er senkte den Blick. „Es tut mir Leid.“ „Das hilft uns nicht weiter, Vater.“ Shinichi zerbiss sich immer noch die Lippen, hatte seine Hände zu Fäusten geballt. Er saß vornüber gebeugt auf der Kante des Sessels, jederzeit bereit zum Sprung; alles an ihm erinnerte an Anspannung und Nervosität. „Du hast, verdammt nochmal, alles zerstört. Wenn der heutige Tag vorbei ist, sind wir vielleicht tot. Wenn nicht, muss entweder ich dich der Polizei ausliefern, oder du tust es selbst. Ich werde dich nicht mehr länger decken. Ich kann einfach nicht.“ Er schluckte, merkte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug, griff sich unwillig an die Kehle. „Ich hab bis jetzt die Klappe gehalten, weil ich dir die Gelegenheit geben wollte, die Sache selbst in Ordnung zu bringen. Ich werde dir auch dabei helfen. Aber ich werde nicht länger zusehen, wie du nichts tust. Oder noch schlimmer, Morde und andere Verbrechen absegnest.“ Yusaku schaute auf, sah die Entschlossenheit in Shinichis Gesicht. Er wusste, sein Sohn würde ernst machen, auch wenn es ihm viel abverlangte. Dann wiegte er den Kopf, nickte schließlich langsam. „Du hast ja Recht. Und du hast ein Recht, es… zu erfahren. Die ganze Geschichte.“ „Dann fang endlich an.“ Shinichis Ungeduld war deutlich zu hören. Yusaku stand auf, begann unruhig im Raum auf und ab zu gehen. „Man hat mich erpresst, wie dich. Das sagte ich doch schon. Ich wollte das doch alles auch nicht. Ich wollte nie, dass es soweit kommt, ich hab dich beschützt, deine Mutter und dich, aber irgendwann…“ Dann wandte er sich wieder seinem Sohn zu, der sich leidlich unbeeindruckt zeigte. „Ich weiß. Das sagtest du. Aber du hättest nein sagen können, zu dem ganzen Kram, du hättest es beenden können. Ich konnte das nicht.“ Er presste die Lippen aufeinander. „Ich hatte nicht die Wahl, die du hattest, ich war nie in deiner Position an der Spitze dieses Vereins. Und außerdem interessiert mich das nicht, deine Ausreden will ich nicht hören. Ich will wissen, warum…“, er holte tief Luft, fasste sich, riss sich zusammen, „warum du all die Jahre dieses Theater gespielt hast. Warum du nie etwas getan hast. Warum du diesem Syndikat nicht den Garaus gemacht hast, sondern es ihm Gegenteil, auch noch zu Erfolg und Macht geführt hast. Ich will verstehen, warum du, verdammt nochmal, zulassen konntest, dass man all diese Menschen umbringt.“ Seine Stimme klang gepresst, er unterdrückte nur mit Mühe die Wut, die in ihm knapp am Siedepunkt kochte. „Shinichi…“ „Du hättest etwas tun können. Du warst nicht so unter ständiger Beobachtung wie ich. Du hättest längst zur Polizei gehen können, heimlich still und leise diesen verrottenden Haufen Abschaum ausheben können, aber neeeeiiiin, das machst du natürlich nicht. Du gibst weiter Befehle, die die Leben von tausenden von Leuten ruinieren, du herrschst weiter über deine Schar von Mördern und Erpressern, du… versuchst aus mir einen Mörder zu machen… mein eigener Vater… du…“ Shinichi atmete schwer aus, schaute seinen Vater voll Verachtung in den Augen an. „Du tust gar nichts.“ „Ich hatte Angst um dich und deine Mutter.“ „Auf uns hätte man schon aufgepasst. Und ich zweifle nicht daran, dass du geschickt genug gewesen wärst, das alles so anzustellen, dass man nicht merkt, was läuft, bevor die Hütte schon am Brennen ist.“ Shinichi stand auf, trat einen Schritt näher, hob die Hand, streckte ihm drohend den Zeigefinger entgegen. „Ich sag dir, warum du nichts unternommen hast. Weil du zu feige warst. Weil du zu sehr an deinem schönen Leben hängst. Als Kronzeuge hätte man dich wohl immer noch lebenslänglich eingesperrt, dein Ruf wär hinfällig gewesen, alles, was du dir aufgebaut hast, ruiniert… und das wolltest du nicht.“ Yusaku schluckte schwer. „Das ist nicht wahr.“ Shinichis Augen fokussierten einen Punkt vor seinen Füßen, er sah ihn nicht an, als er sprach. „Doch ist es, und das weißt du. Du warst nur feige. Und bequem.“ Shinichi schüttelte den Kopf, in seinen Augen ein Ausdruck von Enttäuschung und Schmerz. „Du hättest uns das hier ersparen können. Ich will dir keinen Vorwurf über die letzten Wochen machen, ich hab mich selber reingeritten, du hast getan, was du tun konntest… auch wenn es nicht… wirklich gute Entscheidungen waren, die du da für mich getroffen hast…“ Er schluckte, kniff kurz die Augen zusammen, als die Bilder dieser Zeit ihn fast zu überwältigen drohten. „Aber du hättest uns dieses Gespräch hier ersparen können. Denn dass diese Situation eines Tages kommen würde… kommen musste… war abzusehen.“ Seine Stimme klang rau. Irritiert griff er sich an den Hals. „Verdammt, du hast mir immer gepredigt, man soll die Wahrheit sagen! Warum hältst du dich nicht selber dran? Ich hielt dich für ehrlich! Für mutig! Für einen Mann, der zu seinem Wort steht, ich wollte werden wie du, wenn auch kein Schriftsteller… aber ich wollte werden wie du! Verdammt nochmal…!“ Er keuchte. „So wie du…“ Seine Stimme brach weg. „Ich weiß.“ Yusaku starrte nun ebenfalls auf den Boden, brachte es nicht fertig, ihm in die Augen zu sehen. „Ich nehme an, das hat sich nun geändert.“ Shinichi kniff die Lippen zusammen. „Allein vom Gedanken, jemals ein Leben zu führen wie du… jemals so korrupt, so selbstgefällig, so bequem und feige zu sein wie du… könnt ich kotzen…“ Yusaku kniff die Augen zusammen, schluckte schwer. Die Worte trafen ihn wie Pfeile in die Brust. „Davor brauchst du dich nicht fürchten, schätze ich. Du bist weit davon entfernt, je zu werden, wie ich.“ „Danke für das Kompliment.“, fauchte Shinichi. Er war leichenblass im Gesicht. „Weißt du, was sie Ran beinahe angetan hätten…?“ Seine Stimme klang leise, aber ungeheuer gefährlich. Der Schriftsteller schaute nun doch auf, sah in seine Augen, die vor Zorn blitzten, seine Lippen waren leicht geöffnet, sein Brustkorb hob und senkte sich schnell. „Wahrheitsserum…?“, fragte er matt. Shinichi schaute weg. Yusaku biss sich auf die Lippen. „Hör zu, das tut mir leid, ich wollte doch auch nicht, dass es soweit kommt…“ „Wie nobel von dir. Allerdings vergisst du, dass, abgesehen von Ran, jede Menge anderer Leute sterben mussten.“ Shinichi sah ihn nicht an. „Du hast das Okay für den Mord an Shihos Schwester gegeben… für den Mord an ihren Eltern…“ Yusaku keuchte. Shinichi hob den Kopf wieder, starrte ihn an. „Ja, ganz Recht, ich hab die Aufzeichnungen gelesen, das meiste wusste oder ahnte ich aber selbst schon lange. Du magst sie nicht selber erschossen haben, aber du hast es gestattet. Du hast diese Organisation geführt. Du hast gebilligt, dass man dieses Gift entwickelt, dass man dafür Familien zerstört und über Leichen geht, und für was… für was?!? “ Seine Stimme war erneut laut geworden. „Verdammt, für was das alles?!? “ „Shinichi…“, murmelte Yusaku langsam. „Hör zu, ich konnte nicht anders…“ Shinichi fuhr sich mit beiden Händen über sein Gesicht. „Ja, das ist die beste Ausrede, die man haben kann. Ich konnte nicht anders.“ Sein Tonfall klang unglaublich bitter. „Irgendwie glaub ich das nicht. Man kann immer anders. Man will es nur nicht immer.“ Yusaku blieb stehen, wandte sich, starrte seinen Sohn unverwandt auf. In ihm mischte sich ein gewisses Gefühl von Frust und Verzweiflung mit Wut über den Unwillen seines Sohns, ihn zu verstehen; auch wenn er sogar ein Stückweit begriff, warum Shinichi das alles nicht verstehen wollte. Er holte Luft. „Weißt du, wie es sich angefühlt hat, zu erfahren, von Gin und Vodka, dass sie am 13. Januar 1997 einen jungen Oberschülerdetektiv namens Shinichi Kudô ermordet hatten…?“ Yusakus Stimme stürzte ab. „Mein Gott…“ Er schluckte, ließ sich auf die Lehne eines Sessels sinken. „Zwei furchtbare Wochen lang dachte ich, du wärest tot. Wir hatten schon oft länger nichts von dir gehört, deshalb schöpfte sie auch keinen Verdacht, Yukiko… aber ich wusste es. Glaubte es zu wissen, schließlich arbeiteten ja deine Mörder für mich. Vierzehn Tage lang dachte ich daran, dass du wegen mir sterben hattest müssen. Dass es meine Schuld war. Und während all dieser Stunden, Minuten, Sekunden… in denen ich mit dem Wissen um dein Sterben lebte, wusste ich nicht, wie ich es ihr sagen sollte… Yukiko. Wie ich deiner Mutter sagen sollte, dass der Mörder ihres Sohns sein eigener Vater… ich… ihr Ehemann… war…“ Shinichi schluckte, stopfte seine Hände in seine Hosentaschen. „Was glaubst du, wie erleichtert ich war, als sie mich am fünfzehnten Tag anrief… und mir sagte, dass du lebtest! Geschrumpft… verjüngt… aber am Leben…“ Er schaute auf. Shinichi starrte ihn an, taumelte zurück, als er in das Gesicht seines Vaters blickte. Er weinte. „Du warst am Leben…“ Der junge Detektiv ließ sich zu Boden sinken, stützte seinen Kopf schwer auf seine Hände, durchfurchte mit seinen Fingern sein wirres Haar. „Ich hatte keine Wahl, damals… Yukiko und ich hatten gerade geheiratet, sie war schwanger mit dir, als…“ Shinichi horchte auf. „Als was?“ Yusaku seufzte tief, seine Augen wurden glasig, als er in Gedanken zu jenem Tag zurückreiste, an dem er diese folgenschwere Entscheidung hatte treffen müssen. Dann räusperte er sich, schaute seinem Sohn fest in die Augen, als er sprach. „Wie du weißt, war ich nicht immer schon Schriftsteller; zumindest nicht immer schon hauptberuflich. Das kam erst nach den ersten Erfolgen meiner Romanreihe. Und ja…“ Er lächelte gequält. „Nun, nachdem du weißt, wer ich bin, ist nachvollziehbar, wer die Inspiration für den Baron der Nacht war. Tatsächlich hat dieses Doppelleben erst so richtig für den Erfolg dieser Reihe gesorgt. Diese vielgelobte Authentizität kommt nicht von irgendwoher.“ Er lachte bitter. Shinichi rann es eiskalt den Rücken hinab, er konnte direkt spüren, wie sich jedes Haar einzeln aufstellte. „Die Erfolgreichere von uns beiden war Yukiko; sie hatte mit ihren Filmrollen viel Geld verdient, aber nun war sie verheiratet und schwanger, und gezwungen, eine Pause zu machen. Und obwohl sie ihren Beruf liebte, konnte ich aus ihren Äußerungen vernehmen, dass sie gern als Mutter für dich ganz da wäre. Dass sie ihren Beruf aufgeben wollte, weil sie den Trubel um ihre Person von dir fernhalten wollte.“ Er schluckte. „Ich hab damals ab und zu bei der Polizei ausgeholfen, wie du weißt. Nun gut, ab und zu ist wohl etwas untertrieben – ich schätze, man kann es mit deiner Situation vergleichen; allerdings, wie du weißt, ist das nun nicht unbedingt eine echte Einnahmequelle. Es blieb also nur meine nur in kleinen Kreisen bereits erfolgreiche Schriftstellerei; alles in allem aber zu wenig, um eine Familie zu ernähren, das wurde mir schnell klar.“ Yusaku wandte den Blick ab. „Ich begegnete ihnen bei einem Fall. Absinth war der erste, den ich traf. Ich war bei einem ihrer Coups zugegen, konnte ihnen aber nichts nachweisen. Allerdings schien ich Eindruck hinterlassen zu haben, denn in den Tagen darauf fühlte ich mich beobachtet. Es ging über Wochen dahin; meine Neugierde und mein Ehrgeiz waren geweckt worden, ich recherchierte, fand heraus, wer er war; und ich wollte ihn kriegen. Ganz ähnlich wie du.“ Unsicher sah er auf. Shinichi starrte ihn an. Seine Gesichtszüge schienen seltsam entspannt, seine blicklosen Augen verrieten, wie tief er in seine Erinnerungen versunken war. „Die Verbrechen, die ich mit ihnen in Verbindung brachte, waren die gleichen, wie du sie kennst; Mord, Drogenhandel. Entführungen, Erpressung. Es wurden immer mehr, das Netz spann sich immer weiter, und ich hatte das Gefühl, einer ganz großen Sache auf der Spur zu sein. Ich hatte mich festgebissen, ließ nicht locker. Natürlich fiel das Yukiko auf, aber sie sagte nichts, vorerst. Und irgendwann dann… kam der Tag.“ Der Schriftsteller knetete seine Hände. „Es war ein Kongress angesagt, in einem Hotel. Ich wusste, Absinth würde da sein; damals war er ein bekannter Lobbyist, ein einflussreicher Mann, mit viel Geld und viel Macht. Und ich hatte Wind bekommen, von einer Drohung gegen den bei dem Kongress auftretenden Politiker; der Mann wollte den Einfluss von mafiös strukturierten Organisationen vorgehen, die Stellung der Polizei stärken, bei geringerem Verdacht Untersuchungen einleiten zu können, Email- und Telefonkontakte und –daten speichern – alles das, was die Organisation nicht brauchen konnte, Dinge, gegen die man sich mühsam wappnen musste, ein Prozess, der damals zu lange gedauert hätte. Man wollte diesen Schritt der Politik verhindern, das war klar. Ich witterte meine Chance und schlich mich rein.“ Er massierte sich die Schläfen. „Der Politiker wurde erschossen. Ich konnte es nicht verhindern, und war doch so nah dran. So nah! Ich hatte aber immerhin ein Beweisstück in der Hand, gegen Absinth. Ich hatte das Glas ergattern können, aus dem er getrunken hatte. Die Fingerabdrücke würden die gleichen sein wie die auf der Tatwaffe.“ Er lächelte verhalten, als er Shinichis überraschten Gesichtsausdruck sah. „Ja, damals gab sich der Gute noch selbst die Ehre. Heute lässt er die Drecksarbeit lieber andere erledigen. Aber wo war ich…“ Yusaku sortierte sich kurz. „Bevor ich mit meinem Glas zur Polizei gehen konnte, stieß er gegen mich. Rein zufällig. Das Glas zerbarst auf dem Boden, und er trat auch noch drauf, zermahlte es unter seinen Fußsohlen zu Staub. Er grinste mich dabei nur an, und ging. Ich folgte ihm, dumm wie ich war, aber sobald ich aus der Tür draußen war, packten mich zwei seiner Handlanger und zogen mich in ein Auto. Die Situation, die dem folgte, kennst du. Man konfrontierte mich mit meinen Recherchen, lobte meinen Scharfsinn, zeigte mir Bilder von meiner schwangeren Frau. Das war’s.“ Er biss sich auf die Lippen, zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. „Seither arbeite ich da, führe mein zweites Leben als Baron der Nacht. Und war erfolgreich. Ich stieg gleich recht hoch ein, was ungewöhnlich war; aber ich war gefügig, ich liebte euch doch. Ich wurde Absinths persönlicher Handlanger, wurde aber hauptsächlich zum Austüfteln von Intrigen und Komplotten herangezogen. Ins Feld…“, er lächelte bitter, „schickte man mich kaum. Und ich gewöhnte mich daran... an diese Art von Arbeit. Ich schob die Skrupel von mir, lebte hier mein zweites Leben, und bald kam es mir nur noch vor wie eine Art… Traum. Der Boss der Organisation, das war nicht ich. Ich war nur der Schriftsteller.“ Shinichi schluckte hart, wandte den Blick ab. „Abscheulich, ich weiß.“ Yusaku zog an seiner Zigarette, inhalierte tief, merkte, wie sich seine Nerven langsam wieder etwas beruhigten. „Ich hatte nur euer Wohl im Sinn, und merkte, je höher ich auf der Karriereleiter kletterte, desto weniger belangte man mich mit der Drecksarbeit, und desto mehr Einfluss hatte ich auf euer Wohlergehen. Und so kam es, dass ich… seit etwa zehn Jahren diesen Verein leite. Kein Mensch da drin weiß, dass ich der Boss bin; nur das Triumvirat kennt mein Gesicht, und Sharon. Sie landete am Tag nach dem Tod ihres Mannes bei mir, ich war erst seit kurzer Zeit zum Boss gewählt worden, durch das Triumvirat, das doch tatsächlich glaubte, sie hätten in mir einen gefügigen Führer; ich muss gestehen, zum Teil hatten sie ihn auch. Die Entscheidung war eigentlich gefallen, jemanden, der gegen die Organisation rebellierte, war nicht zu gebrauchen, und ich sollte sie liquidieren, als… Einstand, sozusagen. Wie und wo überließ man mir, nur die üblichen Beweisdokumente wollte man sehen. Und deshalb… starb sie offiziell. Inoffiziell bekam sie das Gift, stieg als ihre Tochter bei uns ein, und bekam so die Gelegenheit zur Rache für ihren Mann; seither kennt sie mein Gesicht, und uns Verband dieser Wunsch, euch zu schützen; mich trieb nur dieser eine Gedanke an, euch da rauszuhalten, ihr Benzin war noch gemixt mit diesem Hass auf die Organisation, diesen unbändigen Wunsch nach Rache. Nun, sie war geschickt darin, das einzufädeln; sie ist eine exzellente Schauspielerin, es fiel ihr leicht mit Gin in Kontakt zu kommen, nachdem ich ihr gesagt hatte, wo sie ihn finden würde. Sie wickelte ihn um ihren Finger, und er glaubte in der Tochter einen perfekten Ersatz für die Mutter gefunden zu haben. Das Triumvirat segnete ihre Mitgliedschaft nach kurzer Zeit ab, fand es unglaublich spannend, die Tochter der großen Vermouth für ihre Sache gewonnen zu haben, nicht ahnend, dass sie den Feind soeben wieder ins Boot geholt hatten. Du kennst das Triumvirat, diese Verwandtschaftskisten finden die unheimlich prickelnd.“ Yusaku durchfurchte sich die Haare. „Das war sie, meine Geschichte. Und du magst Recht haben, ich war zu feige, etwas zu ändern. Ich hatte nicht den Mut, den du hast. In dieser Hinsicht bin ich anders.“ Shinichi seufzte. „So anders bin ich vielleicht gar nicht…“ „Hör auf.“ „Ich weiß immer noch nicht, ob ich geschossen hätte.“ Der Schriftsteller musterte seinen Sohn eingehend, sah dessen Zweifel und Grübeln auf seinen Zügen. „Du hättest geschossen.“ Shinichi schloss die Augen, atmete langsam aus. Die Worte aus dem Mund seines Vaters fühlten sich an wie ein Schlag ins Gesicht – wusste er doch, dass sie stimmten. Eigentlich hatte er es schon immer gewusst. „Du hättest nicht ertragen, dass man sie umbringt, weil du sie liebst. Und du wirst es auch in Zukunft nicht dulden, dass man ihr etwas antut. Du wirst immer alles tun, um sie zu schützen.“ Ein trauriges Lächeln glitt über die Lippen des Schriftstellers. Shinichi sah ihn an, in seinen Zügen ein gewisser Unwille, eine gewisse Niedergeschlagenheit… Resignation. Er fuhr sich unwirsch durch seine Haare. „Aber was unterscheidet mich dann von dir? Mit welchem Recht verurteile ich dich dann?“ Shinichi klang erstaunlich sachlich, obgleich in ihm ein wahrer Sturm losgebrochen war an Fragen, die ihn überrannten… an Fragen, die ihn selbst in Frage stellten, und das machte ihm zu schaffen. Yusaku schüttelte den Kopf, lächelte dann bitter. „Du bist anders als ich. Du wärst draufgegangen bei dem Versuch, dieses Leben zu führen. Du hättest es nicht über dich gebracht, zwanzig Jahre lang. Ich weiß nicht, ob dich das jetzt freut. Freuen sollte.“ Shinichi wandte den Blick ab. „Du hättest nicht mit dieser Gleichgültigkeit über Leben und Tod entscheiden können, wie ich es tat. Ich brauchte keine fünf Sekunden, um meine Unterschrift unter so einen Beschluss zu setzen, Shinichi. Erzähl mir nicht, dass du das kannst. Egal was du tust, es wird bei dir immer anders sein als bei mir. Weil du anders bist als ich.“ Sein Sohn zuckte zusammen. „Du…“ „Ich habs getan. Und ich konnte hinterher schlafen. Anfangs nicht so gut wie zuletzt, zugegebenermaßen, aber ich tat es. Ich sah die Menschen nicht mehr. Es waren nur Namen auf Papier für mich. Du hingegen…“ Er beugte sich vor, sah seinem Sohn fest in die Augen. „Shinichi, du hättest das nicht über dich gebracht, nicht über diese Zeit hinweg. Du hättest viel früher versucht, den Laden hochzunehmen, egal welches Risiko dabei bestanden hätte. Du hättest, wie du schon sagtest, dafür gesorgt, dass man Ran in Sicherheit bringt, und dann hättest du den Laden in Brand gesetzt, und wenn du draufgegangen wärst dabei. Das hättest du getan. Das tust du… gerade. Ganz egal, was mit dir dabei passiert. Ich hingegen…“ Der Schriftsteller lehnte sich müde zurück. „Ich hingegen saß bequem in meinem Sessel und ging kein Risiko ein. Es lief, wie es lief, und es lief bestens. Und es wäre weiter gelaufen, wärst du nicht gekommen.“ Gedankenverloren legte er seine Fingerspitzen aneinander, führte sie zum Kinn. „Das, Sohnemann, unterscheidet mich von dir.“ Shinichi stand auf, langsam, stopfte seine Hände in seine Hosentaschen, starrte auf den Teppich, ehe er den Blick hob, seinen Vater kalkulierend anschaute. „Was mach ich jetzt?“, flüsterte er. „Das, was du planst. Denn, wie es aussieht, hast du einen Plan.“ Shinichi schluckte, nickte bedächtig. „Ja…“ Yusaku erhob sich schwerfällig, sah seinem Sohn ernst ins Gesicht. Ihre Blicke trafen sich. „Ich stand immer hinter dir. Auch wenn… es nicht immer den Anschein hatte, Shinichi.“ „Das… heißt?“ Yusaku schluckte, fuhr sich fahrig mit schweißnassen Händen über sein Gesicht. „Das heißt, dass du das diesmal nicht allein machen musst.“ Er seufzte, blickte auf die Uhr. „Und erzähl mir nicht, dass du darauf nicht gehofft hast. Nur deswegen bist du hier.“ Er schluckte. „Weil du meine Hilfe brauchst. Und weil du‘s vielleicht nicht ganz so einfach über dich bringst, mich ans Messer zu liefern.“ Yusaku sah ihn milde lächelnd an. „Aber du hast Recht. Es wird Zeit, dass jemand etwas unternimmt… dass ich etwas unternehme. Und wie ich das sehe, sollten wir uns am besten wohl gleich aus dem Staub machen, bevor… uns jemand aufhält. Bevor wir gehen, möchte ich allerdings noch… etwas hinterlassen. Für deine Mutter.“ Unwillig strich er sich über die Augen. „Wer weiß, ob sie mir so ruhig zuhört wie du. Danke dafür, übrigens.“ Shinichi schluckte, lächelte bitter.. „Erst beim dritten Anlauf, wohlgemerkt. Also nichts zu danken.“ Er sah ihm zu, wie er die Bibliothek verließ, und merkte, wie in ihm das schlechte Gewissen nagte. Vater. Shinichi biss sich auf die Lippen. Dann stieg auch er die Treppe hoch, holte Sharons Brief und legte ihn auf den Küchentisch, schnappte sich selber einen Bogen Papier – und zerriss ihn nach kurzem Überlegen wieder. Einzig die Pläne und Unterlagen, die er sich ausgedruckt hatte, holte er, faltete sie und schob sie ein. Sein Vater kam nach wenigen Augenblicken und legte einen dicken Umschlag auf den Tisch. „Vater, hör zu…“, begann Shinichi. „Nein, Shinichi.“ Er schüttelte den Kopf, schlug seinen Kragen hoch. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Das hätte schon längst getan werden müssen. Ich hoffe nur, dass wenigstens du aus der Sache einigermaßen heil rauskommst; allerdings muss ich befürchten, ohne dich schaff ich es auch nicht. Sharon hatte schon Recht… als sie dich silver bullet nannte. Auch wenn sie mir nie sagte warum, ich denke, langsam kann ich es mir denken.“ Shinichi wandte sich ab, presste die Lippen aufeinander. Die silberne Kugel hatte, wie es aussah, ihr Ziel wohl bereits getroffen. Dann riss die Stimme seines Vaters ihn aus seinen Gedanken. „Du erklärst mir im Auto, was du planst, und ich sag dir, welche Möglichkeiten zur Umsetzung wir haben.“ Yusaku griff nach dem Autoschlüssel. Shinichi nickte nur knapp, folgte seinem Vater aus dem Haus. Wenige Minuten später fuhr der Wagen aus der Ausfahrt Richtung Tottori. Am Fenster in Professor Agasas Küche stand Ai, sah dem Auto hinterher. Ein eiskalter Schauer rann ihr über den Rücken. Also ist es jetzt soweit. Kapitel 47: Kapitel 29: Der Anfang vom Ende ------------------------------------------- Mesdames, messieurs, ich grüße euch! Und möchte mich an dieser Stelle noch einmal explizit bei euch bedanken – ich weiß nicht, wer’s gesehen hat, aber diese Geschichte wurde YUAL für November. Ohne euch wär das nicht möglich gewesen, deshalb danke ich euch sehr! Nun aber Schluss mit lustig. Weiter geht’s… ________________________________________________________________ Kapitel neunundzwanzig: Der Anfang vom Ende Heiji stand in der Polizeizentrale am Tisch, fuhr gedankenverloren mit seinem Finger immer und immer wieder den Rand seines Kaffeebechers entlang, folgte nur mit einem Ohr dem Gespräch, das vor seinen Augen und Ohren stattfand. Er hatte die Tasse nur, um seine Hände zu beschäftigen; die Plörre, die sie hier Kaffee nannten, schmeckte einfach entsetzlich. In seinem Kopf war er immer noch im Gestern; fand sich wieder in der Zelle, sah ihn wieder vor sich sitzen, mit diesem geschlagenen Blick in den Augen. Sah diese Erschöpfung und gleichzeitig den Unwillen, diese Situation als gegeben hinzunehmen. Sah diese Mutlosigkeit und diesen Frust, ob der wenigen Optionen, die ihm offenstanden, gepaart mit dem unbedingten Willen, etwas dagegen zu unternehmen. Und das wirst du auch, nicht wahr? Das wirst du. So wie es is‘, kann es nich‘ bleiben, das weißt du. Dann merkte er, wie ihn jemand direkt ansprach, dem deutlich ungeduldigen Gesichtsausdruck zu folgern nicht zum ersten Mal, und blickte erschrocken auf. „Heiji! Sag mal, wo bist du mit deinen Gedanken! Ich fragte dich etwas…“ Kommissar Meguré schaute ihn ungeduldig an. „Chiba hat mir berichtet, du hättest ihn gestern besucht. Hat er sich denn dir gegenüber gesprächiger gezeigt? So von… Schülerdetektiv zu Schülerdetektiv…?“ Heiji schluckte, versuchte, Megurés forschendem Blick standzuhalten. Es gelang ihm halbwegs. „Nein.“ Nicht von Schülerdetektiv zu Schülerdetektiv. Aber von Freund zu Freund. „Er hat sich dir gegenüber also nicht zur Identität des Bosses geäußert? Oder zum Standpunkt des Hauptquartiers?“ Heiji schüttelte stumm den Kopf, wich dem Blick des alternden Kommissars aus. Meguré seufzte, kniff die Augen zusammen. „Fang du nicht auch noch an.“ „Womit?“ Heiji hob seine Kaffeetasse an die Lippen, ohne jedoch daraus zu trinken, ließ den Kommissar dabei nun nicht aus den Augen. „Jemanden zu decken und die Aussage zu verweigern.“ Seine Stimme klang genervt; und genauso sah er auch aus. Megurés Nerven waren zum Zerreißen gespannt, das sah jeder. Dann wandte sich der Mann ab, nahm kurz seinen Hut ab und fuhr sich über die kurzen Haare, verharrte mit seiner Hand kurz an der Narbe, die der Hut sonst so sorgsam versteckte, drückte ihn sich dann wieder aufs Haupt, seufzte. „Andererseits spielt das wohl ohnehin keine Rolle mehr; er hat uns eigentlich ohnehin fast ein Geständnis abgeliefert. Es gibt nur zwei Personen, die ihm so nahe stehen, dass er dafür das Aussageverweigerungsrecht bemühen darf.“ James Black, der bis dahin stumm der Besprechung beigewohnt hatte, hob den Kopf. Seine Züge schienen ernst, seine Augen ungewöhnlich dunkel. „His mother and his father. And doubtless… the person who’s most likely the one we look for, is he. His father. Yusaku Kudô. He behaved more suspiciously.“ Heiji schluckte schwer, sein Blick verlor sich in seiner Kaffeetasse. Sato beobachtete seinen Gesichtsausdruck genau. „Er hat es dir gestern gesagt, nicht wahr? Dass er es ist. Kein Wunder, dass er es vergessen hatte, kein Wunder, dass er es nicht wissen wollte… der eigene Vater…“ Heiji schwieg, schüttelte stumm den Kopf. Er ahnte allerdings, dass es nichts nutzte; der Karren war gegen die Wand gefahren. Aber das ahntest du wohl ohnehin schon, was, Kudô? Takagi verkrampfte seine Hände in seinen Hosentaschen. „Dann nehmen wir ihn fest?“ „Zumindest holen wir ihn zum Verhör.“ Meguré war bleich geworden in den letzten Minuten. Man sah ihm an, wie sehr es ihm widerstrebte, einen seiner besten Freunde aufs Revier laden zu müssen, weil er im Verdacht stand, der Chef der größten Verbrecherorganisation Japans zu sein. Es gab Momente, in denen Meguré seinen Job hasste; sie waren selten, aber es gab sie. Dies war einer davon. Warum, Yusaku… warum hat du das getan? Wirst du mir das erklären? Shinichi starrte blicklos aus dem Fenster, hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Seit Minuten hatte ihn ein unbestimmtes Frösteln fest im Griff; er zog sein Kinn an die Brust, merkte mit Widerwillen, dass seine Knie zitterten. Er wusste, es war nicht Kälte, die ihn so zittern ließ. Es war Angst. Nicht unbedingt Angst vor ihnen, nicht Angst vor der Organisation. Angst vor der Ungewissheit, Angst, vor der Zukunft, die so trüb und nebelverhangen vor ihm lag, und ihm nicht einen Hinweis geben wollte, wie sie aussah. Aber er war nicht gewillt, sich von ihr beherrschen zu lassen. Abgesehen davon strömte das Adrenalin in Unmengen durch seinen Körper, hielt ihn unter Dauerstrom. Yusaku seufzte, war versunken in seinen Gedanken. Er hatte sich den Plan seines Sohns angehört, und seither herrschte Schweigen; die Minuten dehnten sich und breiteten sich aus. „Könnte klappen.“, meinte er dann leise, stellte das leise Gedudel des Radios vollständig ab. „Muss klappen.“, murmelte Shinichi mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Eine andere Möglichkeit haben wir nicht, und eine zweite Chance bekommen wir nicht. Wir müssen sie alle inflagranti erwischen, weil allein ihr Name auf einer Liste nicht Beweis genug ist, denn, seien wir ehrlich – das sind alles Leute, die sich nen guten Anwalt leisten können, und der haut sie da raus. Und wir müssen sie alle auf einem Haufen haben, damit keiner mehr rumläuft, der Ran oder… Mama… oder wem auch immer gefährlich werden kann. Es muss ein einziger, vernichtender Schlag sein. Und vor allem müssen wir das Triumvirat und Gin ausschalten…“ Shinichi rieb sich die Arme. „… und genau das, Sohnemann, könnte ein Problem werden…“, warf Yusaku ein. Shinichi ignorierte ihn. „Ich hab die Nachricht an Heijis Handy getippt, sie muss nur noch zum richtigen Zeitpunkt verschickt werden, damit er die Polizei hierher holt. Alles andere… liegt jetzt an uns.“ „Das Triumvirat wird den Schwindel riechen.“ Yusakus Tonfall war diesmal lauter, bestimmter. Er hatte seinen Kopf zu Shinichi gewandt, sah ihn eindringlich an, ehe er sich wieder der Straße widmete und den Wagen durch die engen Waldstraßen lenkte. Nebel war aufgezogen, erschwerte die Sicht. Shinichi blickte hinaus in die Schwaden, seufzte. Hörte die Stimme seines Vaters neben sich, wandte aber den Kopf nicht um. „Absinth wird ahnen, was wir vorhaben, der Mann ist nicht blöd, und er kennt mich. Und dich… kennt er nun auch, gut genug um zu ahnen, was du vorhast, zumindest. Es kann gut sein, dass wir alle anderen im Konferenzsaal einschließen können, aber wir müssen damit rechnen, dass Absinth, Rum und Cachaça, und vielleicht auch Gin und Vodka, nicht dort sein werden.“ Shinichi hörte die Stimme seines Vaters, nickte nur, unwillig. „Ich weiß.“, seufzte er. „Wäre auch zu schön, wenn es einmal einfach ginge.“ Leises Murren war in seiner Stimme zu hören; Yusaku lächelte amüsiert, dann fuhr er an den Straßenrand, hielt den Wagen an. Shinichi warf ihm unter hochgezogenen Augenbrauen einen fragenden Blick zu. „Dein siebengescheiter Freund aus Osaka hat hier irgendwo einen Mikroemitter angebracht. Ich will ihn nicht ins Hauptquartier führen. Nicht zu früh, zumindest.“, meinte sein Vater erklärend, bedeutete ihm, auszusteigen, öffnete selbst die Fahrertür. Ein leichtes Grinsen huschte Shinichi übers Gesicht. „Er hatte dich wohl schon länger in Verdacht.“ „Ich war nicht besonders unauffällig, fürchte ich.“ Yusaku seufzte, schlug die Autotür zu, wartete, bis die Beifahrertür ebenfalls ins Schloss gefallen war, sperrte ab und zündete sich eine Zigarette an, warf seinem Sohn einen kurzen Blick zu. „Gehen wir. Da lang. Wir müssen uns ohnehin über einen Tunnel hier im Wald reinschleichen. Die werden alle anderen Eingänge schon akribisch bewachen.“ „Ein Tunnel? Hier? Sag mal, wär’s zu viel verlangt gewesen, mir das mitzuteilen, als du mich damals aus deinem Büro hast entkommen lassen…“ „Er lag nicht in der Nähe.“ Yusaku verengte die Augen, orientierte sich kurz, fing dann an, in eine Richtung loszumarschieren, wandte sich kurz um. „Hätte es dir genützt, hätte ich ihn dir gezeigt. Aber du hättest zu lange gebraucht, bist du den Einstig im Gebäude gefunden hättest. Außerdem ist er mitten im Wald und noch ein Stück weg von hier, wahrscheinlich hättest du dich verlaufen…“ „… was mir ja nicht passiert ist.“, bemerkte Shinichi düster. Yusaku blickte ihn nachdenklich an. „Du weißt, es war...“ „Jaja. Ich wollt’s nicht wieder aufwärmen.“, erwiderte Shinichi, suchte kurz sein Gesicht, schüttelte den Kopf. „Lassen wir das.“, meinte er dann, schlug seinen Kragen hoch, damit ihm die Feuchtigkeit nicht allzu sehr unter die Klamotten kroch und stopfte seine Hände in seine Taschen. Yusaku verkniff sich einen weiteren Kommentar, warf einen Blick auf die Uhr. „Wir dürfen mit der Aktion nicht zu pünktlich anfangen, ein paar Zuspätkommer gibt es immer. Zu lange dürfen wir aber auch nicht warten, sonst werden sie unruhig, und fragen sich, wo die Stimme aus dem Off bleibt.“ Er grinste säuerlich. Shinichi warf ihm einen kurzen Blick zu, seufzte, verdrehte die Augen. Dann schüttelte er den Kopf und stiefelte seinem Vater hinterher durch den Wald, auf der Suche nach dem geheimen Ausgang. … Eingang. Wie auch immer. Ai, die ihren Beobachtungsposten am Fenster zur Straße nur verlassen hatte, um sich eine Tasse Tee zu kochen, ahnte, was die Stunde geschlagen hatte, als eine Kolonne voller Polizeiwagen auf der Straße hielt. Sie sah Meguré, der wie in Zeitlupe aus seinem Wagen zu steigen schien und erkannte James Black und Jodie Starling, die ihm folgten. Ihr seid zu spät… Die Vögel, die ihr fangen wollt, sind schon ausgeflogen. Sie wandte nicht den Kopf, als sie es hinter sich räuspern hörte, einen Hauch von Aftershave und kaltem Rauch wahrnahm; sie hatte ihn in der Spiegelung der Scheibe kommen sehen. Shuichi Akai, der zu ihrem Schutz geblieben war und nun neben sie trat, um die seltsame Prozession, die zum Hauseingang der Kudovilla wanderte, zu beobachten. Er seufzte lautlos, zündete sich in aller Ruhe die nächste Zigarette an, zog an ihr. Sie sah das Glimmen der Spitze in der Scheibe, roch den Rauch, der sich Sekunden später in die Luft kräuselte. „Wann sagst du es ihnen? Dass du sie eben hast wegfahren sehen?“ Ai schluckte, vergrub die Hände in den Hosentaschen. „Erst, wenn sie fragen.“ Sie drehte sich um. „Finden werden sie sie schnell genug… wenn Heiji seine Radarbrille wieder hat, heißt das.“ Sie zog die Brille aus der Innentasche ihrer Strickjacke, betrachtete sie versonnen lächelnd, schob sie dann wieder ein, sorgfältig, schloss die Weste. Shuichi lachte leise. „Wie viel Vorsprung gibst du ihnen?“ Ai lächelte geheimnisvoll. „So viel sie brauchen. Shinichi wird sich melden, wenn er Hilfe möchte. Er ist nicht planlos weggefahren. Er macht nie etwas ohne Plan.“ Sie seufzte, plötzlich wurde ihre Miene wieder ernst. „Ich hoffe nur, sein Plan geht auf.“ Absinth stand in seinem Büro, starrte aus dem Fenster. Auf dem Parkplatz mehrten sich die Autos. Einer nach dem anderen trudelten sie ein, folgten sie seinem Ruf. Hinter ihm auf dem Computer war seine Mail geöffnet. Die Einladung zu diesem Treffen. Was hast du vor, Cognac? Denkst du nicht, ich ahne, dass du etwas im Schilde führst? Doch, wahrscheinlich weißt du das. Tu tust trotzdem, was du glaubst, tun zu müssen. Was auch immer dein lächerlicher Plan ist. Wahrscheinlich steckst du mit deinem missratenen Bengel unter einer Decke… sehr wahrscheinlich seid ihr beide sogar schon hier. Aber täusche dich nicht, wage nicht zu glauben, du könnest es mit mir aufnehmen. Du konntest es damals nicht. Du wirst es diesmal auch nicht schaffen. Absinth griff nach seiner Waffe, steckte sie in ihr Holster, das er verborgen unter seinem Sakko trug, vergewisserte sich, dass die zweite Pistole an seinem Bein in der Nähe seines Fußgelenks unter der Hose nicht zu sehen aber dennoch gut zu greifen war. Er würde bestimmt nicht in den Konferenzsaal gehen. Er würde ihn an anderer Stelle einen würdigen Empfang bereiten. Langsam drehte er sich um. Hinter ihm standen, links und rechts neben der Tür, Gin und Vodka. Wo Cachaça und Rum waren, wusste er nicht; es war ihm auch egal. All die Leute im Konferenzsaal waren ihm egal. Diese Organisation war ohnehin zu groß geworden, zu aufgeblasen; es wurde Zeit, dass sie sich etwas des Ballasts entledigte, den sie angesammelt hatte. Schlanker, jünger, flexibler wurde. Sollte die Polizei ruhig Müllabfuhr spielen, es konnte ihm nur Recht sein; er würde neu anfangen, woanders; es war schon immer ein Leichtes für ihn gewesen, Anhänger um sich zu scharen, die ihm gehorchten, ohne Wenn und Aber. Heute… Heute ging es nur um ihn. Heute würde er es zu Ende bringen. Tun, was er hätte schon lange tun sollen. Heute musst du sterben. Du, und er auch. Lächelnd sah er von einem zum anderen. „Sie werden an die Rechner wollen, ihr Plan ist wirklich sehr durchschaubar – allerdings, es gibt nur diese eine Möglichkeit, ihr Ziel zu erreichen. Sie haben alle eingeladen, um sie hier einzusperren und um ungestört Daten zu sichern – kurzum, um der Polizei ein riesiges Buffet zu bescheren. Uns soll das Recht sein.“ Er grinste. Gin grinste zurück. Er ahnte den Plan, und stimmte ihm zu. „Ihr bewacht die entsprechenden Räume; lasst das Dreamteam ruhig zuerst ihr Werk verrichten, dann stört uns wenigstens keiner, und wir sind allen Ballast endgültig los. Wenn ihr sie habt, bringt sie zu mir. Vor den Haupteingang. Dort können wir dem werten geladenen Publikum dann eine Show bieten, wie es sie noch nie gesehen hat.“ Er drehte sich um, beobachtete in der Fensterscheibe, wie sie den Raum verließen, schaute nach draußen. Der Nebel wurde immer dicker. Dann werde ich sie vernichten. Zertreten unter meinen Füßen wie die Würmer, sie, die es wagten, sich mir entgegenzustellen. Und anschließend mein neues Königreich errichten… Schwarz wie die Nacht. Zufrieden strich er sich übers Kinn, atmete ruhig aus und ein. Shinichi konnte nicht verhindern, dass ihm ein Schauer über den Rücken rann. Aus irgendeinem Grund hatten sie es tatsächlich geschafft, unbemerkt hierher zu gelangen, durch viele Geheimgänge und tote Kamerawinkel - und nun standen sie hier, in dem Büro, in dem dieses Chaos begonnen hatte. Sein Vater durchschritt routiniert das Zimmer, öffnete die Tür und spähte nach draußen, ließ dann ein paar Monitore mit dem Klick einer Fernbedienung zum Leben erwachen, studierte sie aufmerksam, aber kurz. Shinichi sah ihm an, dass er sich auskannte. Hier stand der Boss der Schwarzen Organisation in seiner Herrschaftszentrale, und jeder Handgriff saß, über Jahre perfektioniert. Unwillig schüttelte er den Kopf. Yusaku bemerkte es, bedachte seinen Sohn mit einem bitteren Lächeln, sagte nichts. Die meisten Bilder zeigten leere Räume und Gänge; einzig der Konferenzsaal war voller Menschen, die langsam Platz nahmen. Der Tisch war bereits fast voll, dabei war noch gut eine halbe Stunde Zeit bis achtzehn Uhr. Der Blick aus dem Fenster zeigte, dass die Sonne langsam unterging und bestätigte seine Zeiteinschätzung. Yusaku nickte zufrieden; Shinichi merkte, wie in ihm die Anspannung wuchs. Sein Plan schien tatsächlich aufzugehen. „Um die Zentralverriegelung des Gebäudes zu aktivieren und die Sperrung der Computer zu erreichen, damit Absinth nicht alle Daten löscht, müssen wir an zwei verschiedene Rechner. Das ist leider etwas unpraktisch für uns, hat aber den Zweck, dass…“ „Der Ausfall oder die Sabotage eines Rechners nicht gleich das ganze Gebäude lahmlegt.“ Shinichi nickte wissend. „Exakt.“ Der Herr des Hauses drehte sich um, kramte in seinen Schubladen, zog eine Pistole heraus; ihr folgte eine zweite. Sein Sohn warf ihm einen skeptischen Blick zu; seine Augenbrauen waren nach oben gewandert, seine Arme vor der Brust verschränkt, seine Lippen verkniffen. „Man muss nicht unbedingt Leute umbringen damit, Sohnemann.“ Shinichi verdrehte die Augen, nahm zögernd die Waffe entgegen. Er wusste, wie man damit umging, klar. Er hatte auch schon geschossen, auch schon auf Menschen. Allerdings, das hier war etwas anderes. Yusaku sah ihm seinen Unwillen an, seufzte. „Dein… Widerwillen ehrt dich, aber nimm sie mit, ich bitte dich. Du kannst auch eine Tür damit öffnen. Oder einen Computer damit lahmlegen. Oder ein Fenster einschießen und dir einen Fluchtweg schaffen, oder andere auf dich aufmerksam machen, oder…“ „Jaja. Ich hab‘s kapiert.“ Shinichi seufzte, steckte die Pistole, nachdem er sich versichert hatte, dass sie gesichert war und nicht losgehen würde, in den Hosenbund, zog die schwarze Jacke darüber, die ihm sein Vater wortlos reichte. Yusaku suchte sich den passenden Plan aus Shinichis Sammlung und legte ihn auf den Tisch, zeichnete mit einem Kugelschreiber ihren Standort ein. „Wir sind jetzt hier. Hier…“ Er zeichnete einen weiteren Kringel. „… ist der Konferenzraum. Hier ist der Computer Nummer eins, im Wachraum, Zimmer 501. Hier ist Rechner zwei, Serverraum, Zimmer 317.“ Er kreuzte die beiden Räume an. Dann begann er Linien einzuzeichnen, die von ihrem Standort in die beiden Räume führten. „Einmal hier entlang, in Raum eins; Geheimgang r, von da aus in den Hauptflur des Hauptgebäudes, dritte Etage, dann hier in den Geheimgang b, der führt direkt hin. Ich denke, das ist der sicherere für dich; du musst nur hier aufpassen, dass dich keiner sieht.“ Er tippte auf den langen Flur im dritten Stock, sah seinen Sohn sorgenvoll an. „Für den anderen Raum müsstest du dreimal einen öffentlichen Flur benutzen, das… scheint mir zu riskant. Das mache ich.“ Er strich seinen schwarzen Mantel glatt. „Wenn alles geklappt hat, treffen wir uns im Wachraum, das heißt, ich komme zu dir. Dort sind die Überwachungskameras und wir können prüfen, ob wir alle haben, die wir haben wollten.“ „Und wenn etwas dazwischen kommt?“ „Tja.“ Yusaku grinste schief. „Ich fürchte, einen Plan B haben wir nicht. Entweder es klappt, oder es klappt nicht. Gehen wir mal davon aus, es klappt. Was wir mit Absinth und Konsorten machen, überlegen wir uns, wenn wir uns sicher sind, dass sie uns tatsächlich nicht auf den Leim gegangen sind.“ Damit steckte er seine Pistole in die Innentasche seiner Jacke, warf seinem Sohn einen langen Blick zu, drückte ihm den Plan in den Hand, auf den er gerade noch das Passwort geschrieben hatte. „Pass auf dich auf.“ Er schluckte, biss sich auf die Lippen. „Denkst du…“ Yusaku schüttelte langsam den Kopf. „Ich denke, es ist… genug gesagt. Viel Glück, Shinichi.“ Der Schriftsteller schaute seinen Sohn ernst an, wagte aber nicht, ihn an der Schulter zu fassen, oder irgendwie anders seine Zuneigung zu zeigen. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, die sich doch alle um ein Zentrum drehten – die Angst, ihn hier und jetzt zum letzten Mal am Leben zu sehen. Eine Möglichkeit zu vertun, sich zu verabschieden. Sich zu entschuldigen. Was auch immer. Shinichi. Er sah den jungen Mann nur nicken, beobachtete, wie er eintauchte in die Dunkelheit des Geheimgangs, aus dem sie gerade gekrochen waren. Ein kurzer Lichtschein verriet ihm, dass Shinichi die Taschenlampe seiner Uhr eingeschaltet hatte. Yusaku schluckte hart. Dann griff er nach den Schlüsseln seines Büros, trat hinaus auf den Gang und sperrte ab. Nun werden wir sehen, Absinth… ob dieser faulige Apfel heute nicht endlich entsorgt wird. Yukiko stutzte, als sie zusammen mit Professor Agasa in dessen gelbem Käfer um die Ecke bog, und ihre Auffahrt zugeparkt mit Polizeiautos vorfand. Sie schluckte, griff die Tüte, in der ihre Einkäufe verpackt waren, fester. Sie fühlte Hiroshis Blick auf sich ruhen, wusste, er sah sie mit traurigen Augen und schwermütigem Blick an, auch wenn sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Er war so… aufrichtig mitfühlend, so war er schon immer gewesen. Treu und aufrichtig, und nur weil er hier wohnte, hatte sie es über sich gebracht, ihren Sohn allen zu lassen. „Yukiko.“, hörte sie ihn leise murmeln. Sie schüttelte den Kopf, ihre Locken wippten dabei sacht; allerdings blickte sie ihn auch jetzt noch nicht an. Mühevoll sammelte sie sich. „Es ist schon gut, Hiroshi. Danke für’s mitnehmen.“ Damit stieß dann die Autotür auf, kletterte aus dem Käfer. Sie drängelte sich durch die Wartenden durch, fand vorne an der Tür Meguré und Black, die offensichtlich ungeduldig an der Tür läuteten, seufzte leise. „Wenn Sie mich durchlassen, Jûzô, sperre ich Ihnen auf. Aber würden Sie mir sagen, was eigentlich los ist?“ Der Angesprochene erschrak. „Yukiko! Ah, wo…“ „Einkaufen. Wie man sieht.“, bemerkte sie trocken, warf ihm einen prüfenden Blick aus den Augenwinkeln zu und merkte doch, wie sich in ihr alles zusammenzog. Sie musste keine Hellseherin sein, um zu wissen, warum sie alle hier waren. Währenddessen fand Meguré endlich seine Manieren und nahm der Frau seines Freundes ihre Einkaufstüten ab, damit sie nach dem Schlüssel in ihrer Handtasche suchen konnte. Du willst ihn also holen, Jûzô. Sie fischte nach dem Schlüssel in ihrer Tasche, ungeduldig wühlten ihre Finger sich durch den Inhalt – alles bekam sie zu fassen, nur die Schlüssel nicht. Wie immer, wenn man sie suchte. Ihre Hände waren eiskalt und feucht, sie war sich nicht mal sicher, was sie ertastete. James Black warf ihr einen überraschten, zugleich mitfühlenden Blick zu. Sie schluckte. Solche Blicke hasste sie. Den letzten dieser Blicke hatte sie geerntet, als man ihr nach den Dreharbeiten ihres letzten Films erzählt hatte, dass ihr Vater gestorben war. Das Mitgefühl hatte sie dabei nicht verwundert. Die Anspannung in ihren Gesichtern allerdings schon; als sie hörte, dass ihr Vater schon seit Wochen tot war, und man ihr diese Tatsache verschwiegen hatte, wusste sie auch, woher sie rührte. Man hatte ihn beerdigt, ohne sie; damit sie den Film noch erfolgreich zu Ende drehen konnte, ohne von der Trauer gelähmt zu sein. Sie hatte sie dafür gehasst. Und nun stand sie da, und wusste doch, was Sache war – sie alle standen vor ihr, so wie damals, andere Gesichter, aber die gleichen schuldigen Mienen. Yukiko, wir sind hier, weil dein Mann ein… Meguré seinerseits schaute sie voll Unbehagen an. Auch dies war ein Gesichtsausdruck, der ihr sehr bekannt war. Sie presste ihre Lippen zusammen, schüttelte einmal kurz den Kopf, um eine Locke aus ihrem Sichtfeld zu bekommen, zog den Schlüsselbund, den sie endlich zu fassen bekommen hatte, aus der Tasche. „Was ist?“ „Yukiko…“, murmelte der Kommissar. „Ich… würde es dir gerne drinnen erklären.“ Sie fühlte, wie sie auf einmal seltsam gelassen wurde. Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss, sperrte mit ruhigen Fingern auf. Absolute Stille schlug ihnen entgegen. Sie musste nicht erst feststellen, dass ihre Mäntel fehlten, oder in der Garage nach dem Auto suchen, wo es ohnehin selten genug stand, um zu wissen, dass sie nicht hier waren. Yukiko schluckte hart. Dann ging sie in die Küche, zielstrebig, sah die beiden Briefe liegen, blieb stehen, wie zur Salzsäule erstarrt. Einer trug die Handschrift Yusakus. Der andere eine Schrift, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte… nicht dachte, je wieder zu erblicken. Sharons Schrift. Dann trat sie näher, langsam, stellte die Einkäufe ab, ihre Augen unverwandt auf die Briefe fixiert. In ihr wühlte es, begann das Chaos loszubrechen, als sie ahnte, was passiert war, was vielleicht gerade passierte - aber sie hatte sich gut im Griff. Meguré starrte sie an, auf seinem Gesicht ein schwer zu deutender Ausdruck. Yukiko griff nach dem Brief, der die Handschrift ihres Mannes trug, öffnete ihn mit zitternden Fingern. Bevor sie ihn jedoch las, sah sie auf, blickte in die Gesichter der Anwesenden. Ihre Miene war starr, ihr Teint blass; ihre Stimme hingegen klang fest und entschlossen, als sie sprach. „Wie Sie sehen, niemand ist hier außer mir. Sie können aber gern das Haus durchsuchen, tun Sie sich bitte keinen Zwang an.“ Sie schluckte. „Abgesehen davon würde ich gerne meine Korrespondenz ohne ihr Beisein lesen. Danke. Ich denke, das was Sie mir erklären wollten, kann warten.“ „Yukiko…“, begann Kommissar Meguré leise, eindringlich - wollte einen Einwand anbringen, wurde allerdings von der ehemaligen Schauspielerin abgewürgt. „Danke. Jûzô. Du weißt, wo die Tür ist.“ Er starrte sie an, begegnete ihrem Blick. Sekunden lang sahen sie sich an, ohne zu blinzeln, ohne dass einer den Kopf abwandte. Ihre Nervosität verbarg sie gut; dennoch konnte er ihren inneren Aufruhr deutlich sehen. Er kannte die Zeichen an Yukiko; und er wusste, dass sie bereits ahnte, was los war. Und die Existenz dieses Briefs, ihre Reaktion auf ihn, ohne ihn gelesen zu haben, sprach eine deutliche Sprache. Sie hatte nichts geahnt. Und deswegen lächelte er entschuldigend, nickte. „Sicher, Yukiko. Du weißt, dass du anrufen kannst, jederzeit. Wir sind drüben beim Professor, falls du eine Frage hast. Ansonsten… lassen wir dich jetzt allein.“ Damit drehte er sich um, scheuchte alle anderen aus der Küche, die ihn teils verwundert, teils verstehend anblickten. Black blieb stehen, bis alle an ihm vorbeigegangen waren, beobachtete sie nachdenklich. Er sah, wie sie den Brief aus dem Umschlag zog, die ersten Zeilen überflog. Und er sah auch die erste Träne, die aus ihrem Augenwinkel perlte. Dann ging auch er. Nachdem sie die ersten Zeilen gelesen hatte, ließ sie sich kraftlos auf einen Stuhl sinken. Liebste Yukiko, zuallererst… möchte ich dich um Verzeihung bitten, dass du es auf diese Weise erfahren musstest. Einerseits hätte ich es dir gern selbst gesagt, andererseits… weiß ich nicht, ob ich je den Mut gefunden hätte, es dir zu sagen. Ich hätte heute Nacht die Gelegenheit gehabt, aber ich war zu feige… wie du weißt. Ich bin ein ganz entsetzlicher Feigling. Du sitzt jetzt oben und weißt dir wohl keinen Rat mehr; eigentlich, Yukiko, ahnst du es doch längst. Ich hab es gesehen, in deinen Augen. Du willst es noch nicht glauben – und glaub mir, ich würde dir so gern sagen, dass das alles gar nicht wahr ist. Dass es nichts weiter ist als ein böser Traum. Ich möchte aufwachen morgen, mit dir, und mit Shinichi und unser Leben führen wie bisher, will diese Dinge alle ungeschehen machen. Leider kann ich genau das nicht tun. Wenn du diesen Brief hier liest, bin ich weg – vielleicht im Gefängnis, vielleicht tot, auf jeden Fall… komme ich nie mehr wieder. Ich hoffe, ich kann in diesem Leben noch irgendetwas richtig machen, es wird sich zeigen. Auf jeden Fall… wird es wohl die Runde gemacht haben, mittlerweile, dass der, gegen den Shinichi all die Zeit ohne sein Wissen gekämpft hat, ich selbst war. Ich bin der Boss dieses Syndikats, das so vielen Menschen so großes Unglück gebracht hat. Ich. Und ich bin auf meine Taten nicht stolz. Wahrscheinlich hasst du mich jetzt, verachtest mich… schämst dich, dass du mir vertraut hast, all die Jahre. Das… tut mir Leid, Yukiko. Lass mich dich dennoch um einen letzten Gefallen bitten. Bitte… hör mir zu. Lies diese Geschichte von vorne, damit du verstehst… Ich will nicht, dass du mir vergibst, aber du sollst verstehen, warum mein Leben so lief, wie es gelaufen ist. Und damit auch deins nun diese Wendung nehmen muss. Als ich diese Entscheidung für unser aller Leben traf, steckte ich in einer Situation, die der unseres Sohnes in den letzten Tagen gar nicht so unähnlich war… Sie brach ab, krallte ihre Finger so fest in das Papier, dass es fast zerriss. Ai schaute immer noch aus dem Fenster, sah sie aus dem Haus der Kudôs treten, wie eine Trauerprozession den Weg zum Haus des Professors gehen. Sie alle hatten ihre Köpfe gesenkt. „Es fehlt nur noch, dass sie alle Schwarz tragen.“ Akai warf ihr einen nüchternen Blick zu, steckte seine Hände in die Hosentaschen, beobachtete sie genau. Sie lächelte zynisch. Ihr schwarzer Humor amüsierte ihn. Der Professor schritt an ihnen vorbei zur Haustür, öffnete sie, bat die Leute vom FBI und der Polizei wortlos herein. Während sie sich alle setzten, und dankend Agasas Angebot, Tee für alle zu kochen, annahmen, trat er neben sie. Heiji. Sie blickte auf, sah ihn nachdenklich an. „Ich weiß, dass du sie hast. Ich hätt‘ sie gern wieder.“ „Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Heiji.“ Sie bemühte sich um einen gelangweilten Ton, drehte sich um, hob den Blick, sah ihn aus Halbmondaugen ruhig an. Akai beobachtete die beiden genau. „Ich hab sein Auto verwanzt, das weißt du. Ich will wissen, wohin sie gefahren sind, also, wenn dir was an Kudô liegt, gib mir die verdammte Brille!“ Er kniff die Augen zusammen, bemühte sich, leise zu sprechen, wollte er doch nicht alle auf sich aufmerksam machen. Ai wandte den Kopf. „Noch nicht.“ Sie schaute ihn aus zusammengekniffenen Augen an. „Was meinst du damit?“, fragte er argwöhnisch. „Ich finde nicht, dass es an der Zeit ist für deine kleinen, seltsamen Spielchen, Ai, es geht…“ „Um Leben und Tod, ganz Recht.“ Sie nickte, trat näher. Er beugte sich zu ihr runter, sah in ihre blauen Augen, in denen er wie immer umsonst nach etwas Kindlichem suchte; selbst für die junge Frau, die sich immer noch tarnte, waren diese Augen viel zu geprägt von Kälte und Leid. „Er und sein Vater sind aufgebrochen. Zweifellos, um zu versuchen, die Organisation zu vernichten.“ Heiji schluckte. Ihm war das Verb „versuchen“, nicht entgangen. Er ahnte, dass sie ihm nicht viel Aussicht auf Erfolg zutraute, auch wenn sie es sich, das wusste er, insgeheim wünschte. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als diesen Dämon besiegt zu wissen. Diesen unerwünschten schwarzen Schatten, der so vehement und drohend an ihren Fersen klebte, endlich los zu sein. Auf ewig frei zu sein. „Hat er… war er…“ „Nochmal hier?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich denke, er bricht alle Brücken ab… er weiß selbst, wie gefährlich das ist, was er jetzt tut. Außerdem, denke ich, weiß er auch, dass ich ohnehin nicht geredet hätte mit ihm.“ Heiji starrte sie verständnislos an. Shuichi hingegen lehnte sich langsam gegen die Wand, verschränkte die Arme vor der Brust, beobachtete sie genau. „Warum?“, hakte Heiji nach. „Weil ich so viel Dummheit auf einen Haufen nicht ertragen kann.“, wisperte sie leise. „Ich hab ihm immer gesagt, er soll die Finger davon lassen. Ich wusste nicht, wer der Boss ist, hatte keine Ahnung, dass es sein Vater ist, aber ich… ich hab ihn immer gewarnt. Immer und immer wieder! Und ich kann mich nicht mit Leuten unterhalten, die blind und ohne zu hören in ihr Verderben rennen.“ Sie zitterte vor Wut. „Außerdem… ist sein Vater Schuld am Tod meiner Eltern… meiner Schwester… wie…“ Der Oberschülerdetektiv bedachte sie mit einem fassungslosen Blick. „Dafür kann er nichts!“ „Sicher. Ich will nicht… dass er stirbt, aber reden… reden kann ich nicht mit ihm, nicht jetzt, nicht, wo… Nicht, wo ich weiß, dass er der Sohn des Bosses ist.“ Ihre Stimme zitterte gewaltig, sie hatte sich nur mühsam im Griff, ihre Gefühle, die so unterschiedlicher Natur waren und doch alle zur gleichen Zeit in ihr tobten, zerrissen sie fast. „Und denkst du, das macht aus ihm einen anderen Menschen?“ Rans leise Stimme durchschnitt die Stille wie ein Peitschenschlag die Luft. Ais Kopf fuhr hoch, starrte sie an. Niemand hatte sie kommen gehört, dabei war es nicht verwunderlich; bestimmt hatte man Herrn Môri informiert, und der… hatte es wohl Ran erzählt. Sie trat näher, in ihren Augen Unverständnis und kaum verhohlene Wut. „Wie kannst du ihn dafür verurteilen?“ Ai hielt ihrem Blick kaum stand. „Ich verurteile ihn nicht! Aber sein Vater ist der Boss der Organisation, die mir das angetan hat… ich weiß nicht, wie ich ihm gegenübertreten soll, ich meine…“ „Dein Gift hat ihm sein Leben als Conan eingebrockt, hätte ihn fast umgebracht. Dein Werk, und das deiner Eltern, übrigens. Hat er dich oder sie je verurteilt?“ Das blonde Mädchen wankte, fühlte sich, als ob ihr jemand ins Gesicht geschlagen hätte. „Das…“ Ran schüttelte den Kopf, schnitt ihr das Wort ab. „Ich will so einen Unsinn aus deinem Mund nie wieder hören. Er hat dir dein Leben gerettet, Shiho…“, sie sprach den Namen vorsichtig aus, „… und das mehr als einmal. Du kannst dich glücklich schätzen, dass er dein Freund ist. Ihn für die Verfehlungen seines Vaters zu strafen, das ist nicht fair, und das hat er nicht verdient. Erst Recht nicht, wo er in dieser Minute sein Leben riskiert, um uns alle, einschließlich dich, zu retten.“ Ihre Stimme, ohnehin ein Muster an Ruhe und Bestimmtheit, war gegen Ende immer leiser geworden. Nun war sie still, umschlang ihren Oberkörper mit ihren Armen, schaute das kleine Mädchen abwartend an. Ai erwiderte ihren Blick, stumm. Akemi. Du… weißt es nicht, immer noch nicht, aber du… bist ihr so entsetzlich ähnlich. Und natürlich hast du Recht, aber ich kann kaum glauben, dass die Dinge so einfach sein sollen… Immerhin ist er sein Vater, und sind Kinder nicht immer ein wenig wie ihre Eltern? Ich bin es doch auch… Ruckartig wandte sie sich ab, wirkte etwas beschämt. Leise, fast lautlos tappte sie zum Sofa, ließ sich in die Kissen sinken, die Arme vor der Brust verschränkt, ihr Blick leer und unfokussiert. Ran schüttelte den Kopf, warf einen Blick von Shuichi zu Heiji; setzte sich dann ebenfalls auf die Couch, starrte auf ihre Hände. Sie waren weiß, ihre Fingernägel blau unterlaufen. Sie fror, seit sie wusste, dass er weg war. Wohl auf dem Weg war, seine letzte Schlacht zu schlagen, gegen die Organisation. Und sie wusste, sie würde frieren, bis er wieder hier war, bei ihr, gesund und am Leben… denn diese Kälte kam von innen. Und vertreiben konnte sie nur er. Yukiko hatte ihn viermal gelesen. Auf Ewig der Deine, Yusaku Schon beim ersten Mal hatten sich diese Worte in ihr Gedächtnis eingebrannt, so fest, so tief, dass sie kaum glaubte, sie je wieder loszuwerden. Wie einen Ohrwurm hörte sie seine Stimme diese Worte flüstern – immer und immer wieder. Es war entsetzlich. Bei jeder Wiederholung war ihr das, was dort geschrieben stand, genauso unwahrscheinlich, unwirklich, erschienen wie beim ersten Mal. Sie wollte gern glauben, dass das nur eine weitere hübsche Geschichte ihres Mannes war; sie wusste dennoch, so sehr sie sich weigerte es zu glauben, dem war nicht so. Er war weg, und er würde nie wiederkommen. Und seine letzten Worte standen vor ihr auf diesem Blatt Papier. Auf Ewig der Deine. Ihr Mann war ein Schwerverbrecher, ein Mörder… und ihr Sohn war in diese Sache hineingezogen worden, und ob sie ihn jemals wieder sehen würde, stand genauso in den Sternen. Eine Träne bahnte sich ihren Weg über ihre Wange, tropfte ihr vom Kinn. Sie hatte geahnt, das etwas los war. Ja. Schon seit einiger Zeit, er hatte sich… zu verdächtig verhalten. Er war nicht er selbst gewesen. Gewusst, was es war… hatte sie es wohl seit letzter Nacht. Wahrhaben… wollte sie es jetzt noch nicht. Yukiko lehnte sich zurück, ihr Blick schweifte ziellos durch den Raum, ihre Küche. Dachte an die vergangenen Jahre, an all die glücklichen Stunden. Erinnerte sich an ihre Hochzeit und an Shinichis Geburt, und konnte nicht fassen, dass das zu Ende war. Mit einem Schlag vorbei. Einem… gewaltigen Schlag. Sie konnte nicht glauben, dass er weg war und nicht mehr wiederkam. Oder dass man ihn, wenn er wiederkommen sollte, zum Tode verurteilen würde, höchstwahrscheinlich. Wie bist du nur in all das reingeraten, Yusaku? Du erklärst es hier zwar… aber… wie konnte das passieren? Warum musstest du das tun… Sie rieb sich die Stirn. Hinter ihren Augen pochte es; all diese Neuigkeiten trieben sie an den Rand ihres Verstands, sie wollte gar nicht verstehen, was hier passierte. Sie wollte ihr altes Leben wieder. Auch wenn sie seine Gründe nachvollziehen konnte. Sie hatte gelesen, wie es dazu gekommen war, er hatte es ihr erklärt, voller Reue, in diesem Brief. Und sie hatte ihm verziehen, irgendwie. Weil sie ihn liebte. Weil sie wusste, dass er ein guter Mensch war, ein guter Ehemann, ein guter Vater, jemand, der nur ihr bestes wollte, immer gewollt hatte. Was das aus einem Menschen machen konnte, hatte sie an ihrem Sohn erleben dürfen. Ihr seid euch so ähnlich. Sie lächelte traurig. Ja, das waren sie wirklich. Einander unglaublich ähnlich. Dann schreckte sie auf, als eine ihrer Tränen auf ihr Handgelenk tropfte, steckte dann den Brief weg, wortlos. Ihr Teint war fahl wie der einer Leiche, blutleer, fast wächsern. Ihr Blick fiel auf den zweiten Brief, der auf dem Tisch lag, ebenfalls an sie adressiert. Sie wusste nicht, ob sie in der Lage war, noch so ein Geständnis zu lesen, noch so eine Hiobsbotschaft von einem Menschen, der ihr viel bedeutet hatte; obgleich sie ja bereits wusste, was es mit Sharon auf sich hatte. Allerdings sollte ihr die Entscheidung, den Brief sofort zu lesen oder bis später zu warten abgenommen werden, als es an der Tür bimmelte. Sie stand auf, automatisch, strich sich mit einer Hand ihre Tränen aus den Augen, schniefte. Eilte zur Tür, getrieben von der unwirklichen Hoffnung, dass sie es waren… Shinichi und Yusaku. Sie riss die Tür auf und erstarrte. Blonde Haare, die trotz ihres leicht mitgenommenen Aussehens immer noch den Neid vieler Frauen geweckt hätten, eisblaue Augen, sinnliche rote Lippen und eine Figur, die den Männern den Kopf verdrehte, besonders in diesem schwarzen Einteiler aus Leder, den sie trug. Erst beim zweiten Blick fiel ihr die Schramme an der Wange auf, der bleiche Teint unter dem verwischten Make-up, und die Verletzung am Oberschenkel. Sie taumelte zurück, in ihren Augen pures Entsetzen. Sharon schluckte. „Yukiko… sind sie hier? Shinichi… Yusaku?“ Die Angesprochene atmete schwer. „Verschwinde, Sharon. Verschwinde aus meinem Haus, ich will dich nicht sehen, ich…“ Die blonde Frau tat das genaue Gegenteil; sie atmete unruhig, schritt näher, ungeachtet der abwehrenden Haltung ihrer Freundin. Eigentlich hatte ihr der Blick in die Auffahrt alles gezeigt, was sie sehen musste; das Auto war weg. Dieser Fakt, gepaart mit dem Ausdruck in Yukikos Augen, sprach eine deutliche Sprache. Sie waren weg. Das Endspiel hatte begonnen; die silberne Kugel flog geradewegs ins Ziel, durch nichts mehr aufzuhalten als durch den endgültigen Einschlag. Was der aus ihr machen würde, wie er sie zeichnen würde, war nicht einmal zu erahnen. Die blonde Schauspielerin hob die Hand, fuhr sich müde über die Augen. „So it has begun by now… the endgame. Sie sind in die Schlacht gezogen, um einen verrottenden Apfel zu entsorgen… und gegen Werwölfe zu kämpfen.“ Yukiko starrte sie angsterfüllt wie wütend an. „Was soll das heißen, Sharon?“ Dann riss sie sich am Riemen, betrachtete den Gesundheitszustand ihrer ehemaligen Freundin, merkte, wie in ihr Sorge aufkeimte und verfluchte sich selbst dafür. Wenn es eine Person gab, um die sie sich nicht sorgen wollte, war sie das. Sie tat es aber trotzdem. „Und du solltest ins Krankenhaus, wenn ich das so sehe.“ Sharon schüttelte den Kopf, wollte eigentlich wieder umdrehen, als sie merkte, wie jemand sie am Arm festhielt. „Sharon, was wolltest du? Und was meinst du mit deinem Gelaber über Äpfel und Werwölfe? Du weißt doch, wo sie sind! Sag es mir! Verdammt, das bist du mir schuldig…“ „They both know, what they are doing…“ „Ha!“ Yukiko lachte hohl. Sharon zuckte zusammen, sah ihre Freundin beunruhigt an. „Ja, so sieht es aus. Mein Mann…“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. „Eröffnet mit brieflich, dass er ein gesuchter Schwerverbrecher ist.“ Tränen fingen an, ihr erneut aus den Augen zu rinnen, unaufhaltsam. Sharon schaute sie betroffen an. „Mein Sohn hatte bis gestern sein Gedächtnis verloren, saß eine Nacht im Gefängnis, weil er seinen Vater gedeckt hat, und nun sind beide weg – und alles was ich von dir zu hören kriege ist irgendein Unsinn über Äpfel und Werwölfe, Sharon! Verdammt! Ich will die Wahrheit hören! Jetzt! Ich will wissen, ob ich sie noch einmal lebend wiedersehe, denn das…“ Sie fing an zu schluchzen, unkontrolliert. „… ist das Einzige, was mich momentan interessiert…“ Sie sank kraftlos gegen den Türstock. Sharon trat vor, griff nach ihr, hielt sie fest, auch gegen Yukikos Protest. „Du weißt, wo sie sind, also sag es mir…!“ Sharon schien sie gar nicht zu hören. Ihr Blick war nur an einem Gesicht hängengeblieben. Ran stand vor ihr und schaute sie an. Keiner hatte sie kommen sehen, oder auch nur gehört. Sie hatte die blonde Frau als einzige die Kudôvilla betreten sehen und sich unauffällig davongeschlichen. Nun stand sie da, sah die blonde Ex-Schauspielerin unverwandt an. Angel. „Wo ist er?“ Yukikos Blick wanderte von ihrer ehemaligen Kollegin zur Freundin ihres Sohns. Dann riss sie sich am Riemen, griff nach Sharons Arm, zog sie mit sich ins Haus, vergewisserte sich, dass Ran ihr folgte. Die Polizei jedoch konnte sie jetzt noch nicht gebrauchen. Wollte sie von Sharon etwas hören, brauchte sie nur eine Person, wie es schien – kam die Polizei oder gar das FBI auch noch, würde Sharon nie sprechen. Sie biss sich auf die Lippen. Ganz offenbar war Ran der Schlüssel zum Erfolg. Dunkel erinnerte sie sich zurück an jenen Besuch in New York, vor Jahren. „Der Engel hat auch mir ein Lächeln geschenkt.“, murmelte sie leise, als sie in der Küche angekommen waren. Ran setzte sich, beobachtete die Reaktion der Schauspielerin aufmerksam. Vermouth sah ihre Freundin erschrocken an. Yukiko lächelte bitter, bemerkte Rans überraschten Gesichtsausdruck. „So you know…“ „Wer dein Engel ist?“ Yukiko verschränkte ihre Arme vor der Brust, betrachtete Ran mit einem nachdenklichen Blick. „Ich ahnte es, als du es sagtest, es gab keine andere Möglichkeit. Allerdings hielt ich es damals nur für… sentimentales Gerede.“ Ihr Blick verlor sich kurz. Ran bewegte sich unruhig. „Tja, Sharon… mich würde ja mal sehr interessieren, welche Rollen du meinem Sohn und seiner Freundin in deinem ganz eigenen Theater zugedacht hast.“ Sie schloss die Küchentür, zog einen Stuhl vom Tisch weg, bedeutete Sharon, sich zu setzen, blieb selber allerdings stehen. Ran straffte die Schultern, Entschlossenheit spiegelte sich in ihren Zügen. Sharon starrte sie an, tastete mit ihren Blicken das junge Gesicht des Mädchens ab. „I wanted you two to revenge me. You two seemed to perfectly fit in these roles.” Sie biss sich auf die Lippen, tastete vorsichtig an ihrem Wundpflaster, strich sich dann eine Strähne aus der Stirn. Yukiko bemerkte mit Sorge, dass sie schwitzte. Nach diesem Gespräch würde sie einen Krankenwagen rufen müssen. Und die Polizei, nichtsdestotrotz. „Ihr erschient perfekt. Er, mit seinem messerscharfen Verstand, seiner schnellen Kombinationsgabe, seinem untrüglichen Gefühl für Verbrechen und Gerechtigkeit und diesen Moralvorstellungen, ehrlich…“, sie lächelte bitter, „der Begriff Moralapostel hat sich neu definiert, als ich deinen Sohn kennenlernen durfte, Yukiko. Er rettet mir das Leben, lässt mich laufen mit den Worten, dass er mich, wenn er mich wieder trifft, in die Hölle schickt. In dieser einen Handlung, mit diesem einen Satz, hat er mir alles über sich verraten, was ich über ihn wissen musste.“ Sie betrachtete ihre Nägel. Ihre einst fein manikürten Finger hatten arg gelitten in den letzten Stunden; einige waren abgebrochen, an manchen splitterte der Nagellack ab. Unwillig pulte sie an einem Fingernagel, ehe sie forfuhr. „Erstens: kein Leben ist mehr wert als alles andere; egal, was mit diesem Leben angestellt wurde, für was es der Besitzer benutzt hat. Zweitens: jedem muss seine gerechte Strafe zuteil werden – und die Betonung liegt auf gerecht. Drittens… Shinichi Kudô lässt alles stehen und liegen, wenn es um Ran Môri geht.“ Sie lächelte traurig, als sie Rans fragenden Ausdruck bemerkte. „Du warst bewusstlos, Darling, du hast es nicht mitbekommen. Er hat mich, die ich als Schwerverbrecher und Serienmörder verkleidet rumlief und auch genau das tat, was man als solcher tut - nämlich schwere Verbrechen verübte und in Serien mordete - lieber laufen lassen, als dass er dich noch länger bewusstlos hätte liegen lassen. Er hätte mich an jenem Abend haben können, hätte mich der Polizei liefern können, wär das neue Wunderkind New Yorks geworden, hero of the week -", ein amüsiertes Lächeln huschte ihr über die Lippen, für Bruchteile einer Sekunde, "aber er tat es nicht, weil ihm wichtiger war, dich heimzubringen.“ Ran schluckte hart, merkte, wie sie rot wurde. „Und er war sich so sicher, dass er mich wieder finden würde - ich habe mich immer gefragt, woher er diese Gewissheit nahm. Er hat mir versprochen, dass er mich in die Hölle schickt, und ich denke, das wird er noch, oder ich gehe freiwillig, weil er mich dazu treibt...“ Yukiko zog ihre Augenbrauen zusammen, so sehr, dass sie sich fast in der Mitte trafen. „Schön und gut, Sharon, aber warum? Warum ziehst du ihn da mit rein, was soll er machen, deiner Meinung nach? Dich rächen? Warum kannst du das nicht selbst?“ Sharon schluckte. Kurz umwölkte ein bei ihr selten zu sehender Gesichtsausdruck ihre Augen – Trauer, unsäglicher Schmerz. „Er soll mich rächen und meinen Mann. Yukiko.“ Überraschung zeichnete sich auf den Gesichtszügen der blonden Japanerin ab; Ran beugte sich angespannt nach vorn. Sharon lächelte bitter, als sie die geballte Aufmerksamkeit der beiden spürte, seufzte dann. „Ich bin nur dabei, weil diese Organisation mir meinen Mann genommen hat. Sie haben ihn missbraucht, für ihre Tests, und… getötet. Das war aber noch nicht alles. dann haben sie mich eingestellt, mit der perfiden Freude, zu glauben, ich wüsste nicht, was sie getan haben. Ich wusste es ganz genau. Und ich wollte Rache, immer schon… nur wie ich es anstellen sollte, wusste ich nicht. And then, I met him. The very son of our boss… and knew, he was the one. He was the silver bullet – schnell, zielsicher, gnadenlos und unbestechlich. Alles Eigenschaften, die ich nicht habe. Ich konnte die Organisation unterwandern, einmal als Sharon, dann als Chris… aber mir war klar, um sie zu zerstören, brauchte ich jemanden von anderem Format.“ Ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen entwich ihren Lippen. „And about you, angel, I knew everything I needed to know, when you saved her… and you saved me.“ Yukiko schaute sie gespannt an. „Du hast ein unschuldiges Herz, voller Nächstenliebe. Du wirst ihn immer fangen, egal, was ihm passiert, egal was er tut. Und glaub mir… das wird er brauchen. Deshalb… that’s the reason I chose you two. Him, because he is absolutely able to rip that very black soul out of them all, and you, to protect him. To give him another reason to move on. And he’ll need one, desperately, after what he’ll be forced to do tonight.” Kapitel 48: Kapitel 30: The endgame begins ------------------------------------------ Guten Tag, meine werten Leserinnen und Leser - es tut mir Leid, dass es momentan ein paar kurze Wartezeiten gibt, aber keine Bange- zu lange sollten sie nicht mehr werden. Nun, in diesem Kapitelchen geht es nun weiter, mit der Aktion von Vater und Sohn... sehen wir, was daraus wird. Ich wünsche euch wie immer viel Spaß beim Lesen und verbleibe eure Leira :) Until next time! _________________________________________________________________________________ Kapitel Dreißig: The endgame begins Als er angekommen war, atmete er erst einmal tief durch, sah sich unruhig um. Shinichi strich sich den Schweiß von der Stirn, drückte die Tür zu, drehte den Schlüssel um, damit ihn keiner hinterrücks überraschte und ließ sich kurz gegen die Tür sinken, versuchte, seine etwas sehr in die Höhe geschossene Pulsfrequenz wieder in den Griff zu bekommen. Das Adrenalin schien zum Schneiden dick in seinen Adern zu strömen. Er hatte fast den ganzen Weg bis hierher die Luft angehalten, zu sehr hatte ihn die Angst verfolgt, geschnappt zu werden. Er hoffte, sein Vater hatte bisher ähnliche Erfolge verzeichnen können. Als er sich endlich soweit wieder im Griff hatte, wandte er sich den Apparaturen zu, die vor ihm blinkten; ein leises Summen lag in der Luft, es hörte sich an wie ein Bienenschwarm - ein wahrlich gewaltiger Bienenschwarm - und doch war es nur das leise Brummen der Lüfter der Rechner. Es klang nur deshalb so laut, weil es so viele waren. Beeindruckend. Shinichi zog sich einen Drehstuhl heran, rollte vor die Hauptkonsole und ließ seinen Blick über die vielen Monitore wandern, die vor seiner Nase das Geschehen innerhalb der vier Wände der Organisation zeigten. Er sah Scotch im Labor geschäftig von einem Reagenz zum anderen eilen, nervös auf die Uhr schielen – sah massenhaft leere Gänge, leere Zimmer und einen leeren Platz vor dem Gebäude. Also, gehen wir’s an… und hoffen wir, dass es klappt. Vorsichtig strich er mit den Fingern über die Tastatur, schluckte schwer. Dann zog er seinen Zettel hervor und begann die Kolonne aus Zahlen und Buchstaben einzuhacken, die ihm sein Vater in die Hand gedrückt hatte. Offenbar war die Kombination richtig, denn schon bald zeigten hektisch aufblinkende Nachrichten auf den Bildschirmen die gewünschte Mitteilung. Data secured. Password changed. Access to Conference Room Floor Seven denied, doors blocked. Er sank zurück, langsam, als er die Rechner ihre Arbeit verrichten ließ. Dann holte er sein Handy heraus, öffnete den Mailspeicher, zog seine Unterlippe zwischen die Zähne. Rasch warf er einen Blick auf die Uhr, dachte kurz nach. Wir sind etwas spät dran. Das wird knapp… aber was soll’s. Dann drückte er auf „Senden“, schaltete anschließend sein Handy aus. Mal sehen, was ihr draus macht, Hattori. Automatisiert steckte er sein Mobiltelefon wieder weg, ließ seinen Blick wandern, allerdings nicht lange; fast magisch wurde er von einem Monitor angezogen, der rechts über ihm das Bild des Konferenzraums zeigte. Wenn schon mal gerade Zeit ist… Shinichi zog die Mailingliste hervor, zählte schnell die Namen, die darauf standen, um dann die Leute im Konferenzraum abzuzählen. Anspannung ergriff ihn, als Rum erblickte; offenbar war zumindest ein Triumviratsmitglied auf den Leim gegangen. Er jubelte innerlich, als er Cachaça halb verdeckt von zwei Männern entdeckte, begann nun, gezielt nach Absinth zu suchen, und merkte, wie sich ein bitteres Lächeln auf seine Lippen schlich. Der grauhaarige Japaner war nicht zu sehen. Offenbar hatte der Silberrücken der Organisation den Braten tatsächlich gerochen. Ein zynisches Grinsen huschte ihm übers Gesicht, dann seufzte er leise, massierte sich die Schläfen. Mit ihm würden sie sich heute Abend sicher noch gesondert auseinandersetzen müssen. Das wär wohl tatsächlich zu einfach gewesen… Dann hörte er Schüsse fallen, fuhr hoch. Der Krach war ziemlich laut; das hieß, der Schütze war nicht weit von hier. Er starrte die Tür an, merkte, wie sein Adrenalinspiegel abrupt wieder in die Höhe schnellte, fühlte, wie sein Herz zu rasen anfing, schaute sich hektisch um. Er wusste, dass es keine gute Idee war, die Tür zu öffnen. Genau genommen war es sogar eine recht blöde Idee. Allerdings, irgendwann musste er ohnehin raus hier, warten bis er buchstäblich schwarz wurde, war keine Option - und dieses Argument bewog ihn, es doch zu tun; wenn er ohnehin hier drin nicht alt werden konnte, dann warum nicht jetzt… gleich. Eventuell war auch sein Vater in Gefahr und brauchte Hilfe. Er würde es nicht erfahren, wenn er hier blieb. Unwillkürlich zog er die Pistole aus seinem Hosenbund, entsicherte sie; dann ging er zur Tür, leise. Drehte noch leiser den Schlüssel um. Und mit dem, was dann kam, hätte er rechnen müssen, dachte er hinterher. Jemand schlug die Tür, die nach innen aufging, heftig gegen ihn. Der Türknauf traf mit voller Wucht seinen Brustkorb, trieb ihm das letzte Restchen Luft und scheinbar auch den letzten Herzschlag aus dem Leib. Ihm schwindelte, als er sich an die Brust griff, ging in die Knie, keuchte, als er mit Mühe versuchte, wieder einzuatmen. Verdammt. Er schmeckte Blut, hustete, fühlte etwas Warmes über seine Lippen laufen, wusste, die Tür hatte auch seine Nase getroffen. Ehe er sich wehren konnte, stieß ihn jemand vollends um, trat ihm die Waffe aus der Hand, blieb auf seinen Fingern stehen und hielt ihm einen Gewehrlauf unter die Nase. Shinichi merkte, wie in ihm alles zu Eis gefror, schloss kurz die Augen, in der Hoffnung, dass er sich das alles nur einbildete. Allerdings, die Schmerzen in seiner Hand schienen recht real. Und das röchelnde Geräusch, als ihm seine Lungen endlich den nächsten Atemzug gestatteten, war es auch. Und so öffnete er die Augen wieder, blickte der unbarmherzigen Wahrheit ins Gesicht. Sie trug Gins Antlitz. Verdammt. Verdammt. Verdammt. „So sehen wir uns wieder, Kudô.“ Shinichi bäumte sich auf, wollte nach ihm treten, merkte doch, wie unmöglich das schien; immer noch fiel ihm das Atmen schwer, seine Glieder wollten ihm nicht gehorchen - der Türknauf musste seinen Solarplexus getroffen haben. Gin lächelte breit, packte dann seinen Gefangenen am Kragen, zog ihn hoch; nur um ihm in die Haare zu greifen und seinen Kopf und gegen die Wand zu schlagen. Shinichi schrie auf; der Schmerz, der in seinem Schädel explodierte, schien kaum auszuhalten, und kurz fragte er sich noch, ob nun sein Schädelknochen gebrochen war. Lange beschäftigte ihn diese Frage nicht. Die Spannung wich aus seinen Gliedern, als die Dunkelheit ihn einhüllte. Er sackte zusammen, bewusstlos. Auch Yusaku Kudô hatte sein Ziel ohne Zwischenfall erreicht. Und so stand er jetzt hier, im zweiten Serverraum der Organisation, und tippte aus dem Gedächtnis das Passwort ein, änderte es, gab den Befehl zur Türblockade und Datensicherung und merkte, wie sich in ihm doch eine gewisse Anspannung gepaart mit – ja! – tatsächlich freudiger Erregung breitmachte. Bis jetzt lief alles nach Plan. Dann ging die Tür auf und er drehte sich um. Hinter ihm stand Vodka, mit ausgetreckter Pistole. Yusaku musste nicht fragen, um zu wissen, dass der Mann wohl eingeweiht worden war. Ein breites Grinsen machte sich auf dessen Gesicht breit, als er auf ihn zuschritt. Der Schriftsteller grinste ebenfalls, schüttelte dann den Kopf. „Nein, so läuft das nicht.“ Damit duckte er sich, schleuderte den Drehstuhl, der in der Zimmerecke stand, gegen den untersetzten Mann und traf ihn damit, wie ein schmerzerfülltes Keuchen ihm mitteilte, an einer sehr empfindlichen Stelle. Er verzog fast mitleidig das Gesicht, als er sah, wie der Kerl sich krümmte, trat ihm dann die Waffe aus der Hand, hob sie auf und ließ die Kugeln mit einer geschickten Handbewegung aus dem Lager prasseln. „Bestell Absinth schöne Grüße. Zweifellos hat er dich ja geschickt.“ Damit schlug er ihm den Lauf der Waffe gegen den Kopf; mit einem seltsamen Röcheln sackte der wuchtige Mann zusammen, blieb bewusstlos liegen. „Schöne Träume.“, murmelte Yusaku nüchtern, wollte gerade über ihn hinwegsteigen, als er nachdenklich inne hielt. „Wo ist Gin, du rennst doch nie allein…“ Yusaku starrte ihn weiterhin an, merkte, wie ihm siedend heiß wurde, als er erkannte, was hier gespielt wurde. Im Prinzip genau das Spiel, das er erwartet hatte. Und dennoch traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht. „Nein, verdammt!“ Er taumelte zurück, ohne den auf dem Boden liegenden Vodka noch weiter Beachtung zu schenken. Dann eilte er aus der Tür, war gerade noch geistesgegenwärtig genug, hinter sich abzusperren, bevor er zu rennen begann, alle Vorsicht fahren ließ. Yusaku hoffte nur, dass er Shinichi vor Gin erreichte. Er hatte keine Ahnung, dass er längst zu spät war. Mittlerweile hatten sie sich alle in der Villa der Kudôs versammelt. Und sie alle starrten Sharon an, die in der Küche auf einem Stuhl saß, zwar noch bei Bewusstsein, aber ungeheuer blass im Gesicht. Der Krankenwagen war unterwegs, würde wohl gleich kommen. Sie wusste nicht, ob sie das gut finden sollte oder nicht, Tatsache war aber wohl, es interessierte ohnehin keinen. Ihr Spiel war in ihren Augen gespielt, sie hatte verloren, saß nun auf der Bank und sah den Spielern zu, die sich noch wacker schlugen. Sie dachte darüber ein wenig anders. Not yet, no. My game’s not finished just now. Abgesehen davon bekam sie die Blicke der Anwesenden sehr wohl mit; ihre Anwesenheit war nicht bei allen auf ein positives Echo gestoßen. Genau genommen wohl bei keinem. Und es gab keinen hier, der sie nicht anstarrte. Einige schenkten ihr Blicke voll tiefster Verachtung und Abscheu, unter ihnen Jodie; andere voller Angst, wie die kleine Sherry. Sie warf ihr einen kurzen, etwas längeren Blick zu, wusste, wie dieser auf sie wirkte. Das Mädchen wandte den Kopf um, wurde sichtlich nervös. Ja, Sherry fürchtete sie noch immer. Sie lächelte bitter, aber nicht ohne doch ein wenig amüsiert zu sein. Andere Blicke schienen sie fast zu durchbohren, viele mit etwas Ärger gemischt, andere mit Wissbegierde, oft beides kombiniert; diese Blicke konnte sie verstehen. Man wollte von ihr wissen, wie sie zu ihm kamen, zu Shinichi. Wie sie ihn retten konnten. Dabei könnt ihr das gar nicht. It’s just not up to you, this time… Eine sah sie voller Enttäuschung an, mit ein wenig Zorn, und viel Trauer. Yukiko. Nur einen Blick konnte sie so gar nicht deuten, und das war der Blick, der sie beunruhigte. Ran. Sie sah sie an; sie starrte nicht, sie schaute sie an, ruhig. Ihre Arme vor ihrer Brust verschränkt, eine Gelassenheit ausstrahlend, die sie stutzig machte. Sharon wusste, dass sie sich fürchtete, wie konnte sie nicht; ihr Freund war schließlich in Lebensgefahr. Aber sie rannte nicht auf sie zu, packte sie nicht am Kragen, wie Jodie es gerne täte, oder schrie sie an, überhäufte sie mit Vorwürfen, wozu Yukiko wohl jedes Recht haben würde; sie verkniff es sich, denn so ein Verhalten, das wusste sie, war kontraproduktiv. Ran stand nur da, und sah sie an, mit diesem unergründlichen Blick, der in ihr wohl las wie in einem Buch. Dann lenkte die laute Stimme Heijis die Aufmerksamkeit aller auf sich. „Ich sagte, gib mir das Ding! Du hast kein Recht…!“, Heiji starrte Ai böse an, „rück endlich die verdammte Brille raus, kleines Biest… ich hab lange genug gewartet, ich…“ „Nein! Wir warten!“ „Bis die seine Todesanzeige aufgeben, oder was? Dass sie gerne was über ihn in die Zeitung setzen wissen wir ja.“ Heijis Tonfall klang patzig. „Er wird sich melden, wenn er Hilfe…“ „Und wenn er sich nicht melden kann?! Verdammt!“ „Das…“ „… ist durchaus möglich! Also jetzt rück sie schon raus, oder…“ „Oder was?“ Ais Stimme klang extrem unterkühlt, ihr Blick aus halb geöffneten Augen genauso kalt wie stur. „Lass sie in Ruhe. Die Brille hilft dir ohnehin nichts.“ Shuichi hielt eine ihnen allen nur allzu bekannte Brille in die Höhe. Ai warf ihm einen perplexen Blick zu. „Woher…?!“ Sie griff hektisch in ihre Jackeninnentasche, zog das gleiche Modell hervor. „Der Professor hatte noch eine.“ Ein überlegenes Grinsen huschte über Shuichis Lippen. „FBI, schon vergessen? Eine gewisse Grundintelligenz ist Einstellungskriterium.“ Er lächelte das reduzierteste Lächeln das Heiji je gesehen hatte; dann wandte er sich wieder der Brille zu. „Der Punkt blieb mitten in der Pampa stehen, an einer Stelle, an der wir auch schon gesucht haben. Der alte Kudô wusste wohl, dass du ihn verwanzt hast. Und so, wie du mich ansiehst, wusstest du wohl auch, dass er es wusste.“ Heiji schaute in der Tat einigermaßen missvergnügt drein. „Jaaa… ich ahnte es, als er mich abgehängt hat. Aber ich hatte gehofft, er vergisst das im Eifer des Gefechts.“ „Hat er nicht.“, meinte Akai trocken. „Weiß ich jetzt auch.“, erwiderte Heiji bissig. Ran hingegen schien die beiden gar nicht gehört zu haben. Sie schaute Sharon immer noch unverwandt an, trat nun näher, bis sie direkt vor ihr stand. „Wo sind sie?“ Ihre Frage hing im Raum, brachte alle auf einmal zum Verstummen. Sharon starrte sie an, unfähig, ihren blauen Augen auszuweichen, den Blick abzuwenden. In ihnen lag etwas, dem sie sich nicht entziehen konnte. Um wieder handlungsfähig werden zu können, musste sie weg von hier; weg von der Polizei, erst Recht weg vom FBI. Und vor allem weg von ihr. Sie musste sie alle außer Haus bringen, und dann… Well, I was an actress once. Let’s see, how much of her is still left… Sharon hob den Kopf, bedacht langsam, kultivierte das Zittern, dass sie schon seit Minuten schüttelte; es war durchaus echt, aber auf jeden Fall noch ausbaufähig. „Ran.“, murmelte sie dann leise. „Er will nicht, dass du in Gefahr gerätst… I told you once. “ „Das ist mir egal.“ Rans Stimme war leise, aber bestimmt. „Sie haben mir auch einen Part zugedacht, in ihrer Geschichte. Ich bin dafür da, um auf ihn aufzupassen. Ich kann das nicht, wenn ich nicht weiß, wo er ist.“ Zögernd streckte sie ihre Hand aus, berührte Sharons Finger. Die Frau sah auf, ihr klaren blauen Augen unverwandt auf Rans blasses Gesicht gerichtet. Es durfte nicht zu schnell gehen. Sonst glaubte ihr niemand ihre Geschichte. „Your part is, to sit here and wait for him. And this… I told you as well. Du erinnerst dich?” Sie seufzte, strich sich mit kalten Fingern über die Stirn. „Aber…!“ „No.“ Nun war es Heiji, der sich ebenfalls einschaltete. „Jetzt aber, hörn se mal! Ich glaube kaum, dass sie das Recht haben, seine Entscheidungen für ihn zu treffen. Nun sagense uns schon, wo dieses verdammte Hauptquartier steht!“ Heiji schnaufte ärgerlich, hatte seinen Zorn, das sah man nur allzu deutlich, nur noch mit Mühe im Griff. Jodie hatte sich gegen die Küchentheke gelehnt, bedachte Sharon, dann Yukiko mit einem musternden Blick. Sie konnte nicht sagen, ob Vermouth wieder eine ihrer Shows abzog, deshalb schätzte sie, ihre ehemalige Schauspielerkollegin wäre ein guter Indikator, falls es so war. Allerdings, das musste sie sich eingestehen, war die Frau momentan wohl beschäftigt mit ihren eigenen Problemen. Trotzdem, und das war nicht zu übersehen, bedachte Yukiko Kudô ihre ehemalige Freundin mit einem misstrauischen Blick. Langsam beugte sich die Frau nach vorn, sah Sharon Vineyard sekundenlang schweigend ins Gesicht. Die Killerin schluckte, wich ihrem Blick aber nicht aus. „Es ist genug, Sharon. Wo sind sie?“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Weißt du, es wäre schön, wenn du es uns sagst, bevor du ohnmächtig umkippst.“ Yukiko schluckte, wusste nicht, woher sie den Biss in ihrer Stimme nahm. „Deine Ziele in allen Ehren, und den Wunsch, diese Organisation auszulöschen auch. Aber… ihr habt mir meinen Mann genommen, ich fürchte, was ihn betrifft, da… stehe ich auf verlorenem Posten. Aber meinen Sohn bekommt ihr nicht. Also sag uns nun endlich…“ Ihre Stimme war zu einem gefährlichen Flüstern gesunken. „… wo mein Sohn ist…“ Sharon sah sie an. Sie war immer blasser geworden, in den letzten Minuten, ihr Atem etwas schneller und flacher als vorher. Sie hob die Hand, sah Blut an ihren Fingern, eingetrocknet; langsam steckte sie sie wieder weg. Dann musterte sie Ran, die sie bittend ansah. Den Wettbewerb um das sorgenvollste Gesicht gewinnst du, Angel… auch wenn die Night Baroness dir steil auf den Fersen ist. Sie lächelte innerlich, aber verkniff sich ihre Gedanken. Einen Blick in die Runde konnte sie sich sparen, sie wusste, sie starrten sie alle an, warteten auf eine Antwort, ein Zeichen. Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt, die Luft zum Schneiden dick. Wenn er jetzt kam, der Auslöser, dann würden sie laufen, ohne nachzudenken. Würden ihr keine Beachtung mehr schenken; schließlich war sie schwach, besiegt, von ihr ging keine Gefahr mehr aus – weder Fluchtgefahr noch eine andere. Und so inszenierte sie gekonnt ihre Kapitulation. Sie seufzte müde, stöhnte leise, aber schmerzerfüllt auf, als sie sich im Stuhl zurücksinken ließ, die Augen schloss und mit kaum hörbarer Stimme die Worte wisperte, auf die sie alle warteten. Man hätte eine Stecknadel fallen gehört, so still war es. Und sie genoss es. „Das Katsokara Firmengelände. Das… ist es.“ Damit schloss sie die Augen, ihr Kopf sackte leicht zur Seite. Als Ran ihr die Stirn fühlte, spürte sie kalten Schweiß unter ihren Fingern, erschauderte, ekelte sich fast ein wenig. In der Küche trat Totenstille ein. „Woher wissen wir, dass das stimmt?“, murmelte Kogorô fragend. „Tut es.“ Heiji, der in den letzten Minuten still geworden war, weil er eine SMS gelesen hatte, die ihn gerade erreicht hatte, hob sein Handy hoch. „Von Shinichi. Die gleiche Adresse.“ Mit diesem Satz leerte sie sich fast auf einen Schlag komplett, als die Leute vom FBI, Heiji, Kogorô und die Polizei das Haus verließen. Das amüsierte Lächeln, das über die Lippen der Bewusstlosen für Sekundenbruchteile huschte, bemerkte niemand. Zurück blieben nur Ran, Yukiko, Kazuha, der Professor und Ai, die ebenfalls nach draußen rannten, um den Krankenwagen zu empfangen, der ein klitzekleines Verkehrsproblem hatte. Da die Straße von Polizei und FBI zugeparkt war, kam er kaum durch, erst Recht nicht, als sie alle ohne Rücksicht auf Verluste losfuhren. Als sie endlich in die Küche traten, war niemand mehr dort. Heiji unterdessen saß zusammengequetscht mit den Agents Akai und Starling auf der Rückbank des Polizeiwagens, den Meguré wie ein Berserker durch die Straßen Tokios jagte. Neben ihm saß Black, und war wie immer die Ruhe selbst; die Tatsache, dass sein Kollege von der Tokioter Polizei sämtliche Verkehrsregeln missachtete und noch dazu viel zu schnell durch die Stadt bretterte, schien den Briten nicht im Geringsten zu interessieren. Jodie hingegen starrte einigermaßen verwundert nach draußen. „Ich wusste gar nicht, dass ihr das könnt.“ „Wer wir? Und was können?“, murrte Heiji unaufmerksam. „Na, ihr Japaner. Und eure heißgeliebten Regeln so derart zu missachten.“, meinte sie grinsend; allerdings verging es ihr schnell wieder, als der Ernst der Lage sie wieder einholte. Die Sonne war fast untergegangen und langsam gingen die Lichter in Tokio an; ein Straßenzug nach dem anderen wurde illuminiert, ein bezauberndes Schauspiel, eigentlich. Heiji hatte dafür nicht viel Sinn. Er hielt sein Handy in der Hand, dachte an Shinichi – dann an Kazuha. Eigentlich hatte er schon längst vorgehabt, mit ihr zu reden, aber die Tage waren so schnell vergangen; viel zu schnell, um einen klaren Gedanken zu fassen. Abgesehen davon war es ihm unpassend erschienen, mit ihr über… Liebe zu reden. Wo es anderen doch so schlecht ging. Nun saß er hier; er hatte nicht wirklich Angst, nicht wieder zu kommen, aber er wusste, dass er damit potentiell rechnen musste. Shinichi hatte ihnen allen das deutlich genug vorgeführt. Er öffnete das Programm für Textmitteilungen, seufzte leise. Per SMS? Wie schrecklich romantisch, Hattori. Dann zuckte er mit den Schultern. Besser als gar nicht. Mit zitternden Fingern tippte er drei Wörter ein, schickte die Nachricht ab, ohne einen weiteren Kommentar. Dann schaltete er das Handy ab, steckte es ein. Jodie, die gesehen hatte, was er tat und was er geschrieben hatte, sah ihn wortlos an. Er wandte den Kopf. „Ich bitt‘ Sie, sagense einfach nichts.“ Er seufzte, zog sein Baseballcap tiefer in die Augen, ließ sein Kinn auf die Brust sinken. „Wie lange brauchen wir bis dahin?“, fragte Akai neben ihm. Seine Stimme klang wie immer absolut sachlich und ruhig. „Etwa eine dreiviertel Stunde.“, murmelte Meguré unwirsch. Ihm war anzuhören, dass ihm diese Tatsache auch so gar nicht schmecken wollte. „Bis dahin…“, murmelte Jodie, brach ab. „Bis dahin könnte alles zu spät sein, das wissen wir, danke.“ Es war, wie er befürchtet hatte. Der Code war aktiviert worden, aber das Zimmer war leer; noch dazu zeugte eine Blutspur auf dem Boden von einem stattgefundenen Kampf. Daneben lag die Waffe, die er ihm vor einer gefühlten Ewigkeit gegeben hatte; dabei konnte es noch nicht länger als eine halbe Stunde her sein. Der Mann bückte sich, hob die Pistole auf, sicherte sie und schob sie ein. Shinichi… du hättest sie benutzen sollen… Yusaku merkte, wie es ihm eiskalt den Rücken hinablief; es fühlte sich an, als würden tausende Eiskristalle sein Rückgrat entlangriesen. Absinth, du mieses… Dann fiel sein Blick auf die Monitore. Im Konferenzraum war die versammelte Menge in Bewegung geraten; langsam wurde man wohl doch unruhig. Dann griff der erste nach der Türklinke und fand sie verschlossen. Über Yusakus Gesicht glitt ein kurzes Lächeln. Immerhin das hat geklappt. Nun nur noch Absinth finden, und… Dann fiel sein Blick auf eine der anderen Kameras; es war die, die den Platz vor dem Eingangstor zeigte. Beim letzten Check oben in seinem Büro hatte sie nur den leeren Vorplatz gezeigt. Nun stand da eine Gestalt, die ihm leider sehr bekannt vorkam. Hier bist du also. Du hast dich tatsächlich ferngehalten, hast unseren Plan wohl durchschaut. Gerade, als er gehen wollte, bemerkte er eine Bewegung im Augenwinkel, erstarrte augenblicklich. Eine zweite Person war erschienen, die eine dritte über der Schulter Arm trug. Die Personen waren zwar sehr klein abgebildet, aber diese beiden hätte er wie Absinth unter tausenden erkannt. Gin. Und seinen Sohn. Shinichi. Er machte auf dem Absatz kehrt, begann zu laufen. Und schalt sich während all der Zeit einen Narren, mit jedem Schritt, den er machte, jedem Atemzug – er hätte es wissen müssen. Er kannte Absinth. Ihm war klar, dass er in eine ausgemachte Falle lief. Zwar waren sie nur zu zweit, da er Vodka ausschalten hatte können, aber Absinth hatte seinen Sohn, und Gin war ein skrupelloser Mörder, der es kaum erwarten konnte, entweder ihn, den Boss, oder Shinichi zu töten. Das wusste er. Gin seinerseits lud seine Fracht unsanft ab. Shinichi stöhnte auf, kam aber noch nicht zu sich. Absinth nickte zufrieden. „Gut gemacht.“ Der blonde Mann schaute ihn unterkühlt an. „Wer ist es denn nun?“, fragte er scheinbar unbeteiligt; dabei war Absinth klar, dass Gin darauf brannte, die Identität des Bosses nun endlich zu erfahren, obwohl er ahnte, dass er wohl schon einen Verdacht hatte. Gin war nicht blöd. Er grinste, betrachtete dabei eingehend das Gesicht seines Gefangenen. „Sein Vater.“ Gins Gesichtsausdruck blieb starr wie eine Maske. „Tatsächlich?“ „Allerdings.“ Absinth schien fast zu platzen vor freudiger Erregung. „Yusaku Kudô höchstselbst. Ein brillanter Kopf, wie du wohl zugeben musst – hast du doch jahrelang unter ihm gedient.“ Gin äußerte sich dazu nicht, schaute Shinichi mit einem undefinierbaren Blick an, zuckte dann mit den Schultern. „Wie kam er dazu?“ „So wie sein Sohn.“, antwortete Absinth, warf einen abwartenden Blick Richtung Eingang. „Allerdings lief beim Vater die Sozialisation in unsere kleine Gemeinschaft etwas besser. Ihn hier haben wir ja leider nicht umdrehen können. Etwas, das ich wusste, aber was will man machen – wenn der Boss es anders will.“ Gin sah ihn lauernd an. „Warum habt ihr euch seinem Willen gebeugt?“, fragte er schließlich. „Eigentlich hätte er doch sterben sollen, an jenem Tag.“ Absinth bedachte ihn mit einem genervten Blick. „Nicht, dass es dich etwas angeht, aber auch wir haben Statute. Und die besagen, dass wir nur ein Vetorecht haben, sofern Entscheidungen getroffen werden, die die Organisation in ihrer Existenz bedrohen; ihn am Leben zu lassen hätte die Organisation nicht unmittelbar bedroht, daher konnten wir unser Veto nicht einlegen. Diese Statute sind uralt und bestehen seit der Gründung der Organisation – und bisher hat es gut funktioniert mit ihnen.“ Er räusperte sich, verzog das Gesicht. „Und solange wir den Jungen durch die Erpressung, seinem Mädchen was anzutun, im Griff hatten, hat auch alles wunderbar geklappt. Bis er herausfand, wer der Boss war. Anders kann ich mir die Befehlsverweigerung Armagnacs nicht erklären. Wobei ich mich frage, wie lange ihr gestanden hättet, in dieser Gasse... ob er es je über sich gebracht hätte, zu schießen. Die Situation war hochspannend, zu schade, dass sie zu keinem Ende finden durfte.“ Gin rührte sich nicht „Wie dem auch sei; das ist mittlerweile ohnehin alles kalter Kaffee.“ Nachsichtig lächelnd strich er sich übers Kinn, ließ seinen Gefangenen nicht aus den Augen. „Er hat uns ein paar amüsante Tage beschert, etwas Spannung in diesen ausgeleierten, übersättigten, träge gewordenen Betrieb gebracht. Ich denke, mit seinem Ende tut auch ein neuer Anfang dieser Organisation Not. Wie gesagt…“ Absinth schob sein Sakko auf, zog ein silbernes, flaches Etui heraus, klappte es in aller Seelenruhe auf. Wählte ein Zigarillo aus und verstaute das Etui wieder, ehe er sich den Glimmstängel unter die Nase hielt, daran genüsslich roch. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er ihn sich zwischen die Lippen steckte, ein Zippo aus seiner Hosentasche holte und sich selbst Feuer gab. „Mir ist ganz Recht, wenn die Organisation heute den Bach runtergeht. Sie war viel zu unterwandert bereits, und einige von uns… schienen es mit ihrer Loyalität auch nicht mehr so ernst zu nehmen.“ Er sog hingebungsvoll an seinem Zigarillo, schloss die Augen, ließ den blauen, intensiv riechenden Rauch durch seine Nasenlöcher entweichen, langsam. Es sah aus, als würde er innerlich brennen. Gin verzog keine Miene, sah ihm unbeteiligt ins Gesicht. „Wie wollt Ihr es handhaben, wenn Ihr die Organisation neu gründet?“ Absinth nahm den Glimmstängel in eine Hand, lachte überheblich. „Als erstes werde ich das Statut wohl verbrennen. Und es wird auch kein Triumvirat mehr geben. Es geht doch nichts über die gute, alte Diktatur.“ Erst jetzt änderte sich auch an Gins Mimik ein Detail; ein bösartiges Lächeln nahm auf seinen Lippen Platz. „In der Tat, ja.“ Dann trat eine Gestalt aus der Tür, näherte sich ihnen langsam. „Sieh an. Damit wären wir dann endlich vollzählig.“ Absinth grinste, breitete die Arme aus. Agasa stand stumm an den Türstock gelehnt, schaute auf die Gruppe, die sich vor ihm befand. Ihm stand die Sorge deutlich ins Gesicht geschrieben; nichtsdestotrotz hatte er keine Ahnung, was er sagen oder tun konnte, um die Situation etwas zu verbessern. Yukiko saß auf dem Stuhl in der Küche schaute Ran nachdenklich an. Sharons Auto war weg; irgendwie hatte sie es geschafft, sie übers Ohr zu hauen und in der Aufbruchsstimmung zu entkommen. Ran schüttelte nur den Kopf, wusste nicht, ob sie die Kraft hatte, daran einen Gedanken zu verschwenden, was die Ex-Schauspielerin jetzt tun würde; sie dachte an Shinichi. Kazuha saß zusammen mit Ai auf der Küchenbank, schwieg bedrückt. Sie hielt ihr Handy in der Hand, starrte auf das Display, das keinen Mucks von sich gab. Die ganze Zeit hatte das Ding sie gewarnt, dass der Akku schwach wäre, aber Kazuha hatte das Ladegerät im Eifer des Gefechts in Osaka vergessen. Sie hatte auch nicht geahnt, dass sie so lange bleiben würde. Bis gerade eben war ihr ihr Handy auch reichlich egal gewesen. Allerdings… Vor einem Moment war eine SMS von Heiji eingegangen; aber als sie sie öffnen wollte, hatte das Ding vollends kapituliert. So’n Mist. Nachdenklich und besorgt gleichermaßen fragte sie sich, was er ihr geschrieben haben könnte, und ob es wichtig war; eigentlich drängte alles in ihr, Ran zu fragen, ob sie probieren könnten, ihre Simkarte in ihr Handy einzulegen, allerdings schien es ihr kein guter Zeitpunkt zu sein, Ran darum zu bitten. Ran knetete ihre Finger, seufzte leise. Dann sah sie auf. „Was… werden Sie jetzt machen, Frau Kudô?“ Ihre Stimme war sehr leise, aber jedes Wort war deutlich zu verstehen. Kazuha und Ai hoben ebenfalls ihren Blick, synchron; Agasa verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. „Wie meinst du das?“ Die Frau sah müde auf. „Nunja…“ Ran schluckte, schmeckte einen bitteren Geschmack im Mund. „Jetzt, da Sie wissen, dass… Shinichis Vater…“ Yukiko seufzte, schüttelte den Kopf. „Wenn ich darauf eine Antwort hätte, Ran, wäre ich um einiges schlauer. Ich plane meine Zukunft nicht, nicht jetzt. Ich…“ Sie schüttelte den Kopf. „Gerade eben ist mir alles egal… das einzige, was ich will, ist dass sie zurückkommen, gesund. Allerdings fürchte ich, das ist ein vergeblicher Wunsch.“ Ein trauriges Lächeln malte sich auf ihre Lippen. Ihre Augen blickten trübe und glanzlos auf die Tischplatte. Dann straffte sie ihre Schultern, stand auf. „Allerdings, was diesen Moment hier betrifft, und die sehr nahe Zukunft, also… sagen wir mal die nächsten paar Stunden… würde ich sagen, wir verlagern unser Wartezimmer ins Wohnzimmer. Und ich mach uns Kaffee. Dann… sehen wir weiter.“ Agasa nickte enthusiastisch. „Und ich geh uns mal schnell ein paar Kekse holen.“ Jetzt erst bemerkten die Damen den Herrn, der bei ihnen verblieben war. Yukiko schlug sich schuldbewusst die Hand vor den Mund. „Hiroshi! Entschuldige meine Nachlässigkeit, ich…“ Er lächelte großväterlich, schüttelte den Kopf. „Schon gut, meine Liebe, schon gut. Mach du den Kaffee, ich komme gleich wieder.“ Ai rutschte von der Sitzfläche. „Wo haben Sie eigentlich noch Kekse, Professor? Hatte ich die nicht alle den Kindern mitgegeben?“ Das kleine Mädchen sah den großen Mann bierernst an. Ran kam nicht umhin zu lächeln bei dem Anblick. Der Professor war rot geworden und geriet ins Stammeln. „Nun, äh… Ai…“ „Sie wissen doch, sie müssen auf Ihre Gesundheit achten!“ Ai wusste nicht, woher sie den Nerv nahm, den alten Mann jetzt auch noch zu tadeln – sie tat es trotzdem, seufzte dann. „Ich helf Ihnen tragen. Und stelle sicher, dass wirklich nichts mehr da ist.“ Damit folgte sie ihm aus der Küche. Ran und Kazuha sahen sich an, fingen dann wortlos an, Geschirr zu holen und ins Wohnzimmer zu tragen. Im Auto der Polizei war an Kaffee und Kekse natürlich nicht zu denken. Die Insassen hatten eine ganz andere Entdeckung gemacht. Sie waren dem Weg gefolgt, den ihnen das Navigationssystem des Polizeiwagens vorgeschlagen hatte und hatten dabei einen am Straßenrand geparkten Wagen bemerkt. „Yusakus Auto.“, murmelte Meguré leise. „Sie sind hier also tatsächlich ausgestiegen.“ Heiji nickte langsam. „Um mich nicht ins Hauptquartier zu führen… und wahrscheinlich, um selber nicht mehr aufzufallen als nötig.“ Er schluckte, rieb sich den Hals, warf dann einen Blick aufs Navigationssystem. „Etwa einen Kilometer noch. Die sind ein ganz schönes Stück noch gelaufen.“ Black nickte langsam. „We’ve got no time to waste.“ Er zog seine Waffe aus seiner Sakkotasche. „Wir sind ihnen schon sehr nah…“ Der Kommissar nickte nur, gab dann Gas; Matsch spritzte zu beiden Seiten weg, der Mann fluchte ungehalten. Akai seufzte resigniert. „Es hat viel geregnet in den letzten Tagen, der Boden wird aufgeweicht sein.“ „Ach nee?“, frotzelte Heiji, fing sich dafür einen düsteren Blick ein. Dann machte der Wagen einen Satz nach vorne – um endgültig stecken zu bleiben. „Sieht so aus, als müssten wir es ihnen gleich tun, und ebenfalls laufen.“ Akai schnallte sich bereits ab. „Aber das dauert…!“ „Ein Vielfaches der Zeit, die wir mit dem Auto bräuchten. Ich weiß.“ Meguré wischte sich übers Gesicht, die Stirn; hob kurz seinen Hut, um sich über sein schütteres Haar zu streichen. „Aber es hilft nichts. Eine andere Möglichkeit haben wir nicht.“ Black nickte langsam. „Furthermore, I suppose, we’ll attract less attention as if we arrive there by car, that could be helpful. Aber Sie sollten Ihre Leute anrufen, damit die auf den befestigten Straßen bleiben und nicht diesem trügerischen Navi folgen.“ Meguré nickte grimmig und stemmte sich aus seinem Sitz. Einen reuigen Blick warf er noch auf sein Auto; dann löste er das Navigationsgerät aus einer Halterung, warf es Heiji zu. „Stells mal auf Fußgänger um. Ich kenn mich mit dieser Technik nicht aus.“, gab er unwillig zu. Kurz darauf hörte man ihn Kommandos in sein Handy brüllen. Heiji verdrehte nur die Augen, klickte sich durchs Menü des Navigationsgeräts und übernahm kurzerhand die Führung ihrer kleinen Expedition. Vor der Haustür des Professors wartete eine Überraschung auf sie. Ai stöhnte auf, unmerklich, als sie die drei Kinder auf den Stufen sitzen sah, schüttelte dann den Kopf, zuerst langsam, dann immer schneller und harscher. Agasa sah sie besorgt an. Er wusste, die Kinder kamen ungelegen und er ahnte, dass sie sie nicht loswerden würden. Egal, was sie sagte. „Ihr geht sofort wieder nach Hause!“, blaffte das Mädchen mit einer Stimme, die man ihr nicht zugetraut hätte. Ihre roten Haare schienen elektrisiert, ihre blauen Augen dunkel vor Wut und Unverständnis. Ayumi, die aufgeregt aufgesprungen war und bereits ein paar Schritte auf sie zugelaufen war, blieb mitten im Lauf stehen, wie angewurzelt, versteinert… festgefroren. Ihr gerade noch freudig erregter Gesichtsausdruck war schlagartig einer anderen Miene gewichen, einer Mischung von Unsicherheit, Sorge und Angst. Ai sah das sehr wohl, biss sich auf die Lippen, bekam fast schon ein schlechtes Gewissen. Allerdings nur fast. Sie ließ ihre kindlichen Augen über die drei Gesichter ihrer Freunde gleiten, stöhnte innerlich laut auf. Nichts im Vergleich zu dem schlechten Gewissen, das ich hätte, wenn euch etwas zustößt. Die Sache mit Kudô reicht eigentlich vollkommen… Sie atmete tief durch, während der Professor an ihr vorbeischritt, ihr das Feld überließ. Sie dankte es ihm mit einem einigermaßen verstimmten Blick; der Professor machte sich hübsch aus dem Staub und ließ die Arbeit an ihr hängen. An der Tür drehte der alte Mann noch einmal um, warf ihr einen Blick zu, bemerkte ihre wütende Miene, seufzte. Ich weiß, was du denkst. Aber du kannst das besser als ich. Auf deine Weise bist du eine der ihren; ich bin nur ein alter Mann. Ein Erwachsener, weit weg von ihrer Welt. Mich hören sie, aber sie hören mir nicht zu. Dir schon. Ai murrte, steckte ihre Hände in die Taschen ihres Trägerkleids, in dem sie wie immer entzückend aussah, schaute dann kurz auf den Boden, ehe sie ihren Blick wieder hob, um sie anzuschauen, als sie sprach. „Ich meine das ernst. Ihr geht sofort wieder nach Hause. Ich diskutiere nicht. Das…“ Sie holte Luft. „… ist nichts für Kinder. Und…“, unterbrach sie unwirsch und mit zusammengekniffenen Augen Genta, der gerade zu einer Entgegnung ansetzte, „kommt mir nicht mit dem Argument, ich wäre auch ein Kind. Das zieht nicht, das wisst ihr. Ich bin kein Kind.“ „Rein körperlich schon.“, bemerkte Mitsuhiko sachlich. „Deshalb stimmt dein Argument auch nicht ganz.“ „Hör auf mit der Haarspalterei!“ „Das tu ich nicht!“ Er funkelte sie wütend an. „Ihr seid unsere Freunde! Wir machen uns Sorgen! Hier war vor ein paar Minuten die Polizei! Und diese verletzte Frau mit den blonden Haaren, die weggefahren ist, als ob der Teufel hinter ihr her wäre! Du kannst uns nicht erzählen, dass alles in Ordnung ist! Irgendwas ist da doch faul!“ Atemlos schnappte er nach Luft, schnaubte dann frustriert. „Und überhaupt, niemand hat uns gesagt, was mit Shinichi eigentlich ist, wie’s ihm geht! Wo ist er? Hat er denn nun sein Gedächtnis schon wieder?“ „Wenn er sein Gedächtnis wiederhat, wollte er sich doch bei uns entschuldigen und mit uns Essen gehen!“ „Genta!!!“ Mistushiko schaute ihn entrüstet an. Ai seufzte, strich sich ihre Haare aus dem Gesicht, ein erfolgloses Unterfangen, wehte sie ihr doch der Wind sofort wieder in die Augen. „Ja, hat er. Und er ist weg.“ Nun war es Ayumi, die ihre Stimme wieder gefunden hatte. „Wohin… ist er denn gegangen?“ Das blonde Mädchen, das eigentlich keins war, merkte, wie sich ihr bei dem Gedanken der Magen umzudrehen schien. „Er ist gegangen, um die Organisation zu vernichten, zusammen mit seinem Vater. Und nein, ich werde euch nicht sagen, wo sie ist. Ich werde auch selbst da nicht hingehen. Ihnen kann keiner helfen, erst Recht keiner von uns. Das… muss er allein machen, diesmal.“ Sie war blass geworden, ihre Stimme hatte bitterernst geklungen. Wohlweislich hatte sie verschwiegen, wer sein Vater war; es ging sie nichts an. Wenn sie schon Probleme hatte mit dem Gedanken, dass er der Sohn dieses Mannes war, wie würde es dann für die Kinder sein? Allerdings… Sie lächelte bitter. Wahrscheinlich würdet ihr es besser wegstecken als ich. Ihr seid nicht so beladen mit Vorurteilen. Die Detectiveboys starrten sie an, wortlos. Dann erschraken sie alle fast zu Tode, als der Professor wieder herauskam, mit fünf bis sechs Schachteln Kekse unter den Armen. Ai sah sie, aber es war ihr egal. Dann wandte sie sich den Kindern wieder zu. „Nun, da ich… fürchte, dass wir euch ohnehin nicht loswerden, und wir alle sowieso zum Warten verdammt sind… kommt meinetwegen mit rüber und wartet dort. Wahrscheinlich ist es sogar besser, ich hab euch im Auge.“ Sie kniff skeptisch die Augen zusammen. „Wer weiß, was euch einfällt.“ Kapitel 49: Kapitel 31: Showdown -------------------------------- Tja, Leute- Was soll ich sagen. Wir nähern uns dem Unvermeidlichen mit großen Schritten. Diese Kapitel haben wirklich lange – laaaange – gegoren auf meiner Festplatte, sich unzähligen Überarbeitungen unterzogen, bevor sie zu dem wurden, das ihr jetzt lest. Deshalb – ich wäre sehr glücklich über ein Feedback eurerseits; sie sonst kann ich wissen, wie ihr darüber denkt ;) Vielen Dank im Voraus für jeden Kommentar, Viel Spaß beim Lesen, eure Leira ___________________________________________________________________ Kapitel Einunddreißig: Showdown Es war die Kälte, die ihn weckte. Shinichi kam langsam wieder zu sich, als seine Glieder zu schlottern anfingen, seine Kiefer kurz aufeinander klapperten, als der Frost ihn packte. Er stöhnte leise, fühlte diese ekelhafte nasse Kälte, spürte den kühlen, rauen Asphalt unter seinen Fingern - und fühlte sich erinnert an eine ganz ähnliche Situation vor nicht allzu vielen Tagen. Auf seiner Haut lag ein kalter Film Kondenswasser, da die Luftfeuchtigkeit auf ihn niederschlug und so dafür sorgte, dass seine Klamotten klamm wurden und er zu zittern anfing. Ich hasse Déjà-vus. Er presste die Zähne aufeinander, damit sie nicht noch einmal aufeinanderschlugen. Dann hörte er erregte Stimmen wie durch Watte; nur langsam wurden sie wieder klar, und damit allerdings so laut, dass sie wie scharfe Nadeln durch seine Trommelfelle zu piksen schienen. „Ihren Krieg führen Sie doch mit mir! Mein Sohn… “ Vater. „Hat sich schon längst eingeschaltet, und das ziemlich deutlich. Und wir beide wissen, für welche Seite er kämpft. Falls nicht…“ Absinth. „…ich geb Ihnen einen Tipp. Meine ist es nicht.“ Damit wandte er seinen Blick nach unten. Shinichi drehte den Kopf, um sich aufrichten zu können und bereute es gleich wieder; sein Schädel schien explodieren zu wollen. Er wollte sich mit der Hand an die Stirn greifen, um diese Explosion wohl zu verhindern, aber Absinth stieg ihm auf die Finger. Shinichi schnappte nach Luft und biss gleichzeitig die Zähne zusammen um nicht zu schreien. Ihre Blicke trafen sich. „Ah.“ Ein unheilverkündendes Lächeln erschien auf seinen Lippen, während er sein Gewicht noch ein wenig mehr auf seinen Fuß verlagerte. „Ah, ah, ah…“ Shinichi kaute auf seiner Unterlippe, schmeckte Blut – und schwieg. Er starrte Absinth nur ausdruckslos an, versuchte nicht zu zeigen, wie sehr er ihn eigentlich hasste. „Du bist wieder wach, wie nett. Gerade rechtzeitig zu Abschlussbesprechung deiner Performance bei uns, Armagnac.“ Er betonte den Namen genüsslich, dann stieg er von Shinichis Hand, der sie umgehend weg zog, mit seiner anderen Hand die malträtierten Finger betastete. „Du bist einfach verschwunden, ohne dich zu verabschieden, das war reichlich unhöflich von dir… dabei hätte dir doch eine abschließende Bewertung deiner Arbeit bei uns zugestanden. Ein Zeugnis, wenn man so will.“ Er lachte leise, steckte sich die Hände in die Hosentaschen, trat dann leichtfüßig näher - und verpasste Shinichi dann mit Wucht einen Tritt in die Seite, die ihn auf den Bauch drehte. Shinichi keuchte vor Schmerz auf; Absinth hatte zielsicher seine Schusswunde getroffen „Nun, Armagnac…“ Er ging noch näher, bückte sich ein wenig um nach Shinichis Haaren zu greifen, schaute ihm in die Augen, zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen. Genugtuung und Triumpf standen ihm quer übers Gesicht geschrieben, Hohn und Spott troff aus jedem seiner Worte. „Du wurdest geprüft…“ Er ging um den Oberschüler herum, ließ dessen Haare aber nicht los, zog ihn hoch. Shinichi kam taumelnd auf die Beine. Sein Blick und der seines Vaters trafen sich; hinter Yusaku stand Gin, hielt ihm offensichtlich den Lauf einer Waffe zwischen die Rippen. „…und bewertet…“ Shinichi erschauderte, als Absinths heißer, leicht nach Alkohol riechender Atem seinen Hals streifte, in seine Nase stieg, und gab nach, als er seinen Kopf weiter nach unten zog. Dann spürte er etwas Kaltes, Hartes auf seiner Haut an seinem Kehlkopf und erstarrte auf der Stelle. Er sah das Entsetzen in den Augen seines Vaters, und wusste, was hier abging. „… und leider, leider für ungeeignet befunden.“ „Nein!“ Er hörte die Stimme seines Vaters – und spürte den Schmerz, scharf, schneidend. Allerdings kratzte die Klinge seine Haut nur auf; das allein tat weh genug. Absinth stieß ihn von sich, und er stürzte, fing sich auf seinen Händen ab, rieb sich die Haut auf dem rauen Boden auf. Seine Kopfhaut schmerzte und die Verletzung an seinem Hals, so oberflächlich sie auch sein mochte, brannte wie als ob jemand weißglühenden Draht gegen seine Haut presste. Er fasste sich mit seiner Rechten an die Stelle, spürte, dass nicht viel passiert war – an seinen Fingerkuppen klebte nichtsdestotrotz Blut. Absinth wandte sich um, schaute Yusaku kühl an, der ihm mit hasserfülltem Blick beobachtete, warf das Messer gelassen weg, zog einen Revolver aus der Innentasche seines Sakkos, hob die Waffe an und zielte auf Shinichi. „Was denn… glaubten Sie, ich mache ihm ein schönes, schnelles Ende, ohne noch ein wenig gespielt zu haben? Nicht doch. Sie kennen mich besser, Cognac.“ Der Schriftsteller biss sich auf die Lippen. Sein Gesicht war weiß vor Zorn und Angst. Shinichis Unruhe wuchs. Diesen Gesichtsausdruck hatte er selten bei seinem Vater gesehen. Tja, Plan A ist wohl schiefgelaufen. Plan B hatten wir nicht… Zu dumm, nicht wahr? Shinichi warf Absinth einen hasserfüllten Blick zu, rang nach Atem. Absinths Lippen verzogen sich zu einem kleinen, spöttischen Lächeln, als er seine Macht kurz auskostete; dann wurde er ernst. „Aufstehen.“ Seine Stimme schnitt durch die Nacht, scharf und befehlend. Shinichi hob den Kopf, schaute ihn kalkulierend an, schaffte es, ruhig zu werden, sein stark in Mitleidenschaft gezogenes Hirn wieder einzuschalten und nachzudenken, die Situation zu analysieren. Er brauchte dieses Kalkül, er musste ruhig bleiben, wollte er hier überleben. Er konnte sich nicht blind vom Hass oder von der Panik lenken lassen, wenn die Verlockung auch groß war; aber das allerdings, soviel war ihm klar, würde in einer Katastrophe enden. Also in einer noch größeren, als der, in der wir uns ohnehin schon befinden, heißt das. Momentan allerdings half auch alles Denken noch nicht viel; er konnte nur hoffen, ihm fiel noch etwas ein, das sie hier retten konnte, bevor alles ohnehin zu spät war. Shinichi lächelte bitter, hievte sich dann langsam auf Hände und Knie, taumelte leicht, als er auf seinen Füßen zu stehen kam, hielt sich die Seite, aber nur kurz, um nicht zu viel Schwäche zu zeigen. Leises Lachen erfüllte den Parkplatz, klang gespenstisch in der fast jeden Laut verschluckenden Nebelsuppe, die über ihren Köpfen hing. „Nun“, begann Absinth schließlich leise, genoss jedes Wort, das er sprach. „… eines würde mich nun doch noch interessieren, am Ende dieses Tages, am Ende dieser Geschichte… nach allem, was du nun weißt, findest du nicht auch, dass ich Recht hatte, damals? Es wäre gnadenvoller gewesen, hätten wir dich unwissend sterben lassen. Sag mir, wie oft hast du dir seither gewünscht, ich hätte deinem Vater nicht nachgegeben, sondern Gin dich erschießen lassen…?“ Shinichi starrte ihn an, schluckte. Fühlte, wie der Wind durch seine Haare strich, entlang an seiner Haut, nichts weiter als einen kühlen Schauer hinterlassend; hörte nichts, außer dem Rauschen seines Bluts in seinen Ohren und seines immer noch etwas keuchenden Atems. Er fühlte den Blick seines Vaters auf sich ruhen und hatte eine ziemlich gute Ahnung von dem, was in seinem Kopf gerade vorging. Kurz wanderten seine Augen zu ihm, analysierten seine Mimik und fanden seine Ahnung bestätigt. Dann schüttelte er langsam den Kopf, ballte seine Fäuste, biss dabei die Zähne zusammen, um keinen Laut von sich zu geben, der verriet, wie sehr sein Schädel immer noch dröhnte. Dann hob er den Kopf, in seinen Augen sture Entschlossenheit, fixierte Absinths Gesicht. „Ich sagte es Ihnen schon einmal, aber anscheinend muss man es für Sie wohl öfter wiederholen; ich bin nicht willens, auf ihre Fragen zu antworten. Auf keine. Nicht heute, nicht morgen. Nie.“ Auf Gins Lippen schlich sich ein feines Lächeln. Yusaku schaute ihn nur an, stumm, fühlte, wie es in ihm wühlte und rumorte. Ein leises Klicken durchbrach die nächtliche Finsternis, als Absinth seine Waffe entsicherte. Shinichi schaute ihm ruhig dabei zu, verriet mit keinem Zucken in seinem Gesicht, wie sehr alles in ihm in Aufruhr war. Ihm lief die Zeit davon. Wie endet das hier…? Genta saß auf der Couch, hatte eine Schachtel Kekse ganz für sich alleine beschlagnahmt. Und sein krümelndes, schmatzendes Keksevertilgen war auch das einzige Geräusch, das man hörte. Allerdings hätte er sich gar nicht bemühen zu müssen, sich genügend Gebäck zu reservieren; alle anderen schienen keinerlei Appetit zu haben. Yukiko bemühte sich, eine zuvorkommende Gastgeberin zu sein, und ebenso bemühte sie sich, nicht den Schreibtisch anzuschauen; und dennoch schweiften ihre Blicke, wie auch ihre Gedanken, immer wieder hin zu diesem Möbelstück. Gestern… Sie ertappte sich bei dem Ausflug in ihre Erinnerungen, schüttelte den Kopf. Leider war ihr erst zu spät eingefallen, dass hier ja der Schreibtisch stand, und was sie mit diesem Möbel verband, gerade nach gestern Nacht – sie hatte ihren Mann heute Morgen nicht mehr gesehen, er war vor ihr aufgestanden und hatte sich den ganzen Morgen nicht blicken lassen. Dann war sie Agasas Einladung, mit ihm Einkaufen zu fahren gefolgt, weil sie geahnt hatte, wie gut sie die Ablenkung gebrauchen konnte – und als sie wieder gekommen war, war er bereits weg gewesen. Sie ahnte nun, was ihn umgetrieben hatte. Du hast ihn gestern verfasst, deinen Brief, nicht wahr? Kurz, bevor ich gekommen bin. War das wirklich das letzte Mal, dass ich mit dir gesprochen habe? Dass ich dich gesehen habe, lebendig? Wirst du… wirst du zu mir zurückkommen, Yusaku? Du glaubst sicher, ich kann dir das alles nicht verzeihen. Ich muss ehrlich sein, ich weiß auch nicht, ob ich das kann. Aber ich weiß, dass ich will, dass du lebst. Sie war blass, versuchte krampfhaft zu verstecken, wie sehr ihre Hände zitterten. Ran sah sie an, mitfühlend; wagte allerdings nicht, etwas zu sagen. Das Mädchen ahnte, was in Shinichis Mutter vorging; sie musste gestehen, sie selbst hatte sich mit diesem Gedanken noch nicht so wirklich befasst. Shinichis Vater war ein Mörder. Es war ein Leichtes für sie gewesen, Shinichi zu verteidigen, denn er konnte nichts dafür, wer sein Vater war. Sie kannte ihn lange genug, wusste, wie er tickte. Shinichi war ganz anders, er stand gerade für das, woran er glaubte. Und das war Gerechtigkeit, Wahrheit, Menschlichkeit. Stand immer ein für das, was er tat. Und wenn er manchmal doch seinen Prinzipien eine Abfuhr erteilen musste, so immer mit einem wirklich guten Grund. Allerdings, wie verhielt es sich mit Yusaku Kudô? Eigentlich hatte sie immer geglaubt, mit ihm verhalte es sich genauso; schließlich hatte er seinen Sohn nach diesen Werten erzogen. Nun stellte sich heraus, dass er sie in Wahrheit all die Jahre mit Füßen getreten hatte. Mehr oder minder. Sie kannte kaum die Gründe, weswegen er all das getan hatte. Zwar konnte Ran kaum glauben, dass er mit Leidenschaft und aus Überzeugung ein Unternehmen leitete, dass es mit der Yakuza aufnehmen konnte, allerdings… wusste sie im Moment nicht, was sie überhaupt glauben sollte. Unsicherheit machte sich in ihr breit. Sie erinnerte sich daran, wie er ihnen entgegen gekommen war, ihr und Shinichi, als sie aus dem Hauptquartier geflohen waren; vorgestern hatte sie es für Zufall gehalten, heute wusste sie es besser. Allerdings, er war dagewesen, um ihnen zu helfen, soviel war sicher; sonst hätte er sie ja gleich wieder zurückfahren können. Also konnte er kein schlechter Mensch sein. Auch wenn er… all diese Dinge getan hatte. All diese schrecklichen Dinge. Sie warf einen Blick zu Ai, deren Beine knapp über dem Boden endeten und die mit zwischen die Zähne gezogener Unterlippe ihre Zehenspitzen anstarrte, fragte sich, was sie gerade dachte. Ran wusste, ihre Moralpredigt hatte gesessen, aber andererseits konnte sie sie auch verstehen. Sie hatte unter dieser Organisation wirklich gelitten. Sie hatte ihre Eltern verloren, und ihre Schwester. Ihre ganze Familie. Warum man sie umgebracht hatte, wusste sie nicht; ob sie einfach ungehorsam geworden waren, oder die Organisation zu sabotieren anfingen, oder ob sie ganz einfach zu viel wussten. Wenn sie aber eins wusste, dann war das das, dass die Organisation keine großen Begründungen brauchte, um jemanden zum Tode zu verurteilen. Und damit wohl auch er nicht. Ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken. Angesichts dieses Gedankens war Ais Reaktion gar nicht mehr so unlogisch; der Gedankengang war nicht abwegig, sich zu fragen, wie ähnlich Shinichi seinem Vater in dieser Sache wirklich war. Ob er wirklich immer der loyale Freund gewesen war, er vorgab zu sein, wo doch sein eigener Vater… Sie schüttelte unwillig den Kopf, griff sich an die Stirn. Nicht Shinichi. Sie strich sich über die Augen, müde, ließ die Hand wieder in ihren Schoß sinken, verknotete ihre schlanken Finger. Shinichi ist nicht wie sein Vater. Ran schluckte, bemerkte Ais Blick, der nun auf ihr ruhte. Dir ist doch auch klar geworden, dass es so nicht ist, nicht wahr? Shinichi ist nicht wie er, und er hat von nichts gewusst… Auch wenn es seltsam scheint. Auch wenn man kaum glauben will, dass er, der brillante Detektiv, von all dem nichts ahnte… Vielleicht wollte er es einfach nicht sehen, oder hielt es für Zufall… Man kann ihm kaum einen Vorwurf machen… Offenbar ist Herr Kudô ein ebenso guter Schauspieler wie seine Frau. Andererseits, wusste sie seine Beweggründe nicht, ahnte sie bestenfalls. Und wenn Shinichi und sein Vater sich doch nur ein bisschen ähnlich waren… Ran schluckte, ließ ihren Blick zu Yukiko gleiten, die versuchte, ruhig zu sein und doch kläglich dabei scheiterte. … dann sitzt der Grund, warum er das alles getan hat, vor mir auf dieser Couch. Wie angreifbar doch ein Mensch ist, wenn er anfängt, sein Leben zu teilen, wenn er anfängt… zu lieben. Sie schluckte. Den Ausdruck auf Shinichis Gesicht an jenem Abend in der Küche würde sie nie vergessen, dass wusste sie. Deine Achillesferse bin ich. Ich bin nicht nur dein rettender Engel, ich könnte dir auch den Tod bringen. Kann ich dich auch dazu bringen, jemand anderen zu töten? Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, ließ sie kerzengerade sitzen. Ai sah sie an, sah diesen Ausdruck von Angst und Entsetzen für Sekundenbruchteile über ihre Züge huschen, zog ihre Schlüsse. Es gab nicht viele Gründe, die Ran so reagieren ließen; und momentan konnte sie wohl kaum an jemand anderen denken, als an diesen einen jungen Mann, an dem ihr Herz hing. Ein bitteres Lächeln huschte ihr über die Lippen. Wenn es eine kann, dann du. Das ist dir klar, nicht wahr? Es ist erschreckend… so eine Macht über einen Menschen zu haben… dass er für einen an seine Grenzen geht, bis zum Äußersten… Mehr tut, als er zu ertragen bereit sein kann… Das muss erschreckend sein. Und ich bin beinahe froh… dass es in meinem Leben keinen gibt… der das für mich tun würde. So muss ich mich auch nicht mit diesen Gedanken quälen. Tief atmete James Black die feuchte, schwere Nachtluft ein. Neben ihm kniete Meguré im Dreck und spähte durchs Gebüsch. Der Boden war derart morastig vom Regen geworden, dass jeder ihrer Schritte ein schmatzendes Geräusch hinterließ. Sie waren noch viel zu weit weg, um wirklich etwas ausrichten zu können, auch wenn sie nun das Gebäude gefunden hatten; dunkel und bedrohlich erhob es sich vor ihnen aus dem Schlamm, wie es schien, herrschte stumm über die Nacht. „Es is noch viel zu weit weg.“, murrte Heiji leise, starrte missmutig auf das Display des Navigationsgerätes. „Eigentlich sind’s Luftlinie nur knapp achthundert Meter, aber da wir durch diesen Dreckssumpf hier durchwaten müssen…“, er hob angewidert ein Bein, zog es aus dem Morast, hörte das glucksende Schmatzen. Er rutschte in seinen Schuhen, sie waren voll mit Wasser und Schlamm. Hätt ich ne Schlammpackung gewollt, hätt‘ ich das gesagt, verdammt…! Meguré wandte sich ihm zu. Jodie war aus ihren Schuhen geglitten, trug sie in der Hand und lief barfuß; sie waren für diese Art von Wanderung einfach nicht gemacht. Shuichi warf ihr einen spöttischen Blick zu. „Weißt du, das ist typisch für euch Frauen…“ Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. „How on earth would I know, that I’m going to make a survival trip in this bloody forest today?“ Ihre Stimme klang wütend. „Außerdem kann ich mit diesen Schuhen eigentlich gut laufen auf normalem Boden. Aber, mein Lieber, dies ist kein normaler Boden…“ „Be quiet, both of you.“, sprach Black in die nasskalte Finsternis, brachte seine beiden Agents zum Schweigen; sie warfen sich noch kurz herausfordernde Blicke zu, wandten sich dann aber ebenfalls ihrem Ziel zu. Meguré nickte zustimmend; dann schaute er an sich herab, fluchte ungehalten als er die Sauerei auf seinem Mantel sah, und begann an einem Dreckfleck an seinem alten Trenchcoat zu reiben, was zur Folge hatte, dass er den Schlamm nur noch weiter in die Fasern trieb - er fluchte noch lauter, ehe er wieder einen Blick nach vorne warf. „Wir kommen ohnehin nicht schnell voran, also sollten wir umso weniger Zeit mit solchen Debatten vergeuden. Dort ist unser Ziel – also schlagen wir uns durch.“ Er hob die Arme um sein Gleichgewicht zu halten, stakste voran. Heiji verkniff sich ein Grinsen, als er den behäbigen Mann wie einen Storch durch den Sumpf waten sah, marschierte dann neben ihm her, die Augen fest auf den Boden geheftet auf der Suche nach trittfesten Stellen. Yusaku legte den Kopf in den Nacken, starrte in den Mond. „Ich fürchte fast, es bringt nichts, wenn ich darauf beharre, der Boss zu sein und hier das Sagen zu haben?“ Seine Stimme klang zynisch, und in seinen Augen lag der dazu passende Ausdruck, als er seinen Kopf wieder senkte, Absinth aus den Augenwinkeln heraus beobachtete. Der grauhaarige Mann lächelte amüsiert. „Im Gegenteil. Diesmal würde es sogar etwas nützen.“ Er fixierte Shinichi mit kalten Augen, richtete die Waffe auf seine Brust. „Allerdings nicht Ihnen, sondern mir. Da Ihr den Feind mit ins Hauptquartier gebracht habt, Boss… wird mir durch das Statut als Triumviratsmitglied mehr Entscheidungsgewalt zuerkannt. Ich kann tun, was ich für richtig halte. Und ich halte für richtig…“ „Nein!“ Die Worte kamen Yusaku hastig über die Lippen, in seiner Stimme schwang blanke Panik. Er starrte seinen Sohn an, schluckte hart. Shinichi starrte in die Mündung des Revolverlaufs, seufzte. Dann schüttelte er den Kopf, schloss kurz die Augen. Egal wie er es drehte und wendete, es gab keinen Ausweg. Keiner wusste, wo sie waren; sie waren unbewaffnet, ihre Gegner bewaffnet; sie waren in den Händen ihrer Feinde. Es war vorbei. Sie hatten versagt. „Bringen wir’s doch endlich hinter uns. Ich hab diese Warterei ehrlich satt.“ Seine Stimme klang ungewöhnlich ruhig, in seinen Augen stoischer Gleichmut. Während das Triumviratsmitglied ihn interessiert musterte, schaute sein Vater ihn nur kopfschüttelnd an. „Nein. Was hatte das alles für einen Sinn, wenn du jetzt stirbst...“ Shinichi wandte den Kopf, stutzte. Der Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters war ein seltsam drängender; aus ihm sprach die verzweifelte Entschlossenheit, an dieser Situation mit Biegen und Brechen etwas zu ändern. Du stirbst hier und heute nicht…! Dann hörte er Absinths kühle Stimme, drehte aber nicht den Kopf. Der alte Japaner sah seinen ehemaligen Vorgesetzten kühl an, strich sich mit seiner freien Hand übers Kinn, steckte sie dann locker ins eine Hosentasche, während er mit seiner anderen Hand immer noch auf Shinichi zielte, als er ihm antwortete. „Keinen. Es hat keinen Sinn, wenn er stirbt, aber auch keinen, wenn er lebt. Und das sagte ich Ihnen vor gut einer Woche bereits, Cognac. Sie hätten ihm viel ersparen können…“ Shinichi sah ihn an, unverwandt. Spürte, wie sein Herz raste, gegen seinen Brustkorb schlug, fühlte, wie seine Lungenflügel sich mit jedem Atemzug weiteten, merkte, wie das Blut in seinen Adern pulsierte, in seinen Fingerspitzen kribbelte - er fühlte sich auf irrsinnige Weise so lebendig wie nie zuvor. Muss man dafür erst dem Tod ins Auge sehen? Er wusste, ihm konnte niemand helfen. Und ein Blick in Absinths Gesicht sagte ihm, dass es nun soweit war. Fast bereute er, ja sogar darum gebeten zu haben, um sein Ende; und irgendwie konnte er nicht fassen, dass es das nun wirklich gewesen sein sollte. Er atmete tief ein, spürte die Schmerzen seiner Blessuren und genoss sie doch irgendwie – sie zeigten ihn immerhin, dass er noch am Leben war. Noch. Kurz huschte sein Blick über die Fassade des Gebäudes, und bemerkte erst jetzt die vielen Zaungäste, die ihre kleine Vorstellung hier eigentlich hatte. Sie hatten sie wohl tatsächlich einsperren können, aber wie es aussah, kam Heiji zu spät. Zu viele unbekannte Parameter… es wäre ein Wunder gewesen, wäre dieser Coup geglückt. Nur… Wunder gibt es nicht. Dann wanderte sein Blick zurück zum Gesicht seines Vaters. Der Ausdruck in seinen Augen war sonderbar gesetzt, sehr ruhig, wenn auch in hohem Maße traurig. Klar, es muss einen traurig machen, wenn man zusieht, wie der eigene Sohn erschossen wird. Irgendwie ist es tröstlich, dass du so empfindest. Nach allem, was du wohl schon gesehen und getan hast… …musst du doch reichlich abgestumpft sein. Shinichi schluckte, räusperte sich, wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was, und ließ es dann lieber. Yusaku hingegen holte Luft, sammelte sich, ehe er zum Sprechen ansetzte. „Shinichi, bitte… vergib mir.“, murmelte er, sah ihn fest an. Shinichi biss sich auf die Lippen, atmete kurz ein, dann wieder aus. „Du musst dich nicht – also, nicht für dieses spezielle… Verbrechen hier…“ Er brach ab, sah sich außer Stande, den Satz zu beenden. „Das meinte ich nicht.“, entgegnete ihm sein Vater ruhig. Shinichi stutzte, schaute ihn fragend an. „Was…?“ „Genug jetzt.“, unterbrach Absinth das Gespräch. Seine Stimme verriet seine Anspannung, wie auch seine Ungeduld. Er hob die Waffe an, sah nach, ob sie auch wirklich geladen und entsichert war, und war sich Shinichis beobachtenden Blicken dabei vollstens bewusst. Er lächelte zufrieden, sah ihn dabei aber nicht an. Dann hob er den Blick, gleichzeitig mit seinem Waffenlauf, zielte wieder auf seine Brust. „Bereit, vor deinen Schöpfer zu treten?“ Shinichi schluckte unbehaglich, merkte, wie alles in ihm einzufrieren schien. „Wann ist man das je?“, wisperte er leise. Dann herrschte Stille. Ein kühler Windhauch schlüpfte unter seine Jacke, strich um seine Nase, wie eine kleine Vorankündigung auf die Kälte, die sicher gleich folgen würde. Gepresst atmete er aus, machte sich auf sein Ende gefasst. Er hörte den Schuss, nein hörte zwei; aber er spürte nicht den Schmerz, den er erwartet hatte. Stattdessen fühlte er, wie plötzlich ein Gewicht, ein Körper gegen ihn sackte, hörte ein ersticktes Keuchen. Instinktiv streckte er die Arme aus, um ihn aufzufangen, öffnete im gleichen Moment die Augen - und sah, wen er gefangen hatte. Wer ihm… sein Leben gerettet hatte. Er sah ihn an, in seinen Augen eine stumme Bitte. Vergib mir. Sie schluckte, beobachtete mit zusammengekniffenen Augen die Szene vor sich. In ihr war jede Faser angespannt – besonders die, die ihren Finger um den Abzug krümmten. Sharon kauerte hinter einem Auto, hatte gezielt und geschossen. Sie hatte ihn leider nicht voll getroffen. Schussfeld hatte sie nur auf Gin gehabt – und auch hier war es nicht komplett frei gewesen, deshalb hatte sie auch nur seinen Arm erwischt. Immerhin aber seinen linken. Ein maliziöses Lächeln schlich sich über ihre Lippen, als sie aufstand. Ein ersticktes Keuchen zwang sich über ihre Lippen; sie merkte, wie diese Anstrengung, hierher zu kommen, an ihren Kräften gezehrt hatte. Sie befühlte vorsichtig ihre Verletzung, spürte Feuchtigkeit durch den Verband sickern, lächelte bitter. Nebel umzog ihre Gedanken, machten ihr das Denken schwer; in ihrem Kopf schien weiche Watte zu stecken, die jedes Gefühl dämpfte. Sie spürte nicht die Kälte, spürte nicht die Feuchtigkeit; spürte nicht den Schmerz und auch nicht die Angst. If that’s death, it’s not that bad at all. No need to be afraid of… Sie warf einen letzten Blick auf die Szene die sich ihr bot, merkte, wie sich in ihr Bedauern ausbreitete. But the time is still not ripe, now. Not yet. Regen setzte ein, als sie aus ihrer Deckung trat. Absinth stand da, starr wie ein Standbild, seine Waffe ruhig vor sich ausgestreckt; sein Kopf jedoch schaute in eine andere Richtung, genau wie der Gins. Der blonde Mann hielt sich den Arm, fluchte, gab aber ansonsten mit keinem Zeichen zu erkennen, dass er den Schmerz überhaupt wahrnahm. Shinichi war mit seinem Vater zu Boden gesunken; seine Knie waren schlagartig weich wie Wackelpudding geworden, als er in Sekundenbruchteilen realisiert hatte, wer wirklich getroffen worden war. Er kniete auf dem Asphalt, hielt seinen Vater fest, spürte, wie angestrengt er atmete, hörte ihn keuchen. Vergib mir? Ihre Blicke trafen sich - dann zog ein leichtes klackerndes Geräusch seine Aufmerksamkeit auf sich. Das hört sich an wie… High heels auf Asphalt... Der junge Detektiv schaute angestrengt in die Richtung, aus der der zweite Schuss gekommen war. Eine schlanke Silhouette schälte sich aus der Dunkelheit; bald zeichnete sich die Figur einer Frau ab. Einer Frau mit langem, welligem Haar, aufregenden Kurven, und in hohen Stiefeln mit schwindelerregendem Absatz. Sharon, wie kannst du mit den Dingern laufen? Ein kurzes Grinsen huschte ihm übers Gesicht, als er erkannte, wer es war, der sich da mit entschlossenem Schritt näherte. Absinth starrte sie an, wartete. Er warf einen Blick auf die beiden Kudôs, dann zu Gin, der seinen stummen Befehl mit einem kurzen Nicken registrierte und seine Waffe auf Shinichis Kopf richtete. Der Oberschüler registrierte es gar nicht. Absinth hingegen trat ihr entgegen, wenn auch nur ein paar Schritte. Vermouth. Yusaku hatte Sharon gesehen, im Fenster eines Autos, hatte gewusst, sie würde Gin erledigen, wenn er es wollte; und sie hatte es auch getan. Zumindest hatte sie es versucht. Ein bitteres Lächeln huschte über seine Lippen, als er spürte, wie warmes Blut über seine Haut lief, mit jedem Atemzug - langsam, aber doch unaufhörlich. Ein seltsames Gefühl. Haben wir denn heute gar kein Glück? Sag, will uns der Engel nicht lächeln, Sharon? Mittlerweile war sie bei den Männern angekommen, blieb stehen; nur kurz warf sie einen Blick auf ihren zu Boden gegangenen Boss, realisierte sofort, wie es um ihn stand; dann wandte sie sich Absinth zu, dem sein arrogantes Lächeln mittlerweile wieder wie festzementiert im Gesicht klebte. Erst jetzt, aus der Nähe, sah Shinichi, in welchem Zustand sie sich befand. Ihr Gesicht war blass, ihre Lippen verkniffen, ihre Haltung aufs Äußerste angespannt. Den Gang, der gerade noch so entschlossen gewirkt hatte, hatte sie wohl nur mit Mühe aufrechterhalten können. Schmerz sprach aus ihren Bewegungen, und er ahnte, dass auch sie bereits dem Tod näher war als dem Leben; dennoch, ans Aufgeben schien sie nicht zu denken. Sie hatte ihr Leben teuer verkaufen wollen. Entschlossen stand sie da, schön und gefährlich wie eh und je, ihr Gewehr in der Hand. Sie wusste, es war keine Kugel mehr darin; sie hatte sie alle verschossen, alle, bis auf eine. Und die steckte jetzt in Gins Schulter. Allerdings, die anderen wussten das nicht. „Ich muss gestehen, mit dir hatte ich nicht gerechnet auf unserer Party, Sharon.“ Absinths Stimme hallte klar durch die Nacht. Er hatte keine Sekunde seine Souveränität verloren, fühlte sich absolut sicher, das sah man ihm an. „Allerdings hätte ich von dir erwartet, dass du dir mit deinem Outfit etwas mehr Mühe gibst, wenn du schon zu einem derartigen Spitzentreffen ohne Einladung erscheinst.“ Er warf Yusaku, der am Boden mehr lag als saß und eine Hand auf seine Verletzung presste, einen gewinnenden Blick zu. Sie indessen lächelte unterkühlt, ließ ihn nicht aus den Augen. „Bin ich dir nicht hübsch genug, Hayao?“ In Sharons Stimme klang noch immer das gewisse Etwas; ein wenig Verführung, ein wenig Charme – und sehr viel Drohung und Gefahr, Provokation pur. Du gibst nicht auf, Sharon, nicht wahr? Aber dir ist schon klar, dass auch du nicht unsterblich bist? Warum tust du das? Was erhoffst du dir…? Shinichi sah, wie der Mann zusammenzuckte bei der Nennung seines echten Namens. „Was spielst du für ein Spiel?“, fragte er; sein Tonfall war auf einmal nicht mehr so locker, sein Lächeln für Sekundenbruchteile bröckelnd. „Eins mit meinen eigenen Regeln.“ Sie schüttelte ihren Kopf, ihre Haare fielen sanft über ihre Schultern, flossen ihren Rücken hinab wie flüssiges Gold. Sie warf Gin einen gelassenen Blick zu, schob den Riemen ihres Gewehrs zu Recht. Absinth lachte leise, schien sich aus irgendeinem Grund köstlich zu amüsieren. „Egal was du für ein Spiel spielst, egal, wie, und nach welchen Regeln – du verlierst es. Jetzt.“ Ein feines Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab. „Ich denke nicht.“ Ihr Lächeln verbreiterte sich. „Ich spiele nämlich nicht allein – sondern im Team.“ Dann überschlugen sich die Ereignisse. Es knallte, der Schuss kam aus nächster Nähe. Shinichi riss unwillkürlich die Hände hoch, presste sie auf seine Ohren. Während sie alle Sharon ihre volle Aufmerksamkeit geschenkt hatten, hatte sein Vater die Waffe aus dem Sakko gezogen, die dort immer noch gesteckt hatte, und sie auf Gin gerichtet. Er hatte die Wahl gehabt zwischen ihm und Absinth. Da allerdings Gin der gewesen war, der auf seinen Sohn zielte, war auf ihn seine Wahl gefallen. Gin hätte keine Sekunde gezögert, Shinichi zu erschießen, wäre Absinth vor seinen Augen tot umgefallen. Die zweite Kugel traf Sharon. Ihr Blick traf Shinichis. Sie wankte kurz, ließ ihr Gewehr los, griff an ihre Brust, besah sich ihre Finger, die im schwachen Licht schwarz glänzten. Sie seufzte leise, ging zu Boden, lautlos, wie in Zeitlupe. Lag auf dem Boden und atmete schwer, fühlte, wie ihr auf einmal das Leben, das gerade noch sehr langsam aus ihr herausgetröpfelt war wie aus einer undichten Karaffe, auf einmal aus ihr herausquoll wie Wasser durch einen gebrochenen Damm. Now it’s up to you, silver bullet. Er starrte in ihre Augen, bis sie brachen, merkte, wie ihm schwummrig wurde. Er war den Tod gewohnt, er hatte ihm oft genug ins Auge gesehen – aber jemanden sterben sehen, dabei zusehen, wie der Tod sich jemanden holte, das war etwas anderes. Etwas gänzlich anderes. Mühevoll wandte er sich ab, seinem Vater zu, der immer noch die Waffe in der Hand hielt und zu Gin starrte, der tot auf dem Boden lag. Shinichi keuchte, als ihm so wirklich gewahr wurde, wer ihn erschossen hatte. Entsetzen packte ihn, ihm wurde schlagartig kalt, und übel. Richtig übel. Yusaku hatte sich hingekniet, mühsam, die Waffe immer noch in seiner Hand, starrte Shinichi an, konnte diesen Ekel und dieses pure Entsetzen in seinen Augen kaum ertragen. Es musste sein, das weißt du doch! Absinth starrte sie an, dann drehte er sich um, wandte sich Yusaku zu, trat ihm die Waffe aus der Hand. „Genug jetzt!“ Er packte Yusaku am Kragen, zog ihn hoch, nur um ihn von sich zu stoßen. Wut flammte in seinen Augen, sprach aus seinen Gesten, aus seiner Stimme, in die sich ein bedrohliches Knurren mischte. Yusaku schrie auf, kurz, ehe er nach hinten fiel, hart auf den Boden prallte. Ächzend stemmte er sich mit den Ellenbogen wieder hoch, merkte, wie ihm kalter Schweiß aus allen Poren trat, er vor Schmerzen zu zittern anfing; sein Blick suchte Shinichi, der auf dem Boden kniete und wie gelähmt schien. Und das war nicht gut, schließlich schwebte er immer noch in Lebensgefahr. Allerdings war er gerade einfach nicht ganz Herr über sich, erfasste nur langsam, was soeben passiert war… und was gerade geschah. „Shinichi!“ Yusaku schaute ihn starr an, presste seine Hand auf eine Wunde in seiner Brust, atmete qualvoll ein, merkte, wie ihm die Sinne schwinden wollten. Noch nicht… „Shinichi!!!“ Noch nicht, Shinichi… du bist aus der Sache noch nicht raus. „Es reicht jetzt, sagte ich!“ Absinth starrte ihn an, sein Blick definitiv furchteinflößend; allerdings kannte Yusaku ihn zu gut, als dass er ihn noch beeindrucken könnte. Der Schriftsteller fixierte starr seinen Sohn, der nur wenige Meter von ihm weg saß, sich unwillig über die Augen wischte, dabei den Schmutz des Asphalts in seinem Gesicht verteilte. „Schau mich an! Hörst du!?“ Shinichi zuckte kurz zusammen, blinzelte. Sein Blick klärte sich wieder ein wenig. Und dann stieg ihm der Geruch ihm in die Nase, von Blut, Rauch von den Schüssen… und holte ihn endgültig in die Realität zurück. Dann wandte er seinen Blick, drehte seinen Kopf, bis er in das Gesicht seines Vaters schaute. Yusaku kniete auf dem Boden, presste sich eine Hand auf eine Wunde in der Brust. Einer weniger auf der Seite der Bösen, Shinichi. Mit ihm musst du leider allein fertig werden. Aber dazu musst du dich zusammenreißen! Shinichi starrte ihn an. Dann erst spürte er es; ein seltsam unvertrautes Gefühl auf seiner Haut, auf der Höhe seiner Hüfte. Dennoch musste er nicht nachsehen, um zu wissen, dass sie da steckte. Eine Pistole. Er biss sich auf die Lippen. Yusaku sah ihn an, nickte. Nun, du hast Recht, die Situation ist jetzt eine andere… Jetzt könnten wir… Offenbar hatte sein Vater ihn noch gesucht und im Computerraum das Ding gefunden; er konnte sich nicht erklären, wie er sonst an eine zweite Waffe gekommen sein könnte. Und gerade, als Sharon sie alle abgelenkt hatte, hatte er die Gelegenheit nicht nur dafür genutzt, sich um Gin zu kümmern. Absinth hingegen schien langsam seine Gelassenheit wieder gefunden zu haben. Ihm war nicht entgangen, wie schwer der Schriftsteller verletzt war, und auch nicht, wie handlungsunfähig sein Sohn schien. Langsam trat er näher, ließ seine Augen zwischen ihnen wandern. Absinth liebte diesen Blick von oben herab – und er kostete ihn voll aus. Dann fing er an zu lachen; es war ein klirrendes, eiskaltes Gelächter, das Vater und Sohn einen Schauer über den Rücken jagte. Dann wandte er sich Shinichi zu, auf seinen Lippen ein selbstgefälliges Grinsen, in seiner Stimme Spott und Hohn. „Nein, wie rührend.“ Er trat näher, seine Pistole in der linken Hand, locker. Sein Finger krümmte sich um den Abzug, sein Lauf zielte einmal mehr auf ihn. Shinichi presste seine Kiefer zusammen, so fest, dass seine Zähne knirschten. „Freust du dich? Dein Vater würde doch tatsächlich sein Leben für deins geben. Genau genommen hat er das wohl. Genauso wie unsere liebe Vermouth, die da hinten in ihrem eigenen Blut liegt – die Frau ist aber auch zäh!“ Ein Ausdruck von Abscheu und Verachtung trat auf sein Gesicht, dann taxierte er Yusaku mit einem kalkulierenden Blick. Der ehemalige Boss der Organisation starrte düster zu ihm hoch. „Ich…“, er hustete qualvoll, „ich warne dich, Absinth. Lass…“ „Ihn in Ruhe? Ha?“ Er lachte hohl. „Du weißt genau, wie lächerlich deine Forderung ist. Er wird sterben, jetzt, noch vor dir, so wie ich das sehe, wenn auch nur knapp.“ Ein kühles Lächeln war auf seine Lippen getreten. „Ich denke, einen Moment der Freude über die Liebe seines Vaters kann ich ihm schenken, dann muss Schluss sein…“ Er beugte sich kurz nach vorn, griff Shinichi am Kragen, der versuchte sich zu wehren, zerrte ihn zu Yusaku, hielt seinen Kopf an den Haaren fest, zog ihn nach hinten. Dann ging er in die Hocke, bis sein Gesicht auf Augenhöhe mit dem seines einstigen Vorgesetzten war, lächelte. Shinichi reagierte kaum, zu schmerzhaft war die Haltung, in die er gezwungen wurde, stöhnte nur einmal kurz auf, als sich die Schussverletzung in seiner Seite einmal mehr bemerkbar machte. Mach jetzt keine Dummheit. „Sieh ihn dir ein letztes Mal an, Yusaku. Schau ihn dir genau an, schau dir an, was du ihm für ein Leben geschenkt hast. Und was für ein Ende.“ Yusaku brüllte, wollte nach ihm greifen, verfehlte ihn aber. Absinth ließ den jungen Detektiv los, sprang leichtfüßig zurück, lachte höhnisch. „Aber, aber – wer wird denn…?“ „Lassen Sie das.“ Shinichi glaubte nicht, Herr über sich zu sein, als er aufstand, bei der Bewegung wie automatisiert seine Waffe aus seinem Hosenbund zog. Er schien neben sich zu stehen, sich selbst dabei zuzusehen, merkte, wie ein seltsames Gefühl von Ohnmacht ihn ergriff. Dann verschwand das Gefühl, auf einmal spürte er das Gewicht der Waffe in der Hand, merkte, wie sein Vater scharf den Atem anhielt, als er ihn sah. Absinth drehte sich erst um, als er das sanfte Klicken hörte, als Shinichi die Pistole entsicherte. Interessiert hob er die Augenbrauen, pfiff anerkennend durch die Zähne. „Ihr zwei seid gewiefter, als ich dachte. Wann hast du ihm die denn wieder untergejubelt?“ Er warf einen Seitenblick aus seinen Augenwinkeln auf Yusaku. „Ich denke, das tut nichts zur Sache. Für Sie ist nur interessant, dass ich sie habe.“ Shinichis Stimme klang seltsam emotionslos, sehr sachlich und nüchtern; er stand da, absolut starr, merkte, wie er am ganzen Körper zitterte. Übelkeit keimte in ihm hoch, und er tat sein Bestes, um sie in den Griff zu kriegen und sich nichts anmerken zu lassen. Er ahnte, dass er diesmal keine Wahl haben würde. Diesmal kam keiner, um ihm zu helfen. Es war vorbei. Diesmal… „Großer Gott!“ Meguré nahm seinen Hut ab, zog einen Fuß aus dem Matsch, machte einen Schritt nach vorn, nur um zu merken, dass Gehen wirklich nichts brachte. Und so stand er da, seine Augen starr auf das Geschehen gerichtet, das sich vor ihren Augen abspielte. Sie waren in Sichtweite des Parkplatzes gekommen, allerdings immer noch zu weit entfernt, als dass sie hätten eingreifen können; mal ganz abgesehen von all den Autos, die im Weg standen, die ihnen ohnehin kein Schussfeld gewährten. Dutzende Wagen standen auf dem Parkplatz vor dem Gebäude, gerufen, wie es schien, zu einer Versammlung; und nur in einem Raum brannte Licht. Sie konnten von weitem die Leute sehen, die sich gegen das Fensterglas pressten. Sie sahen wohl dem Schauspiel zu, dem auch sie beiwohnten, mit gebundenen Händen, genauso wie sie. Unübersehbar und dramatisch beleuchtet von zwei hellen Laternen am Eingang des Gebäudes waren sie; drei Gestalten, kaum mehr als schwarze Schatten im Gegenlicht. Einer kniete am Boden. Zwei von ihnen standen, und waren sehr deutlich bewaffnet. Besser hätte das kein Regisseur inszenieren können. Black strich sich über seinen Schnauzbart, seine grauen Augen erstaunlich ruhig auf die Szene fokussiert. Diesem Treffen, diesem Augenblick generell, wohnte etwas so Endgültiges inne, dass er kaum glaubte, irgendwie handelnd eingreifen zu können, selbst wenn sie näher dran wären. Neben ihm jedoch schien Meguré diesen Gedanken nicht zu teilen, und auch keinen Sinn zu haben für die Dramatik des Augenblicks; er fluchte, sah mürrisch aus, und irgendwie frustriert. No surprise. It is beautiful in its own way, seeing the incarnation of good and evil fighting in the endgame… but quite frustrating, if you can’t take part in that play. „Sie sind zu weit weg. Und wegen der Bäume habe ich hab auf ihn kein freies Schussfeld.“ Akais geflüsterte Worte brachen durch die Stille. Black wandte den Kopf, nickte wissend, sah seinem Agent zu, wie der angewidert einen Fuß aus der Erde zog, wobei sein Schuh stecken blieb. Er zerrte ihn heraus, verursachte ein lautes Glucksen des Bodens dabei. „Das wird er allein schaffen müssen…“ Jodie schaute ihn von der Seite an. Shuichi hatte seine Waffe zwar im Anschlag, suchte mit den Augen das Gelände ab, aber seine Ahnung bestätigte sich nur aufs Neue. Sie kauerte sich neben ihn, die braune Suppe, die ihre feinen Hosen tränkte, komplett ignorierend. „Das kann doch kaum möglich sein, oder? Wir sind hier, und alles was wir tun können, ist hier sitzen, und zusehen…“ James Black erhob sich umständlich, fiel fast hintenüber, weil sein Schuh im Matsch feststeckte, behielt aber die Balance. Er warf seinem Tokioter Kollegen einen ernsten Blick zu. „Wird er das können? Diesmal?“ Meguré zuckte hilflos mit den Schultern; eine halbherzige Geste, er hob sie kaum an, zu schwer schien das Gewicht zu sein, dass sie nach unten drückte. Die Sorge. Die Angst. Shuichi stand auf, unwillig, ließ die beiden Kontrahenten nicht aus den Augen. Dann zog er sein Gewehr zu sich, schlüpfte aus seinen Schuhen. „Du gehst?“ „Ja.“ Jodie schluckte, starrte ihn an. „Du weißt…“ „Dass ich leise sein muss, weil eine einzige Ablenkung seinen Tod bedeuten kann, ja.“ Black seufzte, nickte langsam. „Er ist nur noch nicht tot, jetzt, weil Absinth scheinbar doch fürchtet, er drückt ab. Die stecken momentan in einer Situation, die so angespannt ist ist…“ „… dass ein einziger Tropfen reicht, um das Fass überlaufen zu lassen.“ Heiji hatte gesprochen, ohne den Blick von Shinichi abzuwenden. Shuichi ersparte sich eine Antwort, schlängelte sich durchs Geäst, so leise wie möglich. Heiji folgte ihm. Absinth schaute in abfällig an, konnte allerdings einen gewissen Grad an Anspannung nicht verbergen; er hasste es, wenn Pistolenläufe auf ihn gerichtet waren. Und Kudô war in einer Ausnahmesituation; welche Entscheidungen er treffen würde, war nicht vorherzusehen. Dennoch erhielt er sich einen spöttelnden Ton in der Stimme; er wollte ihn verunsichern, nicht zeigen, dass er ihn fürchtete – in diesem Moment tatsächlich fürchtete. „Sieh einer an. Du hast wohl doch mehr Rückgrat, als wir alle dachten. Oder hat dich doch das Training bei uns ein wenig härter gemacht? Wie auch dem sei, es ist egal - das…“ Er kniff die Augen zusammen. „Das schaffst du nicht.“ Shinichi nahm die Waffe mit klammen Fingern in die linke Hand, streckte den Arm vor seiner Brust aus. In seinem Blick lag Resignation, Starrsinn und Verzweiflung. Und unsägliche Wut. „Woher wollen Sie das wissen? Wir konnten es nie richtig testen.“ Sein Vater neben ihm stöhnte leise, aber Shinichi wagte es nicht, sich ihm zuzuwenden, Absinth aus den Augen zu lassen. Er starb neben ihm, das ahnte er. Und er hasste das Gefühl, fühlte er doch, wie der Tod um sich griff, immer mehr, immer stärker. Und geduldig wartete, ob ihn nicht doch noch eine Seele mehr begleiten mochte. Shinichi merkte, wie es ihn am ganzen Körper schüttelte, und er hatte keine Ahnung, wie lange er diese nervliche Zerreißprobe durchstehen konnte. „Shinichi.“, flüsterte Yusaku leise. Sein Sohn schüttelte den Kopf, ohne seinen Gegner aus den Augen zu lassen. Absinth hielt seine Waffe ebenfalls mit der linken Hand und scheinbar absolut ruhig auf ihn gerichtet. „Das traust du dich nicht. Du bist doch kein Mörder… und glaub mir, du wirst mich töten müssen, wenn du das überleben willst.“ Er grinste hämisch. „Solange auch nur ein Funken Leben in mir ist, werde ich den dazu nützen, dich umzubringen, das muss dir klar sein. Dich, und alle die du liebst. Also – was ist nun…?“ Shinichi starrte ihn an, die Waffe in seiner Hand zitterte stark. Er hob seinen anderen Arm, umschloss mit seinen Fingern seine starre linke Hand, versuchte das Gefühl von Übelkeit zu verdrängen, zwang sich dazu, ruhig zu atmen. Ruhig und langsam. Ein und aus. Du kommst aus der Sache nicht mehr raus, also sieh zu, dass du das Beste draus machst. Was auch immer dieses dämliche „Beste“ ist… Er kniff die Augen zusammen, fokussierte sein Ziel. Absinth schaute ihn kalkulierend an, fing wieder an zu reden, nicht ohne den spöttelnden, aufreizenden Unterton in der Stimme, der sie schon die ganze Zeit begleitete. „Ich zähle bis drei, soll ich? Und einer von uns… wird dann schießen. Noch länger hältst du doch den Nervenkrieg sonst nicht aus.“ Der grauhaarige Japaner sah ihm gelassen in die Augen. Shinichi blickte zurück, ohne zu blinzeln. Er wusste, sein Vater sah ihn an; er hörte seine unregelmäßigen Atemzüge. Fest presste er die Lippen zusammen. Dann räusperte er sich, schloss kurz die Augen. „Eins.“, flüsterte er leise. Absinths Augenbrauen rutschten abrupt nach oben; überrascht schaute er seinen Gegner an, ehe sich sein überhebliches Grinsen auf seinen Lippen wiederfand. „Zwei.“, setzte er dann den Countdown selbstsicher fort. Shinichi fokussierte ihn; sah die Waffe, die immer noch auf seinen Kopf zielte, spürte diese Kälte, die sich seiner ermächtigte. „Drei.“ Dann fiel der Schuss. Kapitel 50: Kapitel 32: Gewinnen und verlieren ---------------------------------------------- Tja, Leute... langsam geht es doch tatsächlich dem Ende zu mit dieser Geschichte. Aber noch - noch - ist nicht aller Tage Abend. Lest selbst. Beste Grüße, eure Leira PS: Herzlichen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! PPS: Nächste Woche kommt statt einem neuen Kapitel wohl ein anderes, kurzes Intermezzo - etwas, das besser zu Weihnachten passt ;) PPS: Entschuldigt die seltsame Großschreibung - ich habs gerade erst selbst bemerkt. ________________________________________________________________ Kapitel Zweiunddreißig: Gewinnen und verlieren Stille hatte sich wie ein dickes, jeden Ton verschluckendes Tuch über den Parkplatz gelegt. Starr stand er da, starrte auf die Gestalt, die einsam noch stand, im fahlen Licht der Laternen des Firmengebäudes. Shuichis Hand ruhte auf seiner Waffe, die fest in ihrem Holster an seiner Hüfte steckte. Noch immer war er zu weit entfernt, die Sicht durch Bäume und Sträucher versperrt, das Risiko eines Querschlägers zu hoch. Er war für alles heute zu spät gekommen; seine Rache an Gin hatte er nicht nehmen können, und auch Absinth hatte jemand anderer außer Gefecht gesetzt. Jetzt fing er allerdings an, sich wieder zu bewegen, als sich die zweite Person am Boden wieder zu regen begann. Auch in Shinichi kam wieder Bewegung. Er fasste sich, presste seinen Lippen zusammen, bis sie nur noch einen schmalen Strich in seinem Gesicht bildeten, schritt dann entschlossen aus, auf Absinth zu, der nun aufschrie vor Schmerz, seine rechte Hand hielt, die blutüberströmt war und nach der Waffe greifen wollte. Shinichi hob die Pistole auf, die er ihm aus der Hand geschossen hatte, sicherte sie und warf sie in die Büsche, beugte sich über Absinth, der gerade aufstehen wollte, richtete seine Pistole auf seinen Kopf, drückte mit dem Lauf gegen seine Stirn, zwang ihn so, sich hinzulegen und ging auf Abstand zu dem Mann. Er ertrug seine Nähe nicht. Absinth starrte ihn an, Hohn und Spott glitzerte in seinen Augen. Shinichi hielt dem Blick nur mühsam stand, sein Atem ging schwer, sammelte sich in weißen Wolken vor seinem Gesicht in dieser Nacht, die langsam immer kälter wurde. „Ich sagte doch, du schaffst das nicht.“ Absinth stöhnte leise auf, grinste dennoch breit, bedachte seinen Gegenspieler mit einem spöttischen Blick. Shinichi schüttelte den Kopf, kurz. „Es reichte doch, dass ich Ihnen die Waffe aus der Hand schieße.“ Absinth lachte leise, bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. „Und da bist du dir sicher?“ Shinichi zog die Augenbrauen hoch, sah ihn verwirrt an – ein eisiger Schauer kroch seinen Rücken hinab und ein gewisses Prickeln blieb in seinem Nacken zurück, sorgte dafür, dass seine Haare sich sträubten, verursachten dieses unbestimmte Gefühl, diese Ahnung, dass dieser Abend noch nicht ausgestanden war. Dennoch, und daran klammerte er sich fest, standen zum ersten Mal in dieser Nacht die Vorzeichen günstig für ihn. Der junge Detektiv schaute seinem Widersacher in die Augen, merkte, wie sich das Frösteln verstärkte, das ihn ergriffen hatte, allein durch den Blick in diese eisblauen Augen. Sag, was planst du? Was willst du noch? Kurz schien der Moment wie eingefroren; dann allerdings riss ihn ein anderes Geräusch aus seinen Gedanken, zog seine Aufmerksamkeit auf sich und brachte ihn dazu, Absinth, der sich die Schulter hielt und entwaffnet auf dem Boden lag, den Rücken zuzukehren. Leises Stöhnen. Er fuhr herum, merkte, wie unbeschreibliche Kälte in ihm wieder hochkroch, sich in jeder Faser seines Körpers festsetzte und hartnäckig blieb. Yusaku Kudô lag auf dem Parkplatz und starb. Vor Shinichis Augen drehte sich kurz alles, ehe er wieder Herr über seine Sinne wurde. Diese wenigen Minuten totaler nervlicher Anspannung hatten alle anderen Gefühle, alle anderen Gedanken, ausgeblendet, verdrängt und in den Hintergrund geschoben; dieses leise Geräusch hatte jedoch gereicht, sie alle wieder heraufzubeschwören, und nun kamen sie zurück, mit Macht, rissen ihn fast um. Schmerz, Angst, Panik – Angst. Vor allem Angst. „Vater!“, flüsterte er leise, Entsetzen schwang in seiner Stimme. Er eilte zur Gestalt Yusakus, der mittlerweile ausgestreckt auf dem Boden lag, die Augen geschlossen hatte und um Atem rang. Shinichi fiel auf die Knie, als ihm plötzlich die Beine ihren Dienst versagten, zuckte zusammen, als er etwas Nasses an seinem Unterschenkel spürte, tastete danach, hob die Hand… spürte, roch und sah es. Klebrig, metallisch, fast schwarz… Blut. Es war überall; er sah es im Licht der Laternen dunkel glitzern, fast geheimnisvoll. Spätestens jetzt wurde ihm tatsächlich speiübel, aber er riss sich am Riemen, ein weiteres Mal, wenn auch mit sehr viel Mühe. Er hatte eigentlich kein Problem mit Blut, aber in diesem speziellen Fall… lag die Sache wohl anders. Es war so viel Blut. Und es war sein Blut. Ohnmacht keimte in ihm auf, Hilflosigkeit in dem Grad, in einem Maße, wie er sie noch nie gespürt hatte – und das wollte etwas heißen, nach den Erlebnissen der letzten Tage. Er rutschte näher, bettete den Kopf seines Vaters auf seine Knie, griff nach seiner Hand, strich ihm mit der anderen mit fahrigen, kalten Fingern über die Stirn, fühlte kalten Schweiß, kühle, fast wächserne Haut unter seinen Fingerkuppen. Yusaku öffnete seine Augen einen Spalt. „Ist es vorbei?“ Shinichi wandte sich kurz um; Absinth lag immer noch vor Schmerzen stöhnend auf dem Boden, hielt sich die Hand, schien sich nicht zu bewegen. Es schien fast irreal, aber der Mann schien tatsächlich kapituliert zu haben, trotz der gerade noch gespuckten großen Töne. Shinichi schluckte, verschwendete keinen weiteren Gedanken daran und wandte sich wieder seinem Vater zu. „Ja.“, murmelte er dann abwesend. „Gut.“ Das Wort klang wie ein einziger, langgezogener Seufzer; dann schloss er die Augen. Er fühlte sich so müde, so erschöpft… Shinichi beugte sich beunruhigt über ihn. Er wusste, sein Vater starb, aber er war noch lange nicht bereit, das wirklich zu akzeptieren. Er nestelte an seiner Jacke, wollte sein Handy herausziehen um Hilfe zu rufen, als sein Vater sein Handgelenk festhielt. „Es ist sinnlos. Du weißt das doch.“ „Nein!“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Hör zu, ich hole Hilfe. Ich…!“ Er versuchte, die Finger seines Vaters zu lösen, scheiterte kläglich, als er merkte, wie klamm und kalt seine Finger noch waren, wie seltsam klebrig von Dreck und Blut und wie wenig Gefühl er in ihnen hatte; wahrscheinlich wäre er nicht einmal in der Lage gewesen, das Handy zu bedienen, hätte er es denn überhaupt aus seiner Jackentasche bekommen. „Nein, Shinichi. Lass gut sein.“ Die Müdigkeit in der Stimme des Schriftstellers ließ ihn beunruhigt innehalten; der Griff seines Vaters verlor an Kraft, langsam aber sicher. Shinichi schluckte, beugte sich über ihn, Panik kroch in ihm hoch und ergriff die Hand umso fester. „V… Vater?“ Er wisperte es nur, dieses eine Wort. Der Mann öffnete seine Augen wieder, mühselig, wirkte etwas weggetreten. Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. „Bin ich das denn noch für dich…?“ Sein Sohn starrte ihn an. „Es sieht so aus.“ Schwer kamen ihm die Worte über die Lippen, aber er meinte sie ernst. Du bist der Boss dieser Organisation, du bist ein Erpresser, ein Erzverbrecher, ein Mörder… ich hab es heute selbst gesehen. Und nun liegst du hier und stirbst… wegen mir. Er merkte, wie in ihm Schuld zu wühlen begann, mit einer Intensität, die ihn seine Angst und seine Panik für den Moment vergessen ließ. Dann merkte er, wie eine Hand ihn am Kragen packte. Shinichi umgriff sie zögernd, sein Blick traf den seines Vaters. „Fang nicht damit an, Shinichi.“ „Womit?“, presste er hervor, zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er kämpfte um seine Fassung, bis jetzt mit Erfolg. „Du weißt, was ich meine. Fang nicht an, dir die Schuld dafür zu geben. Ich hab mir das selbst zuzuschreiben, und ich kam freiwillig mit, das weißt du. Vergiss das nicht! Und ich… hätte und würde immer wieder mein Leben für deins geben. Auch wenn meine Entscheidungen nicht immer gut waren, ich wollte immer nur… dass du lebst… ich wollte…“ Er brach ab, schüttelte sich selbst tadelnd den Kopf. „Vergib mir.“, murmelte er. „Für all das gibt es… keine Rechtfertigung. Ich bin, was ich bin.“ Er holte angestrengt Luft, ehe er weitersprach. „Du kennst die Geschichte, ich wusste, was ich dir antat, als ich dich zum Mitglied machen wollte, aber sterben sehen… sterben sehen konnte ich dich noch viel weniger, Shinichi…“ Seine Stimme war seltsam ruhig, sein Blick ruhte auf seinem Sohn. Dann hustete er; ein dünner Blutfaden bahnte sich seinen Weg aus seinem Mundwinkel. Shinichi schluckte, merkte, wie ihn langsam eine Kälte ergriff, die aller Beschreibungen und Vergleiche spottete. Kälte… „Du sollest aufhören zu reden. Du bist verletzt, es strengt dich zu sehr an, du…“ Verzweiflung schwang in Shinichis Stimme. Yusaku schaute ihn bekümmert an, ein fast mitleidiges Lächeln kroch auf seine Lippen, setzte sich mühsam fest. „Es spielt keine Rolle mehr, Shinichi, du weißt das, und ich weiß das auch. Du hast überlebt, das allein zählt. Ich bin froh… wirklich froh… wenigstens dieses eine Mal das Richtige getan zu haben.“ „Aber…!“ „Ach, Shinichi…“ Yusaku lächelte unglücklich. „Wie kannst du nach all dem, was ich dir angetan habe, was dir wegen mir widerfahren ist, immer noch um mich trauern, immer noch an mir festhalten wollen,…“ Er seufzte, griff seine Hand noch fester. „Du solltest mich hassen und verdammen, das solltest du. Und du solltest dir das hier nicht antun müssen. Am besten wäre, du stündest auf und gingst.“ „Das kann ich nicht. Nicht mehr. Nicht so… wie du es gern hättest.“ Shinichi zuckte kurz zusammen, als er sich versehentlich auf die Lippen bis, weil ihn mittlerweile echter Schüttelfrost gepackt hatte, so fest, dass seine Zähne klapperten, seine Kiefer aufeinanderschlugen. Seine Hände waren weiß, seine Fingerspitzen blau - er fühlte sich wie versteinert, unfähig, sich zu bewegen, und wusste nicht, warum… das hieß, doch, er wusste es schon, aber er wollte es nicht wahrhaben. Der Hauch des Todes greift um sich… eine Kraft, die kein Lebewesen in ihrer Umgebung unberührt ließ, egal ob zum Sterben verurteilt oder nicht. Er zog seinen Vater fester an sich, krallte seine Hand um seine, drückte sie gegen die Schussverletzung. „Du musst durchhalten, hörst du?!“ Eindringlich klangen diese Worte, so leise sie auch ausgesprochen worden waren. Yusakz sah ihn an, in ihm wühlte beinahe das schlechte Gewissen. „Wofür denn, Shinichi? Um im Gefängnis zu enden, oder aufs Schafott geführt zu werden? Du weißt, was mir blüht…“, er schluckte hart, „für all meine Verfehlungen, es interessiert keinen, warum ich das getan habe… nein, glaub mir, das hier ist schon besser so.“ „Nein!“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Du musst durchhalten. Du… musst. Für Mama. Für… mich. Du musst einfach. Du kannst doch nicht… ich wollte nicht, dass du…!“ Yusaku schaute ihn an, brachte ihm mit einem entschiedenen Blick zum Verstummen. „Es konnte für diese Geschichte kein Happy End für mich geben. Das war mir klar. Und dir doch auch…“ „Ich wollte nicht dass du stirbst! Ich weiß nicht, wie ich mir das Ende heute vorgestellt habe, aber nicht so! Hörst du! Und deshalb darfst du nicht…“ Ein leises, amüsiertes Lachen brachte ihn zum Verstummen. Yusaku sah ihn an, in seinen Augen mitfühlender Spott. „Sicherlich, Shinichi. Aber auch wenn du es nicht wolltest, du wusstest es. Du hast es nur verdrängt, nicht daran denen wollen, das ist alles. Aber du wusstest es. Wie ich auch. Ich wusste, worauf ich mich einlasse, also mach dir keinen Vorwurf deswegen.“ Er schaute ihm in die Augen, ernst. Shinichi biss sich auf die Lippen, schüttelte den Kopf. „Bitte nicht. Bitte… nicht, bitte, wie…“ „Shinichi.“ Sein Vater sah ihn an, eindringlich – und Shinichi verstummte, stöhnte leise auf, als ihm die Ausweglosigkeit dieser Situation bewusst wurde. Und er hielt es fast nicht aus. Der Schriftsteller schluckte hart, hob mühsam eine Hand, legte sie seinem Sohn in den Nacken, sah ihn fest an, zwang ihn, ihm ebenfalls ins Gesicht zu sehen. „Shinichi, hör mir gut zu.“ Er atmete langsam ein. „Egal was passiert, führ dein Leben genauso weiter, du bist auf dem richtigen Weg. Lass dich von keinem davon abbringen. Egal welche Entscheidung du triffst, es wird immer die Richtige sein. Lass dich von deinem Gefühl leiten, es täuscht dich nicht...“ Mühselig waren ihm die Worte über die Lippen gekommen. Er versuchte zu schlucken, und merkte, wie trocken sein Mund geworden war. "Pass auf dich auf, versprich mir das..." Leise aufseufzend ließ der Schriftsteller sich zurücksinken, wischte sich über die Augen, starrte in den Himmel, wünschte sich fast, dass sein Sohn jetzt nicht hier war, in diesem Moment, konnte er doch spüren, wie es ihn zerriss. Und dennoch war seine Gegenwart tröstlich, das Gefühl, nicht allein zu sein beruhigte ihn, irgendwie. Pass auf dich auf... Shinichi blickte ihn an, merkte, wie Tränen aus seinen Augen zu rinnen begannen, wollte noch so viel sagen und war doch unfähig zu auch nur einem weiteren Wort. Er hielt ihn fest, stumm, brach nicht den Augenkontakt, wagte nicht einmal zu blinzeln, und ertrug es kaum, seinen Vater sterben zu sehen. Er zitterte am ganzen Körper, fror so sehr, dass er nicht glaubte, dass ihm im Leben noch einmal warm werden könnte – er fühlte sich, als wäre er bis in sein Innerstes zu Eis erstarrt. Unbewegt saß er da und lauschte. Hörte die Atemzüge, hoffte auf einen weiteren, noch einen. Stirb nicht. Ich verzeih dir alles, aber bitte… bitte stirb nicht. Und so kauerte er auf dem Asphalt während seine Hosenbeine sich langsam rot färbte, als das Leben aus dem Schriftsteller herausrann; und hielt die Hand seines Vaters mit beiden Händen fest, horchte in die Stille, und dann - hörte er es ganz deutlich. Ein letztes, leises Seufzen. Shinichi hielt den Atem an. Als der Glanz in seinen Augen brach, das Licht aus ihnen entwich und erlosch, wagte er es, seine kurz zu schließen, seine Lieder aufeinander zu pressen, als sie kam, die erste Welle dieses namenlosen Gefühls. Schmerz war einfach kein Wort dafür, um es zu fassen. Er schnappte mühevoll nach Luft, rang um Atem, als ihm plötzlich etwas die Luft nahm, seinen Brustkorb zusammenpresste, bis der letzte Lufthauch draußen war, und ihm nicht gestattete, einen neuen Atemzug zu tun. Und es war so gespenstisch still. Akai und Heiji waren immer noch weit entfernt – dennoch konnten sie sehen, wie die Gestalt am Boden sich über den liegenden Körper krümmte, die Hände in den Stoff des Sakkos krallte, von inneren Schmerzen zerrissen, von seelischen Qualen zerfressen. Dann schrie er; nur einmal, aber so voller Qual, dass es allen Anwesenden eiskalt den Rücken hinablief, sich ihnen sämtliche Haare aufstellen und sie schaudern machte. Und dann… war es wieder still. Wie wieder Bewegung in die zweite am Boden liegende Figur kam, sahen sie nur allzu deutlich. Jemand anders allerdings nicht. Heiji keuchte. „Nein!“ Shinichi bekam davon nichts mit. Er war damit beschäftigt, irgendwie zu verstehen, was gerade passiert war, als er etwas spürte, das ihn schmerzhaft in die Realität zurückkatapultierte. Etwas Kaltes berührte ihn im Nacken. Und dann hörte er es, dieses noch kältere, leise, ihm leider mittlerweile allzu bekanntes Lachen und glaubte, auf der Stelle festfrieren zu müssen. Absinth. Absinth hatte die Gunst der Stunde genutzt, nur auf diesen Augenblick gewartet, auf diesen schwächsten aller Momente. Nun stand er hinter ihm, seine Reservepistole in der Hand, ein überlegendes Funkeln in den Augen. Mal sehen, wie weit wir dich heute noch kriegen, Kudô. Shinichi hob den Kopf, starrte blicklos in den Quadratmeter Nachtluft vor seinen Augen, hörte nichts, außer das überlaute Rauschen seines eigenen Blutes in seinen Ohren und diese Stimme, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Auf seiner Haut in seinem Nacken spürte er immer noch die kalte kreisrunde Form eines Revolverlaufs, die sicherlich ihren Abdruck dort hinterlassen wurde. Resignation überfiel ihn, Frustration und Enttäuschung. Die ganze Zeit hatte er gekämpft, versucht, fair zu bleiben und gerecht, ohne Gewalt auszukommen, und nun… das. Er schloss die Augen, atmete gepresst aus, tastete dann nach der Pistole, die vor seinem Knie halb verdeckt unter dem Arm seines Vaters lag, dort, wo er sie hatte liegen lassen, als seine Aufmerksam nur einem gegolten hatte. Vater. In seinem Kopf herrschte immer noch Chaos. Unsägliche Trauer befiel ihn, ein Gefühl, so tief, wie er es nie hatte spüren müssen und es war ihm, als risse es aus ihm alles heraus, was jemals froh und lebendig gewesen war. Er schloss die Augen, atmete ein weiteres Mal tief ein und wieder aus, biss sich auf die Lippen. Es spielte wahrscheinlich ohnehin keine Rolle. Er konnte von Glück reden, wenn er das Morgengrauen noch erlebte; froh würde er so oder so in diesem Leben kaum mehr werden. Dann hörte er Absinth hinter sich reden, konnte die Provokation seiner Worte fast körperlich spüren; ein jeder Satz saß gezielt, fühlte sich an wie eine Ohrfeige, schnalzte durch die Luft wie ein Peitschenhieb. Und mit jedem seiner Worte gewann ein anderes Gefühl mehr Macht über ihn. „Interessant… du, der Moralpostel vor dem Herrn und dein Vater, die sprichwörtliche Inkarnation des Teufels… ein Mörder. Und du vergibst ihm…“ Verzweiflung. „Was für eine edle Geste.“ Absinth lachte erneut. Triumpf erklang in seiner Stimme. „Ein wahrer Sohn. Sicherlich konnte er nun in Ruhe sterben, nun, da ihm vergeben wurde, was er angerichtet hat…“ Wut. „Allerdings, finde ich, passt so viel Noblesse nicht an diesen Ort. Steh auf. Es wird Zeit, dem hier endlich ein Ende zu setzen.“ Hass. „Ich will sehen, wie du stirbst, Shinichi Kudô. Ich will in deine Augen sehen, wenn du erkennst, dass du verloren hast. Ich will die Schuld in deinen Augen sehen, in deinem hübschen Gesicht, wenn dir klar wird, was du getan hast. Ich will dich zerbrechen sehen, auf jede erdenkliche Weise.“ Absinth lachte laut, schallend, triumphierend. „Los, steh auf!“ Er trat ihm in den Rücken. Shinichi kniff die Augen zusammen, fluchte innerlich. Kehre nie dem Feind den Rücken zu! Verdammt! Shinichi atmete gepresst auf. „Kann ich ihm wenigstens noch die Augen schließen, bevor wir’s hinter uns bringen?“ Absinth überlegte einen Moment, scheinbar. „Tu, was du tun musst; so oder so, du entkommst mir nicht, und es gibt auch keinen mehr, der dich noch rettet. Aber mach keinen Staatsakt daraus, Kudô.“ Shinichi drehte sich kurz um, starrte ihn unverhohlen wütend an, wandte sich dann wieder ab. Sein Gesicht, starr wie eine Maske, war seinem Vater zugewandt, dessen Augen leer in den Himmel blickten. Der Anblick kostete ihn fast seinen Verstand. Er wusste, was der Tod war, und er war auch schon oft direkt mit ihm konfrontiert worden. Aber hier und jetzt brachte er ihn schier an den Rand des Wahnsinns. Er sah ihn dieses bleiche Gesicht, konnte nicht glauben, dass er tot war. Konnte kaum glauben, was hier und heute passiert war. Er schluckte unwillig, strich sich über die Stirn, vergrub kurz sein Gesicht in seinen Händen, fuhr sich mit seinen Händen durch die Haare. Dann streckte er die Hand aus, unendlich langsam, legte sie auf seine Augen. Drückte seine Lider zu, atmete gepresst aus. „Lebwohl.“ Wer weiß, vielleicht sehen wir uns gleich… Er spürte, wie seltsam kalt sich seine Haut bereits anfühlte, und dachte daran, dass vor wenigen Minuten… So sieht’s aus… vielleicht liege ich gleich neben dir. Vielleicht auch nicht. Wir werden sehen. Dann stand er auf, mühsam und ungelenk, griff dabei heimlich nach der Pistole, die während der letzten Minuten auf dem Boden neben ihm gelegen hatte. Er fühlte sich kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten; und doch trieb ihn etwas an, das er nie in diesem Maße gespürt hatte. Unglaublichen Hass. Und unbändige Angst. Er drehte sich um, langsam, die Hand mit der Pistole leicht hinter dem Rücken versteckt, unauffällig. Absinth trat näher, zielte mit seinem Reserverevolver auf den jungen Detektiven, setzte ihm den Lauf an die Brust, griff mit der anderen Hand nach seinem Kinn, starrte ihm ins Gesicht. Suchte in seinen Augen und fand, wonach er suchte. Hass, Angst. Sturheit, Unwille, Trotz. Das war zu lesen, sehr deutlich. Absinth kniff die Augen zusammen; dann ließ er ihn los, angewidert. Sehr schön. Wir sind fast soweit... Das könnte noch spannender werden, als ich dachte. Dann lächelte er breit. Ich krieg dich klein, pass nur auf. Ich habe sie alle noch geschlagen, zu Boden geworfen und zertreten wie einen Wurm; du wirst nicht der sein, der sich gegen mich erhebt. Du nicht. Du wirst verlieren. Auch wenn du vielleicht noch nichts ahnst. Du wirst in dein Verderben rennen, geradewegs in deine Hölle. Deine ganz eigene Hölle… Er schlenderte ein paar Schritte zurück, lächelte immer noch. „Ich sagte dir doch, du musst mich erschießen. Du wolltest mir ja nicht glauben.“ Ein leises Lachen entfloh seiner Kehle. „Es wäre klüger gewesen, Sie wären liegen geblieben.“ Shinichis Stimme war kaum zu hören. „Der Typ bin ich nicht; und du doch auch nicht. Wir kapitulieren nicht, wir geben nicht auf. Entweder wir siegen, oder wir verlieren. Mit allen Konsequenzen.“ Absinth hob seine Waffe, trat langsam wieder näher. „Du weißt, sie werden alle sterben, wegen dir, das habe ich versprochen, und ich halte meine Versprechen. Deine Mutter. Dein vorlauter Freund und seine Freundin. Dieser alte Professor, und Sherry, ja… sie zu töten wird ein besonderes Vergnügen. Aber nichts im Vergleich zu der Freude, sich mit deiner hübschen Freundin beschäftigen zu dürfen.“ Absinth atmete aus, grinste breit; in seinen Augen glitzerten Spott und pure Bosheit um die Wette. Analysierend schaute er seinem Opfer in die Augen, ins Gesicht, suchte in seinen Zügen nach den ersten Anzeichen, und fand sie. Qual, innerer Zerrissenheit und Schuld. Er trieb ihn auf den Abgrund zu, und wusste, bald würde er ihn erreicht haben. Und wenn er erst einmal hinuntergeblickt hatte, dann würde es zu spät sein. Er würde fallen. Du wirst Geschichte sein, Shinichi Kudô. Egal wie, dein Leben endet hier und jetzt. Absinth hob die Waffe, zielte. „Nein.“ Shinichi flüsterte dieses Wort sehr leise; er hörte sich selbst kaum sprechen. Dann schüttelte er den Kopf, hob mit einer fließenden Bewegung die Pistole an, die er versteckt gehalten hatte an, zielte. Absinth lächelte amüsiert, hob höhnisch den Kopf, schüttelte ihn langsam, hin und her, als er sprach. „Das gleiche Spiel nochmal? Wir das nicht langsam langweilig, Shinichi Kudô?“ Er trat einen Schritt zurück; diesen Ausdruck in den Augen des Jungen zu sehen faszinierte ihn. Er wusste, irgendwann war bei jedem Menschen eine Grenze erreicht; dann brachen sie entweder ein, oder sie veränderten sich ins Gegenteil, kippten um, warfen alle ihre Grundsätze über Bord, nur um sich aufzulehnen, dem Gegner etwas entgegen zu stellen. Letzteres schien hier passiert zu sein. Er hatte eine Waffe in der Hand, und würde sie benutzen. Die Frage stellte sich nur, ob er diesmal den Schlussstrich darunter zog. Und auf irgendeine absurde Art und Weise bemerkte er es trotz des Unbehagens mit Genugtuung. Du weißt, du kannst nicht gewinnen… wenn du das tust,… Du bist nicht dafür gemacht, das zu ertragen. Damit zu leben. Er lächelte ein schmales, bösartiges Lächeln, dann umgriff er mit beiden Händen seinen Revolver. Sah in den Zügen seines Gegenübers den inneren Kampf, der sich im Kopf des Oberschülers abspielte und genoss es, mehr noch, viel mehr noch, als gerade eben schon. Er sah, wie er sich quälte, und es freute ihn über die Maßen. Shinichi hob seine Waffe ebenfalls, merkte, wie in ihm alles auf einmal seltsam taub und dumpf wurde. Ich kann das nicht. Ich kann… Er sah in Absinths Gesicht, sah auf die Waffe, in die schwarze Öffnung des Laufs. Sah, wie sich der Finger um den Abzug bog, sah dieses Lächeln. Ihm brach der Schweiß aus. Er wusste, jetzt wurde es ernst. In den nächsten Sekunden entschied sich, ob er heute sterben würde; ob Ran, ob seine Mutter, ob seine Freunde sterben würden. Ran. Und es lag in seiner Hand, das zu entscheiden. Er schluckte, merkte, wie seine Finger zu kribbeln anfingen. Eins. „Also, was ist nun?“ Absinths Stimme klang herausfordernd durch die Nacht. Shinichi krümmte seinen Finger um den Abzug, merkte, wie seine Hände unkontrolliert zu zittern anfingen. Zwei. Er biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte, und hörte auch dann nicht auf damit. Absinth sah ihm ins Gesicht, in seinen Augen nicht ein Hauch mehr von Angst, nur diabolische Freude; eine Fratze wie die des Teufels, der mit Vergnügen mit seiner neuesten armen Seele spielt. Und er fragte sich, warum sich dieser Mann nur so diabolisch freute. Hatte er keine Angst? Glaubte er immer noch nicht, dass er schießen würde? Oder freute ihn gerade diese Tatsache, ihn soweit gebracht zu haben? In seinem Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Shinichi stöhnte auf, leise. So ungeheuerlich ihm dieser Mann war, so beunruhigend er dessen offensichtliche Angstlosigkeit fand, wusste er doch gleichzeitig, wenn er nicht schoss, dann würde Absinth es tun. Absinth würde schießen. Er sah, wie sich dessen Finger um den Abzug krümmte, sah es in seinen Augen blitzen, erwartungsvoll der Dinge entgegenblickte, die da auf ihn zukommen würden. Shinichi schluckte, schloss die Augen. Die Zeit schien stillzustehen, kein Geräusch drang mehr an sein Ohr. In seinem Kopf hallte nur seine eigene Stimme wider. Drei. Dann fiel ein letzter Schuss an diesem Abend. Das leise Rascheln von Stoff war zu hören, der dumpfe Aufschlag eines Hinterkopfs auf den Asphalt, das scharfe Klirren von Metall, das auf den harten Parkplatzboden auftraf. Und dann hörte die Nacht erneut dieses Gelächter, leise, spöttelnd, schadenfroh. Schaurig hallte es über den Parkplatz, wurde immer lauter, bis an die Ohren des Trupps um Meguré und Black, die wie aus Wachs gegossen im Morast standen, unfähig zu einer Bewegung. Erreichte Heiji und Akai, die ebenfalls inne gehalten hatten, um nicht zu stören, und in die jetzt Bewegung kam. Absinth lachte. Kapitel 51: Kapitel 33: Gewinner und Verlierer ---------------------------------------------- Hallo zusammen! Nun, bevor es an dieser Stelle gleich weitergeht, möchte ich euch allein ein gutes, neues Jahr wünschen! Ich hoffe, ihr seid alle gut gerutscht! Viel - äh - Vergnügen beim Lesen. Ein paar Kapitel liegen noch vor uns, und ich hoffe, es wird für alle klar, warum es kam, wie's kommen musste. Beste Grüße, eure Leira _____________________________________________________________________________________________ Kapitel dreiunddreißig: Gewinner und Verlierer Absinth lachte. Aus vollstem Halse, laut und anhaltend, schien schier nicht aufhören zu wollen. Es war ein gespenstisches Gelächter, passend zu dieser Stunde, zu diesem Ort – aber doch voller Triumph, Hohn und Schadenfreude. Ich habe gewonnen, und das weißt du… Shinichi fühlte sich wie schockgefroren, merkte wie eine Welle eisigen Entsetzens ihn packte, festhielt und nicht mehr losließ; dennoch trat er näher. Absinth lag rücklings auf dem Boden, zum zweiten Mal an diesem Abend; zum zweiten Mal wegen ihm. Seine Waffe war ein paar Meter weiter neben ihm gelandet; er hatte sie fallen lassen, als die Kugel seinen Oberkörper durchschlagen hatte, auf dem Asphalt war sie nach dem Aufprall noch ein wenig weiter geschlittert. Und jetzt starrte er in den Himmel und lachte, laut, voller Spott, beißend und voller Genugtuung. Dann hielt er inne, richtete sich auf, langsam, kam auf die Knie – sah ihn an, in seinen Augen ein kaltes Glimmen, das seinesgleichen suchte. „Herzlich willkommen in der Organisation, Armagnac!“ Die Worte waren nur geflüstert, kaum laut genug sie zu hören – dennoch trafen sie ins Ziel, präzise, wohlgesetzt und vernichtend. Shinichi wankte, fühlte sich, als habe ihm jemand mit der Faust mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. „Nein!“ Er schüttelte den Kopf, trat unsicher einen Schritt zurück. „Ich bin nicht wie ihr, ich bin…“ Die Worte wollten ihm wie ein Wasserfall über die Lippen, allein die Kraft und auch die Überzeugung fehlten ihm – und so klangen seine Worte wider von dem Gefühlen, die ihn ausfüllten, keinen Platz ließen für etwas anderes. Entsetzen, Verzweiflung, Angst. Angst, dass das die Wahrheit sein könnte. Absinth lachte heiser, aber nicht minder amüsiert. „Nun doch, ich muss es zugeben… du hast das Aufnahmeritual bestanden, wenn auch verspätet. Dein Vater kann wahrlich stolz auf dich sein… du trägst den Namen nun zu Recht.“ Er röchelte, hustete, fing sich aber wieder, beobachtete sein Opfer mit wachsendem Interesse. „NEIN!“ Der Oberschüler schüttelte den Kopf, immer heftiger, bis sich leise pochend hinter seinen Schläfen Kopfschmerzen einstellten; er merkte, wie ihm schwindelte, ihm langsam bewusst wurde, was geschah. Was er getan hatte. Er näherte sich Absinth, ging neben ihm in die Knie, packte ihn am Kragen. „Ich bin nicht wie ihr, ich bin…!“, begann er, schaffte es aber nicht, den Satz zu vollenden; selbst in seinen eigenen Ohren klangen diese Worte halbherzig und unüberzeugt. Er glaubte sich selbst nicht, nicht ein Wort. Irgendetwas in ihm flüsterte ihm ein, dass Absinth Recht hatte. Eine kleine Stimme, die in seinem Kopf beständig die gleichen Worte flüsterte. Du bist wie sie. Du konntest nicht anders werden… Schließlich war er dein Vater. Du bist der Erbe des Barons der Nacht… Er war wie sie, kein Gramm besser. Er hatte geschossen, und in ein paar Minuten würde er auch getötet haben. Denn Absinth starb. Wegen ihm. Absinths Gelächter verstummte, ließ nichts als ein feines Lächeln zurück; ein dünner Blutfaden wand sich aus seinem Mundwinkel. Shinichi spürte, wie eine Hand ihn am Kinn packte, wollte sie wegzerren und fand doch nicht die Kraft, es zu tun. Eisblaue Augen fixierten seine, machten es ihm unmöglich, sich abzuwenden. „Du bist ein Mörder, Shinichi Kudô… du weißt das. Mein Mörder...“ Ein heiseres Kichern entwich seiner Kehle. Shinichi starrte ihn an, schluckte, unfähig sich zu bewegen. „Nun, ich muss sagen, es ist erstaunlich, damit hatte ich nicht gerechnet… aber ich sehe es nicht ohne Freude. Es amüsiert mich königlich, und der Preis… dich so zu sehen, jetzt in dieser Stunde, zu wissen, dass dein Leben verwirkt ist, durch deine eigene Hand… das war es wert...“ Er lachte leise, ein zufriedener Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus. Shinichi schluckte hart, biss sich auf die Lippen. „Nein…“ "Doch." Absinth grinste. „Oh doch. Du hast keine Ahnung, wie ähnlich du deinem Vater bist, gerade in diesem Moment… er hatte genau den gleichen Ausdruck auf dem Gesicht, als er das erste Mal tötete. Ekel, Abscheu, Angst vor sich selbst, vor dem, was er zu tun in der Lage war… und doch wissend, dass er es wieder tun konnte. Diese Waffe wieder und wieder einsetzen würde, für seine Zwecke. Nach dem ersten Mal fällt es leichter, das weißt du doch…“ Der Oberschüler merkte, wie sich seine Hände verkrampften. „Diesen Rausch von Macht…“ „Hören Sie auf!“ Shinichi merkte, wie sein Schädel zu dröhnen anfing. „Ich will es nicht hören. Das ist nicht wahr…!“ Er wandte den Kopf ab, starrte auf den Boden, versuchte, alles auszublenden – die Nacht, Absinth, den Geruch von Schießpulver, Blut und Tod. „Das. Ist. Nicht. Wahr!“ Das kann nicht wahr sein… Heftig senkte sich sein Brustkorb, machte ihm erst jetzt bewusst, wie schwer ihm das Atmen fiel. „Das darf nicht wahr sein...“, kraftlos krochen ihm die Worte über die Lippen; immer noch klebte sein Blick am Asphalt. Langsam hob er den Kopf, sah in Absinths Gesicht, dieses Gesicht, dass er so hasste - und es starrte ihn an, mit Augen, die glitzerten von irrem Triumpf, böse und voller Genugtuung. „Du weißt, dass das die Wahrheit ist.“ Shinichi kniff die Augen zusammen, hielt sich den Kopf, als er meinte, er müsse platzen; er hielt es nicht aus. Absinths Worte bohrten sich in seinen Kopf, eindringlich, sich beständig wiederholend. Du weißt, dass das die Wahrheit ist. „Letztendlich hat dich die Organisation doch bekommen… dich vernichtet… Shinichi Kudô. Und das weißt du. Du hast verloren. Du konntest nie gewinnen… von Anfang an nicht.“ Absinth lachte ein letztes Mal; ein leises, ersticktes, röchelndes Lachen, heiser und voller Gehässigkeit. „Verloren…“ Shinichi starrte ihn nur an, fühlte, wie Absinths Griff sich lockerte und wich zurück, ließ ihn los, saß auf dem nasskalten Boden und schaffte es nicht, sich abzuwenden. Sein Blick haftete auf Absinths Gesicht, unfähig, sich zu bewegen, sah ihn wieder zu Boden sinken, halb auf den Rücken liegend und in den Mond blickend, sah seine Augen brechen, auf seinen Lippen immer noch dieses ekelerregende Grinsen und hielt sich den Mund zu, als er schreien wollte, fühlte, wie sich in ihm eine Übelkeit breitmachte, wie er sie in seinem Leben noch nicht gespürt hatte. Dann bemerkte er die Waffe, die er immer noch in seiner Hand hielt, wurde sich bewusst, was er damit getan hatte. Wollte ich es nicht immer wissen? Seit diesem Abend quält mich doch die Frage… ob ich es könnte. Er schluckte hart. Wissen, ob ich in der Lage wäre, zu töten…? Er hob die Pistole hoch, den Finger um den Abzug gekrümmt. Dann schleuderte er sie von sich, als er das Gefühl hatte, dass sich das Metall weißglühend in seine Hand brannte. Klappernd traf sie auf dem Boden auf, schlug einen Funken aus dem harten Asphalt. Jetzt weiß ich die Antwort... Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mit ihr glücklich bin. Regen nieselte auf ihn nieder, klebte ihm seine Kleidung auf die Haut wie vom Kleister nasse Tapete. Shinichi bekam das nicht mit. Sein Blick verlor sich irgendwo in der Luft vor ihm, verirrte sich in der Dunkelheit. In ihm herrschte Chaos, Schuld und Angst zerrten an ihm, zerrissen ihn. Er wusste, etwas starb in ihm, auf sehr schmerzhafte Weise. Er wusste nicht was es war, konnte es nicht lokalisieren, nicht greifen. Das Licht verging, hinterließ nichts als schwarze Finsternis, ließ ihn zurück mit seinen Gedanken, mit der Verwirrung, den vielen Fragen, auf die er keine Antwort finden wollte. Langsam kippte er nach hinten, schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt auf, hielt sich mit beiden Händen die Augen zu, presste die Handballen so fest auf seine Augäpfel, dass er schwarze Kreise tanzen sah. Ich kann nie mehr zurück. Wie kann ich ihnen unter die Augen treten, jemals wieder. Ich habe einen Menschen umgebracht, und es spielt keine Rolle warum, oder wie sehr er es verdient hat. Er hatte Recht… Ich bin nicht besser… Ich dachte es nur. Wollte es glauben. Er wusste nicht, wie lange er so da lag. Eigentlich konnten es kaum Minuten gewesen sein, bis Akai und Heiji endlich die Stelle erreichten, an der sie ihn fanden, wie zu Stein erstarrt. Irgendwann hörte er die Schritte. Langsam, aber stetig näherten sie sich. Zögernd drehte er sich um, sah einen Schemen, der sich aus dem Nebel löste, und erkannte ihn. Er lächelte bitter. „Warum wart ihr nicht schneller…“, murmelte er, konnte seine Worte selbst kaum hören. Es war Shuichi Akai, der auf ihn zutrat, seine Waffe in der Hand, in seinen Augen ein schwer zu deutender Blick. „Bist du verletzt?“ Ihre Blicke trafen sich kurz; Akais Stimme war leise und sachlich wie immer. Shinichi presste die Lippen aufeinander, spürte einen kalten Tropfen Schweiß, der ihm die Schläfe hinabrann, unfähig etwas zu tun oder zu sagen, schüttelte dann den Kopf, stand mühsam auf, merkte erst jetzt, wie kalt sein Körper war. Wie steif und erfroren seine Muskeln, wie starr seine Knochen. Akai bückte sich, hob die Waffe hoch; dann wischte er sie sorgfältig ab, streckte den Arm aus und feuerte einen Schuss in die Nacht, steckte sie anschließend ein. Shinichi starrte ihn an. Heiji war neben ihm getreten, stumm. Sah seinen Freund an, und erschrak; und versuchte doch, sich nichts anmerken zu lassen. Shinichi hingegen sah den Agent verständnislos an; dann breitete sich auf seinen Zügen langsam die Erkenntnis aus. „Was…!?“, murmelte er ungläubig. Hinter Akai war Black erschienen, warf seinem Mitarbeiter einen kurzen Blick zu, nickte. „If somebody asks you, who has shot that bastard… it has not been you. Verstanden?” Der Oberschüler blickte ihn voll Unverständnis an. Er ahnte, was hier gerade vorging, und was die beiden Agenten vorhatten; und er wusste, er wollte das nicht. Seine Augen wanderten wieder zu Absinth. „Nein. Nein. Das tun Sie nicht, ich…!“ Ich hab ihn umgebracht…! „Nein.“ Meguré trat ebenfalls näher, schüttelte den Kopf, schluckte schwer, bedachte seinen jungen Freund mit einem schuldvollen Blick. „Nein. Du hast genug zu tun, Kudô. Du musst dir nichts vorwerfen, das war Notwehr, du konntest nicht anders handeln; aber lass uns dir das Verfahren ersparen.“ „Aber ich..!!“ Shinichi brauste auf, in seinen Augen ein Ausdruck unbändigen Entsetzens und Schuld. „Ich hab ihn… ich hab ihn…“ Er brachte das Wort kaum über die Lippen. „… erschossen…“ Unwillkürlich griff er sich an den Hals. „Ihr habt ihn doch gehört… ich bin nicht besser als sie… ich…“ Der junge Detektiv erschauderte. „Mein Gott, das glaubste doch nicht wirklich?!“ Heiji starrte ihn völlig entgeistert an. „Der Kerl war ein Psychopath! Du glaubst doch nicht wirklich auch nur ein verdammtes Wort von dem Schwachsinn, das der Typ ausgespuckt hat!? Du hattest nen schweren Tag, aber bei aller Liebe – spinnste jetzt total?“ Langsam waren auch die anderen am äußersten Ende des Parkplatzes angekommen, eilten näher; Jodie zog sich im Laufen ihre Schuhe wieder an. Sie alle hatten gesehen, was passiert war; und sie alle wussten, dass er keine andere Wahl gehabt hatte, als zu schießen. Wie er damit klarkommen würde, das wussten sie allerdings nicht. Aber ihm war anzusehen… allzu gut klarkommen würde er damit in nächster Zeit nicht. Im Moment… kam er wohl gar nicht klar damit. Shinichi schluckte, schloss die Augen, schüttelte den Kopf. Als er sie wieder öffnete, blitzte in ihnen Wut und Unverständnis. „Wenn du gehört hast, was er sagte, dann hast du sicher auch gesehen, was ich getan hab.“ Er schluckte. „Falls nicht, ich helf‘ dir auf die Sprünge. Das Ergebnis liegt vor deinen Füßen.“ Seine Stimme verlor sich. Er krümmte sich unwillkürlich, kniff die Augen zusammen, verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, schien sich selbst noch mehr nach unten zu drücken. Shinichi hatte das Gefühl, sein Kopf müsste platzen. Heiji schluckte, schaute ihn betroffen an. Der Oberschüler aus Tokio stöhnte leise auf, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, sah sie dann an, starr. „Ich hab ihn erschossen. Ich wollte nicht, aber ich habs... getan.“ Er hob den Blick, in seinen Augen kein Hauch mehr von Zynismus. Entsetzen stand quer über sein Gesicht geschrieben, blankes Entsetzen, Angst, Ekel, Abscheu. Angst. „Heiji, ich hab ihn erschossen. Das Leben kann doch nicht weitergehen wie bisher, ich… ich hab… ich dachte nie, dass ich das könnte, dass ich dazu in der Lage bin, ich will nicht zurück, wie kann ich zurück, ich hab… ich habe einem Menschen das Leben genommen, wie… was, wenn…“ Heiji schaute ihn bedrückt an, legte ihm die Hand auf die Schulter; zog sie zurück, als er merkte, wie sein Freund zusammenzuckte, merkte, wie es in seinem Bauch zu wühlen begann. Warum zwang man ausgerechnet dich dazu… Warum waren wir nicht einmal schneller?! „Kudô. Von wem willstes schriftlich haben? Das war Notwehr! Das weißt du. Er hätte dich erschossen, sonst. Er hat deinen Vater auf dem Gewissen. Er hätte uns, hätte deine Mutter, hätte Ran umgebracht, und zwar noch heute, hättest du ihn nicht aufgehalten. Und du hast versucht, ihn zu verschonen, verdammt! Du hast es doch versucht, es ging nicht anders…“ Shinichi schüttelte abwesend den Kopf. „Das ändert nichts an der Tatsache, dass er tot ist.“ Meguré trat näher; in seinem Gesicht spiegelte sich Unverständnis über so viel Starrsinn. „Du weißt, wie oft man aus Notwehr tötet, es ist uns allen schon passiert. Und nie hast du das verurteilt! Warum fängst du bei dir damit an…?“ Shinichi schaute ihn nicht an, schwieg. Starrte auf den Boden, merkte, wie er zu zittern anfing, unwillkürlich. „Nur weil dein Vater ein Mitglied dieser Organisation war? Weil man dich zum Mitglied machen wollte? Verdammt, du hast das doch nicht zum Spaß gemacht!“ Der junge Detektiv schluckte hart, schüttelte dann langsam den Kopf. „Nein, so läuft das nicht. Und Sie sollten sich schämen, Meguré, Sie sind doch Polizist! Egal ob Notwehr… oder nicht, ich hab… ich hab… einem Menschen das Leben genommen.“ Er merkte, wie ihm erneut übel wurde, kämpfte verbissen gegen den Würgereiz. Er roch immer noch das Pulver, und er war sich nicht sicher, ob er jemals diesen ekelhaft-metallischen Geruch von Blut wieder aus seiner Nase bekommen würde. Er sah den Menschen vor seinen Füßen, und er wusste, er war tot, wegen ihm. „Das ist ein Verbrechen! Sie können mich doch nicht so einfach gehen lassen! Das…!“ „Kudô!“ Meguré trat näher. „Nein!“ Shinichi wich zurück. „Bitte, führen Sie mich ab, sperren Sie mich ein, irgendwie muss ich doch… muss ich doch bezahlen dafür, was ich gemacht hab, ich hab ihn erschossen, ich… ich bin doch nicht besser als er, was unterscheidet mich von ihm? Ich hab…“ Er griff sich in die Haare, kniff die Augen zu. „Das Recht muss doch auch für mich gelten…“, presste er hervor, atmete mühevoll ein- und aus. „Welches Recht...“ Der alte Kommissar näherte sich ihm langsam, legte ihm seine Hand auf die Schulter. Shinichi zuckte zusammen, wich zurück. „Du hast dich nur selbst verteidigt. Die beschützt, die du liebst. Du… verdammt, du hast genug mitgemacht. Du hast etwas erlebt, das dich für dein Leben zeichnet. Du musstest erkennen, dass dein halbes Leben eine Lüge war. Dass dein Vater nicht der war, der er vorgab zu sein; man wollte dich umbringen, und alle anderen auch. Jeder andere an deiner Stelle hätte genauso gehandelt. Kein Richter würde dich einsperren, also lass uns dir doch das Verfahren ersparen…“ Shinichi schüttelte den Kopf. „You know, even Sherlock Holmes didn’t bring every criminal to justice. Auch er hat manchmal einen Verbrecher laufen lassen.“ Blacks ruhige Stimme brachte ihn dazu, wieder aufzusehen. „But that was only fiction, Mr. Black.” Shinichis Stimme klang müde, desillusioniert. Er schloss die Augen, atmete ruhig aus. „I killed him. I perfectly well knew what I did. I aimend, and I shot, and I knew, that blow could cause his death.“ Shinichi fuhr sich über die Augen, schaffte es dennoch nicht mehr, seinen Blick von der Leiche abzuwenden. „Und deshalb gehöre ich ins Gefängnis und vor ein Gericht, ich muss mich doch dem stellen, was ich verbrochen habe…“ Sie sahen ihn an, und wussten, dass es jetzt vorbei war. Über seine Wangen rannen Tränen, langsam, zeichneten helle Linien in sein angestaubtes Gesicht. Auch er spürte, dass er jetzt den Kampf verlor, langsam. „Verdammt, warum… hab ich das getan, das…“ Es war zu viel. Heiji war blass geworden, selbst unter seinem braungebrannten Teint sah man ihm die Blutleere im Gesicht an; jetzt aber kam Bewegung in den jungen Mann aus Osaka. „Shinichi…“ Er flüsterte den Namen, traute sich nicht, ihn lauter anzusprechen. Shinichi wandte sich dennoch um, unendlich langsam, sah ihn nur an. Er schien betäubt, innerlich leblos; nur Tränen rannen ihm übers Gesicht, stumm. Dann wandte er den Kopf weiter, sah seinen toten Vater auf dem kalten Asphalt liegen, zuckte zusammen, stöhnte leise auf. Meguré hatte seine Hände in seinen Taschen vergraben, starrte betroffen in das Gesicht des toten Schriftstellers. „Shinichi, bitte...“ „Nein!“ Der junge Mann fuhr herum. „Verstehen Sie das denn nicht? Verdammt, er sagte, er wäre stolz auf mich, und ich würde richtig handeln… und was mach ich? Keine fünf Minuten, nachdem er tot ist, bringe ich… einen Menschen ums Leben, ich…“ Er schloss die Augen, kniff sich in den Handrücken, aber der Schmerz half nicht, die Bilder kamen dennoch zurück. Kraftlos ging er in die Knie, krallte seine Hände in seine Haare. Er hielt seinen Kopf, atmete schwer, fühlte, wie es an allen Enden an ihm riss und zerrte. Und wünschte sich, er hätte sich erschießen lassen. Heiji musterte ihn sorgenvoll, wütend über seine eigene Hilflosigkeit. Dann trat er langsam nach vorne, packte ihn an der Schulter, zog ihn hoch. Schluckte, wusste nicht, was er sagen sollte, und versuchte es dennoch. „Shinichi, er gab dir die Waffe doch nicht zum Spaß, er wusste, wofür man sie benutzt, verdammt! Er hat versucht, die zu beschützen, die er liebte, und diese Aufgabe übertrug er dir. Du hast richtig gehandelt. Und… ich danke dir dafür.“ Shinichi warf ihm einen müden Blick zu. Er sah ihm an, wie sehr er kämpfte um seine Fassung, sah ihm an, wie wenig er seinen Worten glaubte. Dennoch bewunderte er ihn für seine Selbstbeherrschung; und wünschte sich doch, dass er sie einfach aufgäbe, dieses Mal. Das is zu viel, Kudô. Das kann kein Mensch einfach in sich reinfressen und verdaun, ohne dass er sich den Magen dabei verdirbt. Schrei, tobe, heule, meinetwegen. Schlag eins dieser Autos kurz und klein. Tu, was du willst. Aber hör auf zu schweigen, ich bitte dich. Etwa eine Viertelstunde später kam einer der Polizeiwagen, der den Umweg genommen hatten; und das übliche Prozedere fing an. Shinichi hatte ihnen tatenlos zugesehen, stand wie ein Zombie etwas abseits neben Heiji, der ihn am Arm gepackt hatte und sicherstellte, dass er sich nicht doch mitnehmen ließ. Für Shinichi lief der Film, in dem er die Hauptrolle spielte, neben ihm ab. Er fühlte sich innerlich ausgebrannt und leer, unfähig, irgendetwas zu tun, unwissend, wie er dieses Leben fortführen sollte. Er sah emotionslos zu, wie man sein Vater in einen Leichensack gehüllt abtransportierte. Ihm folgten Sharon und Absinth. Dann waren weitere Polizisten gekommen, und die Festnahmen hatten angefangen. Sie hatten warten müssen, bis Meguré den Einsatz koordiniert hatte; und so war ihm der Anblick von Rum und Cachaça zuteil geworden, in Handschellen und mit einigermaßen angesäuerten Gesichtern. Er fühlte keine Genugtuung. Auch nicht, als man mit Hilfe seiner Liste, die er ihnen stumm ausgehändigt hatte auf die Frage, ob es so etwas wie ein Mitgliederverzeichnis gäbe, herausgefunden hatte, dass man sie wirklich alle gekriegt hatte. Es würde eng werden in den Zellen des Tokioter Gefängnisses. Und nun saß er in einem Polizeiauto, gehüllt in eine Decke, fühlte sich immer noch erfroren und taub. Neben ihm saß Heiji, der ihn nicht aus den Augen ließ, etwas, das ihn langsam doch etwas störte, während Meguré den Wagen durch die Nacht lenkte. Der Kommissar war sehr blass geworden, mittlerweile. Seinen guten Freund tot aufzufinden, erschossen… hatte auch bei ihm Spuren hinterlassen. Meguré räusperte sich. Eins musste noch geklärt werden. „Shinichi?“ Der junge Mann rührte sich nicht. Der Kommissar schaute in den Rückspiegel, sah Heijis besorgen Blick. „Shinichi, hörst du?“ Der Angesprochene nickte kurz, sah aber nicht auf. „Es reicht, wenn du morgen die Aussage machst. Und vergiss nicht, was wir… besprochen hatten. Und du kannst sagen, was du willst. Ich werde dich für unzurechnungsfähig erklären lassen, solltest du etwas anderes behaupten. Bei dem, was du heute erlebt hast, attestiert mir das jeder Gutachter, das weißt du.“ Er wusste, dieser Satz musste in seinen Ohren wie ein schlechter Scherz klingen. Heiji warf ihm auch einen entsprechend bösen Blick zu; Shinichi hingegen starrte nur aus dem Fenster, sah die Bäume vorbeihuschen, Schatten und Schemen tanzen, konzentrierte sich darauf, um sich abzulenken. Nur nicht nachdenken. „Ist gut.“, murmelte er schließlich kraftlos. Meguré nickte langsam. Dann setzte er erneut an. „Hör zu. Von… der Sache mit deinem Vater wissen nur wir Eingeweihten. Davon ging nichts an die Öffentlichkeit. Und das… wird auch so bleiben.“ Nun fuhr Shinichis Kopf doch hoch; der Oberschüler schaute ihn fragend an. „Was?“ Meguré nickte ernst. „Es ist eigentlich… nicht üblich, das weißt du, wem erzähl ich das…“ Er lachte hilflos. „Aber angesichts der Umstände… fanden wir es für gerechtfertigt. Da sind genügend Sündenböcke, die zu Recht die Schuld verdienen. Dein… Vater hat teuer genug bezahlt. Und du auch.“ Shinichi starrte ihn an, sagte nichts. Er wusste, er hätte sich bedanken sollen, und irgendwann würde er das auch; momentan brachte er nur einfach keinen ganzen Satz über die Lippen. Zurück in Tokio setzte Meguré die beiden Oberschüler an der Kudôvilla ab. Er hatte ihnen noch nachgesehen, bis Shinichi den Schlüssel aus seiner Tasche gezogen hatte, und die Tür aufsperrte. Dann war er gefahren, konnte nicht verhindern, dass auch ihm langsam eine Träne aus dem Augenwinkel rann. Keiner bekam mit, dass die Tür aufgegangen war. Bis auf sie. Alle anderen saßen da, starrten in die Flammen des Kamins, die züngelnd und tanzend das Holz verschlangen, dabei den ganzen Raum in ein zuckendes, orangerotes Licht tauchten. Ran stand auf, ging an ihnen vorbei, ungeachtet. Kazuha hatte den Kopf schwer auf ihre Hände gestützt, in ihren blicklosen Augen spiegelte sich das Feuer. Ai war eingeschlafen, genauso wie Yukiko. Der Professor war gerade in der Küche, beschäftigte die Kinder mit irgendetwas, sie wusste nicht, was es war. Als sie in die Eingangshalle trat, sah sie ihn, trotz des Dämmerlichts, das dort herrschte, und erschrak. Selbst in dem schwachen Licht konnte sie sehen, in welchem Zustand ihr Freund sich befand. Heiji stand neben ihm, redete leise auf ihn ein, brach ab, als er das Mädchen bemerkte. Shinichi bemerkte sie erst, als sie fast vor ihm stand. Ran schluckte schwer. Shinichi sah entsetzlich aus; Dreck klebte an seiner Haut, im Gesicht und an den Händen. An seiner Wange zog sich ein blutiger Kratzer quer unter dem Auge über den Wangenknochen, in seinen Haaren klebte ebenfalls Blut. Und nicht nur da. Rot und zum Teil schon geronnen hing es an seiner Kleidung, klebte an seinen Händen, verbreitete diesen metallischen Geruch, der für Blut so typisch war. Ran merkte, wie sich ihre Haare im Nacken aufstellten. Aber das war es noch nicht einmal, was es so entsetzlich machte. Was ihr diesen Schauer über den Rücken jagte. Es waren seine Augen. Der Blick. So leer. Leerer, als sie es je gewesen waren, während seiner Amnesie. Nicht mehr verängstigt, verzweifelt, traurig, wütend oder enttäuscht, nein. Geschlagen. Fix und fertig. Er mochte gewonnen haben, aber über seinen Sieg freute er sich nicht. Dann schaute er sie an. Ran holte Luft, wollte etwas sagen, aber er brachte sie mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln zum Schweigen. Hinter ihnen ging die Tür auf, ein orangeroter Lichtstrahl fiel auf den Gang, ihm direkt ins Gesicht, ließ ihn blinzeln. Yukiko Kudô trat heraus, sog scharf die Luft ein, als sie ihren Sohn sah, sagte aber nichts. Starrte ihn an, mit so viel Angst in ihren Augen, vor der Antwort auf ihre unausgesprochene Frage. Er nickte kaum merklich, schluckte schwer, schaute dann weg. Yukiko kniff die Augen zusammen, presste ihre Finger an die Lippen, unterdrückte ein Schluchzen. Dann trat sie näher, fasste ihrem Sohn ins Haar, zog ihn heran, gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist.“ Ihr Wispern war heiser, kaum zu verstehen, aber er hörte es dennoch. Hörte, wie aufgewühlt sie war, hörte auch, wie ernst sie diesen Satz meinte. Und hörte unsägliche Trauer, jetzt schon. „Es tut mir…“ „Schhhhht, Shinichi...“ Sie ließ ihn los, schüttelte den Kopf, strich ihm über die Wange, legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen, brachte ihn zum Verstummen. „Nein, Shinichi.“ Ihre Stimme klang seltsam belegt. Dann drehte sie sich um, stieg die Treppen ins erste Stockwerk hinauf. Shinichi, Heiji und Ran schauten ihr hinterher, bis sie verschwunden war. In ihr war ein ungutes Gefühl aufgekeimt. Die Tatsache, dass er allein hier war, dieser kurze, für Außenstehende kaum nachzuvollziehende Wortwechsel – sagte eigentlich alles. Yusaku Kudô war tot. Shinichi… „Wie ist das…?“ „Ran…“ Seine Stimme klang genauso niedergeschlagen, wie alles an ihm war. Sie starrte ihn an. Er schüttelte unwillig den Kopf, hob dann seine Hand, hielt sich die Stirn, als der Kopfschmerz sich zurückmeldete; nun, da sein Adrenalinspiegel langsam wieder bei Normalnull war, meldete sich sein Nervensystem mit aller Macht zurück. „Ich will darüber nicht reden. Und du solltest jetzt auch gehen, Ran.“ Dabei wollte er es eigentlich belassen. Er kniff die Lippen zusammen, wollte sich verziehen, wollte ihn vergessen, diesen Tag, irgendwie. Wollte alles wieder vergessen, sehnte sich zurück in diesen seltsam schwerelosen Zustand seiner Amnesie. Erschöpfung breitete sich aus in seinen Gliedern, er hätte umfallen können, gleich hier. Umfallen und nie wieder aufwachen. Rans Blick haftete auf ihm, fassungslos. „Du musst darüber reden. Irgendetwas ist doch passiert, ich seh das doch…“ Er drehte sich um, sah sie an. In seinen Augen lag ein seltsam starrer Blick, den sie bei ihm noch nie gesehen hatte. „Da irrst du dich, Ran. Ich muss gar nichts.“ Sie sah, wie er schluckte. Ahnte, dass es ihm schwerfiel. „Gar. Nichts. Muss ich. Und ich wiederhole mich ungern; geh nach Hause, Ran.“ Heiji schluckte, schaute stumm der Szene zu, ahnte, was hier vorging. Er wusste, es brachte nichts, sich einzumischen; Shinichi brauchte Ran jetzt wie nie zu vor. Und gleichzeitig wusste er, dass er das nicht einsah. Nicht heute. Shinichi wollte sich wieder umdrehen und sich endlich einsperren in seinem Zimmer. Oder im Bad. Einfach weg von allen, eine Tür zwischen sich und den Rest der Welt bringen. Er fühlte sich nicht gut dabei, sie einfach stehen zu lassen, aber besser das, als ihr sein momentanes Ich anzutun. Ihr je wieder sein Ich anzutun. Sie merkte, wie ihre Augen zu brennen anfingen, wie ihr Herz immer schneller, immer heftiger gegen ihren Brustkorb schlug, und wusste, was es antrieb, war die Angst, ihn zu verlieren. Dann streckte sie die Hand aus, griff seinen Kragen, zog ihn zu sich. Sie ignorierte, dass er zurückwich, sich ihr entziehen wollte; er hatte nach ihren Handgelenken gegriffen, wollte ihre Finger lösen, aber schaffte es nicht. „Lass mich los!“, zischte er, versuchte weiter, ihre Finger auseinander zu biegen, sie von sich wegzudrücken. Sie hielt ihn fest, klammerte sich an ihn, ungeachtet der Tatsache, dass sie damit ihre Kleidung durchnässte. Dann stieß er sie endlich doch von sich, atmete schwer. Ran taumelte zurück, schaute ihn erschrocken an. Er hatte die Augen zusammengepresst, und sie konnte sehen, wie es über ihn hereinbrach. „Lass mich in Frieden! Warum verstehst du das nicht, ich will…!“ All das Elend, all der Schmerz, das Leid, und die Qualen sich seiner bemächtigten. „Du musst…“, begann sie starrsinnig, ihre Aufforderung zu wiederholen; ihre Stimme war laut geworden. „Nein, muss ich nicht. Und ich möchte, dass du gehst, Ran, ich wiederhole mich ungern, und ich diskutiere nicht. Jetzt. Ich will, dass du gehst!“ Ran starrte ihn an. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte ihn aus seiner Reserve locken wollen, sie wollte da sein, wollte nicht, dass er damit allein war. Was auch immer es war. Offenbar wollte er genau das. Und er erlaubte keine Widerrede. „Verschwinde, Ran… ich bitte dich. Es ist nett, dass du gewartet hast, jetzt bin ich hier – du kannst also gehen… und du brauchst auch nicht wieder zu kommen.“ Sein Atem ging heftig, er biss sich die Lippen blutig, schlang seine Hände um seinen Oberkörper, schaute auf den Boden, als er sprach. „Ich muss allein sein, Ran. Ich will jetzt keinen hier haben, erst Recht nicht… dich. Du musst gehen. Ich will - ich will, dass du gehst.“ Seine Stimme klang gefasst. „Aber…“ „Kein aber.“ „Shinichi…!“ „NEIN!“ Er holte Luft, versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen, merkte doch, wie er zitterte, weil die Situation in überforderte, einmal mehr an diesem Abend. „Nein. Ran. Ich will, dass du gehst, dass du verschwindest. Ich werde dich nicht noch einmal bitten. Ich… ich hab viel zu viel erlebt heute, viel zu viel… getan, als dass ich…“ Er brach ab, als die Tür ein weiteres Mal aufging und sich vier kleine Gestalten, gefolgt von einer großen, in die Eingangshallte drängten. Shinichi schluckte, versuchte, sich zusammenzureißen. Die Kinder schauten ihn mit großen Augen an, in Ayumis Gesicht stand deutlich ein Hauch von Angst zu lesen. Ais Gesicht war schwer zu deuten, wie eh und je. Sie starrte ihn mit einem Blick in ihren Augen an, vor dem er sich seltsam nackt fühlte. Und irgendetwas sagte ihm, dass sie als einzige sofort ahnte, was er getan hatte. Wer er nun war. Ein Mörder. „Hi.“ Seine Stimme klang auf einmal unerwartet heiser. Er räusperte sich, warf dem Professor einen unsicheren Blick zu. „Was macht ihr hier?“ Ja. Jetzt war seine Stimme wieder sehr viel gefasster. Gut so, Kudô… „Wir haben nach dir gesucht. Und dann hier gewartet.“ Mitsuhiko hatte als erster seine Sprache wieder gefunden. Kein Wunder, dass sie sprachlos sind. Ich muss verheerend aussehen…wie aus einem Horrorfilm ab 18, nichts für kleine Kids. „Das ist… nett von euch. Nun, ich bin ja… jetzt wieder da. Ihr könnt also beruhigt nach Hause gehen.“ Ran schluckte, starrte ihn an. Seine Gesichtszüge waren gefasst, seine Stimme wackelte kaum, sogar ein kleines Lächeln brachte er zustande. Es war unglaublich, was für eine Kontrolle er über sich selbst hatte. Was für ein exzellenter Schauspieler er war. „Geht es… geht es deinem Papa gut?“, fragte Ayumi leise, und dieser Satz brachte ihn kurz ins Wanken, ließ seinen gesetzten Gesichtsausdruck kurz flackern wie eine Glühbirne mit Wackelkontakt; kurz sah man den Abgrund, der sich hinter der Nebelwand auftat, tückisch und tödlich für den unerfahrenen Wanderer, der seine Hand vor Augen nicht sah. Dann kniete er sich nieder, langsam, bis er auf Augenhöhe mit dem kleinen Mädchen war. Schluckte, schaute kurz zu Boden, ehe er in ihr junges Gesichtchen sah. „Ich fürchte, nein, Ayumi.“ Shinichi holte Luft. „Er… er ist tot, weißt du. Wir… wurden verfolgt, es wurde geschossen und er hat… hat sich vor mich gestellt. Er ist… er ist gestorben, für mich…“ Und dennoch war es sinnlos, Vater. Du hast es nicht verhindern können… Ran neben ihm wurde eine Spur blasser. Langsam atmete er aus, merkte, wie es langsam viel zu viel wurde, seine Augen brannten, eine Träne ihm über die Wange rollte. Er hob die Hand, wollte sie wegwischen, aber Ayumi kam ihm zuvor, strich sie ihm aus dem Gesicht. Dann beugte sie sich vor, umarmte ihn kurz, zart, es fühlte sich an wie ein Lufthauch, der ihn kurz streifte, dann stand sie wieder vor ihm, in ihren Augen eine Trauer, die er bei so einem kleinen Kind nie für möglich gehalten hätte. Tränen begannen über ihre Wangen zu laufen, ihre Unterlippe bebte. Mein Gott, das ist grausam… Er schüttelte sacht den Kopf. „Nicht doch. Ayumi.“ Shinichi wisperte den Namen nur, strich nun ihr mit dem Daumen vorsichtig die Tränen aus dem Gesicht, hob ihr Kinn ein wenig an, versuchte, sie anzulächeln, mit all der Wärme, die er noch aufbringen konnte. „Nicht weinen, Ayumi… es ist schon gut. Hörst du?“ Sie schluckte schwer, nickte tapfer. Langsam stand er wieder auf. Agasa schaute ihn mit betroffenem Gesichtsausdruck an; in seine Augen schlich sich ein Ausdruck von Trauer und Schmerz. „Yusaku ist… ist… tot...?“ Shinichi nickte nur. Dann schluckte er. „Ich… erzähl Ihnen die Geschichte, wenn Sie sie hören wollen, aber nicht heute. Nicht… ich… kann darüber nicht reden, jetzt. Sie sollten wirklich gehen.“ Der alte Mann starrte ihn nur an, dann nickte auch er, führte die Kinder nach Hause. Er konnte Ais Blick noch lange in seinem Rücken spüren. Erst als die Tür zugefallen war, sprach sie wieder. „Shinichi…“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hab das ernst gemeint. Du solltest auch gehen. Und wie gesagt, am besten kommst du nie mehr wieder. Ich bin fertig, ehrlich. Ich kann nicht mit dir zusammen sein, es tut mir auch leid, aber ich… bin nicht der Richtige für dich und ich… ich will dich…“ Shinichi schluckte, schaute sie verzweifelt an. „Ich will ich nicht noch mehr verletzen, also bitte, bitte geh doch endlich. Verschwinde.“ Seine Stimme wurde drängender. Ran schüttelte vehement den Kopf. „Hör doch auf!“ Sie schrie ihn an, griff nach seinem Arm, krallte ihre Finger in den Stoff. Laut hallte ihre aufgebrachte Stimme durch die Eingangshalle. Shinichi versuchte, ihre Finger zu lösen, und schaffte es nicht – und das machte ihn rasend. Er ertrug ihre Nähe nicht. „Du hast doch keine Ahnung…!!!“ Er schrie sie an, würgte. „Hau endlich ab, zwing mich nicht dazu, dich…“ „Das wagst du nicht!“ Er schloss die Augen, atmete langsam aus. Ran spürte den Lufthauch auf ihrem Gesicht, erschauderte unwillkürlich. Sie starrte ihn an, sog scharf die Luft ein. Sie ahnte, was kommen würde. Es hatte kommen müssen. „Ich bin der Sohn eines Mörders, Ran… und ich… ich…“ Er brach ab. Das geht nicht. Ich kann nicht. Dir das zu sagen, dass… Langsam wandte er sich ihr zu, in seinen Augen eine Hoffnungslosigkeit, die sie bei ihm noch nie gesehen hatte. Seine Züge waren schmerzverzerrt. „Bitte, glaub mir, ich musste heute Dinge über mich erfahren, die ich lieber nie erfahren hätte. Und mir ist… klar geworden, dass ich nicht der Richtige bin für dich. Mit jemandem wie mir sollte so jemand wie du dich nicht abgeben. Ich will…“ „Was meinst du damit, jemand wie du…?“ Er unterbrach sie, hörte ihr gar nicht zu. Seine Stimme klang sehr ernst, fast aggressiv. „Ich will, dass du gehst. Und du solltest nicht wieder kommen.“ „Vergiss es.“ Ihre Stimme war kaum mehr als Wispern, aber nicht minder entschlossen, fast schon herausfordernd. „Das kannst du nicht von mir verlangen, und ich werd‘s auch nicht tun. Ich lass nicht zu, dass du dich gehen lässt. Dass du dich diesen falschen Vorstellungen von dir selber hingibst. Du bist kein Mörder. Merk dir das, Shinichi Kudô.“ Die Selbstbeherrschung fiel ihm langsam aus dem Gesicht - sie konnte richtiggehend zusehen, wie diese Fassade langsam abbröckelte. „Das kannst du nicht wissen.“ Seine Stimme klang gespenstisch; nie hatte sie ihn so reden gehört. Ran erstarrte, schaute ihn an, und wusste, dass sie dieses Bild seines Gesichts nie wieder vergessen würde. „Ich bin ein Mensch mit freiem Willen, und mein Wille ist, bei dir zu bleiben, wer auch immer du bist, solange Shinichi Kudô noch da ist. Und das ist er. Versuch nicht, mir was anderes weis zu machen, ich weiß es besser. Du bist immer noch da. Immer noch der, der du warst. Du standest vor Entscheidungen, und hast sie getroffen. Und auch wenn du dich dafür verabscheust, es waren die Richtigen. Du wirst das jetzt Zeit deines Lebens mit dir rumschleppen, es wird dich zeichnen, keine Frage-“ Er schüttelte den Kopf, heftig, versuchte nun doch, ihre Finger aufzubiegen, damit sie ihn endlich losließ. „… aber es macht dich nicht aus.“ Er starrte sie wütend an. „Hör doch auf! Bitte! Ran, du hast doch verdammt nochmal keine Ahnung! Hörst du?! Lass mich endlich in Frieden, und geh. Du weißt nicht, was passiert ist.“ Er schluckte, senkte den Blick. „Dann sag es mir! Wirf mir nicht immer vor, dass ich nichts wüsste, wie soll ich etwas wissen, wenn du es mir immer verschweigst, verdammt!“ Sie starrte ihn an, vorwurfsvoll, biss sich auf die Lippen. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, küsste ihn sacht, kurz und fühlte, wie er zurückwich. Sie schluckte, lächelte traurig. „Ich liebe dich, das weißt du. Ich werde nicht gehen.“ Ran sah, wie er unter ihren Worten zusammenzuckte, sich dazu zwang, nicht aufzuschauen, merkte, wie es in ihm rumorte. Er kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf. „Sag doch so was nicht…“ Shinichi hob die Hand, strich sich über die Stirn, schaute dann auf, sah sie an. Diese Kapitulation, diese Niedergeschlagenheit in seinen Augen machten sie fertig. In ihr schrie alles auf, drängte sie zu ihm, sie wollte ihm helfen, unbedingt, jetzt gleich… Dann hörte sie ihn tief Luft holen, hörte ihn sprechen, leise, seine Stimme kaum lauter als ein Wispern. „Schön, wenn du nicht gehen willst, dann gehe ich.“ Damit ließ er sie stehen, stieg die Treppe hoch. Ran starrte ihm hinterher, in ihren Augen brannten die ersten Tränen. Sie warf Heiji, der an ihr vorbeischritt und seinem besten Freund hinterhereilte, einen fragenden Blick zu. Er schüttelte nur den Kopf, stumm. Er konnte sehen, wie verletzt sie war. Aber er konnte auch Shinichi verstehen, dass er sich jetzt mit ihr nicht auseinandersetzen konnte. Dass er sich zu… schlecht fühlte, zu böse, zu besudelt mit anderer Leute Blut, um mit ihr zusammen zu sein. Diesem Engel. Kapitel 52: Kapitel 34: The day after -------------------------------------- Tja, Leute… ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber sicherlich nicht das. Lange, lange hab ich überlegt, ob ich diesmal bis zum Äußersten gehe, Shinichi den Schritt in den Abgrund tun lasse und ihm dann beim Fallen zuschaue; nachdem es eine Version gab, in der ich ihn nicht hab schießen lassen, da dachte ich, es wäre wieder eine feige Lösung, als würde ich mich drücken, um etwas, worauf die ganze Geschichte rausläuft. Also ging ich aufs Ganze und schrieb es um… und nun hat ers getan. Eigentlich dachte ich, das sorgt für mehr Zündstoff. Ihr wisst, ich habe nie nach Kommentaren gefragt, weils ne freiwillige Sache ist, einen zu hinterlassen. Andererseits wissen es viele von euch, die selber schreiben – Kommentare sind eine wertvolle Rückmeldung des Publikums für jeden Autor. Das mal nur am Rande. So… und jetzt geht’s darum, zu sehen, ob unserem lieben Protagonisten noch zu helfen ist. Die Silberkugel hat eingeschlagen, im wörtlichsten Sinne - sehen wir mal, was der Engel noch leisten kann. Beste Grüße und viel Spaß beim Lesen. _______________________________________________________________________________________________ Kapitel vierunddreißig: The day after Er wusste nicht, wie er ins Bett gekommen war. Er wusste nur, dass er fix und fertig war, immer noch. Dennoch erschien ihm im ersten Moment der gestrige Tag wie ein Traum, als er die Augen aufschlug, und vanillefarbene Muster auf seiner Zimmerdecke sah, die die aufgehende Sonne mithilfe der Spitzengardine als Schablone produzierte und den frischen Geruch des Morgens roch, der durch das gekippte Fenster quoll. Er spürte warmen Stoff an seinen Fingern und eine tiefe Ruhe in sich, atmete tief durch. In diesem seligen Moment zwischen Wachen und Träumen, in dem die Gedanken noch schlafen, die Sorgen noch tief im hintersten Winkel des Schädels verborgen liegen, blinzelte er nur in die langsam aufgehende Sonne, die sich vor seinem Fenster zeigte, und dachte einfach an nichts. Im nächsten Moment überfuhren ihn seine Gedanken wie ein Schnellzug. Schmerzerfüllt stöhnte er auf, als sein Kopf unter der Belastung zu pochen anfing, hob die Hände, presste sie auf seine Augen. Davon wiederum wachte Heiji auf, kämpfte sich von seiner Luftmatratze auf dem Boden hoch, schaute ihn an. Shinichi hob eine Hand von seinen Augen, als er es rascheln hörte. Kurz trafen sich ihre Blicke – ein Blick, der Heiji schaudern ließ; ein Blick, der ihm einen Abgrund zeigte, wie er ihn von einer solchen Tiefe, einer solchen Finsternis, nie in einem Menschen vermutet hätte. … und blickst du in den Abgrund, so blickt der Abgrund auch in dich. Dann verging der Moment. Leise stöhnend stand Shinichi auf, stieg wortlos über Heiji und die Luftmatratze hinweg, wankte ins Badezimmer. Nichts gab Zeugnis vom vergangenen Tag ab. Er roch sauber, stellte er fest, als er sich sein Pyjamahemd über den Kopf zog - also war er gestern wohl noch duschen gewesen; seine Kleider lagen sicher schon im Mülleimer vor der Tür. Er drehte den Wasserhahn auf, hielt seinen Kopf unter den Strahl. Das Wasser war eiskalt; aber es störte ihn nicht. Im Gegenteil. Dann merkte er, wie eine Hand ihn an der Schulter packte, vom Waschbecken wegzog. Er schaute in Heijis aufgebrachtes Gesicht. „Willste dich ersäufen?“ Shinichi seufzte leise, griff nach einem Handtuch. Heiji verdrehte die Augen. „Kudô…“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf, krallte seine Finger ins Handtuch, so fest, dass der Stoff leise knirschte. „Lass mich in Ruhe, ich bitte dich. Du kannst mir nicht helfen. Ich will auch keine Hilfe.“ Der Osakaer Oberschüler schüttelte verständnislos den Kopf, sah seinen Freund streng an. „Das is mir egal, das weißte. Ich geb dir fünf Minuten. Länger solltest du fürs Zähneputzen und Anziehen nicht brauchen. Kommst du in der Zeit nicht runter, komm ich rauf.“ Shinichi erwiderte nichts; Heiji warf ihm einen warnenden Blick zu, verließ dann das Badezimmer. Shinichi schluckte, drehte sich um, fand sich seinem Spiegelbild direkt gegenübergestellt. Ein eisiger Schauer kroch aufreizend langsam seinen nackten Rücken hinab. Unwillkürlich fasste er sich an die dünne Schnittwunde am Hals, zog die feine rote Spur mit einem Zeigefinger nach. Sein Blick verlor sich, als sich in seinem Kopf wie in einem Film der gestrige Abend abspulte. Er spürte das Gewicht der Waffe in seinen Händen. Hörte den Schuss, spürte den Rückschlag, der gegen seine Mittelhandknochen schlug und über sein Ellenbogengelenk bis in seine Schulter kroch, roch den Rauch. Und hörte ihn lachen. Herzlich willkommen in der Organisation, Armagnac! Irgendwo in seinem Kopf brannte eine Sicherung durch. Shinichi schrie auf, holte aus, ließ seine Faust mitten in sein Gesicht krachen. Herzlich willkommen… Es klirrte laut, als der Spiegel zu Bruch ging. Blitzend und glitzernd fielen sie zu Boden, ein Regen aus Splittern, die auf den Boden prallten und zerbarsten, Bilder, die zu Scherben zersprangen, kaputt, zerstört... Er sah sie wie in Zeitlupe fallen und fand den Anblick beinahe schön. Dann setzte sich die Zeit schlagartig in gewohnter Geschwindigkeit fort - Schmerz vom Aufprall schoss durch seine Knöchel in sein Handgelenk, dumpf; gefolgt vom scharfen Brennen der Glassplitter, die durch seine Haut schnitten. Blut lief in dünnen Rinnsalen über seine Hand, rann über seine Finger, sammelte sich an den Fingerspitzen und tropfte zu Boden. Scharf atmete er aus, biss sich auf die Lippen, um nicht zu schreien, starrte auf den Boden in sein tausendfach zersplittertes Spiegelbild und fand sich zum ersten Mal seit Langem darin wieder. Es war fast gespenstisch still im Haus. Unten hörte man ein leises Rumpeln, herannahende Schritte, aber außer diesen Geräuschen war nur sein eigener, keuchender Atem zu vernehmen. Seine Brust hob und senkte sich heftig, sein Blick war absolut leer, starr, ausdruckslos. Den Schmerz schien er nicht zu spüren; er schien unterzugehen in ganz anderen Qualen. Diese Stille. Diese unterdrückte Wut. Es vergiftete ihn, diese Frustration, diese Ohnmacht, fraß ihn von innen her auf. Langsam schloss er die Augen ließ den Kopf nach hinten sinken, als seine Knie nachgaben, er zusammensackte, mit den Händen in die Scherben griff, als er sich abfing. Er öffnete den Mund, ein lautloser Schrei verließ seine Lippen. Dann ging die Tür auf, Heiji stürzte ins Bad. „Shinichi!“ Bestürzt schaute er seinen Freund an, merkte erst dann die Zerstörung im Badezimmer. Der Osakaer stieg vorsichtig über die Scherben, griff ihm dann von hinten um den Bauch, zerrte ihn hoch. Hinter ihnen betrat Yukiko das Zimmer. „Shinichi...“ Yukiko ließ das Wasser an, hielt seine verletzte Hand unter den Strahl. Die Wunde war glücklicherweise nicht sehr tief, schien aber trotzdem weh zu tun, wie sie daran sehen konnte, dass er das Gesicht verzog. Kurz warf die Schauspielerin einen Blick auf ihren zerstörten, großen Spiegel, dann wandte sie sich wieder ihrem Sohn zu, der langsam aber sich wieder zu sich zu kommen schien. Und so versuchte sie es noch mal. „Shinichi?“ Der Angesprochene reagierte langsam; blinzelte sie an, begriff dann Stück für Stück das Ausmaß der Zerstörung, die er angerichtet hatte. „Entschuldige.“, murmelte er leise, ließ seinen Blick zum Spiegel schweifen. „Entschuldige, Mama... Ich... ich werd‘ dir selbstverständlich den Spiegel...“ „Lass gut sein.“ Sie stellte das Wasser ab, griff nach einem sauberen Handtuch, wickelte es straff um Shinichis Hand. Dann strich sie ihm über die Schläfe, merkte, wie er zusammenzuckte. Suchte nach einer Erklärung für sein Verhalten in seinem Gesicht, und fand doch nichts außer unterdrückte Qual und Schmerz. „Shinichi, was ist passiert, gestern…?“ „Ich will nicht darüber reden.“ Seine Stimme klang sachlich; nur kurz schaffte er es, ihren forschenden Blicken stand zu halten, ehe er seinen Kopf abwandte. „Shinichi.“ Yukiko seufzte, ihre Augen huschten von Heiji zu ihrem Sohn und wieder zurück. „Sollte nicht einer von euch langsam reden? Wie lange denkst du, kannst du so weiter machen? Du sahst gestern schrecklich aus, das war nur natürlich… aber heute sehe ich, dass noch viel mehr dahinter steckt, als ich gestern ahnte.“ Sie schaute ihn an, intensiv, suchte seinen Blick, fand ihn, hielt ihn fest. „Shinichi, ich bin deine Mutter, mir kannst du…“ Shinichi blinzelte, atmete schwer, kniff dann die Augen zu. „Nein.“ Sie warf ihrem Sohn einen besorgten Blick zu. Dann wandte sie sich zu Heiji um. „Schön. Dann sag du’s mir. Was ist passiert? Was ist los...?“ „Gar nichts!“ Shinichis Stimme schnitt durch die Luft wie ein Peitschenhieb; er starrte Heiji an, sein Gesicht war kreidebleich, seine Faust um das Handtuch geballt. „Ich... hab nur die Nerven verloren, das ist alles. Kommt nicht wieder vor.“ Ihm wurde heiß, die Hitze stieg ihm zu Kopf. „Das ist nicht wahr, und das weißt du.“ Yukikos Stimme war leise geworden. „Ich hab deinen Vater verloren. Ich will nicht dich auch noch verlieren. Sag mir, was passiert ist, damit ich dir helfen kann!“ Er schaute sie an, öffnete seine Lippen. Für einen Moment sah es so aus, als würde er nachgeben. Dann schloss er seinen Mund, presste seine Kiefer aufeinander, verließ das Badezimmer. Mir ist nicht zu helfen… Heiji schluckte, schüttelte den Kopf, als Yukiko ihn mit hochgezogener Augenbraue ansah. Gleichzeitig wunderte er sich, wie sie so zerbrechlich und blass aussehen konnte, offenbar so sehr trauerte um ihren Mann, und gleichzeitig so stark und unnachgiebig sein konnte. Den Blick, den Shinichi aufsetzte, um Antworten von seinen Zeugen zu bekommen, hatte er ganz offensichtlich von seiner Mutter. Aber egal, wie lang se mich so ansehn, Frau Kudô, ich werd‘ nichts sagen. „Zwingense mich nicht dazu, ihn zu verraten. Er is mein bester Freund. Er muss es selber sagen können, erst dann wird ihm zu helfen sein.“ Yukiko schüttelte den Kopf, ging dann ihrem Sohn nach in die Küche, wo sie seine Hand verband. Nach dem Frühstück, das im Großen und Ganzen aus einer Tasse Kaffee bestand – im Kleinen und Halben bestand sie aus einer nachtschwarzen Tasse Kaffee ohne Zucker – machten sich die beiden Oberschüler auf den Weg ins Präsidium. Professor Agasa stellte sich als Chauffeur bereit; Shinichi, der ohne ein Wort im Fond Platz nahm, begrüßte er mit einem verzweifelt freundlichen Lächeln. Ihm war der Zustand seines guten Freundes nicht vergangen. Und ihm dämmerte langsam, dass der Tod seines Vaters nicht allein verantwortlich dafür war. Kurz warf er einen Blick aus dem Fenster zu Ai, die an der Haustür stand; der Blick ihrerseits, den sie ihrem Freund zuwarf, war für Agasa ein guter Indikator dafür, dass man ihm hier lange nicht alles erzählt hatte. Er war durch und durch finster – vor Angst und Sorge. Heiji nahm neben ihm Platz, seufzte. Er warf einen Blick zu Agasas Haustür, wo Kazuha hinter der kleinen Grundschülerin stand und winkte. Er hob die Hand zum Gruß, lächelte ihr müde zu. In Megurés Büro war alles totenstill, als sie es betraten. Sowohl Meguré selbst als auch Jodie und James Black waren anwesend; Shuichi war, soweit er wusste, immer hoch beim Professor, aus welchem Grund auch immer. Neben Shinichi betrat allerdings nur Heiji das Zimmer. Der Professor wartete draußen. „Also gut.“ Der Kommissar räusperte sich unwillkürlich; ein kurzer Laut, jedoch unwirklich laut in der Stille des Raums. Ihm war die Situation sichtlich unangenehm; der Zustand, in dem Shinichi sich befand, war an ihm keinesfalls vorbeigegangen. „Dann… erzähl mal, Shinichi. Langsam, von vorne, und der Reihe nach. Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst.“ Shinichi hob den Kopf, sah ihm in die Augen. „Setzen Sie sich besser.“, meinte er dann leise. Der alte Kommissar sah ihn an; dann nickte er Takagi zu, weitere Stühle wurden geholt, bis alle im kleinen Büro des Kommissars einen Sitzplatz hatten. Dann nickte er, langsam. „Also schön, fangen wir an. Ganz… von vorn.“ Er lächelte bitter. „Es begann vor etwa zwei Jahren. Ich hatte Ran versprochen, wenn sie Stadtmeisterin wird, würde ich mit ihr ins Tropical Land gehen… was soll ich sagen, sie hat gewonnen, also gingen wir dahin…“ So fing die Geschichte an. Sie sah es immer noch vor sich, deutlich, messerscharf. Sein Gesicht, diesen Blick in seinen Augen, diese Geschlagenheit in seinen Zügen. Diese Kapitulation. Diese Ratlosigkeit, wie er auch nur einen weiteren Tag überstehen sollte. Ai sah das alles. Sie wartete am Fenster, seit er losgefahren war, wie eine Katze, die im Winter nach draußen schaut, voller Sehnsucht an die Tage der Freiheit denkt, an wohliges in der Sonne liegen und an ausgedehnte Streifzüge – und sich scheut, auch nur eine samtige Pfote in den eisigen, nassen Schnee zu setzen. Ein tiefer Seufzer entfloh ihrer Kehle, abrupt gestoppt von der kühlen Fensterscheibe, die den Hauch ihres Atems in Form eines Filmes aus winzigsten Wassertröpfen auffing. Und durch diesen Hauch von Kondenswasser auf dem Glas sah sie jetzt die Haustür der Kudô-Villa aufgehen, und seine Mutter heraustreten, mit einem dünnen Plastiksack in der Hand, in der es gedämpft blitzte und blinkte. Eine Scherbe, die durch die Hülle stach, verriet, wie der Inhalt des Sacks beschaffen war. Spiegelscherben, Shinichi. Also erträgst du dein Spiegelbild immer noch nicht? Oder… nicht mehr? Was siehst du, wenn du in den Spiegel blickst… sagt er dir denn endlich die Wahrheit? Sie hörte, wie er hinter sie trat, wusste, dass er es war, ohne sich umzudrehen. Sie konnte den Umriss seiner schlanken Gestalt in der Scheibe erkennen, roch einen Hauch von kaltem Rauch. Akai. „Zerkratzt und schmutzig.“, murmelte sie dann leise. „Hm?“, machte er, stellte sich eben sie ans Fenster, mit dem Rücken gegen das Sims gelehnt, sah sie ruhig an. „Was einst rein und makellos war, ist seit gestern zerkratzt und schmutzig.“ „Du drückst dich sehr poetisch aus.“ „Nur, wenn mir danach ist.“ Nun hob sie doch den Blick. „Ihn…, meine ich. The silver bullet, wie Sharon ihn nannte. Eine silberne Kugel, rein, glänzend, makellos - sie ist nun… befleckt. Zerkratzt. Wie konnte sie auch unbeschädigt bleiben, nun, da sie ihr Ziel getroffen hat… jede Kugel, die ihr Ziel trifft, verformt sich, zerkratzt, wird… beschmutzt. Würde ein Romantiker sagen, und ein Ballistiker, aber nun, ich bin keine Romantikerin. Und auch keine Ballistikerin.“ Sie lächelte bitter. „Aber ich kenne niemanden, der ehrlicher, aufrichtiger, moralischer ist, als er. Er konnte sich immer in die Augen sehen, selbst als Conan; vor sich selbst hatte er nie etwas zu verbergen, seinen eigenen Anblick ertrug er immer, im Gegensatz zu mir. Seit heute, oder besser gestern, scheint er das nicht mehr zu können. Dafür… gibt es nur einen Grund.“ Sie schluckte, schüttelte dann den Kopf, drehte sich abrupt um. In ihren Augen spiegelte sich plötzlich unsägliche Wut und Anklage, und er fragte sich, wie sie es schaffte, ihre Stimmung so schnell kippen zu lassen. Lange darüber nachdenken konnte er aber nicht; sie ließ ihm nicht die Zeit dazu. „Wie konntest du zulassen, dass er das tun muss?!“ Anklage lag in Ais Stimme. Der FBI-Agent schaute sie ernst an. „Kannst du dich weniger kryptisch aus…-“, begann er sachlich. Sie schnitt ihm mit einer harschen Handbewegung das Wort ab; ein seltsames Schauspiel, für jeden Außenstehenden zweifellos unverständlich. Ein erwachsener Mann, ein FBI-Agent, der sich von einer Grundschülerin unterbrechen ließ. „Ich bitte dich.“ Sie lachte humorlos, rutschte vom Fensterbrett, verschränkte die Arme vor der Brust, merkte, wie in ihr immer mehr die Wut hochkochte. „Du weißt, wer ich bin, also behandle mich so. Ich bin weder ein Kind, noch blöd. Jeder, der es einmal selbst tun musste, gegen seinen Willen, kennt diesen Blick, und du weißt, auch ich…“ Sie brach ab, würgte fast, als sie versuchte, zu schlucken, um ihren Mund zu befeuchten, der auf einmal so unerwartet trocken geworden war – und es nicht konnte. Ein Zittern durchfuhr sie, schüttelte ihren kleinen kindlichen Körper kurz. „Er hat getötet, Shuichi. Gestern. Shinichi Kudô hat töten müssen, weil ihr nicht…“ „Er hat diese Entscheidung alleine getroffen.“, wisperte er leise. „Wir haben unser Bestes getan, um…“ „Dann war euer Bestes nicht gut genug!“ Sie keuchte, wunderte sich, dass sie derart schnell in Rage geraten war, ihre Brust hob und senkte sich rasch. Dann fasste sie sich wieder, wenn auch mühsam. Ihr Blick wanderte nach draußen, fing sich an der Person Yukiko Kudôs, die sich immer noch mit ihrem Müllsack abmühte. Ihre Augen waren leicht gerötet, ihr Teint blass, ihre Haare etwas zerzaust. Eine Frau, die gerade ihren Mann verloren hatte. Und wer wusste, vielleicht auch ihren Sohn. „Er hat jemanden umbringen müssen.“, stellte sie dann leise fest, schluckte hart. „Ja.“ Akai seufzte, strich sich über die Augen. „Es hat wohl keinen Zweck, das zu leugnen. Aber ich hoffe, du…“ Sie wandte ruckartig den Kopf, unterbrach ihn mit nichts weiter als einem scharfen, fragenden Blick. „Wen…?“ „Absinth.“ Ai starrte ihn an, fassungslos. „D- den - Absinth?“ „Ja.“ Akai seufzte, strich sich eine gelockte Haarsträhne zurück, die ihm in die Augen fiel - die einzige, der er ihren eigenen Willen ließ, während wie immer eine Mütze seinen Kopf bedeckte. „Den Absinth.“ Er lächelte säuerlich. „Sein Vater war tot, Sharon auch, Gin ebenfalls. Es war eine Entscheidung zwischen ihnen beiden, Leben oder Tod, sie fiel zu Shinichis Gunsten aus. Notwehr, ohne Frage. Zweifellos aber hat wohl auch Absinth nicht mit diesem Ausgang gerechnet, auch wenn es… ihn amüsiert hat.“ Akai zog eine Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche, puhlte einen Glimmstängel heraus und zündete ihn an, zog ein paar Mal daran, gedankenverloren. Er konnte ihn heute noch hören, und wusste, dass auch er ihn hörte, ihn seine Stimme verfolgte, wer wusste, wie lange… vielleicht sein Leben lang. Willkommen in der Organisation, Armagnac… „Zweifellos.“ Ais Blick verlor sich kurz. „Der Mann hatte eine Schwäche für die Launen des Schicksals…“ Leises Splittern dran an ihre Ohren, als Yukiko Kudô die Scherben in den Mülleimer schüttete. Ai schüttelte bedrückt den Kopf. „Ihr hättet auf ihn besser aufpassen sollen, nichtsdestotrotz.“ Akai lächelte kühl. „Er ist erwachsen, Shiho. Genauso wie du, wenn ich dich daran erinnern darf. Er hat die Entscheidung getroffen, weiterzuleben, und etwas dafür zu tun. Er hat entschieden, euch zu beschützen, mit allen Mitteln, die er zur Verfügung hatte. Nun muss er mit den Konsequenzen leben… er wird es müssen. Wer weiß, wie oft ihn das Leben vor diese Wahl stellt.“ Das kleine Mädchen schaute ihn ernst an. „Dennoch…! Er ist nicht der Typ, der so etwas leicht wegsteckt… auch nicht, wenn es in Notwehr war. Er wird es nicht mal als Notwehr sehen. Er sieht nur, was er getan hat. Bei sich selbst sieht er nie das Motiv, sucht nicht mal danach, er sieht nur die Tat.“ Akai seufzte, zog ein weiteres Mal an der Zigarette, blies den Rauch in langen Schwaden gegen das Fenster, beobachtete, wie das kleine Mädchen neben ihm, Yukiko Kudô bei ihrem Kampf mit den Scherben. „Das ist allerdings ganz und gar allein sein Problem. Keiner wird ihm helfen können, es zu lösen.“ Yukiko Kudô ahnte das Schlimmste – auch wenn sie nicht so recht wusste, was dieses ominöse Schlimmste eigentlich war. So durch den Wind kannte sie ihren Sohn nicht. So labil. So selbstzerstörerisch. Und es machte ihr Angst. Und zum ersten Mal dachte sie darüber nach, was Sharon am Vortag gemeint hatte. War es das…? Diese Dinge, zu denen er gezwungen sein würde…? Was hast du damit gemeint, Sharon? Geistesabwesend bückte sie sich, um eine weitere Scherbe aufzusammeln, die sich mit ihrer scharfen Kante durch den Müllsack geschnitten und sich so den Weg in die Freiheit erkämpft hatte, um sie nun doch ihrem Bestimmungsort zuzuführen, als sie mit einer Kinderhand zusammenstieß. Zuerst erschrak sie – dann erkannte sie, dass es sich um eine kleine Mädchenhand handelte. Wenig später wusste sie auch, zu welchem Mädchen sie gehörte. „Ai.“, murmelte sie leise. Das Mädchen sah sie an, aus unergründlichen blauvioletten Augen wie immer. Es schockierte sie nicht mehr so sehr wie früher, diesen Blick einer Erwachsenen in diesem niedlichen Gesicht zu finden, aber dennoch rann ihr ein kalter Schauer über den Rücken; wenn auch kein ganz so kalter wie heute Morgen, als sie ihren desolaten Sohn im Badezimmer gefunden hatte, und in seine Augen geschaut hatte; anders als hier hatte sie dort nämlich gar nichts gefunden. Sie seufzte, nahm dankend die Scherbe an, die Ai für sie aufsammelte und warf sie in den Mülleimer. Dann wandte sie sich ihrem Überraschungsbesuch zu. „Falls du Shinichi suchst, er ist nicht hier, ich dachte…“ „Das weiß ich, danke.“ Ai verdrehte ihre Arme, fasste ihre Hände hinter ihrem Rücken, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Wolken. Tief atmete sie die kühle Morgenluft ein, dann wandte sie sich wieder der Erwachsenen zu. „War er das?“ Yukiko, die sich bereits umdrehen wollte, hielt inne. „Du weißt es doch, warum fragst du?“ Ai schluckte, seufzte leise. „Wissen Sie, warum er sein eigenes Spiegelbild nicht mehr ertragen kann?“ Die blonde Schauspielerin drehte sich nun vollends um. „Ich denke, ich hab eine gute Ahnung… auch wenn ich hoffe, dass sie sich nicht bestätigt.“ Nur das leise Ticken der Wanduhr war zu hören. Shinichi schluckte, fühlte die Blicke aller auf sich ruhen, fuhr sich unsicher mit schweißnassen Fingern durch die Haare. Er hatte ihnen erzählt, wie er Conan geworden war, was Conan herausgefunden hatte, wie er entführt wurde, was er in seiner Woche als Armagnac erlebt hatte. Hatte ihnen seinen Schlachtplan erläutert, die letzten Stunden seines Vaters. Das, bis zu dem Moment, an dem sie erwischt wurden. Dann hatte er inne gehalten, scheinbar unfähig, weiter zu erzählen, auch nur ein weiteres Wort zu äußern. Meguré war daraufhin aufgestanden, hatte ihm ein Glas Wasser besorgt, während Takagi seine Aufzeichnungen durchlas; Jodie und James Black sahen ihn nur schweigend an. Shinichi griff mit einem leise gemurmelten Dankeschön nach dem Wasserglas, trank einen Schluck und wunderte sich, wie schwer es schien, den Inbegriff von Flüssigkeit seine Kehle hinunter zu befördern. Er schüttelte den Kopf, unwillig. Jetzt sind wir schon so weit gekommen… nun bringen wir’s auch zu Ende. „Wir… standen also draußen, nur wir… vier.“, fuhr er schließlich fort, räusperte sich kurz. „Wie Sie sich denken können, hatten mein Vater und Absinth sich… einiges zu sagen. Noch dazu… nunja, ich war noch immer einigermaßen schachmatt, nur mein Vater hatte eine Pistole, und Gin und Absinth…“ Er seufzte. „Wie dem auch sei. Nach einigem Hin und Her entschloss sich Absinth, zuerst… mich…“ Shinichi brach ab, sammelte sich, schloss kurz die Augen. „Er zielte auf mich, drückte ab. Er hat mich nicht getroffen, weil mein Vater sich ihm ihn den Weg stellte. An der Verletzung ist er gestorben, etwas später, noch nicht gleich.“ Unwillig massierte er sich die Schläfen, starrte auf Takagis Hand, die fleißig mit dem Füller übers Papier kratzte, beobachtete sie, als er weiter sprach. „Es folgte eine weitere, recht sinnlose Konversation, da Absinth nicht unkommentiert lassen wollte, dass mein Vater sein Leben für mich geopfert hatte. Dann kam Sharon. Sie hatte auf Gin geschossen, der Einzige, auf den sie wohl freie Sicht hatte, allerdings hat sie ihn nur verletzt. Sie kam zu uns, und erst da sahen wir, wie schwer sie verletzt war; sie hätte die Nacht ohne medizinische Hilfe sicher nicht überlebt, schätze ich. Sie blutete aus einer ziemlich großen Wunde am Oberschenkel und hatte auch schon recht viel Blut verloren, sie… war so blass…“ Er hielt inne, sah ihre Gestalt im fahlen Mondlicht; ihr schwarzer Overall, hauteng sitzend, ihre Kniestiefel mit den schwindelerregend hohen Absätzen, ihr goldenes Haar, das im Licht des Mondes silbern schimmerte und diese roten Lippen in einem unglaublich weißen Gesicht. Schön, aber dem Tod näher als dem Leben. „Absinth hat sie erschossen.“ Er presste die Augen zusammen. „Dann knallte es ein zweites Mal, und Gin fiel… mein… Vater war ja noch bewaffnet und hatte die Gunst des Augenblicks genutzt. Dabei hat er mir… meine Waffe wieder zugesteckt, ich hatte es… zuerst gar nicht gemerkt. Sie steckte in meinem Hosenbund.“ Shinichi biss die Zähne zusammen, so fest, dass sie knirschten und sein Kiefer zu schmerzen anfing. „Absinth war… nicht sehr amüsiert, wie man sich denken kann. Er hat ihn weggezogen, ihm seine Pistole abgenommen, und dachte, es wäre jetzt zu Ende. Allerdings… war es das noch nicht. Da… fing es eigentlich erst an.“ Ran hatte miserabel geschlafen, wenn man den Zustand, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatte, überhaupt als Schlaf bezeichnen konnte. In ihren Gedanken sah sie immer nur sein Gesicht. Was ist passiert, Shinichi? Was ist nur geschehen, gestern, das dich so verändert hat…? Sie hatte gerade die Reste ihres Frühstücks abgeräumt; eine Scheibe kaum angerührten Toasts, eine halbleere Tasse Tee. Ihr Vater war in die Detektei gegangen, wohl weil er ahnte, dass sie allein sein wollte; allein mit sich und ihren Gedanken über ihn. Dann klingelte es an der Tür, und sie fuhr hoch, unwillig. Als ihr der Gedanke kam, dass es Shinichi sein könnte, beschleunigte sich ihr Puls. Als sie an der Tür ankam und öffnete, merkte sie ihren Irrtum. „Hallo Kazuha.“ Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit, so sehr sie sich auch mühte, sie zu verbergen. Kazuha trat ein, sah sie entschuldigend an. „Tschuldige, Ran. Aber Shinichi wird so schnell nich‘ kommen, er und Heiji sind aufs Revier…“ Ran horchte auf. „Ach so?“ „Ja.“ Kazuha nickte, schlüpfte aus ihren Schuhen und in die Pantoffeln, die Ran ihr vor die Füße stellte. „Ich schätz, in ein, zwei Stunden sind se wieder da. Ich dachte, ich komm dich besuchen, solange, Shinichi…“ „Sah schlimm aus, gestern.“ Ran seufzte. Kazuha drückte mit einem Fuß die Tür hinter sich ins Schloss. „Ja. Hat er dir…?“ „Erzählt, was passiert ist? Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Eher das Gegenteil. Möchtest du eine Tasse Kaffee, Kazuha? Ich hatte grad Tee, aber ich fürchte, ich brauch was Stärkeres.“ Sie lächelte müde. Kazuha nickte. „Gern! Und, äh… Ran…“ „Hm?“ Ran, die gerade den Weg in die Küche eingeschlagen hatte, drehte sich um, hielt inne. „Könnt ich mir wohl… dein Handy ausleihen? Heiji hat mir gestern ne SMS geschickt, und ich konnt se nich lesen, und…“ „Du willst ihn nicht fragen, was er geschrieben hat? Hat er dich denn drauf angesprochen?“ „Nein.“ Kazuha schüttelte den Kopf. „Nein, das isses ja. Er sah mich nur so grübelnd an, heut Morgen. Kann aber auch sein, dass er sich nur wegen Shinichi Gedanken gemacht hat.“ Ran zog ihr Handy aus ihrer Tasche, zog ihre SIM-Karte heraus und reichte es ihrer Freundin. „Tu dir keinen Zwang an, Kazuha.“ „Danke!“ Wenige Minuten später herrschte absolute Stille in der Küche der Môris. Kazuhas Hand zitterte so stark, dass das kleine Handy-Tag an Rans Mobiltelefon stetig zappelte. Ihre Augen waren starr auf das Display gerichtet, auf dem nur diese drei Worte zu lesen waren. Ran saß ihr gegenüber, wie zur Salzsäule erstarrt, seit sie den Inhalt kannte. Ich liebe dich. Sie wusste, sie sollte sich freuen, für Kazuha. Sollte mit ihr reden, darüber. Und gleichzeitig fühlte sie, wie in ihr alles leise zu schreien anfing, ihr Herz in Stück zerspringen wollte, weil es sie doch auch hören wollte. Nur endlich hören wollte, diese drei Worte, von ihm. Dann riss Kazuhas Stimme sie aus ihren Gedanken. „Ran? Is alles in Ordnung?“ Ran schüttele sich kurz, warf ihre Gedanken ab, wusste doch, sie würden wiederkehren, und schaute ihre Freundin an, zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. „Nein, aber das spielt keine Rolle. Du musst mit ihm reden, Kazuha!“ Sie zog ihren Stuhl neben den ihrer Freundin, griff nach ihrer Hand. „Du musst mit Heiji reden. Du… empfindest doch genauso wie er, oder?“ Die junge Frau aus Osaka nickte langsam. „Ja. Doch… aber das… kommt etwas überraschend, wenn ich ehrlich bin.“ Ran seufzte. „Es spielt keine Rolle, ob überraschend oder nicht. Ihr… solltet genießen und teilen, was ihr habt, bevor ihr es vielleicht nicht mehr könnt.“ Sie schluckte, biss sich auf die Lippen. „Shinichi.“, murmelte Kazuha. Ran nickte langsam. „Ich weiß es, weißt du. Alles was er tut, wie er mich ansieht, wie er mit mir redet und was er für mich aufgibt… das alles sagt mir deutlich, dass er mich liebt. Nur er – er tut es nicht. Er sagt es nicht. Und wahrscheinlich wird er es auch nicht mehr.“ Sie merkte, wie die Tränen über die Wangen liefen. „Ran…“ Kazuha sah sie an, ihre Augen voller Mitgefühl. „Irgendwas muss passiert sein, dass ihn… ich weiß auch nicht. Er…“ „Du musst mit ihm reden.“, warf Kazuha ein. „Du musst mit ihm in Ruhe reden, ihm sagen, was dich bedrückt, dass du dir Sorgen machst…“ „Ich habs doch versucht!“ Ran schniefte. „Ich habs versucht. Gestern. Ich will ihm auch helfen. Ich hab ihm versichert, ich lass ihn nicht allein. Aber er will nicht reden. Er sagt, er wäre nicht der Richtige für mich, und nicht mehr der, der er vorher war. Ich… aber ich… ich liebe ihn. Ich hab ihm das sogar noch einmal gesagt.“ Kazuha schluckte schwer. „Und er?“ Ein bitteres Lächeln schlich sich auf Rans Lippen. „Sag doch sowas nicht… das war es, was er gesagt hat. Dann ist er gegangen.“ „Ich wollte ihn nicht töten.“ Er sah auf, zum ersten Mal, schaute in Blacks Gesicht. Die blauen Augen des alten Mannes erwiderten seinen Blick, ruhig und freundlich. Shinichi schluckte trocken, spülte einen weiteren Schluck Wasser hinunter. „Ich dachte, es reicht, wenn ich ihm das dumme Ding aus der Hand schieße.“ Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Mein Vater hat mir das beigebracht, im Urlaub auf Hawaii. Ich kann ganz gut zielen, und ich hab auch diesmal getroffen. Er schrie auf, ließ die Waffe los, fiel hin. Und ich dachte, das wärs jetzt gewesen. Ignorierte die Warnung, die er mir mitgegeben hatte, Minuten vorher – dass nur sein Tod ihn davon abhalten könne, mich und alle anderen von diesem Planeten zu fegen.“ Er lächelte bitter. „Ich hab… mich also umgedreht, weil da immer noch… mein Vater lag. Und starb.“ Shinichi schnappte nach Luft, brach den Blickkontakt zu Black, starrte an die Decke und kämpfte sekundenlang um seine Fassung. Er gewann mit Mühe. „Ein dummer Fehler… sich umzudrehen und nicht nachzusehen, ob der Gegner wirklich unbewaffnet ist.“ Er krallte seine Finger in die Tischplatte. „Abgesehen davon… hätte er sich aber auch genauso gut Gins Waffe holen können. Oder die meines Vaters. Es lag… ja genug herum. Und er war ja nur an der Hand verletzt.“ Er biss sich auf die Lippen, sah wieder auf, ließ seinen Blick wandern, von einem zum anderen. „Den Rest kennen Sie. Er stand auf einmal hinter mir, mit einer anderen Waffe, und… ich wusste, diesmal entkam ich nicht, und auf ein weiteres Spiel würde er sich nicht einlassen. Ich hatte nur noch diese eine Chance, und deshalb… schoss ich. Diesmal aber nicht, um ihn nur zu entwaffnen. Er… ließ keinen Zweifel offen, dass er es nicht ernst meinte.“ Shinichi kniff die Augen zusammen. „Ich war am Ende, und allein. Mein Vater war gerade gestorben, und dieser Irre stand vor mir, mit einer Waffe, und erzählte mir, was er plante, mit mir, mit meiner Mutter, meinen Freunden, mit… Ran. Und ich wollte ihn aufhalten, irgendwie, und wusste, einfach nur die Pistole aus der Hand schießen reichte nicht, offensichtlich; er würde einen Weg finden, sein Ziel zu erreichen, dieses Versprechen kaufte ich ihm ab. Dennoch…“ Er schluckte hart. „… ich wollte ihn nicht töten. Und doch hab ichs getan.“ Als er geendet hatte, war es still im Raum. Eine kurze Weile kratzte Takagis Füller noch über das Papier, der mitnotiert hatte, was der junge Mann erzählt hatte; man hatte sich bewusst gegen das Tonband entschieden. Hier sollte bei weitem nicht alles ins Protokoll. Shinichi war blass, noch blasser, als er es ohnehin war, seit gestern. Meguré knetete seinen Hut mit beiden Händen, seine Augen waren unverwandt auf ihn gerichtet gewesen, seine Gedanken drehten sich beständig um eine einzige Frage. „Warum hast du uns nichts gesagt, Shinichi?“ Shinichi, der seine Fingerspitzen fixiert hatte, er die flach gegen die Tischplatte drückte, blickte auf, fasst verwirrt über diese banale Frage. „Zu gefährlich.“ „Aber du wusstest doch gar nicht, wer die sind, zu diesem Zeitpunkt…“ Shinichi schüttelte den Kopf, seufzte. „Nicht für sie… für mich. Ich… musste doch befürchten, dass sie hinter mir her wären, würden sie erfahren, dass ich noch lebe. Und dafür hätten sie andere angreifen können, die mir nahe stehen. Die… ewig alte Geschichte. Außerdem…“ Ein unerwartet zynisches Lächeln kreuzte seine Lippen. „Sie kennen mich doch. Überheblich, arrogant, selbstsicher und der Meinung, es mit allem und jedem allein aufnehme zu können. Ich… musste einige Lektionen lernen in den letzten Jahren.“ Damit stand er auf. „Sind wir… fertig?“ James Black sah ihn lange an, fuhr sich mit seinen Fingern über seinen Bart. „Fürs erste, ja.“ „Gut.“ Shinichi schob seinen Stuhl langsam unter den Tisch. „You must get over this, you know.“ Shinichi blickte auf, sah den alternden FBI-Agent ernst an. „Do tell me how to do it, and I will.” Er schüttelte den Kopf. „Sie sagen das, als ob’s so einfach wäre. Ich habe gestern einen Menschen umgebracht, und egal, wie schlecht er war als Mensch, egal wie sehr er den Tod verdient hat oder aus welchen Gründen ich es getan habe, ob ich es wollte oder nicht… er war ein Mensch, und ich hab… ihm das Leben genommen. Und darüber hinaus habe ich einen zweiten in den Tod getrieben, meinen eigenen Vater! Er hat das nur wegen mir getan, er wusste doch, wie die Geschichte enden würde, enden… musste. Erklären Sie mir, wie ich das so leicht wegstecken soll…“ „Als Polizist oder FBI-Agent wirst du das auch tun müssen…“, meinte Jodie nüchtern. „Woher wollen Sie wissen, dass ich einen dieser beiden Berufe anstrebe…?“ Der junge Mann seufzte tief, schaute kurz an die Decke, stopfte beide Fäuste soweit es ging in seine Hosentaschen, um sich etwas standfester zu fühlen, und merkte doch, dass es nichts half. „Was ich tun wollte, war Fälle zu lösen. Die Welt gerechter zu machen, die Wahrheit zu finden… stattdessen bin ich zum Mörder geworden.“ „Even Sherlock Holmes killed once – when he rid the world from James Moriarty.“ Shinichi hielt inne, nachdenklich. Black schaute ihn an, fest, machte es ihm unmöglich, den Blickkontakt zu brechen. „Du weißt, wie abscheulich Holmes das Töten fand… nevertheless, he did not refrain from pushing his archenemy down the falls of Reichenbach. And as we all now, though he would have welcomed it, he did not have to let his life as well. Genauso verhält es sich doch mit dir… man kann Absinth als kriminelles Genie bezeichnen, ein mastermind, ein Meisterverbrecher… wir werden erst im Laufe der Zeit sehen, was alles auf ihn zurückzuführen ist. Er war dein Erzfeind, auch wenn du seinen Namen lange nicht kanntest… und wie Holmes hast du ihn die Reichenbachfälle hinabgestoßen. Und wie Holmes, auch wenn du es wohl akzeptiert hättest, hättest du dein Leben lassen müssen, hast auch du dennoch überlebt.“ Shinichi schwieg lange, schaute unfokussiert auf die Tischplatte, dachte nach. Dann schüttelte er den Kopf, lächelte traurig. „You all don’t want to understand. As I told Mr. Meguré not long time ago… Sherlock Holmes is just fiction, Mr. Black. He had never to cope with a crime he committed.” Shinichi schaute James Black fest in die Augen. „Aber ich. Und ich weiß nicht, wie.“ Als er nach Hause kam, wartete seine Mutter bereits auf ihn. Neben ihr, halb versteckt, bemerkte er Ai, seufzte leise. „Danke, nein, ich will nicht reden, Ai. Allerdings… warte kurz.“ Er verschwand im Haus, kam kurz darauf wieder mit einer Festplatte in der Hand. „Die exakte Kopie der Dateien auf der Festplatte, die mit dem Gift zu tun haben. Die Festplatte selbst hab ich heute der Polizei übergeben. Ich hoffe, das hilft dir, was gegen… deinen Zustand zu tun. Auf jeden Fall… kannst du’s dir anschauen, aber sei so gut und hängs nicht an die große Glocke.“ Sie lächelte ihn bitter an. „Wer sagt dir, dass ich etwas ändern will?“ Shinichi schluckte, schüttelte dann kurz den Kopf. „Im Prinzip ist es mir egal, was du tust. Vielleicht hast du Recht, und ein Neuanfang ist das Beste. Diese… Entscheidung wurde mir ja abgenommen.“ Er zuckte mit den Schultern, unentschlossen. „Grüß den Professor von mir. Und sei so gut, nimm Heiji gleich mit rüber.“ Heiji, der bisher hinter ihm gestanden hatte, starrte ihn entrüstet an. „Sag mal, wirfste mich raus?“ Shinichi wandte sich um, schaute ihn an, ruhig. „Ich bitte dich zu gehen. Ich möchte gerne meine Ruhe haben, das ist alles. Du… verstehst das doch? Und so nervös…“ Ein leichtes, trauriges Lächeln huschte über seine Lippen, färbte seine Augen kurz dunkel und umwölkte seinen Blick. „… wie du den ganzen Tag schon auf dein Handy schaust, hast du mit jemand anderem ohnehin noch etwas zu klären.“ Der junge Mann aus Osaka schaute ihn überrascht an. „Du… bist wirklich ein Meister deines Fachs, weißt du.“ Shinichi sah ihn an, schüttelte den Kopf. „Wen interessierts. Bis später. Oder morgen. Oder wie auch immer.“ Damit schob er ihn aus der Tür, achtete darauf, dass Ai ihm folgte, deren Blick auf ihm haftete, bis er die Tür schloss. Gepresst atmete er auf. Dann drehte er sich um, unterdrückte ein leises Aufstöhnen, versuchte, sich seinen Unwillen nicht anmerken zu lassen, als er sich seiner Mutter zuwandte, die hinter ihm mit verschränkten Armen wartete. Er wollte allein sein, aber er wusste auch, dass es nicht nur um ihn ging. Seine Mutter hatte Schreckliches erfahren und erlebt, und es war seine Pflicht als Sohn, für sie da zu sein. Also zwang er sich ein Lächeln auf die Lippen. „Hallo, Mama.“ Yukiko sah ihn an, erschauderte. Dieses Lächeln, die Art und Weise, wie er sprach, sie ansah – in diesem Moment war er seinem Vater so ähnlich wie selten zuvor. Sie ahnte, woher das rührte – und das bestätigte sie in ihrem Vorhaben. Sie räusperte sich, verschränkte ihre Arme vor der Brust, schaute ihn starr an. Merkte, wie sich seine Haltung änderte, als ihm schwante, was die Stunde geschlagen hatte. Er schüttelte den Kopf, wich zurück. Yukiko nickte nur. „Doch. Wir müssen reden.“ Er sah sie gequält an. „Bitte Mama… kann das nicht noch warten, ich…“ „Nein. Wenn das noch länger wartet, ist es vielleicht zu spät für dich.“ Sie schaute ihn streng an; gleichzeitig sprach aus ihren Augen von der Sorge einer Mutter um ihren Sohn. „Dein Zustand gestern, die Sache mit dem Spiegel heute, die Art und Weise, wie du mich ansiehst… Shinichi…“ Yukiko schluckte. „Ich will dir helfen.“ Er lächelte matt. „Das wollen alle. Aber ich bezweifle, dass das jemand kann.“ Die Schauspielerin hob die Augenbrauen, trat vor. „Tja, das sagte schon einmal jemand. Und dreimal darfst du raten, was aus ihm geworden ist.“ Ihre Stimme klang scharf. Sie sah, wie ihr Sohn kurz zusammenzuckte, als die Erkenntnis ihn traf. „Vater.“, tonlos formten seine Lippen dieses eine Wort. Yukiko nickte langsam. „Er hat sich auch nicht helfen lassen… geglaubt, das allein zu schaffen. Du weißt…“ Shinichi hob die Hand, eine hilflose Geste, um sie zum Schweigen zu bringen, drehte sich weg, lehnte sich mit der Stirn gegen die Tür, als das Bild ihn überrannte; das Gesicht seines sterbenden Vaters. Hörte diese Worte, spürte noch einmal dieses unglaublich beängstigende und beklemmende Gefühl, das ihn gestern ergriffen hatte und ihn auch heute noch nicht völlig aus seinen Klauen entlassen hatte. Ein Kloß hatte sich in seinem Hals gebildet, und nur mit Mühe hielt er die Tränen zurück, diesmal. Presste sich die Handballen gegen die Augen und hielt den Atem an, um nur ja nicht die Beherrschung zu verlieren. Yukiko trat langsam näher, fasste ihn jedoch nicht an. „Eines Abends kam dein Vater nach Hause, Shinichi.“ Ihre Stimme war leise, klang etwas rau; die ersten Tränen, die sie noch unterdrückte, schwangen bereits in ihr mit. „Er war blass. Seine Augen irgendwie… gerötet. Ich hätte nicht gedacht, dass er geweint hätte… so sah er nicht aus. Aber in seinen Augen war etwas zu lesen, das ich bei ihm noch nie so gesehen hatte. Namenloses Entsetzen, Shinichi. Ich wusste nur nicht, worüber.“ Shinichi drehte sich wieder um, zögernd, schaute sie betroffen an, konnte ihren Anblick aber nicht lange ertragen; beschämt starrte auf den Boden. Yukiko strich sich über die Augen, hielt sich mit einer Hand an der Telefonkonsole fest. „Ich hab ihn gefragt, was los ist. Ob etwas passiert ist. Ob er einen Unfall hatte oder etwas Ähnliches.“ Shinichi räusperte sich. „Lass mich raten. Er hat nein gesagt.“ „Richtig.“ Sie sah auf, lächelte müde. „Er hat gesagt: Alles in Ordnung, Yuki, mach dir keine Sorgen. Ich bin nur etwas erschöpft von der Arbeit, das ist alles; die Verleger sitzen mir im Nacken, wie immer. Ich werde… heute bald im Bett sein, schätze ich. Ich liebe dich.“ Shinichi schluckte, sah sie an. Ihre Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. „Alles in Ordnung, Mama, mach dir keine Sorgen. Ich bin ziemlich erschöpft, wegen Vater, das ist alles. Ich werde heute bald im Bett sein. Hab dich lieb.“ Seine Stimme klang rau, emotionslos. Yukiko nickte, kaum merklich. „Mir rann es eiskalt den Rücken hinab, Shinichi. Als ich das hörte, gestern… und als ich heute diesen Spiegel…“ „Das ist nichts!“, unterbrach er sie schärfer als beabsichtigt, biss sich sogleich auf die Zunge. Yukiko starrte ihn an, in ihren Augen Unnachgiebigkeit und Sorge gleichermaßen, vereint zu einem Blick, der ihn schier zu durchbohren schien. „Er sah damals genauso aus wie du gestern. Wie du heute. Verkauf mich bitte nicht für blöd, Shinichi. Du hast gestern nicht nur deinen Vater sterben sehen. Dich… quält ein Dämon ganz anderer Art, und er wird dich auffressen, genauso wie er deinen Vater gekriegt hat. Wenn du ihn nicht loswirst.“ Er schüttelte den Kopf, hilflos. „Ich kann nicht.“ „Doch du kannst!“ „Nein!“ Er atmete heftig. „Versteh doch, ich kann nicht! Ich kann mir selbst nicht mehr in die Augen sehen, wie du ja… mitbekommen hast. Ich kann euch kaum in die Augen sehen, ich halte es nur mit Mühe aus, weil ich mich selbst nicht mehr ertragen kann. Ich will mich euch nicht zumuten, und ich kann euch das nicht sagen, das, was ich getan habe… ich…“ Yukiko lächelte bitter. „Dein Vater hat es mir nicht gesagt, bis gestern. Ich rate dir, warte nicht solange. Schon allein um ihretwillen nicht.“ Shinichi schüttelte den Kopf, unwillig, fast wütend. „Was denkst du nur… Glaubst du, es gäbe noch irgendeine Chance für Ran und mich nach gestern Nacht?!“ Er lachte hohl, ein gruseliger Laut in ihren Ohren. Er jedoch fuhr unbeirrt fort. „Ich komm mit mir selbst nicht klar, wie kann ich von euch erwarten, dass ihr es könnt. Wenn alle wüssten, was ich getan habe, wenn Ran wüsste… ich will gar nicht, dass sie mit mir zusammen sein will. Mit so jemandem wie mir… sollte man nicht zusammen sein. Ich gehöre auch gar nicht hierher, ich gehöre…“ Yukiko griff ihn an der Schulter, brachte ihn so abrupt zum Schweigen. Sie hatte genug gehört. Ihr Sohn stand vor ihr, die Hände fest in die Tür hinter seinem Rücken gekrallt, kämpfte sichtlich mit sich. Sie hatte ihn so noch nicht erlebt; wohl aber jemand anderen. „Du hast gestern jemanden umgebracht.“ Shinichi hielt abrupt inne mit dem Gemurmel, sich in das sein Selbstgespräch verwandelt hatte. Langsam hob er den Kopf, in seinen Augen unbändige Angst. Yukiko hob die Hand, strich über seine Schläfe, ließ sie auf seiner Wange liegen. „Das ist es doch, oder?“, flüsterte sie leise, ließ ihn nicht aus den Augen. „Ja.“ Das Wort kroch ihm förmlich über die Lippen, unendlich langsam, unendlich mühsam. In ihm schwang ein Ekel mit, eine Abscheu vor sich selbst, die sie Schaudern machte. „Wen?“ „Absinth.“ Shinichi schluckte, strich sich über die Augen, merkte, wie müde er eigentlich war. „Es waren nur noch… wir beide. Und er wollte nicht… wollte einfach nicht aufgeben. Er hielt mir seine Waffe vor die Nase und hat aufgezählt, was er mit euch macht, und mit mir, und da hab ich…“ „Aber das war Notwehr.“, bemerkte Yukiko. „Du hast dich verteidigt. Und uns. Das ist Notwehr, das sehen doch sicher…“ „Ja, das sagen alle.“ Shinichi stöhnte laut auf. „Deshalb bin ich auch hier, und nicht im Knast. Sie alle machen sich Sorgen und Vorwürfe und versuchen mir einzureden, dass das Notwehr war, dass ich nicht anders handeln konnte. Aber es fühlt sich an wie Mord, für mich, will ihnen denn das nicht in den Schädel? Und verstehst du nun… wie könnte ich… jemals wieder mit Ran zusammen sein? Ich bin nicht mehr der, den sie kannte. Der, den sie liebt. Ich… bin nun ein anderer. Jemand, der einen anderen Menschen getötet hat. Ich kann mich selbst nicht ansehen. Ich weiß nicht, was ich mit mir machen soll. Wie kann ich… von euch, gerade von Ran… erwarten, mit mir zusammen sein zu wollen. Sie soll doch glücklich sein…“ Seine Stimme klang gequält. „Aber das wird sie mit mir nicht.“ Damit drehte er sich um, ging in sein Zimmer. Er sollte es an diesem Tag nicht mehr verlassen. Und Yukiko wurde erst so wirklich klar, warum in Sharons Plan Ran so wichtig gewesen war. Angel. Kazuha war nur mit sehr viel Überzeugungskraft dazu zu bringen gewesen, das Haus zu verlassen und zurück zu Heiji zu gehen. Nun marschierte sie allerdings sehr zügig zurück nach Beika und wusste buchstäblich nicht, wo ihr der Kopf stand. Fakt war, sie musste das klären, jetzt gleich; später würde sie keine Zeit mehr haben, denn, wie sie feststellen musste, hatte nicht nur Heiji versucht, sie zu kontaktieren, sondern auch ihre Mutter. Und die forderte, wie sich herausstellte, die baldige Rückkehr ihrer Tochter, da diese offenbar vergessen hatte, dass sie ein Aikido-Turnier zu bestreiten hatte. Kazuha verzog das Gesicht. Heiji…! An der Haustür des Professors angekommen, stoppte sie. Unsicher betrachtete sie ihr Handy, das nun wieder keinen Mucks von sich gab, biss sich auf die Lippen. Heiji liebte sie. Und sie? Sie liebte ihn wohl auch. Aber das jetzt… eine Beziehung? Sie hatte doch keine Ahnung, wie man so etwas führte. Heiji und sie kannten sich, seit sie klein waren, sie waren… eine Zeitlang wie Bruder und Schwester gewesen. Sie waren wie Pech und Schwefel, Heiji war ihr bester Freund, jemand, auf den sie sich immer hatte verlassen können, immer verlassen können würde… ihr Leben lang, beließ sie es dabei. Es würde sich ändern, von jetzt auf gleich, wenn sie… jetzt ernst machte. Es würde sich ändern, vollkommen, und nie wieder werden, wie es gewesen war. Wie es jetzt noch war. Es lag in ihrer Hand. Wollte sie das wirklich? Dann ging die Tür auf; vor ihr stand dieser FBI-Japaner, Akai, wie fast immer mit einer Zigarette in der Hand, schaute sie mit seinen eisgrauen Augen an. Sie wurde rot, kam sich seltsam gläsern vor und steckte hastig ihr Handy weg; so hastig, dass sie ihre Tasche verfehlte und es zu Boden fiel, wo es sich zuerst mal in seine Einzelteile zerlegte. Kazuha fluchte, klaubte die Teile wieder auf und stopfte sie in ihre Tasche. Akai beobachtete sie stumm, lächelte ein schmales Lächeln. „Warum machen Sie einfach die Tür auf?!“, fuhr sie ihn dann erhitzt an, als sie sich mit hochrotem Kopf wieder aufrichtete, an ihm vorbeiquetschte. „Ich sah dich kommen, und da du momentan hier wohnst, war ich so verwegen anzunehmen, du willst rein.“, bemerkte er sachlich. „Mit Recht, offenbar.“ Sie drehte sich um, als sie sich ihre Schuhe auszog, indem sie auf die Fersen ihrer Schuhe trat, blitzte ihn ärgerlich an. „Jaja!“ Sie schlüpfte ungelenk aus ihrer Jacke, warf sie gegen den Garderobenhaken, der den Teufel tat, sie aufzufangen, sondern sie zu Boden fallen ließ, und hastete außer Sichtweite ins Wohnzimmer. „Also, wenn du diesen Eindruck auf alle Frauen machst, dann frage ich mich doch, was meine Schwester an dir finden konnte.“ Ai war im Kelleraufgang erschienen, sah ihn aus Halbmondaugen an. Akai lachte; es war das erste Mal, dass sie ihn lachen hörte. Dann griff er nach seiner Jacke, und verließ seinerseits das Haus. Das kleine Mädchen grinste; dann folgte es neugierig den lauter werdenden Stimmen mit heftigem Dialekt, die aus dem Wohnzimmer an ihr Ohr drangen. „Du liebst mich!?“ Kazuha war kaum durch die Tür, hinter der sie ihn, auf dem Sofa sitzend und eine wissenschaftliche Zeitschrift lesend, gefunden hatte. Hinter ihr erschien Ai, deren Grinsen immer breiter wurde. Er stand auf, trat auf sie zu, bedachte sie mit einem vernichtenden Blick von oben. „Was willste? Hast du nicht ne Festplatte, die du filzen musst?!“ „Nur die Ruhe.“ Ai hob die Hand, immer noch lächelnd. „Ich stör euch beiden Turteltäubchen schon nicht.“ Damit ging sie den Flur entlang und die Treppe hinab, aufreizend langsam. Heiji starrte ihr hinterher, verdrehte die Augen. Dann griff er Kazuha am Handgelenk, zerrte sie mit ins Wohnzimmer, um ungestört zu sein. „Musst du das so laut rausposaunen? Ich bin nicht taub!“ Er drückte sie auf die Couch, setzte sich neben sie. „Haste jetzt etwa endlich die SMS gelesen?“, fragte er unwirsch. Kazuha wurde rot, merkte, wie sie nervös wurde. „Ja… gestern war mein Akku leider leer.“ Sie kramte in ihrer Handtasche, fand die Handyeinzelteile und bekam den Akku zu fassen, hielt ihn hoch, einigermaßen konsterniert. Dann wandte sie sich ihrem Freund wieder zu. „Was is das überhaupt für ne Art! Sowas sagt man doch nicht per SMS!“ Er starrte sie an, merkte, wie sein Kinnladen langsam nach unten fiel, gefühlt bald den Teppichboden streifen würde. „Aa- also hör mal, du kannst froh sein, dass ichs dir überhaupt sage, ich meine…“, fing er an. „A-also… stimmt’s?“ Heiji verdrehte die Augen, merkte, fühlte, wie die Anspannung seinen Puls in die Höhe trieb. „Nein. Ich schreib dir sowas zum Spaß, weißte.“ Er verengte seine Augen zu Schlitzen. Kudô, du Idiot. Wenn das hier in die Hose geht, dann mach ich dich dafür verantwortlich, mir gleich, in welch desolatem Zustand du dich befindest. Kazuha sah ihn an, sagte nichts. Dann beugte sie sich zu ihm vor, hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Lippen. Er starrte sie nur an, seine Augen groß vor Erstaunen, und war zum ersten Mal in seinem Leben sprachlos, als er sie in seine Arme zog. „Ich liebe dich.“, wisperte sie leise, seufzte. Dann richtete sie sich ein wenig auf, sah ihn an, lächelte. Er erwiderte ihr Lächeln, kam allerdings nicht umhin, zu bemerken, wie es festfror, als er an den dachte, dem er dieses Glücksgefühl zu verdanken hatte. Kazuha musterte ihn fragend. „Was ist?“ Er schüttelte den Kopf, hilflos. „Weißt du, wem du die SMS zu verdanken hast?“ Sie stutzte kurz; dann sah sie ihren Freund bestürzt an. „Doch nich‘…“ „Doch. Er hat mir gesagt, als ich ihn ihm Knast besucht hab, ich soll endlich ehrlich mit dir sein… und mit mir… und’s dir sagen. Weil’s so viel schöner wäre… dieses Gefühl endlich teilen zu können. Und nun…“ Er konnte nicht verhindern, dass sein Blick auf die Villa der Kudôs fiel. Kudô. Kapitel 53: Kapitel 35: Von einem Vater zu einem Sohn ----------------------------------------------------- Mesdames, messieurs - langsam geht's dem Umvermeidlichen zu - das Ende naht, die letzten Fäden werden aufgenommen und vernäht, die Schlinge zieht sich zu. Vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel - es freut mich sehr, wenn die Gedankengänge, die diesen Ereignissen vorangingen, verständlich waren. Ich wünsche euch viel Spaß bei diesem Kapitel! Eure Leira :) ______________________________________________________________________________________ Kapitel 35: Von einem Vater zu einem Sohn Der Abend war ereignislos verlaufen. Das Abendessen hatte er ausfallen lassen; stattdessen hatte er von seinem Zimmer aus beobachtet, wie der Professor mit Heiji und Kazuha das Haus des Professors verlassen hatte; sie hatte eine Reisetasche bei sich, offenbar fuhr sie nach Hause. Warum auch nicht, hier in Tokio waren alle Dinge erledigt; er schätzte, Heiji blieb nur wegen ihm. Und vielleicht wegen der Beerdigung seines Vaters. Ein unangenehmes Ziehen meldete sich in seiner Magengegend, weckte sein schlechtes Gewissen, das ohnehin nur sehr leicht schlief, seit gestern. Ein weiteres Detail war ihm jedoch auch nicht verborgen geblieben. Du hältst ihre Hand. Ein fast lauwarmes Lächeln schlich sich auf seine Lippen, winzig und vergänglich, als er seinen besten Freund beobachtete, wie er Kazuha die Tür aufhielt und beim Einsteigen half. Kurz wandte sich der Oberschüler aus Osaka um, sah geradewegs hinauf zu Shinichi. Er hatte keine Ahnung, ob er ihn im Dämmerlicht sah; er hatte kein Licht gemacht im Zimmer, also konnte es gut sein, dass er unentdeckt geblieben war. Wie auch immer. Ich freu mich für dich, Hattori. Wenigstens bei dir läuft es so, wie es laufen sollte. Als der Professor wiederkam, mit Heiji im Schlepp, allerdings, wie vermutet, ohne Kazuha, saß er immer noch da, unverändert; was gab es auch zu tun. Während um ihm alles lebte, bewegte und sich veränderte, schien er still zu stehen. Irgendwie einfach aufzuhören. Ai, so schätzte er, saß wohl über ihren Festplattendaten, Reagenzgläsern und Petrischalen im Labor – zumindest ließ das der Lichtschein, der aus dem Kellerfenster schimmerte und ein Fleckchen des Gartens erhellte, annehmen. Seine Mutter saß in der Küche; sie hielt es wohl weder in der Bibliothek noch im Wohnzimmer und erst Recht nicht in ihrem Schlafzimmer aus, momentan. Er wusste, er sollte ihr ein besserer Sohn sein, und ihn quälte sein schlechtes Gewissen. Allerdings hatte diese Kontrollinstanz verglichen mit all den anderen Teilen seines Ichs momentan die deutlich leiseste Stimme. Damit war die Nacht hereingebrochen über Tokio; eine Nacht, die jeder anders verbrachte. Im Polizeipräsidium saß die altbekannte, eingeschworene Runde und schwieg. Eigentlich war eine Abschlussbesprechung anberaumt worden; der Fall war abgeschlossen und ad acta gelegt, eine der größten Verbrecherorganisationen des Landes zu Fall gebracht und vernichtet. Eigentlich ein Grund zu Feiern. Stattdessen saßen die Agents vom FBI, James Black, Jodie Starling und Shuichi Akai ihren Tokioter Kollegen Meguré, Takagi und Sato ziemlich schweigsam gegenüber. Schließlich war es Meguré, der die Stille brach. Er räusperte sich, stand auf, klopfte seinen altgedienten Trenchcoat glatt. „Im Namen der Tokioter Polizei, allen voran des Morddezernats, möchte ich Ihnen unseren Dank bei der Lösung dieses Falls aussprechen.“ Sein Tonfall war förmlich, sein Auftreten von ausgesuchter Höflichkeit. „Ohne Ihre Hilfe…“ „Ah, lassen Sie das, Meguré, old friend.“, lächelte Black freundlich, bedeutete dem Mann, sich wieder zu setzen. Meguré ließ sich nieder, sichtlich erleichtert; ihm lagen solche Reden gar nicht, aber sie waren angebracht nach solch einer Kooperation, und er wollte sich nicht lumpen lassen. „It was our pleasure to work with men and women of such professionalism.“ Sein Lächeln bröckelte ihm langsam von den Lippen. „Sie wissen, Meguré, unsere Arbeit hier ist getan. Wir haben erreicht, was wir wollten, die Organisation, die ihre Fühler auch in unser Land ausstreckte, ist zerstört. Dennoch ist dies kein Anlass für Gratulation… nicht, nachdem was ihm passiert ist. Er hätte nie über diese Klinge springen dürfen.“ Meguré nickte schwer. „Es wird sich zeigen, wie er es wegsteckt… er weiß, diese Tür steht ihm immer offen, und ich hoffe, er folgt eines Tages diesem Ruf…“ Jodie lächelte. „Nun, ich denke, das Gleiche darf ich wohl vom FBI behaupten. Er hätte das Zeug dazu, groß zu werden. Wenn…“ „… wenn er darüber hinwegkommt, was er tun musste.“ Akai, der sich bis jetzt ruhig verhalten hatte, zog eine Zigarette heraus, zündete sie an und zog an ihr. Jodie seufzte, warf ihm einen tadelnden Blick zu, beließ es jedoch dabei. Takagi schaute gedankenverloren aus dem Fenster; die Sonne schickte gerade die letzten Strahlen über den Horizont nach Japan. „Also fliegen Sie?“ „Morgen früh, seven thirty, exactly.“ Black nickte. „Die Arbeit ruft, und die Welt bleibt nicht stehen. Allerdings bleibt Agent Akai noch ein Weilchen in seinem Heimatland, um persönlichen Verpflichtungen nachzukommen.“ Meguré nickte kurz, versank kurz in Gedanken, ehe sich ein schmales Lächeln auf seine Lippen schlich. „Eigentlich ist trinken im Dienst verboten, aber nach dem Abschluss dieses für uns alle sehr schwierigen und sehr persönlichen Falls denke ich, können wir uns ein Gläschen Sake erlauben, zudem wir uns offensichtlich zum letzten Mal in dieser Runde sehen. Erweisen Sie mir die Ehre?“ Ohne das Nicken der drei Agents abzuwarten verschwand er, um mit einem Tablett, beladen mit sechs feinen Porzellanschälchen und einer Flasche Sake wiederzukommen. Er befüllte die Sakeschälchen ordentlich, ehe er sie verteilte, und sich, wie er hoffte, möglichst ehrenvoll zum Trinkspruch aufbaute. Er wartete, bis alle anderen ebenfalls standen, räusperte sich dann gründlich. „Auf das Ende dieses außergewöhnlichen Falls. Auf den Detektiv, der ihn löste – auf Shinichi Kudô.“ Das Porzellan klirrte, während in Tokio die Sonne unterging. Môri seufzte leise, als er seiner Tochter beim Abspülen zusah. Sie hatten gerade gemeinsam zu Abend gegessen, und es war ein eher schweigsames Mahl geworden - die Stille hatte wie ein Damoklesschwert über ihnen gehangen, bereit, jedes auch nur ansetzende Gespräch sofort zu beenden. Ran hatte ihn nicht angesehen, kaum etwas gegessen, sofern man das lustlose Rumgestochere, das sie veranstaltet hatte, überhaupt als Essen bezeichnen durfte. Sie war blass, ihre Augen gerötet, ein Zustand, den sie seit gestern zeigte, und von dem sie sich offensichtlich nicht erholen wollte, in absehbarer Zeit. Und wie um diese Schweigsamkeit nun wettzumachen, spülte sie nun höchst lautstark ab; mit dem Rauschen des Wasserstrahls ging eine Vielzahl von klirrenden, blubbernden und spritzenden Geräuschen einher. Er wusste, sie war nur so laut, um ein anderes Geräusch zu übertönen. Ihr leises Schluchzen. Und er wusste auch, sie wünschte sich nichts mehr, als dass er endlich ging, das Zimmer verließ und hinter sich die Türe schloss, am besten. Den Gefallen würde er ihr jedoch nicht tun, soviel stand fest für ihn. Er war ihr Vater, und er würde ihr beistehen, und dass sie Beistand brauchte, jetzt, war in seinen Augen klar. Also beobachtete er, wie sie mit zitternden Fingern abspülte, bemerkte an den aufsteigenden Dampfwolken, dass das Wasser viel zu heiß sein musste, und seufzte erneut. Dann stand er auf, trat an das Spülbecken und drehte den Hahn zu. Ran schniefte, blickte überrascht auf, wischte sich mit einer spülschaumtriefenden Hand eine Träne aus dem Augenwinkel mit dem Erfolg, dass das Auge gleich umso mehr zu laufen anfing, als es mit der Seife in Kontakt kam. Môri stöhnte leise auf, dann zog er sie an sich, merkte und hörte, wie sie jetzt erst so richtig zu heulen anfing. Er schluckte, streichelte ihr über den Rücken, über die Haare, und verfluchte diesen Kerl innerlich an die tausend Mal. Ich hätte dich nie ins Leben meiner Tochter lassen dürfen… Es war von vorneherein klar, dass du nur Ärger bringst… ich habe dich gewarnt, hab dir gesagt, was passiert, wenn du ihr Herz brichst…! Du elender Mistkerl, wenn dein Leben die Hölle ist, musst du ihrs denn dann auch dazu machen!? Er atmete tief durch, dann schob er sie etwas von sich, bugsierte sie zurück zum Tisch, drückte sie auf die Sitzkissen am Boden und setzte sich neben sie, behielt dabei ihre Hand in seinen Händen, spürte die Hitze der vom Spülwasser aufgewärmten Finger. „Mausebein… was war los, gestern?“ „Nichts…“, murmelte sie, versuchte, ihre Tränen unter Kontrolle zu bringen. „Natürlich. So siehst du auch aus.“ Der schlafende Meisterdetektiv verzog das Gesicht. „Also, was hat er angestellt?! Irgendwas muss er doch getan oder gesagt haben…!“ Ran presste die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf, kurz. „Nichts, ich sagte doch…“ „Ran, für wie blöd hältst du mich?“ Kogorô war laut geworden. „Du warst gestern bei ihm, hast ihn getroffen, als er nach Hause kam, und seitdem bist du hier, mit den Nerven relativ am Ende und flennst in Schüben.“ Er knurrte. „Nenn mich einen Optimisten, aber eigentlich dachte ich, die Tatsache, da er wieder er wäre, der Fall vorbei und die Gefahr vorüber, wäre für dich ein Grund zur Freude.“ Sie wich seinem forschenden Blick aus, was ihn in seiner Ahnung nur bestätigte. „Also, sag mir nicht, dass nichts los ist. Der letzte Stand der Dinge, den ich kenne, war der, dass er bei uns war, sein Leben zwar nun nicht gerade prickelnd, aber doch noch soweit für ihn zu ertragen war, dass er damit dich nicht fertig machen musste. Zu diesem Zeitpunkt wusste er, dass sein Vater der Boss ist, also kann es das nicht sein. Sein Vater ist gestern gestorben, das ist ein Grund, warum er traurig ist, neben der verkorksten Tatsache, dass sein Vater der Boss war und ihn sein Leben lang angelogen hat – aber das wäre eher ein Grund, warum du heute bei ihm hättest sein sollen und ihn trösten. Man tröstet Freunde, deren Eltern gestorben sind.“ Seine Stirn legte sich in Falten. Ran hickste, bemerkte zu ihrem Leidwesen, dass ihr die Heulerei einen Schluckauf eingebracht hatte. „Du warst aber heute nicht bei ihm. Nicht eine Minute. Stattdessen geht’s dir schlecht, und ich vermute doch stark, nach allem was er erlebt hat, ihm auch. Warum, Ran?“ Kogorô beugte sich vor, studierte ihr Gesicht genau, hob ihr Kinn an. Ran hickste leise, sah in seinen Augen die Sorge um sie. Sie lehnte sich zurück, schüttelte unmerklich den Kopf, seufzte tief. „Paps…“ Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Ran… Er wusste doch, wohin er musste, wenns ihm schlecht ging, und er kam auch. Und darum geht’s doch… sowohl in einer Freundschaft, als auch in einer Beziehung. Jetzt sitzt du aber hier, und weinst, so sehr, dass ich vermuten muss, dass ihr nicht nur kein Paar seid, sondern nicht einmal mehr Freunde. Was ist jetzt anders…?“ Seine Tochter sah auf; Überraschung konnte er auf ihrem Gesicht lesen, überdeutlich, und fragte sich, warum sie so überrascht war. Ob sie ihm nicht zutraute, auch zu sehen, was für alle anderen doch so deutlich gewesen war. Er seufzte leise. „Ich bin nicht blinder als der Rest der Welt. Die Tatsache, dass du heute nicht bei ihm warst, und dich hier aber die Sorge auffrisst, kann eigentlich nur eins heißen…“ Ran schluckte hart, biss sich auf die Lippen und hickste erneut. „Er hat gesagt, er will mich nicht mehr sehen.“ Sie schaute auf, registrierte den verständnislosen Blick ihres Vaters und nickte nur matt. Kogorô schüttelte den Kopf. „Er will dich nicht mehr sehen?“ „Ja, genau das hat er gesagt. Dass ich gehen soll, verschwinden, nie wieder kommen. Er will mich nicht mehr sehen.“ „Und hat er dir auch den Grund dafür genannt?“ Ran seufzte tief, rieb sich die Stirn. „Nur sehr vage. Er wäre ein anderer, nicht mehr der Gleiche, er wäre nicht der Richtige für mich, und er wollte, dass ich gehe, und nicht mehr komme, das waren seine Worte. Er hat mir nicht gesagt, was passiert ist, außer dem, was offensichtlich war… dass sein Vater in seinen Armen gestorben ist. Ich hab ihn nie so gesehen, ich war selber… total erschrocken, er sah so… so fertig aus. Verletzt und voller Blut und seine Augen…“ Ran seufzte, wischte sich über die Augen. „Leer, ratlos. Dunkel. Und das war er doch nie – ratlos, meine ich. Ich meine, wie viele Situationen muss er in den letzten Jahren erfahren haben, gerade in der letzten Woche, die ihm aussichtslos erschienen sind – aber er gab doch nie auf! Genau das scheint er aber jetzt zu tun. Aufgeben. Sich. Uns. Alles.“ Sie räusperte sich. „Als ich ihm zu beharrlich wurde, hat er mich dann stehen gelassen, mit den Worten, dass er nicht gut für mich wäre.“ Sie strich sich über die Arme, fröstelte, als sie an seine Stimme dachte, an sein Gesicht. „Die Erkenntnis kommt ihm aber früh.“, grummelte Kogorô. „Paps!“ Er lächelte, als er die Entrüstung auf ihrem Gesicht sah; dann seufzte er. „Also schön. Was denkst du, ist los mit ihm?“ „Ich weiß es nicht. Ehrlich – ich kann mir nicht vorstellen, was ihn so niederschmettern könnte. Wenn man bedenkt, was er alles ausgehalten hat, ohne sich davon entmutigen zu lassen, überrascht es mich, dass es überhaupt etwas gibt.“ Sie seufzte, sah ihren Vater fragend an. Er nickte zustimmend. „Da hast du allerdings Recht.“ Ran sah ihn schräg an. Kogorô schüttelte den Kopf. „Mausebein, ernsthaft. Ich habe Jahre gebraucht, um mich an ihn zu gewöhnen, und wofür? Damit er jetzt die Biege macht? Nicht ohne Grund, das sag ich dir. Ich will wissen, was los ist.“ In die leichte Verärgerung in seiner Stimme mischte sich eine Spur Sorge. Ran quittierte sie nicht ohne Verwunderung. Er stand auf, warf ihr einen ernsten Blick zu. Dann drehte er sich um. „Ich geh nochmal aus, warte nicht auf mich.“ Ran seufzte, verdrehte die Augen. Sie wusste, es hatte keinen Sinn, ihn zu fragen, wo er hin wollte. Auch keinen, ihn zu bitten, nicht zu ihm zu gehen… denn irgendetwas sagte ihr, dass er genau das tat. Sie schüttelte unwirsch den Kopf. Bestimmt gehst du zu ihm. Und willst ihm den Kopf waschen. Sie lächelte bitter. Sicher würde er das; ganz der Löwe, der sein Junges beschützt, würde er nun loseilen und versuchen, ihm den Kopf zurecht zu rücken, ihn, den er doch irgendwie mochte, und dennoch hasste, für das, was er ihr antat. Aber es spielt auch eine Rolle, warum er das tut. Nur verstehe ich es nicht… Du warst doch immer hier. Wie Paps sagte… du wusstest doch, wo dein Zuhause ist… Wo du zur Ruhe kommst. Du bist doch immer hier angekommen, wenns dir schlecht ging. Shinichi, warum jetzt nicht? Shinichi saß immer noch auf dem Fensterbrett, starrte auf die Welt zu seinen Füßen. Als er den späten Besucher ankommen sah, schwante ihm Übles. Kogorô Môri stapfte den Weg entlang, seine Gesichtszüge wie aus Stein, seine Bewegungen abgehakt, aber entschlossen. Der schlafende Meisterdetektiv blieb vor dem Gartenzaun stehen, betrachtete die Fassade nachdenklich. Shinichi rutschte vom Fensterbrett, trat in die Finsternis des Zimmers zurück, merkte, wie sein Puls zu rasen anfing. Er konnte sich denken, warum der Mann hier war. Er hatte schließlich seiner Tochter das Herz gebrochen, gestern. Shinichi schluckte, fühlte, wie in ihm etwas aufriss und zu schmerzen begann, als er daran dachte; an den Blick in ihren Augen, gestern. An ihre Stimme, an die Tränen, an ihre verzweifelten Versuche, ihm zu helfen. Kogorô, geh weiter, ich bitte dich. Du wirst mir noch danken, auch wenn du mich jetzt hasst… Seine stumme Bitte wurde nicht erhört, wenige Minuten später klingelte es an der Tür. Er hörte die Schritte seiner Mutter in der Eingangshalle, hörte das leise Quietschen der Tür, öffnete seine Zimmertür einen Spalt und hielt den Atem an. Lauschte angespannt, was unten vor sich ging. „Hallo, Kogorô. Welch‘ eine Überraschung zu solch… unerwarteter Stunde. Wie kann ich dir behilflich sein?“ Shinichi verbeugte sich innerlich vor der Kontenance seiner Mutter; wie diese Frau die Fassung behielt, verdiente höchsten Respekt. Kogorô seinerseits schien sich nun doch unwohl zu fühlen. „Yukiko…“ Kogorôs Stimme stürzte hörbar ab. „Entschuldige bitte mein Auftreten zu dieser Uhrzeit, dazu noch unangemeldet. Mein… aufrichtigstes Beileid.“ Er räusperte sich. „Aber ich muss mit deinem Sohn reden, fürchte ich.“ Yukiko zog die Augenbrauen hoch, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie war blass, das konnte er sehen, ihre Finger zitterten leicht. „Danke für deine Anteilnahme, Kogorô. Aber ich fürchte, dass du mit meinem Sohn sprichst, heute, ist gänzlich ausgeschlossen.“ Shinichi atmete gepresst aus. „Yukiko, du verstehst nicht… es geht um…“ „Ran, das ist mir sehr wohl klar.“ Sie schluckte, schüttelte dann sacht ihren Kopf. „Und mir ist auch klar, dass du, als ihr Vater, um ihr Wohl besorgt bist. Ich weiß nicht, was gestern vorgefallen ist zwischen den beiden, aber aus dem Verhalten meines Sohns und der Tatsache, dass Ran heute nicht hier war, folgere ich, dass er sie darum gebeten hat, ihn im Moment in Ruhe zu lassen. Sie scheint diesen Wunsch zu respektieren. Warum du nicht?“ Kogorô zögerte merklich mit seiner Antwort, und sie nutzte die Gelegenheit, ihren Blick kurz nach oben wandern zu lassen, bemerkte den geöffneten Türspalt. „Da ich… seine Mutter bin, wird es dich nicht wundern, dass ich um sein Wohl besorgt bin. Und ich denke, aufgrund der gestrigen Ereignisse sollten wir seinen Wunsch akzeptieren, ihn eine Weile allein zu lassen. Wie Ran.“ „Er hat ihr das Herz gebrochen, Yukiko!“ Kogorôs Stimme war harsch geworden. „Nicht so sehr, wie er seins gebrochen hat, mit seinen eigenen Worten, als er sie bat, zu gehen, verdammt!“ Sie zischte ihn an. „Denkst du, es geht ihm gut dabei!? Er liebt sie! Dass er es für besser hält, sie von sich fern zu halten, muss einen gewichtigen Grund haben. Ja, deine Tochter mag jetzt traurig sein. Vielleicht auch wütend. Aber glaub mir, das ist kein Vergleich zu dem, was Shinichi fühlt.“ Sie schielte erneut nach oben. „Ich kann dich verstehen. Allerdings ist momentan mit ihm kaum zu reden, er hat… einfach zu viel Schreckliches gesehen und erlebt. Komm meinetwegen morgen wieder, aber heute wirst du ihn in Ruhe lassen. Guten Abend, Kogorô.“ Er sah sie an, nachdenklich. „Nein.“ Yukiko starrte ihn ungläubig an. „Nein?“ „Nein.“ Kogorô schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin nicht gekommen um zu gehen, ohne mit ihm geredet zu haben. Und genau das werde ich jetzt tun. Du vergisst, dass dein Bengel die letzten Jahre bei uns gelebt hat, wenn auch unter anderem Namen, und ich denke, ich hab ihn leidlich gut kennengelernt. Und das, was er jetzt veranstaltet, ist nicht typisch für ihn. Ihr so weh zu tun… ist nicht typisch für ihn. Ich will nur wissen, warum er ihr und sich das antut. Mehr nicht.“ Die blonde Schauspielerin sah ihn lange an. Erst jetzt wurde ihr langsam gewahr, dass vor ihr ein Mann stand, der in den letzten Jahren deutlich mehr Kontakt zu ihrem Kind gehabt hatte, ihren Sohn mindestens genauso gut kannte, wie sie selbst. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, blickte ihm ins Gesicht, sah seine Augen, die ihren Blick erwiderten, stur. „Mach es kurz, und treib es nicht zu weit. Erster Stock, dritte Tür links.“ Sie schluckte, dann ging sie in die Küche. Kogorô nickte ihr dankbar zu. Shinichi sank gegen die Tür, die sich durch sein Gewicht sanft schloss, vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Hörte Schritte, die sich näherten und seufzte. Sekunden später klopfte es, und obwohl er darauf gewartet hatte, erschrak er sich. Er atmete durch, stieß sich von der Tür ab, griff nach der Klinke und zog sie auf. Kogorô trat wortlos ein; und ebenso stumm gab er dem Lichtschalter einen Klaps, machte aus dem Schatten, der vor ihm stand, eine Person. Shinichi musterte ihn, fühlte sich seinerseits seltsam ausgeliefert, was an der plötzlichen Helligkeit liegen mochte. Er drehte sich um, lehnte sich gegen die Fensterbank, beobachtete ihn abwartend, während Kogorô sich im Zimmer umsah; Tatsache war, er sah nichts. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber außer den Dingen, die er erwartet hatte, war hier rein gar nichts persönlich. Nichts, außer ein Bild auf dem Schreibtisch. Das gleiche Foto stand auch bei Ran. Er griff danach, merkte, wie nun zum ersten Mal Bewegung in Shinichi kam. „Stellen Sie es wieder hin.“ „Mhm?“ Kogorô wandte sich ihm zu, das Bild in der Hand, zog die Augenbrauen fragend hoch. Dann drehte er den Rahmen um, bemerkte die Eintrittskarte, lächelte bitter. Conans Geburtstag… und euer erstes echtes Date. Du hast die Eintrittskarte doch nur deswegen aufgehoben. Er spürte, wie etwas am Rahmen zog, ließ das Bild los, und sah Shinichi zu, der es wortlos wieder auf dem Schreibtisch platzierte – allerdings diesmal mit der Bildseite flach nach unten. Der Detektiv bemerkte es, zog unwillig die Augenbrauen zusammen, ehe seine Stimme ihn aus seinen Gedanken riss. „Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Môri? Ich muss gestehen, ich bin etwas überrascht, ich kann mich nicht erinnern, dass Sie mich jemals zuhause…“ „Du weißt genau, worum es geht, Shinichi.“ Kogorô ließ sich nicht auf das Spielchen ein, unterbrach ihn mit ruhiger Stimme. „Sie hat heute den ganzen Tag geweint.“ Er ließ den Satz wirken. Der Oberschüler wandte den Blick ab, kaute auf seiner Unterlippe. „Das dachte ich mir.“, murmelte er schließlich tonlos. „Aber warum sagen Sie mir das…? Sie sind doch nicht extra gekommen, um mir das vorzuwerfen? Was…“ „Nein, ich bin nicht hier, um dir deshalb einen Vorwurf zu machen.“ Shinichi blickte auf, verständnislos. „Warum dann?“ „Weil ich mich wundere… ihr kennt euch seit Jahren, und wer weiß wie lange ihr euch liebt. Ihr beide wart immer zusammen, wie Pech und Schwefel, schon als Kinder. Immer wenn es einem von euch beiden schlecht ging, dann kam er zum anderen. Ran kam immer zu dir, wenn sie etwas belastete. Immer. Selbst als du Conan warst, ein kleiner Junge, wohlgemerkt, ging sie mit ihren Sorgen eher zu dir, als dass sie sich an mich oder ihre Mutter wandte. Und du… bestes Beispiel: die Nacht vor zwei Tagen. Vielleicht war es dir nicht bewusst was dich führte, aber du wusstest, wo du Ruhe fandest. Bei ihr. Immer schon.“ Er bemerkte zufrieden, wie sich der Oberschüler ertappt abwandte. „Als du an diesem Morgen unsere Wohnung verlassen hast, wusstest du bereits, dass dein Vater der Boss war. Du wusstest, worauf du dich einlässt, wenn du versuchst, diese Organisation zu zerstören. Du wusstest das alles, aber du warst entschlossen, ruhig, abgeklärt. Gut, du hast nun deinen Vater verloren, unter tragischen Umständen. Du hast Grauenhaftes gesehen und erlebt. Aber all das…“ „Würde eher darauf hindeuten, dass ich bei ihr um Hilfe suche, ist es das, was Sie sagen wollen?“ Shinichi unterbrach ihn hitzig; wunderte sich selbst, woher die Erregung in seiner Stimme kam. Ärgerlich funkelte er Kogorô an, der abwartend, mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen vor ihm stand – die Ruhe selbst. „Das haben Sie sehr schön alles rekonstruiert. Nun, sind Sie in Ihren Analysen denn nie darauf gekommen, dass ich ihr das alles einfach nicht mehr zumuten will? Mein kaputtes Leben, meine Dramen, meine Katastrophen, meine Gefahren,… mich!“ Kogorô sah auf, nickte. Ihm fiel auf, wie blass der Junge war; wie fahrig seine Bewegungen. Er sah den Verband an der Hand, bemerkte die Blessuren in seinem Gesicht, und er sah dieses Dunkel in seinen Augen, als er aufblickte. Ein Schauer rann ihm den Rücken hinab, und es fröstelte ihn, unwillkürlich. Wer weiß, vielleicht ist es wirklich besser, du hältst dich fern von ihr… Andererseits… Die Worte des jungen Mannes vor ihm rissen ihn aus seinen Gedanken. Kogorô fuhr hoch, bemerkte den ernsten Blick seines Gegenübers auf sich ruhen, hörte seine Stimme. Sie klang eindringlich und gequält gleichermaßen. „Sie sieht so wunderschön aus, wenn sie lächelt… aber wie oft bin ich der Grund dafür? Ich will, dass sie lächelt, dass sie glücklich ist. In Sicherheit. Unbeschwert. Vielleicht will ich sie einfach nicht mehr damit belasten, mit mir und meinen Dämonen. Das hat sie doch nicht verdient, das ist alles nicht ihre Sache, das…“ „Das hat dich bisher auch nicht groß gekümmert. Du hast von ihr alle Gefahren ferngehalten, so gut es ging, aber dein sicherer Hafen war sie trotzdem. Jetzt stößt du sie von dir, in dem Moment, in dem du sie am dringendsten brauchst. Sei ehrlich!“ Kogorô brauste auf, als er sein Kopfschütteln bemerkte. „Verdammt, sei wenigstens Manns genug, um das zuzugeben! Du brauchst sie! Jetzt.“ Shinichi zuckte zusammen, drehte sich um. „Was geht es Sie eigentlich an?! Es ist mein Leben, Sie sollten mir dankbar sein, dass ich Ihre Tochter da nicht weiter…“ „Verdammt, sie ist doch schon mitten drin!“ Shinichi wandte sich wieder um, sah dem erzürnten Kogorô Môri ins Gesicht. Er atmete schwer, sah, dass auch Môri sichtlich in Rage geraten war; sein Kopf war rot, seine Augen zusammengekniffen, seine Haltung verspannt. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn der Mann ihm eine Ohrfeige gegeben hätte. „Glaub mir nur, ich würde mir wünschen, dass es so einfach ist. Dass du sie aus deinem Leben streichen kannst, sie das akzeptiert und glücklich wird. Tatsache ist, sie ist in deinem Leben, sie wird sich nicht rausstreichen lassen, und glücklich wird sie nur mit dir. Erst wenn du wieder glücklich bist, wird sie auch lächeln.“ Kogorô schluckte, räusperte sich, fuhr sich durch den Bart, immer wieder. „Und wenn das dein Ziel ist, dann weißt du nun, was du zu tun hast.“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob…“ Shinichi biss sich auf die Lippen, erneut und fester, wandte den Kopf ab. Kogorô fuhr ungerührt fort. „Sie wird sich fragen, so lange, bis du es ihr sagst, was es ist, dass dich so verändert hat. Ran wird dir helfen wollen, egal ob sie es kann oder nicht, sie wird es versuchen, bis sie daran zugrunde geht. Weil sie so ist. Weil sie dich liebt. Verstehst du denn nicht? Auf ihre Weise ist sie bereit das Gleiche für dich zu geben wie du für sie. Du weißt, wo das enden kann. Du. Weißt. Es. Verdammt nochmal, willst du das?“ Shinichi starrte ihn an. Kogorô konnte sehen, dass er verstand, was er ihm sagen wollte; dass seine Botschaft angekommen war. „Nein.“ Rans Vater trat näher, langsam. „Ich fürchte, ich habe dich nicht verstanden.“ Shinichi sah auf, fand sich dem immer noch von Zorn gezeichnetem Gesicht Kogorôs gegenüber. „Nein, das will ich nicht. Das wissen Sie. Ich dachte, wenn ich…“ Kogorô wandte sich ab. „Herrgott nochmal, hör endlich das Denken auf.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust, schaute kurz nachdenklich zu Boden, ehe er dem Oberschüler wieder seine Aufmerksamkeit schenkte. „Du denkst eindeutig zu viel. Nimm es hin – du bist der, den sie sich ausgesucht hat. Selbst wenn du sie nicht mehr willst, was, seien wir ehrlich, auch nicht so wirklich der Wahrheit entspricht, wird sich daran nichts ändern. Sie wird nicht gehen, nur weil du es willst. Nicht, solange sie einen eigenen Willen hat, und dass sie den hat, weißt du. Du wirst es ihr sagen müssen, was du erlebt hast, und abwarten müssen, wie sie reagiert.“ Seine Stimme war ruhiger geworden mit den letzten Worten. Seine Augen ruhten abwartend auf dem Oberschüler, der vor ihm stand, ans Fenster gelehnt, als ob er allein nicht stehen könnte und den Boden zu seinen Füßen studierte, als könne er aus dem Teppich die Antworten für seine Fragen herauslesen. „Es geht nicht darum, was ich gesehen habe. Was ich erlebt habe.“ Shinichi schluckte hart. „Das alles ist schlimm genug und würde reichen, um aus einem Menschen ein seelisches Wrack zu machen. Aber das ist es nicht, warum ich mich Ran nicht mehr… zumuten will.“ Er lächelte schief, betrachtete seine Hände, rieb sich die Finger, rubbelte an ihnen, als ob ihm kalt wäre. Kogorô sah ihn fragend an. „Was ist es dann?“ Shinichi biss sich auf die Lippen, schüttelte den Kopf. Lange sagte er nichts, rang sichtlich mit sich. Kogorô beobachtete ihn stumm, sah den inneren Kampf den er ausfocht, und fragte sich insgeheim einmal mehr, mit wem... oder mit was. Fragte sich, was es war, das ihn noch so belastete, jetzt, da doch alles vorbei war. Schließlich sprach Shinichi, jedoch ohne den Mann vor ihm anszusehen. Seine Stimme klang leise, zögernd, körperlos. „Entscheidungen, die ich getroffen habe, Herr Môri. Dinge, die ich getan habe. Und mehr… will ich eigentlich nicht sagen.“ Er versuchte zu schlucken, merkte, wie trocken sein Hals geworden war, räusperte sich unwirsch. Rans Vater sah ihn lange an, beobachtete ihn genau. Registrierte die fahrigen Gesten, diese scheinbaren Übersprunghandlungen. Bemerkte dieses zweifelnde Flackern in seinen dunklen Augen, bemerkte auch dieses Gefühl an ihm, sich selbst in seiner Haut nicht mehr wohl zu fühlen. Er räusperte sich geräuschvoll, schreckte den Oberschüler damit auf, und wunderte sich erneut. Nein, in einem hast du wirklich Recht. Du bist nicht mehr du, was auch immer passiert ist, Shinichi. Wir werden sehen, ob es eine Rückkehr gibt, für dich. Nur eins dürfte sicher sein – allein findest du den Weg nicht. „Gut, du musst es mir nicht sagen. Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, wie es um sie steht.“ Er suchte nach Worten, fuchtelte unsicher in der Luft herum. „Denk darüber nach, was ich dir gesagt habe. Lass sie selbst entscheiden, ob sie dich ertragen will oder nicht.“ Damit ging er, grüßte Yukiko wortlos, als er ihr auf der Treppe entgegenkam. Shinichi schluckte hart, beobachtete Kogorô, wie er das Grundstück verließ, seufzte tief. Er fühlte sich irritiert, wusste nicht so recht, was er von Kogorô nun halten sollte; einerseits tat es gut zu wissen, dass er bei den Môris willkommen war, andererseits hatte er ja nicht vor, noch einmal von ihrer Gastfreundschaft Gebrauch zu machen. Du hast sicher Recht, Kogorô… aber was ich getan habe… Was ich getan habe… Der Geruch des Parfums seiner Mutter riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah auf und sah ihre Reflexion neben seinem Spiegelbild in der Fensterscheibe, seufzte. „Er hat Recht, weißt du. Es wird dich zerreißen, das tut es bereits, du spürst es. In tausend kleine Stücke, wenn du es ihr nicht sagst. Du liebst sie. Shinichi.“ Shinichi wandte sich ab, schüttelte den Kopf. „Wie kann ich ihr in die Augen sehen, und ihr sagen, dass…“ Sie seufzte, griff nach seinen Händen, hielt ihn fest. „Ich wage zu behaupten, du liebst sie mehr, als dein Vater mich liebte, und du weißt, was er getan hat, um mich zu schützen. So weit wie du ging er jedoch nie.“ Sie biss sich auf die Lippen, wandte kurz den Kopf ab, dachte nach, suchte nach den richtigen Worten. „Du musst es ihr sagen. Schon allein, damit sie ihre Entscheidung begründet treffen kann. So fair musst du sein.“ Damit ließ sie ihn stehen und ging fast lautlos die Treppe wieder hinunter. Als ihr Vater wieder nach Hause kam, hatte sie fertig abgespült, diesmal mit handwarmem Wasser. Sie hatte auch abgetrocknet, und sie hatte seither nicht mehr geweint; zu beschäftigt war sie mit ihren Gedanken. Sie hatte sich eine Tasse Kakao gekocht und ins Wohnzimmer auf das Sofa verzogen, sich in eine Decke gekuschelt und gegrübelt. So fand sie ihr Vater, der sich ihr gegenüber schweigend in einen Sessel sinken ließ. Lange sagte er nichts, schaute stumm seine Hände an, die in seinem Schoß lagen, ließ seine Daumen umeinander kreisen. Schließlich brach sie die Stille. „Wie geht es ihm?“ Kogorô sah auf, fand die Augen seiner Tochter auf sich gerichtet, lächelte kurz. Er liebte sie über alles, aber dass er sogar einmal ihretwegen einem Kerl den Kopf zurechtrücken würde, weil er sie verlassen hatte, hätte er nie gedacht. Eigentlich sollte er erfreut sein, schließlich ertrug er den Gedanken, sie an einen anderen zu verlieren, kaum. Sie war seine Prinzessin, sein Mausebein; es erschien ihm immer noch rätselhaft, warum sie sich als kleines Mädchen entschieden hatte, bei ihm zu bleiben, und nicht mit ihrer Mutter zu gehen. Kleine Mädchen gehen doch zu ihren Mamas… Stattdessen war sie hier. Kümmerte sich um ihn, tadelte ihn, war ihm die beste Tochter, die er sich wünschen konnte. Und genau deshalb fiel es ihm so schwer, sie gehen zu sehen, wusste er doch, der Moment rückte näher. Und dennoch war er heute bei ihm gewesen, weil ihn die Sorge antrieb. Weil er irgendwie zu einem Sohn geworden ist, für dich. Er gehört zu ihr, und damit auch zu dir. „Er sagt, es wäre, weil er nicht ertragen könnte, was er getan hat.“ Ran seufzte, nickte leise. „Ja, so in etwa drückte er sich auch aus, gestern.“ Kogorô sah sie erstaunt an. „Denk nach, Ran. Was hat er genau gesagt?“ Sie zog die Augenbrauen zusammen, dachte angestrengt nach, schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, es fielen so viele Worte gestern, und irgendwie sagte er doch immer das Gleiche, ich…“ „Denk nach!“ Ran sah ihn erschrocken an. „Glaubst du er hat…“ „Dir gesagt, was es ist? Nicht wörtlich. Aber vielleicht umschrieben, verpackt in etwas anderes…“ Sie schluckte, stellte ihre Tasse beiseite, massierte ihre Schläfen. Versuchte, den gestrigen Abend in ihrem Kopf noch einmal Revue passieren zu lassen, wie einen Film, den man zurückspulte. „Bitte, glaub mir, ich musste heute Dinge über mich erfahren, die ich lieber nie erfahren hätte…“ , murmelte sie leise. "Das hat er gesagt..." „Ja, das wissen wir…“ Kogorô beugte sich angespannt vor. "Erinnere dich. Was hat er noch gesagt?!" Ran sah ihn an; dann lehnte sie sich zurück, schloss kurz die Augen, atmete ruhig ein und aus. Sah ihn vor sich in der dämmrigen Eingangshalle, roch den Pulverstaub des Schusses, roch das Blut, das an ihm trocknete, roch die Angst. Sah seine Augen, unstet, dunkel und leer, gezeichnet von Schmerz und Horror. Sah dieses Gesicht, so blass, verzweifelt, voller Furcht. "Und mir ist… klar geworden, dass ich nicht der Richtige bin für dich. Mit jemandem wie mir sollte so jemand wie du dich nicht abgeben. Ich will…“ „Was meinst du damit, jemand wie du…?“ Sie konnte ihn fast hören. Kogorô sah sie angespannt an, beobachtete, wie ihre Augen hin und her huschten, als würde sie vor ihrem inneren Auge ihr Gespräch nachlesen. Sie hingegen schwieg weiter, rief sich ihre Worte ins Gedächtnis, was schwierig genug war. „…Ich lass nicht zu, dass du dich gehen lässt. Dass du dich diesen falschen Vorstellungen von dir selber hingibst. Du bist kein Mörder. Merk dir das, Shinichi Kudô.“ Die Selbstbeherrschung fiel ihm langsam aus dem Gesicht - sie konnte richtiggehend zusehen, wie diese Fassade langsam abbröckelte. Kraftlos sank sie in die Kissen, als sich in ihr eine Ahnung manifestierte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell, sie merkte, wie bleierne Schwere ihre Glieder ergriff, eine nicht greifbare, körperlose Kälte sich ihrer bemächtigte, als sie sich an seine Antwort erinnerte. Seine Stimme klang in seinem Ohr, voll Furcht, voll Ekel und Abscheu vor sich selbst, voll Verzweiflung – und noch mehr Furcht. „Das kannst du nicht wissen.“ In Rans Kopf überschlugen sich die Gedanken. Shinichi…? Sie zitterte, kurz, als sie sich der möglichen Tragweite dieser Worte bewusst wurde. Sie hatte ihnen kaum Bedeutung beigemessen, angesichts seines verheerenden Aussehens, aber jetzt – jetzt saß sie da, und diese fünf Worte erschlugen sie fast, lähmten sie, seelisch und körperlich. Das kannst du nicht wissen. „Ran?“ Kogorô sah seine Tochter beunruhigt an. Ran sah ihn an, kurz, zwang sich ein entschuldigendes Lächeln auf die Lippen. „Es tut mir Leid, ich kann mich nicht genau daran erinnern.“ Sie schluckte. „Gute Nacht, Paps.“ Kapitel 54: Kapitel 36: Altlasten --------------------------------- Hallöchen! Entschuldigt die Verspätung, aber momentan ist die Hölle los hier. Nun - wir haben jetzt noch drei oder vier Kapitel vor uns - also stehen die Chancen gut, dass wir dieses Jahr mit dieser Geschichte fertig werden! *ggg* Ein recht ereignisloses Kapitel, aber wie ich finde, nötig, um alle losen Enden zu verknüpfen. Viel Spaß damit! _________________________________________________________________________________ Kapitel 36: Altlasten Ai schluckte, starrte unschlüssig auf das Reagenzglas in ihren Händen. Sie hatte nicht lange gebraucht, um Brandys Schlussfolgerungen nachzuvollziehen, und das Gegengift nachzukochen. Ihr war es sogar gelungen, ein risikoärmeres als das, welches man ihm verabreicht hatte, zu erstellen. Es wäre kein Problem, es zu nehmen… Nun stand sie im Schlafzimmer, starrte nach draußen in die Nacht, hinüber zu ihm. Sie sah ihn am Fenster, eine dunkle Silhouette, die sich gegen den hellen Innenraum abhob, nachdem Kogorô das Licht eingeschaltet hatte, starr wie eine Skulptur - unwillkürlich dachte sie an Das leere Haus und musste schmunzeln, wenn auch ihr Lächeln ihre Augen nicht erreichte. Der Vergleich mit Sherlock Holmes passte, einmal mehr. Allerdings steckte Holmes den Tod Moriartys durch seine Hand wesentlich leichter weg, als du. Liegt es daran, dass du mit einem dieser zwei Moriartys verwandt warst? Oder liegt es daran, dass du nicht dachtest, zu einem solchen Akt fähig zu sein? Wahrscheinlich ist es von beidem ein Bisschen… Sie hatte die Szene beobachtet, hatte die Gesten gesehen, die Gesichtsausdrücke; und sie ahnte, worum das Gespräch sich gedreht hatte. Und was immer noch sein Geheimnis war. Ai schielte in das dünne Glasröhrchen in ihrer Hand, klapperte leise damit, lauschte dem Geräusch und seufzte still. Sie bemerkte, wie ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe es ihr gleichtat, und lächelte erneut, und genauso bitter wie vorher. Es nicht nehmen, hieße, neu anzufangen… Aber kann es wirklich ein neuer Anfang sein? Jetzt, wo alle es wissen… Was nützt es noch, diesen Körper zu ertragen, die Behandlung, die ein Kind erträgt, zu erdulden. Sie schüttelte den Kopf. Dann zog sie den Vorhang zu, ruckartig, und merkte erst jetzt, dass auch er sie beobachtet hatte. Er stand am Fenster, seine Miene unbewegt, seine Augen starr auf sie gerichtet – sie musste für ihn genauso auf dem Präsentierteller gestanden sein wie er für sie. Und sie wusste, dass er das Gleiche dachte wie sie. Und dass er wartete. Shinichi wandte sich ab, schluckte hart. Er hatte sie beobachtet, als sie am Fenster stand, mit dem Reagenzglas in der Hand und er wusste, worum sich ihre Gedanken gedreht hatten, was sie beschäftigt hatte. Er wusste auch, wie ihre Entscheidung ausgefallen war. Müde strich er sich über die Augen. Irgendetwas sagte ihm, das Kogorô heute nicht sein letzter Besucher gewesen war, und er fragte sich, wie er ihr nun gegenübertreten sollte, wenn sie kam. Denn dass sie kommen würde, dessen war er sich sicher. Er glaubte auch zu wissen, worüber sie würde reden wollen. Über mich. Über Vater. Über deine Eltern. Über Akemi… Aber was soll ich dir sagen? Ich suche die Antworten doch selber noch… Wenige Minuten später war Yukiko nicht unbedingt das, was man als begeistert bezeichnen konnte, als sie sich der Haustür näherte, an der es gerade geklingelt hatte. Unwillig tappte sie zur Tür, in ihrer Hand eine Tasse frisch aufgebrühten Tees, ihr Teint blass, ihre Augen etwas glasig – dieses Haus raubte ihr momentan fast den Verstand, dieses Haus, in dem alles sie an ihren Mann erinnerte; ihren Mann, den sie so sehr liebte, so sehr vermisste, und gleichzeitig so sehr hasste, für das, was er ihr angetan hatte. Diese Lügen, Yusaku. Du hättest es uns allen einfacher machen können; dir eingeschlossen. Schau, was du getan hast… Hilf mir wenigstens, dass er es versteht…! Er muss endlich kapieren, dass er es dir nicht gleichtun darf. Er darf nicht schweigen, und nicht lügen, er muss es ihr sagen… Er muss es ihr sagen. Aber er hat Angst… und diese Angst verstehst du wohl am Besten. Sie seufzte, setzte die Tasse neben dem Telefon ab, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie zog ein Taschentuch aus der Tasche ihres Rocks, tupfte sich kurz über die Augen, dann griff sie nach der Türklinke. Als sie geöffnet hatte, blieb ihr zunächst wortwörtlich die Luft weg, um sie im nächsten Moment umso schärfer durch die Zähne zu ziehen. Das bist du also… Shiho. Ehe sie jedoch etwas sagen konnte, hörte sie Schritte hinter sich; als sie sich umdrehte, sah sie, dass Shinichi hinter ihr aufgetaucht war. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, den er nicht erwiderte; dann verschwand sie, ließ die beiden allein. Shiho trat ein, machte die Tür hinter sich zu, sachte; das Klacken, als das Schloss einrastete, war kaum zu hören. Er ließ sie nicht aus den Augen, sagte jedoch nichts und rührte sich nicht von der Stelle. Er war blass, immer noch. Er wirkte irgendwie schattenhaft, fand sie. Langsam trat sie näher, fühlte, wie seltsam es war, mit ihm nun auf einer anderen Augenhöhe zu sein, sah ihn an, lange. „Wir müssen reden.“ Ihre Stimme klang sachlich und nüchtern wie immer, verriet kaum die Nervosität, die in ihrem inneren brodelte, so sehr, dass sie bis in ihre Haarspitzen das Prickeln fühlen konnte. „Ich wüsste nicht, worüber.“, antwortete er leise. Seine Stimme klang abgeklärt und ruhig, aber sie sah ihm an, dass er das nicht war; er war bis aufs Äußerste angespannt, in seinen Augen sah sie Ablehnung und Furcht. „Das seh ich anders.“ Shiho griff ihn am Handgelenk, zerrte ihn mit sich, peilte sein Zimmer und damit die Treppe zum ersten Stock an. Als er sich sträubte und loseisen wollte, griff sie fester – so fest, dass sich ihre Finger tief in seine Haut bohrten. Dennoch schien sie den Schmerz, den das verursachte, deutlicher zu spüren als er. In seinem Zimmer angekommen ließ sie ihn los, schloss die Tür hinter sich. Er brachte Abstand zwischen sich und sie, sah sie einigermaßen wütend an. „Was soll das, Shiho? Sag, hab ich mich undeutlich ausgedrückt?! Ich will nicht reden – nicht über, das was passiert ist, und auch nicht über…“ „Meine Eltern. Deinen Vater. Aber doch, das müssen wir. Darüber reden.“ Ihre Stimme klang harsch, und doch hörte er deutlich ihre Erregung, ihre Angst; er fragte sich, wovor sie sich fürchtete, schließlich war er der Sohn des Mörders ihrer Eltern. Nicht andersherum. Sie schluckte, schaute ihn an, schüttelte den Kopf. „Es interessiert mich nicht, was du getan hast. Absinth hat den Tod verdient, und du hast das einzig richtige getan. Du wirst damit leben müssen, früher oder später wirst du das auch. Finde dich damit ab.“ Ihre Worte klangen seltsam emotionslos und kühl; sie passten so gar nicht zu der Gänsehaut auf ihren Unterarmen, die sie vor ihrer Brust verschränkt hatte. Ihm schien es, als halte sie sich selber fest, und wunderte sich einmal mehr. „Also hat Akai…?“ „Nur die Details.“ Shiho schüttelte spöttisch lächelnd den Kopf. „Shinichi, ich kenne das Gefühl. Und ich weiß, wie diese Menschen aussehen… die jemanden getötet haben und sich schuldig fühlen. Dir war es gestern nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben, es wundert mich, dass es nicht schon alle wissen. Man sieht es dir an, wie sehr du dich dir selbst fremd fühlst.“ Sie schluckte. „Ich weiß, du bist dazu nicht gemacht. Ich weiß, du hättest es nicht getan, hättest du eine Wahl gehabt. Also interessiert es mich nicht, dieser Umstand macht für mich aus dir keinen anderen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich weiß nicht, ob ein anderer Umstand dazu in der Lage ist.“ Shinichi, der langsam auf sein Bett gesunken war, in Gedanken schon wieder in Wurfweite zu den Ereignissen der letzten Nacht, fuhr auf. „Ich wusste von nichts, das weißt du, oder glaubst du, ich hätte mich sonst so dir gegenüber verhalten?! Und außerdem ist er nicht…“ „Der, wofür ich ihn halte?“ Sie vollendete seinen Satz, blickte auf, ruckartig, ihre Hände krallten sich fester um ihren Oberkörper, ihre Finger bohrten sich in ihre Oberarme. Ihre Augen funkelten ihn an. „Wofür halte ich ihn denn, deiner Meinung nach?!“ Shinichi sah sie an – sie sah sich selbst so ähnlich, sah der Ai so ähnlich, die er kennengelernt hatte, als sie erkennen hatte müssen, dass er durchaus in der Lage gewesen wäre, ihre Schwester zu retten. Wie damals war sie wütend, wie damals war sie den Tränen nahe; sie starrte ihn an, ihr Mund war leicht geöffnet, ihre Augen aufgerissen und glasig, ihr Teint blass- und ohne es zu ahnen, verriet sie ihm so mehr über sich, über ihre Gedanken, als sie wollte. Sie sah verletzlich aus, und verletzt. Er atmete aus, langsam, gepresst, schüttelte den Kopf. „Du willst ihn für einen Mörder halten.“, murmelte er dann leise. „Ich will nicht, ich halte ihn für einen Mörder! Er hat ihren Tod befohlen, verdammt. Und versuch nicht, das zu leugnen, du weißt, wer er war!“ Ihre Stimme war laut geworden, ihre Haare schienen wie elektrisiert, schienen die Stimmung, die Luft zwischen ihnen beiden spürbar aufzuladen. „Nein, ich denke, das weiß ich nicht!“ Er fuhr sie an, sein Gesicht weiß wie die Wand, vor der er stand. „Und ich denke, das weiß auch niemand anderes!“ Langsam trat er näher, wusste nicht, woher diese Wut kam, woher dieser Wille kam, das Andenken seines Vaters zu bewahren; eines Menschen, der sein Leben so extrem aus den Fugen gerissen hatte, dass er nicht wusste, wie es jemals wieder in seine Bahn finden sollte. „Ohne ihn wäre ich tot.“ Seine Stimme klang leise, aber bedrohlich. „Tot, Shiho. Er hat sein Leben für mich geopfert, er wusste, was er tat, als er mit mir da hin fuhr! Verdammt, ich bin der Mörder hier, ich war es, der ihn dazu getrieben hat, der ihm was vorgebetet hat von Moral und Ehre und Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit und was weiß ich noch alles! Ich war der, der ihn so manipuliert hat, dass er freiwillig in seinen Tod gefahren ist, verdammt! Ich bin der schlechte Mensch hier! Ich hab nicht nur Absinth erschossen, ich hab auch meinen Vater umgebracht, indem ich ihn mitnahm, ihn fast zwang, mitzukommen…“ Seine Stimme versagte. „Er hat den Tod meiner Eltern befohlen, wie kannst du es wagen, ihn zu verteidigen, ich dachte, du wärst…!“ Sie schrie jetzt ebenfalls; er zuckte zusammen, hatte Shiho doch noch nie schreien gehört. Dann sah er auf, brachte sie mit einem Blick abrupt zum Schweigen. „Dein Freund?“ Die Worte hingen im Raum wie ein Damoklesschwert. Sie zitterte, hatte Angst vor dem, was jetzt kam. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, ehe er weitersprach. „Das bin ich auch.“ Er schluckte hart. „Und ich will auch immer versuchen, dir ein guter Freund zu sein. Aber du musst verstehen… so sehr ich seine Taten verabscheue, und ich weiß, was er getan hat, ich habs ihm aufgerechnet, wörtlich, alles…“ Shinichi holte tief Luft. „So bleibt er dennoch mein Vater. Der für mich alles getan hat, was in seiner Macht stand, um mich zu schützen. Meine Mutter zu schützen. Deine Eltern… deine Schwester und du… ihr musstet wegen mir über die Klinge springen, und wegen meiner Mutter. Mein Vater wollte seine Familie beschützen und musste eine andere opfern. Also hasse mich ruhig, wenn du willst. Ich bin Schuld am Tod deiner Eltern, meine Mutter ist schuld. Denn wegen uns, weil man ihn mit uns erpresste, traf er diese Entscheidung.“ Er fuhr sich übers Gesicht mit zitternden Händen. Shiho war bleich geworden, ließ sich gegen die Wand sinken. „Und ich hab ihn in seinen eigenen Untergang getrieben, zum Dank dafür. Was für ein Mensch bin ich geworden?“ Gedankenverloren zerbiss er sich seine Unterlippen, hörte erst auf, als er stechenden Schmerz spürte und Blut schmeckte. Dann sah er auf. „Was willst du nun hören von mir, Shiho? Dass es mir Leid um deine Eltern tut? Tut es. Dass es mir Leid um deine Schwester tut? Das tat es immer, das weißt du. Dass ich meinen Vater für seine Entscheidungen verurteile? Sicher tue ich das,… aber gleichzeitig gebe ich mir mit die Schuld, weil ich ein Faktor war, der auf der Waagschale lag, als er diese Entscheidungen fällte, er hätte sie nie allein getroffen! Was ist es jetzt, das du hören willst? Bin ich noch dein Freund, oder bin ich es nicht? Ist er ein Mörder, bin ich einer?“ Während all dieser Worte hatte er sie angesehen; jetzt erst wandte er sich ab, ruckartig. Schaute hinaus in die Nacht, die langsam immer dunkler wurde. Er schüttelte den Kopf, hilflos, und stöhnte leise auf, als sich pochender Kopfschmerz einstellte, massierte sich die Schläfen. Shiho starrte ihn an, merkte, wie es in ihr wühlte. Sie war einigermaßen geladen gekommen, sie war wütend gewesen; endlich kannte sie den Mörder ihrer Eltern, und sie hatte auf Antworten gehofft. Sie wollte jemanden finden, der ihre Wut verstand, bei dem sie sich abreagieren konnte; und nun stand sie da, musste feststellen, dass sie weder das eine, noch das andere haben konnte. Oder wollte. Sie wollte sich abreagieren, aber nicht an ihm. Denn er war nicht schuld. Ganz egal, was er sagte. Du bist nicht schuld. Die Welt war einfach nicht nur schwarz und weiß. Es gab nicht nur gut und böse. Es gab keinen Schuldigen, der nicht irgendwie unschuldig war, und auch die Unschuldigen waren nicht ohne Schuld; ob nun gezwungenermaßen oder freiwillig. Langsam verrauchte ihre Wut, und ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Eigentlich war sie nicht gekommen, um ihm Vorwürfe zu machen; sie hatte nach Antworten gesucht, aber stattdessen neue Fragen gefunden. Er sah erst auf, als er ihren Atem an seiner Wange spürte. Sie sah in an, lange. Sah ihn einfach nur an, sagte nichts. Forschte in seinen Augen, studierte seine Gesichtszüge, schweigend. Dann nahm sie seine Hände in ihre, schluckte. „Du bist für mich kein Mörder, Shinichi.“ Sie wisperte leise. „Du bist, wie wir alle, nur eine Marionette gewesen, in diesem Stück, in dem wir alle unsere Rolle hatten. Nun ist das Stück vorbei, die Fäden sind gekappt, und wir alle liegen nun auf dem Boden und sortieren unsere Glieder, müssen lernen, wieder aufzustehen…“ Ihr Blick wanderte nach draußen, als sie seine Hände losließ. Sie waren kalt gewesen, sein Puls am Zeigefinger deutlich fühlbar – und viel zu schnell. Es ging ihm wirklich nicht gut. „Es stimmt, ich gebe deinem Vater die Schuld am Mord an meiner Familie. Nicht dir. Auch nicht deiner Mutter.“ Sie sah auf, fing seinen Blick. „Aber wenn ich mir dich ansehe, Shinichi, muss ich gestehen, dass er kein ganz schlechter Mensch gewesen sein kann. Sonst hätte er nicht einen Sohn wie dich. Und sonst wäre er nicht gestern Nacht mit dir dahin gefahren, um es ein für alle Mal zu beenden. Das war sehr tapfer, von euch beiden.“ Sie fröstelte kurz. „Und es tut mir Leid, um deinen Verlust. Ich weiß, wie sehr das schmerzt. Ich weiß, wie es ist, mit einer Lüge zu leben, und ich weiß, wie es ist, allein zu sein, einen nahen Verwandten zu verlieren.“ Shiho hörte ihn seufzen. „Vergiss meine Worte von gerade eben, sie waren unbedacht…“ „Aber sie sind doch wahr.“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Sie sind doch wahr. Er war der Boss. Du bist zu Recht wütend.“ Sie lächelte schief. „Aber ich war es auf den Falschen.“ Dann hielt sie inne, holte tief Luft, sah ihn an. „Du musst aufhören, das weißt du.“ „Womit?“ Sie verdrehte die Augen, stieß ihn in die Seite. „Mit diesen Selbstvorwürfen. Du konntest nicht anders handeln, du musstest tun, was du tun musstest. Du musstest schießen, um dich zu schützen, und uns. Du musstest die Organisation auslöschen, und dazu brauchtest du seine Hilfe. Und er kam aus freien Stücken mit, nicht, weil du ihn zwangst, oder weil er sich dir gegenüber verpflichtet fühlte; seien wir ehrlich, dann hätte er in den letzten Jahren schon was tun können. Er kam mit, weil er erst durch dich sah, was das Richtige ist, und erst durch dich den Mut fand, etwas zu tun. Das zu tun, was zu tun war. Dein Vater ist gestorben, damit du lebst, Shinichi. Du solltest dieses Geschenk nicht ablehnen, das steht dir nicht zu. Es ist zu teuer erkauft, auch von dir selbst.“ Er legte den Kopf schief. „Ich verstehe ja, was du sagst. Auch, was alle anderen sagen. Aber Himmel, ihr stellt euch das so wunderbar einfach vor. Das geht so aber nicht.“ Shinichi zog die Augenbrauen zusammen, schaute sie eindringlich an, als er sprach. „Ich habe gestern jemanden erschossen. Sei’s drum, was er getan hat, warum ich geschossen habe, ich habs getan, und ihn umgebracht. Und daneben habe ich den Tod meines Vaters verschuldet. Wie oft muss ich es wiederholen, bis es in eure Köpfe geht – wie kann ich jetzt so weiter machen wie bisher?!“ Seine Stimme war harsch geworden. „Ich wollte nie so jemand sein. Ich wollte nie als so jemand gesehen werden.“ Sie schaute ihn an, ernst. „Shinichi. Niemand sieht dich so. Nur du selbst.“ „Aber…“ Shiho lächelte müde. „Du wirst nicht wissen, wie sie dich ansieht, bevor du es ihr nicht gesagt hast. Aber… aus der Reaktion deiner Mutter nehme ich an, zumindest sie ahnt, was passiert ist.“ Sie beobachtete seine Reaktion, lächelte bitter. „Mhm, sie weiß es also. Und, hasst sie dich jetzt?“ „Nein.“ Shinichis Stimme klang genervt. „Heiji? Meguré? Das FBI? Sind die irgendwie von dir angewidert und abgestoßen?“ Er warf ihr einen mittlerweile deutlich verärgerten Blick zu. „Nein. Das weißt du, hör auf mit diesen Fragen…!“ Sie lächelte weiterhin, sah ihn aus Halbmondaugen spöttisch an. „Solange, bis selbst du Dummkopf es kapierst, dass nur du es bist, der dich verurteilt. Du bist kein schlechterer Mensch deswegen. Und wenn sie dich abschießt, Shinichi – Angst vor dir hätte, sich von dir abwendet, enttäuscht ist von dir – dann, mein Bester, hat sie dich nicht verdient. Und hatte es auch nie.“ Sie ging zur Tür, langsam, nachdenklich. „Du fürchtest nur deine eigenen Geister, deine eigenen Dämonen. Sharon nannte dich Silver bullet… mit diesem Namen hatte sie Recht bei dir. Du warst die silberne Kugel, die die Organisation zerstört hat. Ich denke, sie lag auch mit Angel bei Ran nicht allzu falsch. Lass sie dir helfen, sie zu vertreiben.“ Damit öffnete sie die Tür, verließ sein Zimmer, schloss die Tür genauso leise wie vorher. Als sie beim Haus des Professors ankam, lief prompt Shuichi Akai in die Arme. Wenn ihn ihr verändertes Erscheinungsbild überraschte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Sie erreichten die Haustür zusammen, wechselten jedoch kein Wort, bis ihnen der Professor die Tür öffnete, und von einem zum anderen blickte. Schließlich wandte er sich an Shiho, die sich an ihm vorbeiquetschte und aus ihren Straßenschuhen schlüpfte. „Und? Wie geht’s ihm?“ Shiho sah ihn von unten herauf an, als sie ihn ihre Hauspantoffeln schlüpfte, und fand die Perspektive beinahe beruhigend. „Wie wohl. Martert sich selbst, der Idiot.“ „Weswegen denn?“ Shiho merkte, wie ihr ein kaltes Prickeln über den Rücken lief. Der Professor weiß es ja noch nicht! Sie biss sich auf die Lippen, stand auf, stellte fest, dass sie sogar mit dem Professor auf Augenhöhe war. „Nun, sein Vater ist tot.“, meinte sie kühl. „Und er denkt, er ist schuld daran, weil er ihn mitgenommen hat. Überredet hat, mitzukommen, wie er es nennt.“ „Ah.“ Der Professor nickte wissend, wollte fast gehen, als er sich umdrehte. „Sonst nichts? Ich hätte schwören können, da steckt noch mehr…“ „Nein, nichts.“ Sie unterbrach ihn harscher als beabsichtigt; bemerkte Shuichis Blick auf sich und hätte ihm am liebsten den Ellenbogen in die Magengegend gerammt. Der alte Mann sah sie zweifelnd an. „Und was ist mit Ran?“ „Was soll mit ihr sein?“ „Na…“ Hiroshi Agasa gestikulierte. „Sie war heute nicht da.“ „Beobachten Sie etwa das Haus, Professor?“, fragte sie gedehnt. Shiho bemühte sich um eine gelangweilte Stimme, versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie sehr wohl wusste, warum Ran heute nicht da war. Weil er sie nicht lässt, dieser Hohlkopf. Professor Agasa hingegen wurde rot, massierte sich unsicher den Bart. „Äh… nein… das heißt… nun…“ Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken wieder an Ort und Stelle zu rütteln. „Also – warum war sie heute nicht da, weißt du was? Eigentlich müsste man meinen, die beiden müssten nun wie Pech und Schwefel…“ Shiho sah ihn an, öffnete den Mund, um eine Antwort zu geben und schloss ihn wieder, als ihr keine einfiel. Akai sah sie an, schmunzelte. Sprachlos, Shiho? Er räusperte sich. „Vielleicht bat er sie, ihn einen Tag allein zu lassen. Er sah nicht eben so aus, als wolle er Gesellschaft, gestern. Er hat viel erlebt, das muss erst mal verarbeitet werden, bevor er sich etwas… oder jemandem anderen zuwendet.“ Hiroshi Agasa wandte sich dem FBI-Agenten zu, zog die Augenbrauen hoch. „Das klingt logisch.“ Er strich sich erneut über den Bart. „Dennoch, zu lange sollte er nicht allein sein, das tut ihm nicht gut.“ Nachdenklich schaute er zu Boden. „Was tun sie eigentlich noch hier?“, fragte er den jungen Mann schließlich. „Ich denke, ihre Kollegen sind heute abgereist?“ „So ist es.“ Akai schob seine Hände in seine Hosentaschen. „Ich bin nur noch bis zur Beerdigung Yusaku Kudôs hier. Und aus… persönlichen Gründen.“ Er warf Shiho einen langen Blick aus dem Augenwinkel zu. Sie wandte den Kopf ab, kaute auf ihrer Unterlippe und verschränkte die Arme – die personifizierte Ablehnung. Agasa seufzte; er ahnte, wie wenig begeistert sie von der Aussicht war, sich mit Akai zu unterhalten. Er war der Freund ihrer Schwester gewesen, ein Undercover-Agent… er hatte sie alle belogen, und dennoch nicht beschützen können. Allerdings stimmte er insofern mit diesem seltsamen jungen Mann überein, dass sie sich aussprechen mussten. Er seufzte, zuckte mit den Schultern. „Nun, dann äh… werde ich euch mal nicht stören. In der Kanne steht noch Kaffee in der Küche. Ich denke, ich werde mich noch einmal über den Multilingualen Stimmentransposer hermachen… irgendwie klappt das mit dem Übersetzer noch nicht, er klingt doch noch etwas sehr holprig.“ Shiho lächelte müde. „Das sollten Sie wirklich, Professor. Er klingt nicht nur holprig, sondern wie Meister Yoda, sagte Shinichi neulich. Von Grammatik noch nie gehört ich habe.“ Der Professor sah sie entrüstet an, wollte gerade zur Verteidigung seiner Ehre etwas sagen, entschied sich aber dann doch anders, und ging. „Nun, vielleicht lässt sich das ja auch nützen.“ Shiho und Akai sahen ihm hinterher, bis er in seiner Werkstatt verschwunden war, und leise Musik ihnen ankündigte, dass er mit der Arbeit angefangen hatte. Dann wandte sie sich ihm zu, sah ihn lange an. „Ich hätte gerne eine Tasse Kaffee. Also reden wir in der Küche.“ Er nickte nur, folgte ihr stumm, als sie vorausging. Minuten später befanden sie sich in der Küche, und minutenlang schwiegen sie sich auch schon an; und langsam wurde diese Stille unangenehm. Sie war nicht aufgefallen, als sie sich ihren Kaffee zubereitet hatte, und sich hingesetzt hatte, aber nun… Shiho verzog das Gesicht, sah ihn unwillig an. „Nun gut, du wolltest reden, also reden wir. Was ist nun?“ Ihre Stimme klang bissig. Akai sah sie an, lange, ehe er antwortete. Sie hatte sich mit ihrer Tasse Kaffee an den Küchentisch gesetzt, offensichtlich noch nicht wieder reingewachsen in ihre alte Größe- die Art und Weise, wie ihre Beine zuckten, zeigte nur zu deutlich, wie gern sie jetzt mit ihren Beinen gewippt wäre, um Nervosität abzubauen. Er lächelte, dann schenkte er sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein, goss bedächtig etwas Milch hinzu und rührte um, langsam – das leise Klingen des Löffels erfüllte den Raum. Ihr schien langsam der Kragen zu platzen. „Worüber willst du denn nun reden? Über Akemi? Ich wüsste nicht…“ „Nein, du hast Recht. Es gibt da nicht mehr viel zu sagen. Du weißt, wer ich bin, und was wir waren. Und du weißt, dass ich sie nicht schützen konnte. Eigentlich wollte ich mit dir über dich reden.“ Er nahm einen Schluck, lehnte sich gegen die Theke, sah sie interessiert an. Ihre Beine waren auf einmal still, ihre Finger krampften sich um die Tasse. „Weil ich ihr versprochen habe, auf dich aufzupassen… falls ihr etwas passieren würde.“ Shihos Kopf fuhr ruckartig nach oben. Scharf blitzte sie ihn an. „Wann hätte Sie denn…“ „Als sie deine Befreiung plante.“, unterbrach er sie sachlich. „Sie war nicht dumm. Sie ahnte, dass man vielleicht faul spielen würde mit ihr. Leider hatte sie recht.“ Er stellte die Tasse neben sich ab, beugte sich nach vorn. „Ich versprach ihr, auf dich aufzupassen; und das habe ich. Auch wenn du es nicht merktest, ich hatte immer ein Auge auf dich. Und nun will ich wissen… was hast du jetzt vor? Warum hast du das Gegengift genommen?“ Akai lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich muss gestehen, das hat mich doch etwas überrascht…“ Sie seufzte leise, schaute auf die Tischplatte, ließ ihre Tasse los; kurz knetete sie ihre Finger, dann legte sie sie in den Schoß. „Nicht nur dich.“ Sie sah auf, kurz; schenkte ihm einen Blick aus den Augenwinkeln, ehe sie sich wieder den unergründlichen Tiefen ihrer Kaffeetasse widmete. „Ich wollte eigentlich ein Kind bleiben. Ich… hatte nicht diese Schwierigkeiten wie er, und mich vermisst auch keiner… ich hätte neu anfangen können. Eine Zeit lang dachte ich auch, dass es das ist, was ich will. Und wäre das nicht so gekommen, wie es gekommen ist – nämlich dass am Ende jeder wusste, wer ich bin… dann hätte ich es auch gemacht. Auch wenn diese Behandlung manchmal etwas nervte, so wirklich gestört… hat sie mich nicht. Jetzt aber wäre es kompliziert geworden, wenn alle nur das Kind sehen, aber wissen, wer ich bin… Stoff für viele seltsame und unangenehme Situationen, schätze ich.“ Shiho seufzte leise. „Was hat dich umdenken lassen?“ Sie lächelte schmal. „Erstens schien es mir seltsam, so zu tun, als wäre ich eine Andere, wo jetzt ohnehin jeder weiß, wer ich bin. Hab ich doch gerade gesagt.“ Sanft fuhr sie mit ihren Fingern den Rand der Tasse entlang. „Also dachte ich, erspare ich uns diese Farce.“ „Und zweitens?“ Akai griff sich seine Tasse, nahm einen Schluck. „Und zweitens… als ich ihn sah, wie er heimkam, da wusste ich, dass ein kleines Kind ihm nun keine Freundin sein kann. Nicht eine, die versteht, was er durchmacht, welche Gedanken ihn plagen, wegen dem, was er getan hat. Um ihm eine gute Freundin zu sein, musste ich auf seiner Augenhöhe sein.“ Der FBI Agent sah sie stumm an. „Und, warst du ihm das? Eine gute Freundin?“ Ein leises, bitter klingendes Lachen entfuhr ihr. „Oh, ich versuche es. Ich bin das nicht gewöhnt…“ „Nein.“ Akai schüttelte den Kopf bestimmt. „Du bist ihm eine Freundin geworden, über die Jahre. Aber jetzt stört dich, wer sein Vater war.“ Sie zuckte merklich zusammen. „Nicht mehr.“ Shiho hob den Kopf, sah ihn ernst an. „Es stimmt, ich hatte ein Problem damit. Aber er kann nichts dafür, das habe ich begriffen. Eigentlich schon, als Ran es sagte… aber ihn jetzt zu sehen, nachdem, was er und sein Vater gemacht haben…“ Unwirsch schüttelte sie den Kopf. „Er kann nichts dafür. Wer weiß, ob sein Vater wirklich völlig schuldig zu sprechen ist. Der, den ich wirklich verantwortlich machen könnte, der ist schon zur Verantwortung gezogen worden. Und wie makaber ist es, dass gerade er es tun musste.“ Sie zog die Stirn kraus. „Dass Shinichi ihn erschossen hat… Absinth.“ Vorsichtig fuhr sie sich durch die Haare, ihre Wange entlang übers Kinn; sie hatte sich noch nicht gesehen, aber sie spürte, dass das Kindliche aus ihren Zügen verschwunden war. „Und ich nehme an, dich interessiert, was jetzt aus mir wird – schließlich musst du ja guten Gewissens behaupten können, dass du den Wunsch meiner Schwester…“ Sie unterbrach sich kurz, schluckte hart. „… erfüllt hast.“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Tu dir keinen Zwang an.“ Sie lächelte ihn spöttisch an. „Tu ich auch nicht. Ich weiß es nämlich nicht… ich werde es auf mich zukommen lassen. Wahrscheinlich werde ich mich irgendwo bewerben als Chemikerin. Sicher ist…“ Sie sah sich um, und ein warmes Lächeln glitt ihr über die Lippen. Dann trank sie ihren Kaffee aus, stand auf. „Ich werde hier bleiben… denn hier bin ich zuhause.“ Damit ging sie, ließ ihn in der Küche stehen. Er hörte, wie sie leise ein Lied summte, das Lied mitsummte, das gerade im Radio lief, und hörte daran, dass die Musik einmal kurz lauter und dann wieder leiser wurde, dass sie dem Professor in die Werkstatt gefolgt war, um ihm zur Hand zu gehen. Akai lächelte in seine Kaffeetasse kurz. Du siehst, sie ist auf einem guten Weg, Akemi. Dann drehte er sich um, schaute hinaus in die Nacht, bemerkte das Licht in der Bibliothek, sah den Umriss des jungen Mannes, der den Raum durchschritt. Sehen wir, wohin dein Weg dich führt, Kudô. Kapitel 55: Kapitel 37: Me, myself and I ---------------------------------------- Meine Lieben… Bald ist es soweit, und auch diese Geschichte hat ein Ende. Ich tippe auf zwei bis drei Kapitel, die diesem noch folgen – dann ist Schicht im Schacht. Dieses Teilchen hier hat lange gegoren- ich hoffe, es gefällt euch. Und vergesst nicht, Leute – eure Meinung dazu interessiert mich nach wie vor. Liebe Grüße, eure Leira _____________________________________________________ Kapitel 37: Me, Myself and I Shinichi seufzte, lehnte kurz mit der Stirn gegen die Tür. Unwirsch klopfte er auf den Lichtschalter, tauchte das Zimmer endlich wieder in beruhigendes Dämmerlicht. Die blaue Stunde. Er ließ seinen Blick nach draußen schweifen, sah, dass die Sonne schon fast untergegangen war, doch die Sterne zeigten sich noch nicht auf dem Firmament. Es würde auch noch ein wenig dauern, bis es dunkel genug war, dass sich die ersten gegen die Helligkeit dieser lebendigen, vor Licht nur geradezu pulsierenden Stadt Tokio durchsetzen konnten. Nur die hellsten würde man sehen. Alle anderen verschluckt von den Lichtern der Reklameschilder, der Straßenbeleuchtung, der Häuser… und dem Licht des Monds. Nur die Hellsten wird man sehen… Unwillig zuckte er mit den Achseln, atmete aus, tief. Sein Kopf dröhnte ein wenig, Schmerz pulsierte dumpf hinter seinen Schläfen, machte ihm das Denken noch schwerer, als es ihm ohnehin fiel, in diesen Tagen – dennoch hatte er die vage Ahnung, dass es so nicht weitergehen konnte. So wie er die letzten beiden Tage hatte verstreichen lassen, konnte er es nicht sein ganzes Leben lang praktizieren; und Shiho hatte insofern Recht gehabt, als sie sagte, dass er seins noch besäße. Sein Leben. Ein sehr teuer erkauftes Stück Lebenszeit, dass er da sein Eigen nannte, und über das er zu verfügen hatte. Das er nutzen musste. Und das möglichst sinnvoll, Kudô. Aber was war schon sinnvoll in dieser Zeit, in der alles so sinnlos schien? Er stöhnte auf, zerstrubbelte sich dann mit beiden Händen so fest seine ohnehin schon kaum gebändigten Haare, als hoffe er, damit den Gedanken in seinem Kopf, die sich seit zwei Tagen so träge bewegten, dass man fast meinen könne, sie schwämmen durch Gelee, endlich wieder zu mehr Schwung, Dynamik und vielleicht einem Richtungswechsel zu verhelfen. Genauso abrupt, wie er angefangen hatte, hörte er auf damit, atmete aus, laut. Ruckartig wandte er sich um, einer inneren Eingebung folgend, öffnete die Tür und verließ sein Zimmer, stieg die Treppe hinunter wie ein Schlafwandler. Er durchquerte die Eingangshalle, bemerkte das Licht in der Küche, aber ging nicht hinein; sein Weg führte ihn geradeaus weiter, ins Wohnzimmer. Auch hier blieb er nicht stehen, durchquerte sicheren Schrittes in völliger Finsternis den Raum, ohne mit den Möbeln zusammenzustoßen und stieß die Tür zur Bibliothek auf. Unsicher blieb er stehen, schluckte, merkte, wie ein Schauer über seinen Rücken rann. Das Zimmer roch danach. Nach seiner Arbeit, seinen Büchern, seiner Tinte, nach dem Holz seines Schreibtischs. Nach ihm. Shinichi schloss die Tür, lehnte sich gegen das harte Holz, merkte, wie ihm schier die Luft wegblieb, als er ihn sitzen sah. Und doch wusste, dass er da nicht sitzen konnte. Dass es einfach unmöglich war, dass er da war. Sein Vater. Er rang nach Atem, schnappte nach Luft, verzweifelt, als die Schuld ihn zu erdrücken schien, über ihn hereinbrach und sich so schwer machte in seiner Brust, dass er fast glauben mochte, nie wieder einatmen zu können. Fest kniff er die Augen zusammen, versuchte, wieder Herr über seine Gedanken zu werden, und verlor den Kampf dennoch. Langsam durchschritt Shinichi den Raum, kam sich vor, als würde er durch einen Sumpf waten, ging zum Schreibtisch und ließ sich in den Sessel sinken. Sein Oberkörper sank auf den Schreibtisch, und er vergrub seinen Kopf in seinen Armen. Er spürte das Holz unter seinen Fingern, roch den Duft der Lederunterlage und verfluchte sich und dieses Leben. Dich hab ich auch auf dem Gewissen… Aber verdammt, wie hätte… wie hätte das anders enden können? Dennoch fühle ich mich so schuldig… So entsetzlich schuldig. Was hab ich getan? Was hab ich nur getan, als ich in dieses Wespennest stach… Ich ahnte doch nicht… Verdammt, ich hatte keine Ahnung… Was mach ich nun? Du sagtest, du verzeihst mir und wärst stolz auf mich, aber stimmt das? Ich hab dich umgebracht. Hast du das geahnt? Dass ich es sein würde, der dir dein Verderben bringt…? Und was denke ich hier eigentlich… du hörst mich ohnehin nicht… Shinichi seufzte, blickte auf, müde, ließ seinen Blick durch den Raum gleiten. Was mach ich hier bloß. Er streckte die Hand aus, tastete neben sich auf der Schreibtischplatte, fand schließlich, was er suchte; den Schalter der Schreibtischlampe. Shinichi knipste sie an, blinzelte, regelte dann die Lichtstärke runter, bis der sanfte Lichtschein kaum mehr über die Tischplatte reichte, den Rest des Raumes in völliger Dunkelheit beließ. Er biss sich auf die Lippen, starrte in die Finsternis vor sich. Dann setzte er sich auf, ließ sich zurück sinken, seine Hände auf den Armlehnen ruhen, spürte das abgegriffene Holz unter seinen Fingern und versuchte, zu atmen. Wenn schon nichts anderes möglich war, dann wenigstens das. Atmen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er niemals in diesem Stuhl gesessen hatte, und der Gedanke erschreckte ihn so sehr, dass er fast aufgesprungen wäre; er ließ es. Stattdessen betrachtete er die Dinge, die sein Vater zum Arbeiten gebraucht hatte. Es war nicht viel; die abgenutzte Lederschreibunterlage, ein paar Blätter liniertes Papier, ein Diktiergerät, ein Notizblock und in einem Becher stand ein Sammelsurium von Füllern und Federhaltern, darunter auch der Lieblingsfüller seines Vaters. Ein Laptop, der aber nur selten zum Einsatz kam; er wusste, sein Vater hatte immer mit der Hand geschrieben, eine seltsame Angewohnheit im digitalen Zeitalter. Papier lügt nicht, Shinichi. Es vergisst nichts, es löscht sich nicht von alleine und es gibt untrügerisch nicht nur den Inhalt dessen wieder, was der Autor verfasst hat, sondern gibt auch Aufschluss über seinen Zustand, über seine emotionale Anteilnahme an dem, was er schreibt. Er seufzte, stützte seinen Kopf auf eine Hand, griff mit der anderen nach einem Füllfederhalter, betrachtete ihn eingehend. Hast du einmal ein Buch mit der Hand geschrieben, dann weißt du, was du vollbracht hast. Shinichi seufzte, legte den Federhalter vor sich auf den Tisch. Unwillig griff er nach einem weißen Blatt vom Stapel, legte es vor sich und starrte es an. Ich bin kein Autor, Vater. Er schüttelte den Kopf, betrachtete weiter das weiße Blatt, als stünden darauf die Antworten auf die vielen, vielen Fragen, die in völliger Unordnung kreuz und quer in seinem Kopf übereinander lagen. Fangen wir von vorne an. Du bist mein Vater, und ich bin dein Sohn. Wenigstens das entsprach der Wahrheit. Ein bitteres Lächeln schlich über seine Lippen. Nun ist es aber so… du bist der Boss einer kriminellen Organisation gewesen, und ich… bin wohl einer der Menschen, die am vehementesten gegen diese Organisation gekämpft hat. Nun, Vater. Eigentlich sollte uns das zu zwei grundverschiedenen Menschen machen. Stattdessen sitze ich hier und habe schreckliche Angst, dir so viel ähnlicher zu sein, als ich glaubte – und es je sein wollte. Shinichi seufzte, schraubte den Federhalter auf, setzte ihn aufs Papier, bewegte die Feder allerdings nicht über das Blatt. Er sah der Tinte dabei zu, wie sie langsam in die Fasern kroch, sich das Papier mit schwarzer Tusche vollsog. Du sagtest, du wärst ihnen fast so begegnet, wie ich. Durch Zufall auf sie aufmerksam geworden, neugierig geworden… hast du sie verfolgt. Und sie haben dich beobachtet, mit dir gespielt, wie du wohl mit mir. Jeden deiner Schritte verfolgt, vorhergesehen – ach was rede ich – geplant. Und als sie die Zeit für reif erachteten, haben sie es dir gezeigt. Wie klein du bist. Wie wenig eine Gefahr für sie. Aber nicht nur das… sie haben dir gezeigt, was aus dir Großes werden könnte… und wie furchtbar dein Leben sein könnte, wenn du dich nicht beugst. Bis hierher kann ich alles verstehen. Genauso ging es mir doch auch… Ich war für dich doch auch mehr als kontrollierbar, jeder meiner Schritte vorhersehbar, zu keiner Zeit war ich eine Gefahr für dich, für sie… Bis… Tja. Bis dieser Tag kam… Du hättest es wohl ewig so weiterlaufen lassen, wie? Shinichi beobachtete den Klecks, der durch die Fasern blutete, hob die Feder hoch, setzte sie erneut ab. Und noch einmal. Immer weiter, in langsamem, aber regelmäßigem Takt hob und senkte er die Spitze, begleitet vom leisesten aller Klopfgeräusche, als er das Papier mit dunklen Punkten übersäte. Für jeden Punkt einen neuen Gedanken. Beaujolais hat dich in Zugzwang gebracht, du musstest handeln. Aber warum hast du mich nicht Conan bleiben, und mich einfach wieder irgendwo aussetzen lassen? Ich wusste doch nichts… ich hatte doch keine Ahnung, wie ich ins Hauptquartier gekommen war. Hast du etwas mitgekriegt? Hast du das mitgekriegt, wie es lief, zwischen… Ran und mir? Hast du es gesehen, wie ich lebte, die letzten Wochen…? Hattest du Mitleid, und dachtest, du kriegst mich irgendwie raus, nachdem man mir das Gegengift gegeben hatte? Bitte, so naiv kannst nicht mal du gewesen sein, Vater. Shinichi hielt inne. Seine Augen weiteten sich langsam, als die Erkenntnis ihn traf. Wolltest du es etwa? Er schüttelte den Kopf, immer wieder. „Nein.“, flüsterte er leise. Nur ein einziges Wort, kaum hörbar, sofort verschluckt von der Dunkelheit. Entsetzen packte ihn mit kalten Krallen. „Nein!“ Er schüttelte den Kopf, immer wieder. Das passte doch gar nicht. Das… konnte nicht sein. So wie er sich benommen hatte, so unentschlossen, so zögernd… Hatte er am Ende nur gewartet, bis auch er soweit war? Shinichi stand auf, so heftig, dass der Stuhl nach hinten rollte. Er schwankte, hielt sich den Kopf, starrte auf die Tischplatte, auf das von Punkten übersäte Blatt, ließ den Füller fallen. Hörte, wie er auf dem Parkett aufschlug und davonkullerte, und wusste, irgendwo trocknete jetzt ein Tintenfleck ein. Seine Augen glitten suchend über die Tischplatte, dann an ihr entlang nach unten. Seine Hand schnellte vor, griff nach der ersten Schublade, zog sie auf, durchwühlte den Inhalt, fand nicht, was er suchte. Er ging in die Knie, machte mit der zweiten Schublade weiter. Wahllos zog er Blätter und Manuskripte heraus, Korrespondenz mit dem Verlag, bis er zur letzten Schublade kam; sie war abgeschlossen. Er ließ sich rücklings auf dem Boden sinken, stützte sich mit den Händen ab, griff in etwas Nasses, und wusste, dass jetzt Tinte an seiner Handfläche klebte. Er tastete etwas weiter, bekam den Federhalter zu fassen und stand wieder auf. Hier fand er nicht, was er suchte, und das hätte er wissen müssen. Er hievte sich wieder in den Sessel, starrte auf die Lederschreibunterlage. Er griff danach, zog sie zur Seite, ließ sie achtlos auf den Boden gleiten; darunter war nichts. Gerade, als er sich erschöpft nach hinten sinken lassen wollte, und sich dem Gedanken hingeben, dass es doch nur ein Hirngespinst war, das ihn ritt, fielen sie ihm auf. Rillen in der Tischplatte. Fein, kaum zu sehen, und nur auf einer Fläche von einem DIN A5 Format ausgebreitet. Shinichi keuchte, beugte sich nach vorn, tastete mit seinen Fingern angestrengt darüber, drehte dann die Lampe heller. Mit zitternden Fingern griff er nach einem weiteren weißen Blatt und einem Bleistift. Er legte das Blatt auf die Stelle, fing an, die Holzplatte abzufrottieren, sah, wie langsam weiße Schriftzeichen entstanden, dort, wo die Rillen in das Holz eingegraben waren. Die Nachricht war nicht lang, die dort geschrieben stand. Du warst mir nie einen Schritt voraus. Es kam, wie es kommen musste; und wie es kommen sollte. BdN, Bd 1, 105 Shinichi starrte auf die zwei Zeilen auf dem Papier, schüttelte den Kopf, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Was soll das heißen? Angestrengt untersuchte er die Tischplatte nach einem weiteren Hinweis, fand aber nichts; er blieb mit den beiden kryptischen Zeilen allein. Die waren an sich ja gar nicht so kryptisch, wenn man so wollte. Zumindest nicht der erste. Dein Plan? Das kannst du nicht gewollt haben. Und auch nicht geplant! Oder…? Shinichi ließ sich zurücksinken, seine Hände mit dem Blatt sanken in seinen Schoß. Unfokussiert schaute er in die Stille der Bibliothek, konnte sie fast wispern hören, all die Bücher, die leise ihre Geschichte vor sich hinmurmelten. Er schaute noch einmal auf das Blatt, auf die Kombination von Buchstaben und Ziffern und schalt sich im nächsten Moment einen Narren, wie er nur so blind hatte sein können. Er stand auf, schritt die Regale ab, hastig; seine Finger glitten suchend über die Buchrücken, bis er im Dämmerlicht gefunden hatte, was er suchte. Der Baron der Nacht, Band eins. Shinichi zog es heraus, machte sich damit wieder zurück auf den Weg zum Schreibtisch, ließ sich in den Sessel sinken. Als er es auf besagter Seite aufschlug, fand er einen kleinen Schlüssel, der auf der Seite klebte. Er runzelte die Augenbrauen; dann löste er sehr vorsichtig das Klebekreppband, um die Seite nicht zu beschädigen, zog den Schlüssel heraus. Der Schlüssel für die letzte Schublade. Er sperrte sie auf, zog sie auf und schaute hinein. Darin befand sich ein Blatt Papier, das er nun vorschichtig herauszog und auseinanderfaltete. Seine Augen wurden groß, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel. Er betrachtete sich im Spiegel, die Maske in seinen Händen. Sein Blick wanderte zwischen seinen Identitäten hin und her. Hier das menschliche Antlitz, die wachen Augen, die ernste Miene, dort das manische Grinsen einer weißen Fratze, die bösartigen Augen einer blicklosen Maske. Wie hatte es eigentlich je soweit kommen können? Wann hatte das angefangen? Wann hatte er damit begonnen, als gesichtsloses Monster die Straßen Tokios unsicher zu machen, wann hatte er sich selbst so vergessen, dass er stahl, um des Stehlens willen, Leute umbrachte für Geld oder aus Rache? Wann war er zu so einem Menschen geworden… oder besser, wann hatte er aufgehört, ein Mensch zu sein? Sie alle wussten es nicht… sie ahnten nicht, wer er wirklich war. Was für ein Monster aus ihm wurde, nachts, wenn sie alle schliefen. Nun hatte er die Chance, das zu ändern. Er wusste nicht, welchen Preis er dafür zahlen würde… unter Umständen war er horrend. Unter Umständen bezahlte er mit seinem Leben dafür, jetzt das Richtige zu tun. Sich gegen sich selbst zu wenden, gegen die Maske, gegen alles, was zu ihr gehörte, und der zu sein, der ihm aus dem Spiegel entgegenblickte. Unsicher fuhr er sich mit einer Hand durch sein kurzes Haar. Ein paar blauer Augen starrte ihn musternd an, genauso, als wollten sie ihn prüfen. Prüfen, ob er der Richtige war, für diese Aufgabe. Sehen, ob er mutig genug war, endlich den Schlussstrich zu ziehen. Dem Baron der Nacht den Dolch ins Herz zu stoßen. Er hob die Maske langsam an, sah ihr ins Gesicht, sah die leeren Augen. Noch war er sich nicht sicher. Auch wenn er, und das ahnte er, eigentlich die Entscheidung schon längst gefällt hatte. Allein der Dolch fehlte noch. BdN, Bd. 13, 451-455 Darunter klebte ein weiterer Schlüssel. Ein Safeschlüssel. Seine Hände zitterten, als er das Schriftstück sinken ließ. Du hast nur auf mich gewartet. Shinichi blinzelte, als würde er aufwachen; in seinen Fingern hatte er jegliches Gefühl verloren. Seltsamerweise machte jetzt auf einmal alles Sinn; jedes Stückchen dieses Puzzles fiel an seinen Platz, jetzt, endlich. Als Beaujolais meine Tarnung auffliegen ließ, mussest du handeln, allein wusstest du noch nicht, wie… Deshalb hast du mir geholfen. Mir das Gegengift gegeben, weil du wusstest, wie ich auch, wie wenig ein kleines Kind ausrichten kann. Deshalb hast du mich beschützt, mich integrieren wollen, damit ich sehen kann, was vorgeht in diesem Laden; wie es läuft, wer darin verwickelt ist, welche Strukturen herrschen. Und das alles musste möglichst unauffällig sein, hätten sie den Braten gerochen, gemerkt, dass du mit mir persönlich Kontakt aufnimmst, wäre alles vorbeigewesen, bevor es angefangen hat. Zwischendrin war es wohl tatsächlich etwas eng… für dich. Ihnen diese Schmierenkomödie glaubhaft zu verkaufen war sicher nicht einfach; und gleichzeitig waren da ja noch wir. Mama… und ich. Wahrscheinlich war es gerade Mama gegenüber unglaublich hart für dich. Wenn du das alles plantest… musstest du dir ja… im Klaren darüber sein, wie das endet. Aber dennoch… ich meine… Warum hast du mir vorgemacht, du würdest das nicht wollen? Warum bist du mir ausgewichen? Warum… War das dein Plan? Wolltest du, dass ich die Achtung vor dir verliere? Warum hast du mir deine Pläne nicht verraten, vielleicht… Shinichi runzelte die Stirn. Konnte sein Vater das wirklich alles geplant haben? Eigentlich hatte er eher den Eindruck gehabt, sein Vater wäre zu feige gewesen, um etwas zu ändern. Angst vor den Konsequenzen seines Handelns gehabt. Er löste den Schlüssel vom Blatt, sah ihn an. Er hatte keine Ahnung, wo ein Safe stehen könnte, also versuchte er das Offensichtliche – der Schreibtisch hatte nicht nur Schubladen, sondern auch ein Schrankfach. Shinichi bückte sich ein wenig, griff nach der kleinen Schranktür des Schreibtischs, die auf der anderen Seite angebracht war, zog sie auf. Darin befand sich tatsächlich ein kleiner Tresor. Ein weiteres Mal glitt er aus seinem Stuhl, kniete sich vor den Tresor, sperrte auf, griff hinein, bekam eine Holzschatulle zu fassen und zog sie heraus. Er zog sich an der Schreibtischkante wieder hoch, ließ sich in den Schreibtischstuhl sinken, betrachtete das Kästchen. Er klappte es auf, fand es unverschlossen vor. Wie er erwartet hatte, fand er dort das Manuskript des letzten Bandes, handschriftlich nummeriert. Er merkte, wie Nervosität ihn ergriff, und eine Anspannung, die ihm die Haare zu Berge stehen ließ, ihm eine Gänsehaut nach dem anderen über den Rücken, die Arme jagte. Er zog die besagte Seite hervor, stellte fest, dass es das Ende war. Er kannte es nicht; dies war der Teil, der wohl gerade erst noch fertig geworden war. Shinichi legte den Kopf in den Nacken, seufzte tief, merkte, wie ihn die Trauer fast überwältigte, versuchte, sich zusammenzureißen. Biss die Zähne aufeinander, bis seine Kiefer knirschten, kämpfte alles runter, was nach draußen wollte, und nahm sich zusammen. Dann widmete er sich den Blättern in seiner Hand, auf denen sich die Schriftzeichen drängten. Hier in dieser Höhe verlor das Nachtleben Tokios seine Hektik, seine Lautheit, alles Grelle und Schrille… und das lag einzig und allein an der Stille. Kein Ton drang an seine Ohren, nichts weiter außer dem Rauschen des Windes, der um die Fassade pfiff und an seinem Mantel zerrte. Der Baron zog ihn etwas enger um sich, dann prüfte er kurz noch den Sitz seiner Maske. Sie würde heute fallen… Allerdings – noch nicht jetzt. Einen letzten Dienst würde ihm das starre, bösartige, weiße Antlitz noch erweisen müssen, ehe sie ihr Ende fand. Dann ging die Tür des Treppenhauses auf, Schritte näherten sich - rasche, entschlossene Schritte. Er wusste, dass er es war. Der Kommissar. „Herr Baron. Guten Abend.“ Er nickte kurz. „Wie Sie sehen, bin ich Ihrer Einladung gefolgt – nun möchte ich aber doch gerne wissen, was es damit auf sich hat.“ Er klang fest und entschlossen, auch wenn er ihm ansah, dass er Angst hatte. Er war angespannt, der junge Kommissar, und nervös. Unschlüssig stand der Baron da, seine Finger spielten nervös mit dem Faden, der die Maske davon abhielt, einfach von seinem Gesicht abzublättern wie Farbe von feucht gewordenem Mauerwerk. Schweiß brach ihm aus allen Poren, machte ihm das Tragen der Maske unerträglich, eigentlich. Aber noch wollte er sie nicht ziehen – auch wenn sie heute noch fallen würde. In den nächsten Augenblicken sogar. Soviel war klar - aber das Timing musste stimmen. Er liebte den großen Auftritt viel zu sehr. Heute war er hier, um ein Ende zu finden für diesen Alptraum von einer Geschichte. Ihm gegenüber stand er, seine Augen unverwandt auf ihn gerichtet, hielten ihn fest. Kommissar Koichi Endo. „Sie sprachen von Hilfe, die Sie mir anbieten wollen, in meinem Fall. Ich muss sagen, das macht mich neugierig; ich wüsste nicht, wie Sie mir helfen könnten, Baron.“ Endos Stimme klang leicht spöttisch. Das war etwas, das der Baron an ihm schätzte; selbst im Angesicht eines so mächtigen Gegners wie er ihn abgab, behielt der Mann Haltung. Blieb seinen Prinzipien treu und ließ sich nicht einschüchtern. „Was ist jetzt? Reden Sie heute auch noch mal mit mir? Sie sind doch sonst nicht so schweigsam.“ Der Baron lächelte bitter. „Ich denke, viel erzählen muss ich Ihnen auch nicht.“ Er sah ihn ruhig an, dankte im Stillen der Maske, die ihm diese Gelassenheit erlaubte. „Ich will Rache. Und ich will sie heute Nacht. Hier und jetzt. Und Sie werden mir dabei helfen.“ Unbehagen machte sich auf dem Gesicht des Kommissars breit. „Hier und jetzt? Wie darf ich das verstehen?“ Der Baron lächelte zynisch. „Im Grunde genommen ist es ganz einfach. Ich bin der Kopf dieses Syndikats.“ Endo starrte ihn an, auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck namenlosen Entsetzens. „Bitte, was?! Und wie-…“ Der Baron trat näher. „Das tut jetzt nichts zur Sache. Was viel wichtiger ist - hat es funktioniert?“ Der junge Mann starrte ihn an, mit geöffnetem Mund, nickte dann langsam, als die Frage zu ihm durchdrang. „Ja. Die Personen der Liste sind alle im Conference Centre, eingesperrt, die Polziei ist unterwegs, um sie zu verhaften. Bis auf zwei. Wie Sie wünschten – oder besser, vorhersagten. Sie sind mir gefolgt und sollten gleich hier sein. Aber was soll ich…“ Der Kommissar schluckte unwillkürlich. „Sie sehen zu. Hören zu. Und dann tun Sie, was Sie tun müssen.“ Er warf ihm eine Waffe zu. „Können Sie mit dem Ding umgehen?“ Endo betrachtete sie kurz, nickte dann. „Bestens. Treten Sie neben mich.“ Unwillig stellte sich Endo neben den Mann mit der Maske, behielt die Tür im Blick. „Warum das alles?“ Der Baron lächelte; ein Lächeln, das der Kommissar so allerdings nicht sah. „Ich sagte es bereits. Vergeltung.“ „Könnten Sie sie dann nicht einfach umbringen?“, entgegnete der Polizist patzig. Der Baron warf ihm einen kühlen Blick zu. „Sicher könnte ich das. Ich könnte auch Sie umbringen. Ich will aber etwas anderes. Ich möchte, dass Sie hier als Zeuge fungieren. Was Sie mit mir hinterher machen, wird mir egal sein.“ Endo schluckte hart, versuchte, seine Gedanken zu ordnen, einen Grund zu finden, für das Verhalten dieses Mannes. Ihm kam nur einer in den Sinn. „Wer ist es?“ „Was…?“ „Ihre Frau? Ihre Tochter? Schwester?“ Endo wusste, er wagte sich weit vor. Der Baron, der die Tür, hinter der es langsam laut wurde, nicht aus den Augen gelassen hatte, drehte sich abrupt um. „Sie werden es erfahren, wenn ich es will. Jetzt will ich es nicht.“ Shinichis Augen huschten über die Zeilen, seine Lippen bewegten sich leicht, als er las, einzelne Wörter mit artikulierte. Ihn fröstelte, unwillkürlich, als er noch beim Lesen immer mehr Parallelen zog. Er hatte nie geahnt, wie sehr sein Vater wirklich mit dem Baron verschmolzen war. Und niemals – niemals wäre er auf die Idee gekommen, sich selbst in der Figur des Kommissars zu suchen. Yukiko betrat das Zimmer, er merkte es nicht. Sie lehnte sich an den Türrahmen, beobachtete ihn, wie er las, sah an seiner Haltung, wie es ihn mitnahm. Die Blätter lagen vor ihm auf dem Tisch, eine seiner Hände hatte er sin seine Haare gekrallt, mit der anderen hielt er das Manuskript so fest, dass die Blätter knitterten. Eine Weile blieb sie stehen, wo sie war, beobachtete ihn aus der Finsternis. Ahnte, dass sich seine Gedanken gerade überschlugen. Dann ging sie, ließ ihn alleine, wohl wissend, dass er kommen würde, wenn er fertig war. … Der Kommissar keuchte. Er spürte den Rückschlag der Waffe immer noch in der Handfläche brennen. Dann drehte er sich um, sah den Baron, der da stand wie ein steinernes Denkmal, die fratzenhafte Maske unbewegt wie eh und je. Auch er hielt eine Waffe in der Hand. Es klirrte metallisch, als Endo den Revolver fallen ließ, der kalte Stahl Funken aus dem Betonboden des Flachdachs schlug. Er biss die Zähne zusammen, dann sah er auf die beiden Männer, die tot auf dem Boden lagen. „Erklären Sie mir jetzt, warum das alles? Denken Sie nicht, ich hab eine Erklärung verdient? Ich wär hier fast draufgegangen! Und -“ Er gestikulierte wild in Richtung der beiden Toten. „Sie waren sehr tapfer, ja.“ Der Baron der Nacht lachte. „Oh. Tapfer. Aus ihrem Mund klingt das fast wie ein Ritterschlag.“ Die Stimme des Kommissars troff vor Sarkasmus. Der Baron sah ihn an, gelassen an die Brüstung gelehnt. Endo starrte ihm wütend und genervt entgegen. „Sagen Sie, warum das alles? Wozu brauchten Sie mich hierfür?“ Wind fing sich in seinen schweißnassen Haaren. „Das gibt bestimmt ne saftige Erkältung.“, knurrte er. Dann wandte er sich wieder seinem Gegenüber zu. „Also was ist nun?“ „Weil Sie der Dolch sind, Her Kommissar.“ Er atmete schwer, trat dann näher, auf den Baron der Nacht zu, bis er knapp vor ihm zu stehen kam. „Welcher Dolch? Was reden Sie da eigentlich? Die ganze Zeit sind Sie nicht in der Lage, allein gegen ihren Verein was zu unternehmen, und jetzt, auf einmal – stehen Sie hier, helfen mir diesem – IHREM - Syndikat das Handwerk zu legen und faseln etwas von einem Dolch… Habe ich mir nicht langsam mal eine Erklärung verdient?“ „Vermutlich haben Sie das.“ Der Baron seufzte; holte tief Luft. „Nicht nur vermutlich!“ Der Kommissar klang ungehalten. Er wusste, jetzt näherte sich alles dem Ende; sein Plan war aufgegangen, seine Mission erfüllt. Sollte der Kommissar nun ruhig die ganze Geschichte wissen. „Mariko Endo.“ Der Wind riss die Worte förmlich mit sich. Endo hörte sie nichtsdestotrotz. Er erblasste, sein Teint wurde noch bleicher, als er ohnehin schon war. Er sah es. Auch wenn es stockdunkel war, er sah es. Er spürte es. Er hatte ins Schwarze getroffen. „Sie ist tot, seit zwanzig Jahren. Eines der prominentesten Opfer der Black Arrows… Verheiratet mit einem recht erfolgreichen Schriftsteller, Satoshi Endo, um den es seither allerdings etwas still geworden ist, offenbar hat ihn der Verlust hart getroffen. Woher wissen Sie von ihr?“ „Ich bin dieser Schriftsteller. Sie war meine Frau. Koichi.“ Es klirrte dumpf, als die Maske aus porzellanweißem Gips auf dem Boden zerbarst. Koichi stolperte zurück, starrte den Mann entsetzt an. „Vater.“, flüsterte er leise. Der demaskierte Baron nickte langsam. Ohne seine Maske, das wusste er, sah er längst nicht mehr so furchteinflößend aus, erst recht nicht vor ihm; er wirkte verletzbar, und war es auch. Umständlich zog seinen Hut vom Kopf, warf ihn dem jungen Polizisten vor die Füße. Der Kommissar sah ihm zu dabei, seine Lippen aufeinander gepresst. Seine Gedanken rasten. Endo hingegen löste mit zitternden Fingern den Umhang, ließ ihn los; der Wind zerrte ihn mit sich, in die Nacht, ein schwarzes Segel, gesetzt und in Fahrt auf dem glitzernden, Schwarzen Meer des Nachthimmels. Als er nun so da stand, ohne Maske, ohne Hut und Umhang, war er kaum wieder zu erkennen. Koichi trat näher, sah dem Mann in die Augen, mit dem er sich so lange schon ein Katz und Maus-Spiel geliefert hatte. Kurz sah es aus, als ob der junge Mann in Ohnmacht fallen würde. Dann fasste er sich, schluckte hart. „Was hast… was hast du dir dabei gedacht, dabei, wie… wie konntest du…“ Satoshi Endo senkte den Blick, schüttelte den Kopf. „Ich kann es nicht erklären. Ich…“ Hilflos zuckte er mit den Schultern, schaute auf. In seinen Augen stand Reue und Schmerz. „Ich hatte mir das auch anders gedacht. Du warst noch so klein, kaum fünf Jahre alt. Ich… war Kriminalschriftsteller, wie du ja weißt. Bei Recherchen für einen Roman kam ich Ihnen auf die Spur, und da… ergab leider das eine das andere. Ich hab mich maßlos überschätzt, mit euren Leben gespielt, das deiner Mutter verloren. Ich schwor Rache, und zwar grausame… Rache. All die Leute, die ich getötet habe, waren Mitglieder dieses Syndikats. Sie wusste nichts von meiner Identität als Baron der Nacht; nur dass ich ihr Gegner war. Gleichzeitig hab ich sie als Mitglied infiltriert, hatte meine Informationen immer aus erster Hand. Ich wollte… ich wollte ihnen einen Schlag verpassen, der sie nicht wieder aufstehen lässt.“ Er wandte den Blick ab. „Ich hab dich zu meiner Schwester gebracht, wie du weißt. Man verstand das, ich war als Mann zu nichts zu gebrauchen, erst Recht nicht zum Großziehen kleiner Kinder. Ich war kaum für dich da, und als Jugendlicher… hast du dich von mir abgewandt, von einem Vater, der dir keiner war, und mir war das Recht.“ Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich hatte kein Problem, bis du auf den Plan tratst. Und dann hast du mir all die Fehler in meinen Gedankengängen gezeigt.“ Koichi war langsam näher getreten. „Die da wären?“ Sein Vater sah ihn lange an, ehe er antwortete. „Der erste war, dich die meiste Zeit allein zu lassen und anzulügen. Ich kann mir das nicht verzeihen. Ich hätte nie mit dieser Geschichte anfangen sollen. Ich hätte bei dir bleiben sollen, aus dieser Katastrophe lernen, und mich um dich kümmern sollen. Das hab ich nicht getan – und das tut mir Leid.“ Als der Kommissar den Mund öffnen wollte, um etwas zu entgegnen, schnitt ihm der Ältere das Wort ab. „Nein. Ich will keine Vergebung von dir. Das ist nicht zu verzeihen.“ Koichi schluckte, seufzte dann, zog die Augenbrauen hoch. „Fehler Nummer zwei?“ Der Schriftsteller lächelte müde. „Nicht viel früher etwas geändert zu haben.“ Er strich sich über die Augen, langsam. „Lange Zeit hatte ich ziemliche Angst, dass man herausfand, wer ich bin. Weil ich wusste, dass dann auch du und meine Schwester in Gefahr sein würdet. Deshalb ließ ich es laufen, versuchte im Verborgenen, etwas zu tun, aber ich merkte bald, diese Organisation war wie die Hydra – je mehr Köpfe ich ihr abschlug, desto mehr wuchsen nach. Ich brauchte Hilfe.“ „Meine Hilfe.“ „Deine Hilfe, ja.“ Satoshi Endo seufzte. „Es musste jemand da sein, der dafür sorgte, dass man sie alle kriegte. Jemand, der nicht Mitglied der Organisation war, der den Hebel außen ansetzen konnte. Du warst der Dolch, Koichi. Ein messerscharfer Verstand, ein unbeugsamer Wille, Trefferquote einhundert Prozent. Du erreichst dein Ziel. Immer. Ich brauchte dich, um ihnen das Handwerk zu legen, allein konnte ich es nicht. Ich steckte drin… ich brauchte jemanden von draußen, der sie ablenkte, ihren Blick von mir wandte. Du hast sie provoziert, herausgefordert, wurdest so gefährlich, dass man dich zur Chefsache machte. Ich brauchte jemanden, der dachte wie ich, die gleichen Schlüsse zog wie ich. Und der unbeugsamer war als ich. Und gleichzeitig solltest du mich als deinen Feind sehen… damit du mit mir genauso unbeugsam verfährst wie mit ihnen. Weil ich es verdient habe… und weil du dir diese Schuld nicht aufladen sollst. Du hast keine Schuld an meinem Leben. Und auch nicht an seinem Ende.“ Er schritt auf den jungen Mann, streckte seinen Arm, mit der er die Glock umklammerte, aus. Endo erschrak, nestelte an seinem Mantel, versuchte panisch an seine Waffe zu kommen und verfluchte sich, dass er es gewagt hatte, diesem Mörder auch nur zwei Millimeter weit zu trauen. Dann stutzte er, als er ein leises Klicken vernahm, und das kurze helle Blitzen von Metall in Bewegung. Er sah auf. Vor seiner Nase pendelte die Glock. Der Baron hatte die Hand ausgereckt, die Schusswaffe nur noch gehalten von seinem Zeigefinger, der im Abzugsring steckte. Endo schluckte hart - dann sah er ihm in die Augen, fest. Nahm die Waffe an sich, steckte sie ein. „Hey?! Geht’s dir eigentlich noch gut? Ich könnte dich festnehmen, wenn ich…“ „Natürlich.“, meinte der Ex-Baron gelassen. Er steckte gelassen die Hände in die Hosentaschen. „Und du kannst es gern versuchen, wenn wir unten sind. Ich denke, wir sind hier oben fertig.“ Ein leises Seufzen glitt ihm über die Lippen, als er sich umsah. „Geh schon mal vor, ich komm gleich nach.“ Koichi sah ihn prüfend an. Irgendetwas in den Augen seines Vaters gefiel ihm nicht. Seine Stimme hatte gelassen geklungen; allerdings seine Augen straften diese Gelassenheit Lügen. Dennoch nickte er, langsam. „Gut. Ich warte drinnen.“ Satoshi Endo lächelte kurz. „Danke.“ Damit streckte er die Hand aus, drückte ihm kurz die Schulter. Koichi schaute ihn überrascht an; dann nickte er ihm knapp zu und ging hinein in das Treppenhaus. Sollte er seine paar Minuten Freiheit noch haben. Unwillkürlich berührte er seine Schulter, da wo sein Vater ihn angefasst hatte. Und wartete, hing seinen Gedanken nach. Überdachte noch einmal alles, was er heute erfahren hatte, setzte die Puzzleteile ein in das Rätsel, das sein Leben war; und freute sich auf das Gesicht seiner Freundin, wenn er heimkam. Heute hatte er viel geschafft. Dann stutzte er. Unruhe ergriff ihn, ein ungutes Gefühl keimte in ihm hoch, und er fragte sich, wie er so blöd hatte sein können; er hatte doch geahnt, dass… Er riss die Tür auf, stürzte nach draußen, stolperte in die Mitte der Plattform, sah sich hektisch um. Rannte von Brüstung zu Brüstung, rief und schrie nach ihm. Er war nirgends zu finden. Ihm wurde schlecht, als er sein Handy hervorholte, das Team am Boden anrief, es mit der Suche nach einem Toten beauftragte. Man fand keinen. Der Baron der Nacht war verschwunden, spurlos. Einzig und allein die zerbrochene Maske erinnerte daran, dass der Baron der Nacht hier gewesen war. Kommissar Koichi Endo sah sie lange an; dann bückte er sich, hob ein Fragment auf, schaute es nachdenklich an, spürte einen seltsamen Kloß in seinem Hals. Worte standen darauf geschrieben. Hastig sammelte er die anderen Scherben ein, setzte sie zusammen. Zwei Sätze entstanden; er las sie, wieder und wieder. Dann steckte er die Fragmente ein, starrte hinaus in die Nacht. „Also leb wohl. Vater…“ Der Wind trug seine Worte hinaus in den anbrechenden Morgen, dessen Erwachen ein silberner Streifen am Horizont bereits ankündigte. Shinichi sank zurück, langsam. Legte die Blätter zurück in die Schublade, schob sie zu. Mit Mühe schluckte er den Kloß im Hals hinunter, strich sich über die Augen, fest; so fest, dass kurz schwarze Kreise vor seinem Gesicht zu tanzen schienen. Du bist auf dem rechten Weg. Lass dich davon nicht abbringen, egal was passiert. Nur schwer konnte er begreifen, was er gerade gelesen hatte. Er fühlte sich erschlagen von allem, was er erfahren hatte – abgesehen davon, dass er ohnehin noch völlig erschlagen war von den Ereignissen der letzten Tage. Du hast es geplant. Er unterdrückte einen Aufschrei, als er merkte, wie der Frust, der sich seit Tagen in ihm anstaute, sich ein Ventil suchen wollte. Er kämpfte mit Macht dagegen an, ballte seine Fäuste so fest, dass seine Fingernägel sich seine Handflächen bohrten, biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte, und genoss den Schmerz fast, der ihm ein wenig seiner seelischen Qualen zu nehmen schien, wie kurz auch immer. Du hast es geplant, verdammt! Du hast mir etwas vorgespielt, du hast… Und das alles nur, damit… Das alles nur damit ich es durchziehe. Damit die Gewissensbisse mich nicht abhalten, das mit dir zu machen. Weil ich es allein getan hätte, hätte ich gewusst, dass du… in voller Absicht auf dein Ende zusteuerst. Ich dachte nicht daran, ich wollte nicht daran denken, ich weiß nicht, was ich… gedacht habe. Dass es sich in Wohlgefallen auflöst, das Ganze? Aber du bist nicht verschwunden, wie der Baron der Nacht. Du bist gestorben! Und nun sagst du mir, dass es nicht meine Schuld war. Dass du es geplant hattest. Jeden Schritt. Jeden meiner Schritte. Du Idiot! Shinichi stöhnte auf, stand auf, tigerte im dunklen Zimmer auf und ab. Aber was heißt das nun für mich? Bin ich nun weniger Schuld an deinem Tod? Du… Was willst du denn von mir… sag mir, was soll ich nun machen. Er hielt inne, horchte in die Dunkelheit. Hörte seinen eigenen Atem, fühlte nichts, als weiche, samtene Finsternis um sich herum. Du willst, dass ich lebe, ich weiß. Du hast mir mein Leben geschenkt, dreimal, mindestens. Du willst, dass ich glücklich bin, wie jeder Vater das will. Und ich will das auch. Aber dafür… Dafür muss ich es ihr sagen. Und ich weiß doch nicht, wie… Ich weiß nicht, wie. Und ich habe Angst. Nicht Angst, dass sie mich hasst. Das könnte sie nicht… Ich habe Angst, dass sie mich fürchtet. Oder mich verabscheut. Er seufzte, warf einen Blick aus den Augenwinkeln zum Schreibtisch. Langsam trat er näher, griff nach dem Füllfederhalter, schraubte ihn zu, steckte ihn ein. Dann gab er dem Lichtschalter der Lampe einen kurzen Klaps, verließ die Bibliothek. In der Küche fand er seine Mutter am Küchentisch sitzend; in ihren Fingern hielt sie Sharons Brief, wie er erkennen konnte. Sie hob den Kopf, als er eintrat; er schenkte ihr ein Lächeln, seufzte leise. „Und, was schreibt sie?“ „Nicht viel, das ich noch nicht wusste.“, murmelte sie leise. Er zog sich einen Stuhl hervor, setzte sich neben sie. „Wie… wie geht’s dir?“ Überraschung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. „Hör auf.“, meinte er langsam. „Ja, ich hab viel mitgemacht. Du aber auch.“ Sie seufzte, griff nach seiner Hand. „Du vermisst ihn.“, stellte er mit leiser Stimme fest. Sie lächelte schief. „Ja.“ „Ich auch.“ Er rieb sich die Schläfen. „Es… es tut mir Leid, Mama. Hätte ich nicht den Stein ins Rollen…“ „Shinichi.“ Sie hielt ihm den Mund zu, zog die Augenbrauen hoch und hob den Finger warnend, als er etwas sagen wollte. „Er war ein erwachsener Mann, der seine eigenen Entscheidungen traf. Du solltest das wissen. Gerade du solltest das.“ Langsam nickte er, atmete gepresst aus. „Dennoch habe ich das Gefühl, das hier alles zerstört zu haben.“ Yukiko lachte leise. „Aber das hast du nicht.“ „Hm?“ Er warf ihr einen verwirrten Blick zu. Ein breites Lächeln breitete sich über ihr Gesicht aus; sie liebte es immer noch, wenn sie ihn erstaunen konnte. „Du bist doch noch hier; und ich bin es auch. Dein Vater… ist tot… aber das heißt nicht, dass unsere Familie zerstört ist. Wichtig ist, dass du den Weg nach draußen findest… und wie mir scheint, fängst du an, endlich.“ Er seufzte schwer. „Es gibt nur ein… Problem.“ „Ran.“ Shinichi wurde rot. „So direkt wollte ich der Sache keinen Namen geben, Mama.“ Sie lachte leise. „Na, ich war schon immer direkt, das weißt du. Und ich weiß auch, dass du sie liebst. Das ist, weiß Gott, kein Geheimnis mehr.“ Ihr Sohn sah sie aus Halbmondaugen genervt an. „Danke, Mama.“ Sie tippte ihm auf die Nase. „Du brauchst sie. Deshalb schützt du sie. Deshalb willst du, dass sie glücklich ist.“ Er ließ sich zurücksinken auf den Stuhl, bis er zwischen Lehne und Sitzfläche hing wie ein nasser Sack. „Ja.“, gestand er dann unwillig. „Furchtbar egoistisch von mir. Aber ja. Ich… ich brauche sie.“ Yukiko wandte sich ihm zu. „Das hat mit Egoismus nichts zu tun, Shinichi. Denn du darfst mir glauben, sie empfindet genauso. Und es ist für sie eine Qual, momentan. Nicht bei dir zu sein, dir nicht helfen zu dürfen, wo sie doch sieht, dass es dir schlecht geht.“ Er drehte den Kopf, sah sie an. „Damit hast du sicher Recht. Und ich weiß das auch. Aber ich… ich meine… machen wir uns nichts vor. Was ich getan hab…“ „Ja?“ „Was ist, wenn sie mich dafür verabscheut? Oder Angst hat, vor mir? Ich meine...“ Yukiko schüttelte den Kopf, lachte schallend. Shinichi starrte sie an, ein Ausdruck von Ärger auf seinem Gesicht. „Na, jetzt hör mal, Mama, so lustig ist das nicht…!“ Yukiko räusperte sich, sammelte sich mühsam, lächelte ihren Sohn an, der sie immer noch etwas angesäuert anschaute. „Shinichi, bei allem Respekt. Du siehst nicht furchteinflößend aus, momentan. Und ich schätze, dass Ran so ziemlich die letzte Person ist, die vor dir jemals Angst haben wird. Und ich sage es dir auch ungern, aber weder du noch ich sind Hellseher. Du musst es ihr sagen, erst dann wirst du wissen, wie sie reagiert.“ Er sah sie empört an, lächelte dann geschlagen, ehe er wieder ernst wurde. „Aber ich weiß nicht wie ich ihr…“ Sie stand auf, tätschelte ihm den Kopf. „Natürlich weißt du das jetzt noch nicht, Dummkopf. Wenn es soweit ist, wirst du’s wissen. Und bis dahin – geh ins Bett, Shinichi.“ Sie blickte auf die Uhr. „Es ist spät. Und du weißt, was morgen…“ Er folgte ihrem Blick, seufzte leise. „Ja, das weiß ich.“ Er stand auf, sah sie an, bemerkte erst jetzt, dass er sie fast einen halben Kopf überragte. Er lächelte, gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, Mama. Schlaf gut.“ Sie starrte ihm hinterher, fasste sich dann an die Wange. Und lächelte. Kapitel 56: Kapitel 38: Nichts scheint, wie es ist -------------------------------------------------- Tja, liebe Leute - es ist tatsächlich war! Dies ist das vorletzte Kapitel von Amnesia. Das letzte Kapitel wartet geduldig bis nächste Woche aufs Hochladen. Ich entschuldige mich nochmal aufrichtig für die langen Wartezeiten, und kann euch nun endlich sagen - und sogar versprechen: Das Ende ist nah! Ich hoffe sehr, ihr könnt die letzten Kapitel noch genießen; dieses hier ist zugegebenermaßen von etwas gedrückter Stimmung geprägt. Wir sehn uns nächste Woche. Bis dahin, vielen Dank für alle, die noch dabei sind und mit tatsächlich noch kommentieren sollten (ja, ich hab euch wirklich LANGE warten lassen...) - eure Leira __________________________________________ Kapitel 38: Nichts scheint, wie es ist Der nächste Tag brach an wie jeder andere; wie tausende Tage in seinem Leben zuvor. Er begann damit, dass die Sonne aufging. So wie sie es jeden Tag tat. Und doch unterschied sich dieser Morgen von allen ihm vorangegangenen in so vielerlei Hinsicht. Shinichi seufzte leise, nachdem er durch das sanfte Klopfen an seiner Tür aufgewacht war. Kurz war das Gesicht seiner Mutter im Türrahmen erschienen, als sie sich vergewissert hatte, dass er wach war. Er drehte sich auf den Rücken, strich sich müde den Schlaf aus den Augen und genoss das Gefühl, einfach nur dazuliegen und nichts zu tun, nichts zu denken, nur das wohlig warme Gefühl der Decke auf seiner Haut zu spüren, den Duft des frühen Morgens zu riechen und das goldgelbe Muster auf der Decke zu beobachten, das die Morgensonne mit geschickter Hand auf die Zimmerdecke malte. Dann tauchte ihr Gesicht vor seinen Augen auf. Ran. Er seufzte erneut, definitiv lauter, ein Stirnrunzeln durchfurchte seine Stirn. Ihm war klar, dass er sie liebte; auch, dass er mit ihr zusammen sein wollte, wusste er. Trotz allem, was ihm passiert war, was er getan hatte, so war ihm doch klar, dass er egoistisch genug war um einzusehen, dass es ihm mit ihr besser ging. Er brauchte sie, er wünschte sich ein Leben mit ihr. Und gleichzeitig war er sich nicht sicher, ob sie nicht dennoch besser dran war ohne ihn. Zumindest jetzt, nach allem, was passiert war. Fakt war, er musste mit ihr darüber reden; egal wie es mit ihnen weiterging, danach. Sie musste wissen, was passiert war. Es war nicht fair, sie einfach stehen zu lassen ohne eine Erklärung. Ohne ihr die Möglichkeit gegeben zu haben, selbst darüber nachzudenken. Mit ihrer Reaktion würde er dann leben müssen; allerdings fürchtete er sie nicht halb so sehr wie das Gespräch, das zu einer Reaktion ihrerseits führen würde. Er fragte sich, wie sie sich fühlen würde, wenn sie erst wusste, was er getan hatte. Fragte sich, ob er es ertrug, in ihrem Gesicht zu sehen, wie das Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte, und bestimmt ein sehr positives war… zerbrach. Auseinanderfiel in tausend über tausend kleine Scherben. Ich frag mich, wie es für andere ist, mir ins Gesicht zu sehen, wenn es mir selbst so schwer fällt. Wie auch immer; er war zu dem Schluss gekommen, nach der gestrigen Auseinandersetzung mit der Nachricht seines Vaters, dass nie wieder mit ihr zu reden genauso wenig eine Option war wie ein Leben mit ihr zu führen, in dem ihr nicht alle Fakten über ihn bekannt waren. Gleiches Recht für alle, Ran. Er war der Boss dieser Organisation… und ich bin sein Sohn, und ihm in manchen Dingen wohl nicht unähnlich. Kannst du darüber hinwegsehen? Und kannst du verkraften, dass ich jemanden umgebracht habe? Ausgerechnet ich? Wie gehst du damit um? Gut, du bist die Tochter eines Polizisten, du bist mit dem Thema vertraut… Selbstverteidigung ist dir nicht fremd, aber dennoch. Gibt es irgendetwas auf dieser Welt, das es rechtfertigt, jemandem das Leben zu nehmen? Für dich war ich immer der Ritter in strahlender Rüstung… fehlerlos, makellos, ein Verfechter von Recht und Gerechtigkeit – und genau das wollte ich auch sein. Für dich. Für mich… Es schien so einfach, das Richtige zu tun, denn das Richtige fühlte sich gut an. Manchmal bitter, aber niemals falsch. Oder schlecht. So wie jetzt. Ich wollte wahrhaftig sein. Gerecht. Ein Vertreter der Wahrheit. Derjenige, der immer das Richtige macht, immer die Antwort weiß, der, an den man immer glauben kann, der nie schwankt, der wollte ich sein, und ich war es auch. Aber jetzt… Habe ich das Richtige getan? Was ist dieses dämliche Richtige eigentlich? Gibt es richtig und falsch in solchen Situationen… oder verschmelzen sie miteinander, ist richtig immer gleichzeitig falsch, wenn es… Wenn es um das bloße Leben an sich geht? Wenn es um den nächsten Atemzug geht… um nichts anderes sonst. Ich war der, dem du bedingungslos vertraut hast, weil du glaubtest, mich zu kennen… Glaubst du das immer noch? Glaubst du immer noch, du kennst mich? Vertraust du mir noch? Was ist jetzt? Jetzt, nachdem ich nicht einmal mehr weiß, ob ich mich selbst noch kenne? Er stöhnte leise auf, dann rollte er sich zur Seite und ließ sich aus dem Bett fallen, oder eher rutschen, als er die Decke mit sich zog. Langsam schälte er sich aus der Decke heraus und tappte zum Bad, um sich fertig zu machen. Verdammt, ich denke zu viel. Ich sollte mich erst mal darauf konzentrieren, was heute ist. Heute - war die Beerdigung. Im Nachhinein wusste er nicht mehr, wie er den Tag überstanden hatte; er hatte keinen blassen Schimmer, wie er durch die Bestattungszeremonie durchgekommen war, ohne irgendwo umzukippen. Und zum ersten Mal war er froh darüber, als sein Hirn über seine Gedanken eine Amnesie verhängte, er sich nicht daran erinnerte, wie sie den Sarg zum Krematorium gebracht hatten, und die Urne hierher. Sie stand nun hier auf dem Friedhof, vor dem zuvor sorgsam ausgehobenen kleinen Loch, auf einem kleinen Podest, wo er sie abgestellt hatte, eine Aufgabe, die ihm als Sohn zuteil geworden war – eine der vielen Aufgaben, die man als Sohn bei so einer Zeremonie zu übernehmen hatte, wie er feststellen hatte müssen - in einem sorgsam ausgehobenen, recht kleinen quadratischen Loch im Boden. Und nun er starrte in das Loch, als ob es ein Abgrund wäre, blicklos, in sich hineinhorchend. Der Redeschwall des Priesters schwappte über ihn hinweg wie eine träge Welle, ohne sich wirklich an ihm zu brechen. Für ihn war seit einer Viertelstunde eigentlich der Zenit dessen erreicht, was er heute ertragen konnte, und deshalb machten nun langsam seine Schotten dicht. Nicht einmal Trauer und Schmerz fühlte er noch, aber nicht, weil er abgestumpft wäre; im Gegenteil. Seit heute Morgen bis gerade eben hatte es sich angefühlt, als würde es in ihm brennen, ihn ein Feuer von innen heraus auffressen und nichts weiter übriglassen als ein kleines Häuflein schwarzer Asche… und gleichzeitig fror er so erbärmlich, dass er hätte meinen können, im selben Moment zu Eis erstarren zu müssen. Seit er nun hier stand, fror er nur noch. In ihm pochte es dumpf, erlaubte ihm keinen klaren Gedanken mehr; sein Schmerz war ein Konglomerat aus einer dunklen Masse, die ihn ausfüllte, betäubte. Er wusste keinen Namen mehr für dieses Gefühl, und so ertrug er es einfach nur noch. Irgendwie fühlte es sich fast erlösend an, und dennoch wünschte er sich fast, er könnte einfach schreien. Er versuchte nicht, zu verstehen, was hier eigentlich gerade passierte, und verstand dennoch jedes Detail, und wusste, er würde diesen Tag nie vergessen. Genauso wenig wie dieses namenlose Gefühl, von dem er fürchtete, es nie wieder loszuwerden. Yukiko sah ihn an, schirmte mit ihrer Hand ihre Augen ein wenig gegen die Sonne ab, die gleißend hell auf sie hernieder schien. Besorgnis zeichnete sich auf ihrer Miene ab; sie griff nach seiner Hand, allerdings nicht lange, weil er sie ihr entzog. Sie hatte dennoch gefühlt, wie eiskalt sie war, sie sah auch, wie sehr er die Kiefer zusammenpresste, was seinem Gesicht einen äußerst angespannten Ausdruck verlieh, und erschrak. Kurz trafen sich ihre Blicke. Er versuchte zu lächeln - um sie zu beruhigen, das wusste sie. Es war ein müder Versuch, nichtsdestotrotz. Sie wusste, dass das hier mehr war, als er eigentlich ertragen konnte, im Moment. Und dennoch stand er noch. Und würde stehen bleiben. Sie seufzte lautlos, ließ ihren Blick durch die Menge schweifen, sah Agasa und Shiho, die langsam auf sie zukamen, sah Meguré, der sie mit einem starr wirkenden Kopfnicken grüßte und bemerkte auch Shuichi Akai, dessen Miene wie immer unbewegt schien. Dann sah sie Ran. Und sie fühlte, ohne hinsehen zu müssen, dass auch er sie sah; eine Anspannung und Nervosität ging von seinem Körper aus, die fast greifbar in der Luft lag. „Willst du nicht mit ihr reden?“, flüsterte sie leise. Shinichi schluckte, dann schüttelte er unmerklich den Kopf. „Nein. Nicht… nicht heute.“ Er drehte kurz den Kopf, schaute sie an. „Das ist nicht der richtige Tag dafür.“ Dann wandte er sich um, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Ran rieb sich die Arme. Sie hatte Shinichis reservierten Blick wohl bemerkt und seufzte leise. Sie müsste lügen, würde sie behaupten, es überraschte sie; mit nichts anderem hatte sie gerechnet. Weh tat es dennoch. Ihr Vater trat neben sie, musterte zuerst Shinichi, der sich leise mit Heiji unterhielt, der hinter ihn getreten war, dann seine Tochter, brummte leise. „Ich weiß, du brennst darauf, endlich mit ihm zu reden, aber heute…“ Ran sah ihn an, ihre blauen Augen glänzend. Er wusste, dass sie den Tränen nahe war, allerdings diesmal aus anderen Gründen. „Ich weiß, Paps. Wir beerdigen heute seinen Vater, das ist genug für einen Tag… eigentlich für mehrere.“ Sie schluckte, würgte die Tränen runter. „Das muss eigentlich kaum zu ertragen sein.“ Ein Zittern rann über ihren Rücken, prickelte von ihren Haarwurzeln bis in ihre Zehen und Fingerspitzen. Unwillkürlich griff sie nach der Hand ihres Vaters, drückte sie. Er warf ihr einen leicht verdutzten Blick zu, dann drückte er ihre Hand und küsste sanft ihr Haar, ehe er sich wieder dem Oberschüler widmete, der ihm gegenüberstand. Uns ist es selbst wohl nicht bewusst, weil ihr unser Zentrum seid… unsere Sonne, um die sich unser Kosmos dreht – und falls du das nicht wusstest, so hast du es wohl gelernt, in den letzten Tagen … dass du der Mittelpunkt von Yusakus Universum warst. Aber es ist wohl so, ihr könnt so alt werden, wie ihr wollt, wir werden immer eure Eltern sein. Ein so schrecklich wichtiger Teil in eurem Leben, wie ihr es in unserem seid. Und ihr werdet immer Waisen sein, wenn wir gegangen sind. „Ich hab mich schon gefragt, wo du abgeblieben bist.“ Shinichis Stimme klang erstaunlich sachlich, als er seinen Freund mit einem knappen Nicken begrüßte. Heiji schaute ihn prüfend an, zuckte dann mit den Schultern und grinste schief. „Es sind so viele Leute hier, da bin ich anscheinend mal kurz verschütt gegangen. Wie geht’s dir?“ Shinichi öffnete den Mund, doch ehe er etwas sagen konnte, unterbrach ihn sein Freund noch einmal. „Und ehe du was sagst, überleg’s dir. Ich kauf‘ dir nich‘ alles ab.“ Shinichi warf ihm einen konsternierten Blick zu. „Dann kennst du die Antwort ohnehin.“ Er schluckte, schüttelte den Kopf, zerbiss sich die Unterlippe, wandte den Blick ab. „Ich… danke dir, dass du da bist.“, er brach ab, als seine Stimme zu bröckeln anfing. Er wandte sich um, als es an ihm war, das erste Schäufelchen Erde in das Loch zu schütten, und versuchte krampfhaft, die Fassung zu bewahren. Heiji beobachtete ihn aufmerksam, wich nicht von seiner Seite, als er die Kondolenzbekundungen entgegennahm. Und blieb auch noch, als alle langsam gegangen waren. Shinichi saß im Gras, vor dem kleinen Häuflein Erde, dass das Loch nun füllte, seufzte lautlos. Genoss die Stille, die endlich einkehrte. Er wusste, Heiji stand etwas abseits. Alle anderen waren gegangen; seine Mutter war vom Professor und Shiho heimgefahren worden, auf seine Bitte hin hatten sie ihn zufriedengelassen. Und so saß er nun hier, genoss die Stille, und fragte sich, ob es ihm besser gehen würde, wenn er einfach weinen könnte; Fakt war, er konnte es nicht. Vor den Trauergästen hatte er sich zusammengerissen, allein schon dazubleiben war eine Qual gewesen, aber mit den Tränen hatte er nicht gekämpft, eher mit dem Wunsch, einfach zu schreien, so groß waren Frust, Schmerz und Verzweiflung in ihm, hatten ihn fast zum Platzen gebracht. Nun saß er hier, begriff langsam, was dieser Ort bedeutete, und merkte, wie sich die Trauer ihre Stellung erkämpfte – dennoch, weinen konnte er nicht. Jemand anders konnte durchaus. Heiji drehte sich kurz, als sie neben ihn trat. „Wie geht’s ihm?“ Rans geflüsterte Worte waren so leise, dass sie beinahe unhörbar vom Wind davongetragen wurden. Heiji seufzte, horchte nachdenklich auf das Rauschen der Blätter über ihm. „Schwer zu sagen.“, murmelte er dann, wandte sich ihr zu. Sie sah hübsch aus in ihrem schwarzen Kleid mit dem weißen Kragen; sie wirkte fast wie eine Puppe, so weiß war ihr Teint. Einzig die rotgeweinten Augen störten das Bild, und perfektionierten es auf ihre eigene Weise; sie wirkte unendlich zerbrechlich. Wie eine Porzellanpuppe. „Ich muss es aber wissen, Heiji. Und da er mit mir nicht redet…“ Die Züge des Oberschülers verdunkelten sich kurz. „Er will dir nich wehtun, Ran. Das musst du…“ „Verstehen?“ Unwillen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Sie schüttelte den Kopf, rieb sich ihre Oberarme. „Ich bin seine Freundin, Heiji. Ich kenne ihn seit der Grundschule. Und ich kann nicht verstehen, eben einfach nicht verstehen, dass er mit mir jetzt nicht redet. Wir haben alles geteilt, immer, nur seit er Conan wurde, habe ich das Gefühl…“ Er sah sie an, seufzte laut. „Er wollte dich beschützen. Du weißt… du weißt doch, was er für dich empfindet. Auch wenn er’s dir nich sagt, ich mein… du weißt es doch. Als er Conan war, wollte er seine Probleme von dir weghalten, und die Gefahr, die ihm folgte; und jetzt, da das vorbei is und… das alles passiert is, und es ihm schlecht geht, will er nich, dass es dir auch schlecht geht, wegen ihm.“ Ran schnaubte unwillig, schüttelte den Kopf. „Aber das ist es ja. Ich weiß nicht, was passiert ist. Und ich kann ihm aber nicht helfen, wenn ich es nicht weiß.“ Sie sah ihn an. „Und jetzt sitzt er da, und…“ Heiji wandte den Kopf, bemerkte, wie ihr eine Träne über die Wange rollte. Sie schien es nicht zu bemerken, oder es war ihr egal; sie ließ sie einfach laufen. „Er wird mit dir reden, bestimmt. Vielleicht nicht heute, aber irgendwann bestimmt, weil er gar nich anders kann. Bis dahin… setz dich doch einfach neben ihn.“ Ran wandte den Kopf, sah ihn verwundert an. „Ich meins ernst. Du sollst gar nichts sagen. Einfach nur neben ihm setzen, ich denke, das reicht ihm.“ Er schluckte hart. „Ich bin mir sicher, dasser ne Freundin brauchen kann. Ich denk‘, für heute reicht ihm das Gefühl, einfach zu wissen, dasser nich‘ allein is.“ Ein schiefes Grinsen huschte ihm über die Lippen. „Und ich denke, du kannst ihm das besser geben als ich.“ Ran warf ihm einen schrägen Blick zu, wurde dann aber sofort wieder ernst, als sie den Kopf wandte und den Oberschüler beobachtete, der ein paar Schritte weiter im Gras saß. Unsicher strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die ihr der Wind mit luftigen Fingern aus der Frisur gezupft hatte. „Denkst du?“ „Ich bin mir sicher.“ Er legte ihr eine Hand in den Rücken, gab ihr einen leichten Schubs. „Und sag mir nich‘, dass es nich‘ genau das is, was du willst. Du willst doch jetzt an seiner Seite sein.“ Ran bis sich kurz auf die Lippen. Dann nickte sie starr, trat aus dem Schatten des Baumes hinaus auf die Wiese, überbrückte die wenigen Meter mit kleinen, zögernden Schritten. Shinichi sah nicht auf, als sie sich neben ihn sinken ließ; er wusste auch so, dass sie es war. Er erkannte sie am Gang, und er roch ihren Duft, eine Mischung aus Pfirsichschampoo und einem fruchtigen Parfum. Ran. „Stört es dich…?“ Er unterbrach sie mit einem stummen Kopfschütteln. Sie blinzelte hart, als ihr Blick auf das Grab seines Vaters fiel, merkte, wie sich in ihren Augen Tränen sammelten. Sie warf ihm einen Blick zu, bemerkte die Anspannung in seinem Gesicht, den Zug um seine Mundwinkel, die Dunkelheit in seinen Augen. Ein leises Schniefen entfloh ihren Lippen. Shinichi zuckte unmerklich zusammen, als das Geräusch an seine Ohren drang. Fahrig fischte er in seiner Jacketttasche nach einem Taschentuch, fand eins und reichte es ihr. Als sie es entgegennahm und dabei seine Finger berührte, stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Warum kommst du, Ran? Er räusperte sich mühsam. „Hör zu, ich… ich danke dir, dass du da warst, aber du musst nicht…“ Nun war sie es, die den Kopf schüttelte. „Ich weiß. Ich will aber. Du hast heute deinen Vater beerdigt, und ich dachte, du könntest… eine Freundin brauchen.“ Sie schluckte tapfer. „Davon abgesehen mochte ich ihn.“ Etwas verdutzt drehte er den Kopf, sah sie an. Sie war blass, ihre Augen gerötet. Zwar hatte er sie heute schon gesehen, aber nicht aus dieser Nähe; und es erschreckte ihn, sie so zu sehen. Er fühlte, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb schlug, fast schmerzhaft schnell und heftig. Alles in ihm schrie nach ihm, sie in den Arm zu nehmen, aber etwas hielt ihn davon ab. Du weißt es noch nicht. Und heute kann ich es dir nicht sagen. Nicht heute. Er schluckte schwer, wandte dann den Blick wieder ab, als er den Anblick nicht mehr länger ertrug. Ran sah ihn an, stumm, wartete, beobachtete ihn. Ihr war der Kampf den er mit sich ausgefochten hatte, nicht entgangen. Er war ungeheuer blass, seine Augen glasig, seine Lippen blutleer, die Fingerspitzen bläulich. Schließlich räusperte er sich, vermied es aber, sie noch einmal anzusehen. „Danke.“ Kontrolliert atmete er ein und aus, versuchte ein Lächeln. „Aber du musst nicht…“ „Halt die Klappe, Shinichi.“ Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Er schloss die Augen, als er ihren Atem an seiner Wange spürte, fühlte ihren Blick auf sich ruhen, schauderte kurz. Stattdessen verschränkte sie ihre Beine, stützte sich mit einer Hand im Gras ab, als sie sich etwas nach hinten lehnte. Kurz zögerte sie; dann griff sie mit ihrer anderen Hand nach seiner. Er warf ihr einen Blick aus den Augenwinkeln zu, rührte sich ansonsten nicht; weder entzog er ihr seine Hand, noch erwiderte er ihren Griff. Stattdessen fühlte er sich auf einmal entsetzlich müde und leer und wünschte sich einmal mehr, und so sehnsüchtig wie nie zuvor an diesem entsetzlichen Tag, er könnte sich einfach fallen lassen. Dass er das nicht konnte, wusste Shinichi allerdings. Er merkte, wie Heiji sich ebenfalls neben ihn setzte, wandte aber nicht den Kopf. Er starrte geradeaus, ohne zu blinzeln, auch nicht, als seine Sicht verschwamm, weil ihn die untergehende Sonne blendete. Während der Fahrt vom Friedhof hierher hatte keiner der Insassen des kleinen, gelben VW Käfers auch nur ein Wort gesprochen. Agasa hatte seiner hübschen Beifahrerin nur ab und an einen besorgten Blick geschenkt; Yukiko Kudô hatte sich während der Fahrt kaum bewegt. Sie sah aus wie eine dieser schönen Wachsfiguren bei Madame Toussauds, die man ansah und sich fragte, ob sie echt seien oder doch nur künstlich, bis man vor ihnen stand und sich endlich gewiss war, dass es sich wirklich nur um kunstvoll geformtes Wachs handelte. Allerdings, diese Figur hier neben ihm war menschlich. Shiho im Fond hatte die wachsende Beunruhigung ihres väterlichen Freundes sehr wohl mitbekommen. Und nun fuhr er vor, hielt seinen Käfer direkt vor der Gartentür an. Ehe jedoch Yukiko Anstalten machen konnte, auszusteigen, berührte er sie am Oberarm, sachte. „Yukiko… kommst du klar? Wenn du….“ Die Schauspielerin, die gerade nach dem Türöffner hatte greifen wollen, ließ sich in die Polster zurücksinken, atmete aus. Dann drehte sie ihm ihren Kopf zu. „Ich weiß es nicht, Hiroshi.“ Ihre Stimme klang ehrlich, und er zweifelte keine Sekunde daran, dass sie meinte, was sie sagte. Shiho rutschte nach vorn, beugte sich vor. Yukiko biss sich kurz auf die Lippen. „Du weißt, wie lange ich ihn kenne…“, sie hielt inne, räusperte sich, „… kannte. Er hat mir den Hof gemacht, er war so… stur, so leidenschaftlich und doch so… ernsthaft in seinem Anliegen. Ich erinnere mich an den Tag, als er mir den Antrag machte, oben im Restaurant, wie als ob es gestern erst gewesen wäre.“ Shiho zuckte zusammen, ihre Augen wurden groß. „Beika-Restaurant?“, murmelte sie fragend. Yukiko wandte sich ihr zu, nickte. „Ja. Wieso?“ Die rotblonde Forscherin schüttelte den Kopf, versuchte, das leise piekende Schuldgefühl zu verdrängen. Agasa warf ihr einen kurzen Blick zu; sie wusste sehr wohl, woran sie dachte. Oder besser – an wen. Aber vorbei, Shiho. Er muss ohnehin einen ganz neuen Weg finden… auch für sein Leben mit ihr. Yukiko indessen redete weiter. „Wir waren doch noch so jung! Erst… neunzehn, als er mir den Antrag machte. Kaum fertig mit der Schule, und ich hatte doch… gerade erst angefangen mit der Schauspielerei. Aber die Art und Weise, wie er mich ansah… wie er mich behandelte, mich zum Lachen brachte, ich wusste einfach… dass er es ist. War.“ Eine Träne bahnte sich ihren Weg über ihre Wange. Agasa schluckte schwer. „Für ihn hab ich alles aufgegeben. Ich weiß nicht, ob er damals schon… ob er damals schon…“ „Wahrscheinlich nicht.“ Shiho schluckte. „Er hätte Ihnen nie den Antrag gemacht, hätte er solche Probleme gehabt. Er hätte versucht, Sie von sich zu stoßen, wie Shinichi das mit Ran versuchte. Glauben Sie mir. Ich denke, die Probleme kamen wohl rund um Shinichis Geburt. Er konnte Sie nicht verlassen, schließlich waren Sie und Shinichi seine Familie, und er war aber dadurch sofort angreifbar für die Organisation. Es ist wesentlich logischer, dass Sie ihn als jungen Vater geschnappt haben, für ihre Sache.“ Sie strich sich über die Augen. „Das machen die gerne, wissen Sie. Familien zerstören, Menschen mit ihren Liebsten erpressen, gefügig machen, um sie dann dennoch über die Klinge springen zu lassen. So wie sie es mit meinen Eltern taten. Mit meiner Schwester. So wie sie es mit mir vorhatten.“ Yukiko fuhr herum. „Du meinst nicht…“ Die junge Frau sah auf. „Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Kudô, ich mache weder Ihnen, noch Ihrem Mann oder Shinichi Vorwürfe. Auch wenn ich das gerne tun würde. Darüber… hab ich mit ihm schon gesprochen. Wir… waren alle Spielfiguren in einem Spiel, in dem wir von Anfang an nur verlieren konnten. Ich genauso wie Sie… und Shinichi. Aber das ist nicht die Frage, die der Professor Ihnen stellte.“ Sie hob den Kopf, schaute die Frau aus blaugrünen Augen durchdringend an. „Werden Sie klarkommen?“ Die hübsche Schauspielerin seufzte laut. „Er hätte es nicht anders gewollt, fürchte ich. Also werde ich es müssen… auch wenn es schwer sein wird. Aber was bleibt mir übrig…? Ich hoffe nur…“ „Shinichi?“ Agasa schaute die beiden Frauen in seinem Auto fragend an. „Erzählt mir jetzt mal jemand, was da eigentlich noch gelaufen ist?“ Shiho seufzte, ließ sich zurücksinken, verschränkte die Arme. Yukiko sah ihn mit unsicherem Blick an, dann schüttelte sie den Kopf. „Wahrscheinlich weiß es ohnehin bald jeder.“ Sie strich sich eine Locke hinters Ohr, holte Luft. „Shinichi hat in Notwehr einen Mann erschossen. Absinth.“ Der Professor atmete langsam ein, und aus, wandte sich ab, schaute durch die Windschutzscheibe nach draußen. Erinnerte sich an den jungen Mann, dem er seine Geschichte im Krankenzimmer erzählt hatte, und an dessen Entsetzen, als er die Möglichkeit erkannt hatte, etwas Schreckliches getan zu haben, ohne dass er sich daran erinnern konnte. Jetzt hast du so etwas tun müssen… und ich wette, du erinnerst dich an jede Sekunde. Und wirst sie nie vergessen können. Er räusperte sich. „Wie schrecklich… für ihn.“ Seine Stimme klang belegt. „Aber das erklärt…“ Yukiko nickte nur. „Seit gestern Abend sieht er aber ein wenig besser aus. Ich weiß nicht, warum, oder woher… aber ich hoffe, dass es langsam bergauf geht mit ihm. Und ich… wünsche mir so sehr, dass er endlich glücklich wird. Dass er und… Ran… glücklich werden.“ Sie strich sich über die Augen; Agasa neben ihr nickte zustimmend. Dann hörten sie eine Autotür zuschlagen. Shiho war ausgestiegen, schlenderte langsam in Richtung des Hauses des Professors. Dort stand, und keiner wusste, wie er hatte schneller sein können als sie, Shuichi Akai. Shiho blieb ungefähr einen Meter vor ihm stehen. „Du bist ja immer noch hier.“ Er lächelte – kühl, reserviert, wie immer. „Ich bin ein freier Mann.“ Lässig zündete er sich eine Zigarette an, nahm einen Zug, ehe er sie sich in den Mundwinkel steckte. „Abgesehen davon kann ich dich beruhigen. Ich habe nicht vor, meinen Aufenthalt hier noch wesentlich zu verlängern. Mein Flug in die Staaten geht morgen.“ Akai beobachtete sie, versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, was sie dachte. Shiho versuchte, möglichst gelangweilt zu wirken; tatsächlich merkte sie, dass sie aufgewühlt war. Das ist er, Akemi. Der Mann, den du liebtest. Aber welche Beziehung verbindet mich mit ihm? Wie hattest du dir das vorgestellt? „Ich nehme an, dich hält nichts mehr… deine Liste hast du ja abgearbeitet.“ Sie hob die Hand, drei ihrer Finger ausgestreckt. Er musterte sie aufmerksam. „Eins: Mich aus den Fängen der Organisation retten. Meine Freiheit habe ich zwar im Wesentlichen Kudô zu verdanken, aber wir wollen mal nicht kleinlich sein.“ Shiho lächelte schief; ein bitteres Lächeln, das nicht bis in ihre Augen reichte. Langsam bog sie einen Finger um. „Zwei: Akemi rächen. Nun, wie wir wissen, Gin’s Tod ist Yusaku Kudô anzurechnen, und Absinth… tja…“ Sie brach ab, bog nachdenklich den zweiten Finger um. „Drei: Shinichi retten.“ Shiho machte eine Faust, schaute in ernst an. „Reden wir nicht drüber. Alles in allem…“ Akai lächelte schmal, vollendete ihren Satz. „…hat meine Liste wohl jemand anders abgearbeitet. Nun, dennoch… ich bin hier, um mich in Akemis Namen zu vergewissern, dass es dir gut geht. Deshalb frage ich dich: geht es dir gut? Was hast du nun vor?“ Er musterte sie aufmerksam. Sie wich seinem Blick aus, ließ sich gegen die Hausmauer sinken und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Ich werde hier bleiben.“ Sie schluckte, dann hob sie den Kopf, sah ihn entschlossen an. „Ich hab darüber mit dem Professor schon gesprochen, gestern Abend. Wie du weißt, hab ich hier Freunde gefunden. Ich kann an die Universität gehen. In die Medizin, oder in die Biochemie. Und irgendjemand muss auf diesen Spinner Kudô aufpassen… auch wenn er denkt, er kann das allein.“ Er lächelte, als er den Trotz in ihrem Blick bemerkte. „Na, dann ist es ja gut.“, meinte er gelassen, zog an seiner Zigarette, lehnte sich ebenfalls an die Hausmauer. „Allerdings.“ Shiho warf dem Professor, dessen Blick sie gerade eingefangen hatte, ein kleines Lächeln zu, hob kurz die Hand um ihm klarzumachen, dass bei ihr alles in Ordnung war. Yukiko riss sich von dem ungleichen Paar los, dass in scheinbar perfekter Eintracht im Eingangsbereich des futuristisch anmutenden Hauses des Professors lehnte, und warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. „Sie wird Shinichi nie sagen, was sie für ihn empfindet, nicht wahr?“ Der Professor lächelte traurig. „Nein. Obwohl ich mir denken könnte, dass er es weiß, auch wenn er auf dem Auge bekanntermaßen blind ist; aber immerhin hast du ihn ja mal darauf aufmerksam gemacht, soweit ich das mitbekommen habe. Aber davon abgesehen… will, mit Ausnahme von dir, wahrscheinlich keiner so sehr, dass er nun endlich glücklich wird, nach allem, was er opfern und aushalten musste, wie sie. Weil er der beste Freund ist, den sie hat. Und weil er das immer bleiben wird. Und das…“ Agasa seufzte leise. „Ist ein großes Wunder. Und sollte uns doch etwas lehren.“ Er wand sich in seinem Sitz, bis er beide Arme frei hatte, drückte sie kurz an sich. „Wenn du etwas brauchst, Yukiko… ich war nicht nur Yusakus Freund. Ich bin auch deiner. Und Shinichis ohnehin.“ Sie lächelte ihn an, merkte, wie ein warmes Gefühl sich in ihr breitmachte, und gab ihm einen kurzen Kuss auf die Wange. „Danke, Hiroshi.“ Kapitel 57: Kapitel 39: Rekonvaleszenz -------------------------------------- Hm… warum soll ich euch bis nächste Woche warten lassen? Zum Ende wärs doch mal nett, wenn ihr nicht auf ein Kapitel warten müsst, nicht wahr? ;) Ich sage hierzu jetzt einfach mal nichts weiter. Wir sehen uns am Ende des Kapitels – am Ende dieser Geschichte. ~ Leira _______________________________________________________________ Kapitel 39: Rekonvaleszenz Morgen abend um sechs am Eingang des Tropical Land, wenn du das alles wirklich wissen willst. - Shinichi Ran starrte auf ihr Handy, rieb sich unwillig die Arme. Kaum eine Brise brachte die Luft in Bewegung, und kalt war es eigentlich auch nicht; dennoch fröstelte sie. Ein Gefühl, das tief in ihrem Inneren seinen Ursprung hatte, das wusste sie. Eine Kälte, genährt von Unsicherheit, Angst, Nervosität. Ungewissheit über die Dinge, die sie nun erwarten würden. Dennoch stand sie hier, und war gleichzeitig froh – unsäglich froh. Unsicher schaute sie sich um, ließ ihre Blicke suchend über die vielen Gesichter gleiten, die sich freudig erregt dem Tor entgegendrängten. Kleine Kinder, denen die Vorfreude quer übers Gesicht geschrieben stand, die lachten und hüpften; genervte Eltern, die versuchten, ihre Rasselbande im Zaum zu halten. Cliquen, die sich einen amüsanten Abend machen wollten, und Pärchen, die ihre Zeit zusammen genossen. Ran schluckte hart. Sie hatte ihm gestern noch ihre Zusage gegeben. Seine Nachricht hatte sie verwundert, eigentlich hatte sie gedacht, den ersten Schritt selbst tun zu müssen. Nun hatte doch er ihn gemacht. Und deshalb sie stand da, wie so viele Male zuvor, und wartete auf ihn. Gedankenverloren nestelte sie an dem Bandverschluss ihrer Strickjacke, zog ihn fester und band die Schleife neu, ohne hinsehen zu müssen. Sie hatte sich hübsch gemacht, und wusste nicht, warum. Doch, natürlich wusste sie es; für ihn. Sie hatte sich ein Kleid herausgesucht, ein passendes Paar Schuhe, hatte sich die Haare frisiert, ein wenig Make-up aufgelegt und wusste nicht, ob das richtig so war. Fast kam sie sich overdressed vor, obwohl sie wusste, dass sie das nicht war. Sie seufzte tief, zog ein weiteres Mal an der Schleife, bis sie aufging und knüpfte sie erneut. Eine Ahnung hatte sie beschlichen, dass dieser Tag heute die Wende bringen würde… entweder würde es nun nach vorne gehen, endlich in die Zukunft… Oder aber heute kam das endgültige Ende. Und davor hatte sie Angst. Sie ahnte, dass er an einem Punkt angekommen war, wo alles möglich war. Shinichi hatte schon immer eine Tendenz zum Extremen gehabt. Gut, Böse. Schwarz, Weiß. Ganz oder gar nicht. Aber so geht das nicht, nicht wahr, Shinichi? Eigentlich weißt du es. Wahrscheinlich gibt es keinen, der besser als du weißt, dass die Welt voller Grautöne ist. Diese Lektion mussest du lernen… Dennoch fürchte ich, dass es für uns nur diese zwei Optionen gibt. Ja oder nein. Wir stehen an dem Punkt, an dem es in die eine oder andere Richtung weitergehen kann. Es ist zuviel passiert, zwischen uns, und das… ist wohl auch meine Schuld. Einfach nur mehr Freunde sein können wir nicht mehr… und um mit mir eine Beziehung einzugehen, dafür müsstest du mit mir viel mehr teilen, als wenn wir nur Freunde wären. Dir ist viel passiert… und das ist wohl auch meine Schuld. Sie seufzte, ließ ihren Blick erneut suchend über die Menge vergnügungssüchtiger Tokioter gleiten; als sie ihn nicht erkennen konnte, seufzte sie, lehnte sich ein wenig gegen den Laternenpfahl, an dem sie wartete und erlaubte ihren Gedanken, ein wenig abzuschweifen… erinnerte sich an das Telefonat mit Sonoko heute Morgen. Ihre beste Freundin war nach Tagen der Funkstille nun doch unruhig geworden. Noch dazu, nachdem sie die Nachricht von Yusaku Kudôs Tod in der Zeitung gelesen hatte. Ran rieb sich die Nase; der Anruf hatte sie völlig überrascht. „Hallo Sonoko. Was gibt’s?“ „Na, das frag ich dich, meine Liebe!“, erklang etwas beleidigt die Stimme der Schwerreichentochter durch den Äther. „Was ist denn nun aus der epischen Jahrhundertliebe geworden, nachdem er, wenn man den Nachrichten glauben darf, seinen Fall endlich gelöst hat? Seid ihr so beschäftigt miteinander, dass du nicht mal Zeit hast, mit deiner besten Freundin zu reden?“ An diesem Punkt hatte sie auf einmal gestockt, sich geräuspert - sie schien gemerkt zu haben, dass sie sich etwas im Ton vergriffen hatte. „Nun gut, sicherlich muss er getröstet werden, sein Vater ist immerhin…“, redete sie weiter, ein ehrlich betroffener Ton schwang in ihrer Stimme mit. Ran hatte dagestanden, wie zur Salzsäule erstarrt, hatte nicht gemerkt, wie ihr das Telefon aus der Hand geglitten war. Sie hatte geblinzelt, langsam, sich an die Stirn gegriffen. Die Zeitung! Dann hatte sie sich gebückt, wie in Zeitlupe, hatte das Telefon wieder aufgehoben, aus dessen Hörer unablässig und mit steigender Laustärke und Aufregung „Ran? Ran?! Raaaan!?! Bist du noch dran?“ gequollen war. Dann hatte sie sich geräuspert. „Wir sind nicht zusammen, Sonoko. Deshalb… hab ich dich nicht angerufen.“ Sie hatte geschluckt, und überrascht gemerkt, dass sie schon wieder diesen Kloß im Hals gespürt hatte. Sofort hatte ihre Nervosität jedoch wieder die Oberhand gewonnen. „Aber sag… wo… wo stand das über seinen Vater?!“ Die werden doch nicht… wenn das in der Zeitung steht… Shinichi… Sonoko ihrerseits hatte geschwiegen – ihr Erstaunen war dennoch fast hörbar gewesen. „IHR SEID NICHT ZUSAMMEN???“ Purer Unglauben hatte aus ihrer Stimme gesprochen. „Aber WARUM denn nicht?“ „Sonoko! Wo stand das mit seinem Fall und seinem Vater?!“ „Unwichtig! Warum seid ihr…“ „SONOKO!“ Ran hatte heftig geatmet, spürte beinahe jetzt noch, wie ihr Herz gegen ihren Brustkorb gehämmert hatte, hörte beinahe immer noch ihren eigenen Atem als lautes Rauschen an ihrem Ohr. „Online-Abendausgabe der Tokio News.“, war die leise gemurmelte Antwort Sonokos gewesen, und hatte ihr dann auch gleich die passende Internetadresse durchgegeben. Ran eilte, mit dem Schnurlostelefon in der Hand in die Detektei, warf den Computer an. „Die Sache mit dem Fall auf Seite eins, auch wenn er nicht namentlich genannt wird, ich frage mich, seit wann er so bescheiden ist. Und die Todesanzeige seines Vaters auf Seite fünf.“ Sonokos Stimme klang nun etwas beunruhigt. „Ran… was ist los? Stimmt etwas nicht mit ihm? Ich meine…“ Ran hatte laut ins Telefon geseufzt. „Ich weiß es selbst nicht genau, Sonoko. Ich treff mich mit ihm heute Abend… wünsch mir alles Gute. Ich ruf dich morgen an…“ Sie konnte Sonokos nachdenklichen Blick fast spüren; auch wenn sie als Person meistens laut und aufgekratzt war, so beherrschte sie, wenns darauf ankam, auch die leisen Töne. „Er hat wohl viel durchgemacht…?“ Ran schluckte. „Ja.“ „Dann wünsch ich euch das Beste… für ein Happy End, Ran. Ihr habt es verdient." Damit hatte sie aufgelegt. Und nun stand sie also da, beobachtete die einsetzende Dämmerung über Tokio und seufzte, strich sich mit ihren Händen durchs Haar, versuchte zu ordnen, was eigentlich schon ordentlich war. Das war heute Vormittag gewesen. Sie hatte sofort die Internetseite durchsucht, ehe sie etwas erleichterter hierhergekommen war. Ich kann dir schon sagen, warum er nicht will, dass man ihn namentlich nennt… oder noch schlimmer, als den „Erlöser der japanischen Polizei“, den Sherlock Holmes der Heisei-Ära. Weil er nicht stolz ist auf sich… weil er diesen Fall mittlerweile lieber nie gelöst hätte. Nie gefunden hätte… Sie schüttelte den Kopf, blinzelte in die Sonne. Dann sah sie sein Gesicht in der Menge. Es hob sich ab von all diesen fröhlichen Gesichtern – er sah ernst aus, angespannt, wie all die letzten Tage schon. Wie die Tage vor diesem entsetzlichen Abend. Wie Conan… der auch nie wirklich gelacht hatte. Gut, wenn man es ernst nahm, stimmte das wohl nicht ganz. Conan hatte, wie kleine Kinder es zu tun pflegten, häufig gelacht; zumindest hatte es so geklungen. Und auch so ausgesehen. Du hast das wirklich drauf, anderen Menschen etwas vorzumachen, weißt du das? Ich weiß nicht, wie viel du von deinem Vater hast, wahrscheinlich bist du dir da selber nicht mehr sicher… oder willst es gar nicht sein. Aber du hast definitiv viel von deiner Mutter. Wenn sie allerdings jetzt so darüber nachdachte, sich an dieses Lachen erinnerte, stieß es ihr bitter auf. Manchmal hatte es hohl geklungen, oder unüberzeugt; gekünstelt, oft auch gequält. Er hatte die Lippen verzogen, bis er wusste, dass sein Gesicht nun lächelte, hatte getan, als ob. Mittlerweile war sie sich nicht sicher, ob er je wirklich echt gelacht hatte. Wie hättest du das auch können, Shinichi. Dein Leben war schwer, auch wenn du diese Tatsache oft genug verdrängt hast. Noch dazu habe ich es dir nicht wirklich leichter gemacht. Obwohl du stets alles versucht hast, um es mir leichter zu machen. Sie lächelte bitter, nur kurz, aber merkte doch, wie dieses Gefühl sie mächtig zwickte, in ihren Bauch sank wie ein Beutel Eiswürfel. Es war ein seltsames Gefühl, sich klarzumachen, wie sehr er gelitten haben musste, unter ihrem Leid. Unter der Tatsache, dass sie ihn vermisste. Dennoch war Conan kein Vergleich zu dem, was die letzten Tage los war. Wie du aussahst, als du zurückkamst. Was ist passiert, das dich so verändert hat? Du schienst beinahe Angst vor dir selbst zu haben. Und offen gestanden… siehst du so noch immer aus. Dann stand er vor ihr, und versuchte nicht einmal zu lächeln. Sie sah ihm an, wie viel Überwindung es ihn gekostet haben musste, sich mit ihr zu treffen, noch dazu an diesem Ort. Dennoch musste sie keine Sekunde darüber nachdenken, warum er ausgerechnet das Tropical Land gewählt hatte. Hier war sein Leben unterbrochen worden; hier hatte er den Faden verloren. Und nur hier würde er ihn wieder finden können. „Danke, dass du gekommen bist.“ Seine Stimme klang nicht, wie sie erwartet hatte; und wiederum doch. Klar und sachlich, bewundernswert ruhig, wie immer. Er ließ keinerlei Emotion in ihr mitklingen, und sie bewunderte ihn fast dafür, wie sehr er sich unter Kontrolle hatte. Allerdings nur fast. Sie nickte nur, als er ihr wortlos bedeutete, ihm zu folgen. Sie lief neben ihm her, protestierte nicht, als er die Eintrittskarten löste, und betrat zusammen mit ihm den Ort, an dem das alles angefangen hatte. Sie folgte ihm auch dann noch widerspruchslos und ohne zu fragen, als er zielstrebig die Hauptstraße verließ, an den Hinterseiten der Gebäude entlang streifte und sich schließlich durchs Gebüsch schlug. Sie wagte nicht zu fragen, warum er den Hauptbereich des Vergnügungsparks verließ; auch wenn sie die ganze Zeit die Frage beschäftigte, wohin er sie führen wollte, auf diesem Weg. Was sein Ziel war, so fernab des Trubels. Sie hätte mit der Achterbahn gerechnet, oder mit dem Automaten, mit dem sie die Fotos gemacht hatten. Diesen Ort hier jedoch sah sie zum ersten Mal. Sie standen vor einer unverputzten Betonwand, in etwas zu hohem Gras, das von bunten Süßigkeitenverpackungen durchsetzt war. Die Dämmerung war währenddessen fortgeschritten, und hie und da blitzte der bunte Schein der Vergnügungsparkbeleuchtung durch die Äste und den grob gezimmerten Bauzaun. „Wo…“, begann sie, schaute ihn an und – sah das bittere Lächeln auf seinen Lippen und schalt sich in Gedanken eine Närrin, nicht daran gedacht zu haben. Sie musste seinem Blick kaum folgen um zu wissen, wo sie gelandet waren. Die Baumkronen und die Rückseiten der Kulissen hatte es lange ihrem Blick entzogen. Das Riesenrad. Sie beobachtete das sich gemächlich drehende Rad, betrachtete versonnen die beleuchteten Gondeln, sah vereinzelt Passagiere, die begeistert den am Boden zurückgebliebenen Freunden und Familienmitgliedern winken. Und schrak zusammen, als sie ihn leise seufzen hörte, wandte sich ab von dem sich ihr bietenden Schauspiel und schaute ihn schuldbewusst an. Erst jetzt merkte sie, wie blass er geworden war, wie unbehaglich er sich umsah und dennoch versuchte, sich zusammenzureißen, an diesem Ort. An diesem Ort. Was er hier fühlte, welche Erinnerungen in ihm hochkamen an diesem für ihn so schicksalhaften Platz, wusste sie nicht, erriet es bestenfalls. Und so schwieg sie. „Wie viel… weißt du schon?“, murmelte er schließlich leise. Er sah sie nicht an; seine Stimme klang abgekämpft, genauso wie auch seine Haltung müde und erschöpft wirkte. Sie bemerkte den Verband an seiner Hand, sah die Schrammen in seinem Gesicht, die das wechselnde, bunte Licht kontrastreich hervorhob, seufzte. „Bruchstücke.“ Sie schluckte. „Mein Vater hat mir einiges erzählt. Er weiß es von Ai…“, sie schüttelte unwillig den Kopf, unterbrach sich selbst, „…von Shiho. Die Sachen über… dich und Conan.“ Sie brach ab, als sie ihn leise lachen hörte, schauderte. Sie hatte ihn noch nie so hohl lachen hören. „Ich und Conan.“ Er seufzte, strich sich über die Augen, hielt mit seiner Hand inne, um seine Nasenwurzel zu massieren. „Ja, das trifft es wohl am Besten…“ Shinichi seufzte, ruffelte seine Haare am Hinterkopf. „Aber entschuldige. Ich hab dich unterbrochen.“ Ran schüttelte den Kopf, lächelte sanft. „Akai. Er hat mir… von dieser Woche erzählt.“ Die Reaktion auf diesen Satz fiel völlig anders aus. Shinichi fuhr zusammen, schaute sie erschrocken an. In seinem Gesicht spiegelte sich blankes Entsetzen. Ran brach ab, merkte, wie in ihr irgendetwas rührte, als sie den Widerwillen und die Angst in seinen Augen sah; gepaart mit einem weiteren Gefühl. Sorge. „Was hat er dir erzählt?“ Seine Stimme klang brüchig und rau; er merkte es selber, räusperte sich. „Nur die Eckdaten.“, beeilte Ran sich zu antworten, und wusste doch im gleichen Moment, dass er ihr kein Wort abkaufte. Sie seufzte. „Nun gut. Ich weiß von… von dieser Woche. Von der… nun. Von diesem Zeug in der Spritze. Von dem Fall in der Gasse, der Meldung in der Zeitung, die mich offen gestanden sehr verwirrt hatte…“ Shinichi verzog das Gesicht entschuldigend. „Was nicht verwunderlich ist. Was… weißt du noch?“ Ran bis sich auf die Oberlippe, kaute unentschlossen auf ihr herum, wich seinem Blick aus. Er sah sie an, die Frage in seinen Augen wurde immer deutlicher, als er merkte, dass sie ihm etwas verschwieg. „Was noch, Ran?“ „N…“ Er schüttelte den Kopf, sah sie ernst an. Weil sie wusste, dass er es ihr wohl nie gesagt hätte. Genauso wie ihr Vater es ihr hatte niemals sagen wollen. Dann klang seine Stimme an ihre Ohren, bohrend. „Du willst von mir die Wahrheit hören, also bist du sie mir auch schuldig. Was… weißt du noch?“ Ran blickte auf, kapitulierte. „Ich weiß, dass… dass mein Telefonat… deine Tarnung hat auffliegen lassen. Ich habs dir damals bei unserem... Ausflug... dorthin schon erzählt. Es tut mir so...“ Sie hielt inne. Shinichi schüttelte den Kopf. "Das ist Schwachsinn, Ran, ich habs dir damals schon..." Ran hingegen ballte ihre Fäuste. „Das stimmt nicht. Ich war so bedrängend, einmal, und ich wars nochmal, und nie war es gut für dich. Es tut mir Leid. Ich hab dich verraten. Wegen mir…“ „Mach` dich nicht lächerlich.“ Shinichi schüttelte entschieden den Kopf, seine Stimme klang fest. „Du wusstet von nichts. Wie kannst du das Verrat nennen? Dazu hättest du wissen müssen, wer ich bin. Wenn einer Schuld hat, an meiner Misere, dann allein ich. Ich bin diesen Männern nachgelaufen, zu genau dieser Stelle hier. Ich hab nicht aufgepasst, wo der zweite war, der mir dann von hinten eins übergebraten hat. Ich bin zum Professor gelaufen und hab seinen Rat befolgt, keinem was zu sagen, auch dir nicht. Und wir wissen beide, wie verdammt überzeugend ich in der Rolle des kleinen neunmalklugen Hosenscheißers war. Irgendwie müssen die Gene meiner Mutter ja auch durchschlagen bei mir.“ Er versuchte ein schiefes Lächeln, und brachte es auch halbwegs zustande. „Ich hätte dich einfach nach Hause bringen sollen… wie immer.“ Reue klang in seiner Stimme. Ran schaute ihn an, schniefte leise. „Trotzdem…“ „Nein, Ran.“ Er schüttelte erneut den Kopf. „Ich bin nicht mit dir hierhergekommen, um dir Vorhaltungen zu machen. Ich wollte dir… die ganze Geschichte erzählen. Damit du weißt, mit wem du es zu tun hast. Weißt, warum ich mich so verhalte. Weißt… was aus mir geworden ist. Und… deine Einstellung mir gegenüber überdenken kannst. Denn… ich fürchte, der Shinichi, den du kanntest, ist fort.“ Shinichi sah sie nicht an, als er sprach; seine Stimme verlor sich im fernen Kirmeslärm. Langsam ließ er sich an der rauen Wand des Riesenradsockels nach unten gleiten. Ran sah ihn an, nachdenklich; dann tat sie es ihm gleich. Sie ahnte, wie lange er wohl mit sich gerungen hatte, bis er diesen Entschluss gefällt hatte. Er wirkte immer noch müde und angeschlagen, und sie ahnte, dass die Ereignisse der vergangenen Tage noch eine Weile ihren Tribut zollen würden. Also nickte sie nur, drückte kurz seine Hand, ließ sie aber wieder los. Sie wollte ihm ihre Zustimmung zeigen, ihm nicht auf die Pelle rücken. Mit einer matten Geste strich er sich über die Augen. „Du weißt, ich wollte eigentlich nicht mehr mit dir reden.“ Sie schaute ihn an, abwartend. „Warum hast du deine Meinung geändert?“ „Weil...“ Ein lautes Seufzen entfloh seinen Lippen, und er merkte, wie ihm die Hitze zu Kopf stieg. „Mehrere Gründe.“ Er räusperte sich unwillig. „Einer davon war der, dass meine Mutter nicht wusste, wer ihr Mann eigentlich war. Ich wollte… dieses Geheimnis nicht vor dir haben. Du sollst zumindest wissen, warum ich es für besser halte, wenn du dich fernhältst von mir. Du sollst… wissen, wer aus mir geworden ist. Und es ist wohl auch… deine Entscheidung, ob du mit mir befreundet sein willst, oder nicht, aber dafür… solltest du die Wahrheit kennen. Ich will… endlich mit offenen Karten spielen, auch wenn es mir schwerfällt.“ Er zerbiss sich die Unterlippe. Unerträglich schwer. „Ich hab dich lange genug angelogen. Das muss jetzt endlich ein Ende haben.“ Ran lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. Drückte sich gegen die Mauer, als die Kälte sie frösteln machte. Er drehte den Kopf und bemerkte es, seufzte leise. Dann stand er auf, schälte sich aus seiner Jacke, warf sie ihr über. Als sie protestieren wollte, schüttelte er den Kopf. „Lass gut sein.“ Damit ließ er sich wieder neben ihr ins Gras sinken. „Danke.“ Sie wickelte sich ein, jedoch nicht, ohne ihn aus den Augen zu verlieren. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er anfing. Als er schließlich sprach, mit leiser Stimme, starrte er in die Sterne, merkte, wie sie es ihm gleich tat. Shinichi seufzte lautlos in sich hinein. Und eigentlich hatte ich auch das hier anders geplant… mit dir die Sterne anzusehen sollte eigentlich mit angenehmeren Gesprächen verbunden sein als mit diesem Thema. „Eigentlich solltest du das nie erfahren. Ich… eigentlich wollte ich mich fernhalten von dir, nie mit dir darüber reden, weil ich… nicht weiß, wie du reagierst… weil du dich eigentlich mit so etwas nicht belasten solltest. Ich…“ „Shinichi.“ Ran schloss kurz die Augen, warf ihm dann einen warmen Blick zu. „Du hast die Entscheidung doch schon getroffen, es mir zu sagen. Hör auf dich zu quälen.“ Shinichi presste die Augen zu, atmete kontrolliert aus, umschlang seinen Körper mit seinen Armen. „Ich meine nur… was du erfährst, jetzt gleich über mich, wird das Bild, das du dir von mir gemacht hast, für immer verändern. Mehr noch als die Sache mit Conan oder meine Woche in der Organisation, die nichtsdestotrotz dem Bild von Shinichi Kudô, das du bis dato hattest, wohl einige dunkle Farbtöne verpasst haben dürften.“ Ran schaute ihn an, schüttelte den Kopf. „Nein.“ „Ran…“ Seine Stimme klang kraftlos. Sie sah ihn an, schauderte. Er wich ihrem Blick beständig aus. „Darüber waren wir doch schon hinweg, Shinichi.“ Ran sah ihn an. „Ich wusste all das bereits, als ich dich in jener Nacht geküsst habe.“ Sie zitterte. „Ich hab es dir auch vor ein paar Tagen nochmal erklärt. Was du getan hast…“ „Sprengt den Rahmen bei weitem.“ Ran ging auf seine gleichgültige Antwort nicht ein. „Ich ändere meine Meinung nicht so einfach. Du weißt,…“ Nun sah er doch auf. „Es ist keine einfache Sache.“ Unwillig schüttelte er den Kopf. „Und egal, was du dachtest, es kann sein, dass es deine…“, er suchte nach Worten, „Einstellung mir gegenüber…“ „…ändert? Das glaub ich nicht.“ Sie lächelte ihn ermutigend an. „Shinichi. Jetzt sind wir schon so weit gekommen… sag es einfach.“ Shinichi schaute sie an, in seinem Blick ein schwer zu deutender Ausdruck. Etwas hilflos schüttelte er den Kopf. „Du hast ja Recht. Ich bin hier, um dir die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit über das, was passiert ist in der Nacht, als mein Vater… gestorben ist.“ Ran erstarrte, musterte ihn, schluckte hart. Unruhe hatte sie ergriffen. „Dann erzähl es mir…“ Ihre Stimme klang unendlich leise – und in ihr schwang so viel Zuneigung mit, dass es ihn Schaudern machte. Er warf ihr einen langen Blick zu, versuchte, einen Anfang zu finden, ein Wort, mit dem er beginnen konnte, in diesem Chaos, das in seinem Kopf herrschte. Versuchte, seinen Verstand nicht zu verlieren, der gerade einen ungleichen Kampf mit seinen Gefühlen ausfocht. Shinichi schluckte, strich sich über die Augen, immer wieder, merkte, wie in ihm alles kapitulierte, ihm sein Körper nicht mehr gehorchen wollte. Seine Finger wurden kalt, seine Hände begannen zu zittern, und in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, als ihn die Wahrheit überrannte, sich dieser eine Tag vor seinen Augen noch einmal wiederholte. Verdammt, das hatten wir doch schon… nicht jetzt, nicht schon wieder, nicht… nicht vor ihr! Er hielt sich eine Hand vor den Mund, presste sie auf seine Lippen, kniff die Augen zusammen, um die Bilder auszuschalten, auszublenden, vergebens. Ran starrte ihn an, betroffen, fast geschockt; sie legte eine Hand an seine Wange, drehte seinen Kopf sacht, lehnte ihre Stirn gegen seine und sah ihn einfach nur an. Fühlte seinen heißen Atem auf ihrem Gesicht und spürte seinen Schmerz fast körperlich. Es zerriss ihn fast, was auch immer es war, und es würde ihn kaputtmachen, wenn sie sich ihm nicht stellten. „Sag es endlich. Ich halts aus, Shinichi…“ Er schüttelte den Kopf. „Du wirst mich hassen. Mich verabscheuen. Wenn… ich dir das sage…“ Sie sah ihn an, strich mit ihrer Hand seine Wange entlang, bis sie auf seiner Brust zu liegen kam. Spürte, wie er ausamtete, mühevoll und gepresst. Fühlte, dass jeder Muskel in seinem Körper bis zum Äußersten angespannt war. Die Sirene eines Fahrgeschäfts heulte laut auf und riss sie aus ihrer Starre. Kurz sahen sie dem Spiel der Lichter zu, wie sie sich drehten und blinkten hinter dem Dickicht der Bäume und Sträucher, aber dennoch so hell, dass sie den Nachthimmel orange färbten. Der Moment kam und verging. Dann fing er zu reden an, seine Augen immer noch aufs Riesenrad gerichtet, dessen sich drehende Lichter ihn fast zu hypnotisieren schienen, aber er widerstand dem Drang, zu blinzeln. „Es waren nur noch Absinth… Gin, Sharon, Vater und… ich.“ Ran sah ihn an, sah das Spiel der Lichter auf seinem Gesicht, sah die Schatten tanzen; gespenstisch sah es aus, und zugleich faszinierte es sie. Langsam ließ sie ihn los, langsam, fasste seine Hand mit beiden Händen. „Vater und ich waren… in einer denkbar schlechten Position. Und als… Absinth mich…“ Er schluckte, schloss kurz die Augen und sammelte sich – dann wandte er seinen Blick von den Lichtern des Riesenrads ab, sah sie an. Seine Augen wirkten seltsam leer, und sie ahnte, dass er versuchte, so sachlich wie möglich zu bleiben, das alles nicht zu nah an sich heran zu lassen. „Als er mich erschießen wollte, hat mein Vater sich vor mich geworfen. Die Kugel hat ihn in die Brust getroffen.“ Er biss sich auf die Lippen, wandte kurz den Kopf, seine Augen blieben an einem Einwickelpapier im Gras hängen, dessen silbernes Papier bunt zu glimmen schien. „Willst du das wirklich hören? Es… wird ziemlich viel geschossen…“ Er lächelte müde, versuchte, locker zu klingen. „Erzähl weiter.“ Ran sah ihn an, griff seine Hand fester. „Nun gut.“ Er seufzte leise, räusperte sich. „Kürzen wir es ab… ein paar Schusswechsel später waren Absinth und ich die einzigen beiden, die noch unverletzt und leidlich am Leben waren. Ich… hatte eine Waffe, mein Vater hatte sie mir gegeben, als wir noch am Anfang unserer Aktion standen. Nun. Ich… zielte auf ihn. Er auf mich. Und da ich nicht sterben wollte, hab ich geschossen. Ich hab‘ seine Schulter getroffen, ich dachte, das würde reichen.“ Er sprach schnell, so als würde er befürchten, es sich mitten im Satz doch noch einmal anders zu überlegen. „Er lag am Boden, und ich nahm ihm die Waffe ab. Dann bin ich zu… Vater gegangen. Er lag…“ Shinichi brach ab. Ran schloss die Augen. „Er ist in deinen Armen gestorben.“ „Ja.“ Er strich sich über die Augen, die Wangen, immer wieder, biss sich auf die Lippen. „Er war, verdammt nochmal ein Mörder, aber ich kriegs… ich werd nicht fertig damit… dass er jetzt weg ist. Tot. Er hat alles zugegeben, mir alles erzählt, und er ist mit mir da reingegangen, obwohl er wusste, dass er da wahrscheinlich lebend nicht rauskommt, oder vor Gericht endet… vor einem Gericht, das mit ihm nicht milde verfahren wäre. Und dennoch… ich… ich hab ihn… wegen mir… Er war ein Mörder, ich weiß das. Ich hab gelesen, was er alles angeordnet und unterschrieben hat. Und ich steh hier und bin mit den Nerven…“ Shinichi stand auf, ging ein paar Schritte und schluckte, holte tief Luft, starrte in den Himmel, versuchte, sich zu beruhigen. „… mit den Nerven verdammt nochmal am Ende…!“ Langsam hob er die Hände, verschränkte sie hinter seinem Kopf, beugte sich nach vorn, keuchte. „Er ist an allem Schuld… und ich… bin Schuld… ich rede Müll.“ Shinichi wischte sich über die Augen. „Fakt ist, in mir ist nichts mehr. Ich kann nicht mehr. Ich seh ihn vor mir, seh ihn sterben, und ich bin bereit, ihm alles zu verzeihen, wenn er nur… wenn er nur… nicht sterben würde…“ Ran stand auf, nahm seine Hand in ihre Hände, drückte, sie, zog ihn zu sich. „Das ist nur verständlich…“ „Ist es nicht…“ „Doch, das ist es.“ Sie nahm sein Gesicht in beide Hände. „Das ist es. Er war dein… er war dein Vater.“ Eine Träne rollte ihr aus dem Augenwinkel. „Er war dein Vater. Und ob du es glaubst oder nicht, auch wenn ich ihn hasse, für das, was er dir angetan hat…“ Sanft strich sie über seine Wange, merkte, wie er zurückzuckte, als sie dem Kratzer zu nahe kam. Shinichi schüttelte den Kopf. „Belassen wir’s dabei… er ist in meinen Armen gestorben.“ Er holte tief Luft, sah auf, zog seine Hand aus ihrer. „Was ich nicht bedacht hatte, war, das Absinth noch am Leben war, eine zweite Waffe hatte, und…“ Er starrte an die Decke. „…er hielt sie mir an den Hinterkopf. Zwang mich zum Aufstehen. Und dann hat er… geredet.“ Shinichi sah sie an, zum ersten Mal, direkt in die Augen. „Er hat geredet, und geprahlt, und mir in den schillerndsten Farben ausgemalt, was er jetzt tun würde – zuerst mich erschießen, dann Mama, dann Heiji und den Professor und Ai, und es war ihm anzusehen, was für eine Freude er dabei haben würde. Und dann… dann kam er auf dich.“ Ran hielt den Atem an. „Verdammt, ich wollte nicht… ich wollte nicht…! Warum ist er nicht einfach liegen geblieben, warum hat er nicht aufgegeben, warum musste er…“ Ran starrte ihn an, schwieg still. Die Erkenntnis, was er getan hatte, und aus welchem Grund, erschlug sie fast. Wegen mir. Um mich zu schützen… Er hörte sie wimmern, leise, sah ihn ihr Gesicht und sah sich selbst. Sah seinen Schmerz in ihren Augen und hasste sich dafür; und gleichzeitig war er dankbar dafür, denn er sah, dass sie verstand… als einzige verstand, was er getan hatte. Und wie er sich fühlte. „Ich hab auf sein Herz gezielt und abgedrückt…“ Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, erstarb mit dem letzten Buchstaben, und doch schlug der Satz wie eine Bombe ein. Ran merkte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief; aufreizend langsam stellte sich ein Härchen nach dem anderen auf, beginnend an ihren Haarwurzeln und endend an ihren Fesseln. Und auf einmal war es still. Ran sah ihn an, atmete schwer, ihre Augen suchten in seinem Gesicht; versuchten herauszufinden, was er dachte, wie er fühlte. Und sie sah, wie es ihn zerriss, in tausend kleine Stücke, wie der Gedanke, einem Menschen das Leben genommen zu haben, ihn auseinandernahm, langsam und beständig, bohrend und schmerzhaft. Er schluckte, sah sie an, focht seinen ganz eigenen Kampf aus. Tränen rannen über sein Gesicht lautlos, und endlich verstand sie, warum er sich so verhalten hatte, die letzten Tage. Nach Sekunden, die sich kaum zu einer Minute summiert haben konnten, ihr aber dennoch wie eine Ewigkeit vorkamen, umarmte sie ihn, schmiegte sich an ihn. Er hob die Arme, wagte nicht, sie anzufassen, merkte, wie in ihm alles zu erstarren schien. „Ran, hast du mich nicht verstanden? Ich…“ Seine Stimme bebte. Sie schluckte, merkte, wie schwer es ihr fiel. „Scht.“ Du hast zum Äußersten gehen müssen. Etwas getan, das du nie tun wolltest. Er schüttelte den Kopf, löste sich von ihr. Shinichi trat ein paar Schritte zurück, fuhr sich durch die Haare, massierte sich die Schläfen. „Verstehst du mich endlich? Ich bin nicht mehr… der, der ich war…“ Ran schluckte hart, schlang ihre Arme um ihren Oberkörper, ließ ihn reden; fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, es in ihrem Magen zu kribbeln begann, als sie ihm zuhörte. „Und deswegen… will ich dir nicht noch mehr wehtun, du bist… du bist das, was mir am Meisten auf dieser Welt bedeutet, du bist… alles Gute und Schöne in meinem Leben. Nur… der Gedanke an dich ließ mich das alles durchstehen, überhaupt.“ Er schaute kurz auf, lächelte bitter, trotz der kurz aufflackernden Wärme in seinen Augen. „Sharon hatte Recht, weißt du. Du… du bist ein Engel. Ich… ich bin das nicht, ich kann verletzen und wehtun, und das sowohl physisch als auch psychisch, und wie du weißt… kann ich das gut. Besser als ich es will... Und jetzt leide ich, und das reicht. Ich hab etwas Schreckliches getan. Ich will nicht, dass du mitleidest, das ist nichts, was du aushalten musst, das ist nicht deine Schlacht… ich hab dir doch lange genug schon weh getan, lass mich dem ein Ende setzen, jetzt. Bitte, bitte… geh doch endlich, Ran…“ Er sah sie nicht an, als er sprach, aber die Verzweiflung stand in seinem Gesicht. „… und gleichzeitig stehst du hier, und weißt ganz gut, dass du genau das Gegenteil willst. Genau deshalb erzählst du mir das alles doch.“ Sie hob die Hand, legte einen Finger auf seine Lippen, brachte ihn zum Schweigen, starrte ihn an, dann schlang sie ihre Arme um ihn, legte ihren Kopf auf seine Schulter, hielt ihn fest. Shinichi vergrub seinen Kopf an ihrem Hals, atmete tief den Duft ihrer Haare, legte seine Arme um sie und zog sie an sich, so fest, dass er ihr fast wehtat damit. Ran schluckte, streichelte ihm durchs Haar. „Warum gehst du nicht…?“ Sie spürte seinen Schmerz fast körperlich, es war überwältigend und für sie kaum zu ertragen, aber sie litt mit ihm, hätte sich nie verziehen, in diesen Minuten nicht für ihn da zu sein. „Absinth sagte, ich wäre wie sie… und ich bin mir nicht sicher, ob er damit nicht Recht hatte, ich meine, ich hab ihn erschossen… ich hab Absinth erschossen, und er hat nur gelacht…“ Er hielt sich die Hand vor den Mund, würgte, in seinen Augen blankes Entsetzen. „Verstehst du! Nur gelacht…! Woher weiß ich, dass er nicht Recht hatte…?“ Ran sah ihn an – dann lächelte sie. Also darum geht es… Shinichi. Du Dummkopf. Sacht schüttelte sie den Kopf, immer noch lächelnd, und küsste ihn auf die Wange. Er starrte sie an, ungläubig – und doch merkte er, wie ein lang vermisstes Gefühl sich zurückmeldete. Sie lächelte – und es tat so unglaublich gut, das zu sehen. Sie wusste die Wahrheit und lächelte… immer noch. „Weil ich weiß, dass er sich irrte. Du bist nicht wie sie. Sieh dich an, Shinichi… glaubst du wirklich, du wärst auch nur ansatzweise wie sie…?“ Er schluckte hart, schaute sie an, unergründlich. Sie wusste, was ihn quälte, der Gedanke musste sich ihm einfach aufdrängen, aber es wurde Zeit, dass er ihn loswurde. „Du bist nicht wie sie, glaub mir. Du bist nicht wie sie.“ Sacht strich sie ihm über die Wange, beugte sich nach vorn, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, lehnte ihre Stirn gegen seine. Alles, alles würde sie tun, um ihm zu helfen. Er seufzte, dann lächelte er traurig. „Es tut mir Leid, dass ich dich in all das hineingezogen habe… und es tut mir Leid…“ Ich hätte dir das alles gern erspart… Er schluckte, starrte sie mit einem Mal schuldbewusst an. „Ich glaub wirklich, wenn du gingst, wär es besser für dich.“ „Aber nicht für dich.“ Er nickte schwer, schaute langsam auf. „Nein… nicht für mich. Ich… brauche dich.“ Die Worte gingen ihm so unglaublich schwer über die Lippen, sie sah es ihm an. Um Hilfe bitten hatte sie ihn selten gesehen. „Ich dich auch.“ Sie lächelte ihn warm an. „Das weißt du doch.“ „Ach was. Du brauchst mich nicht. Du schaffst das alles allein.“ Shinichi schaute sie ernst an. „Du bist stärker, als du denkst, Ran. Mach dich nicht selber schwach. Das steht dir nicht an.“ Langsam wandte er den Kopf, schaute in den Himmel, schloss die Augen, kurz, ehe er sich ihr wieder zuwandte. „Kannst du mir erklären, wie es kommen kann, dass du dir ausgerechnet mich ausgesucht hast…?! Du hättest was Besseres verdient-“ Ran lächelte, legte ihm zwei Zeigefinger auf die Lippen, brachte ihn so zum Schweigen. Sie sah ihn an, berührte mit ihrer Nasenspitze beinahe die seine, legte ihre Hände auf seine Brust, spürte, wie sein Herz schlug. Sah in seine Augen, in denen immer noch so viel Leid zu sehen war, aber endlich war da auch dieses Gefühl zu finden, auf das sie so lange gewartet hatte. Er begegnete ihrem Blick, erkannte in ihren Augen diese eine Bitte. Ran… Er biss sich auf die Lippen, kurz; sie sah, wie er mit sich haderte, sagte nichts, tat nichts. Schließlich hob er eine Hand, strich ihr zögernd über die Schläfe, strich ihr eine Strähne hinters Ohr; fühlte ihre Haut unter seinen Fingern, berührte mit seinen Daumen ihre Lippen, kurz. Er fühlte, wie die Sehnsucht in ihm wuchs, endlich nachzugeben, endlich neu anzufangen, presste die Augen zusammen, lehnte ihre Stirn gegen ihre, schluckte schwer. Der Duft ihrer Haare stieg ihm in die Nase, ihr sanfter Atem strich ihm übers Gesicht, fühlte ihre Wärme an seinem Körper, ihre Hände auf seiner Brust, in seinem Nacken. Und wusste, dass er sie brauchte, dass er sie liebte, bei ihr bleiben wollte… weil sie sein Leben war. Weil sie das Beste für ihn war. Dann kapitulierte er. „Ich liebe dich.“, wisperte er, merkte, wie rau seine Stimme klang, griff sich irritiert an den Hals. „Ich liebe dich… so sehr, ich…“ Ran zog ihn noch näher an sich, schmiegte ihr Gesicht in seine Hand, schloss die Augen, seufzte leise, sagte nichts; genoss die Nähe, genoss es, von ihm festgehalten zu werden. Es war neu, es war… ungewohnt, und doch war es das, genau das, worauf sie so lange gewartet hatte. Es tat so gut, dieses Gefühl. Dann küsste er sie. Ran drückte ihn an sich, krallte ihre Finger in seine Haare; kurz spürte sie seine Überraschung, doch sie verging so schnell, wie sie gekommen war. Und er fragte sich, wie ihm in den Sinn hatte kommen können, auf all das verzichten zu wollen… auf dieses Gefühl, das nur sie ihm gab. Wärme, Sicherheit… Liebe. Als sie sich voneinander lösten, lächelte er; sie lachte ihn an, leise, losgelöst, erleichtert. Und endlich hatte sie das Gefühl, dass die Welt langsam wieder in Ordnung kam. _______________________________________________________________________ Tja, Leute… Das wars. Und ich kann nicht leugnen, dass ich froh bin, dass sie nun endlich fertig ist – dieses Monstrum von einer Fanfiction. Angefangen im Jahr 2009 findet sie nun vier Jahre (!) später endlich ihr Ende; die ältesten Dateien dieser Geschichte stammen sogar aus dem Jahr 2008. Irrsinn. Was soll ich sagen? Erstens einmal: Danke fürs Yual. Das war gigantisch, und ich fühle mich immer noch sehr geehrt…! Zweitens: Danke für’s Lesen dieser Geschichte – vor allen, die 2009 begonnen haben und jetzt fertig lesen, zücke ich meinen Hut (ohne Witz, ich hab einen Hut, den ich zücken kann) und verneige mich. Ihr seid großartig. An alle, die dazwischen zu uns gestoßen sind: ich hoffe, es hat sich rentiert, und ihr habt die Geschichte genossen! Und Gratulation – ihr habt euch wohl ein wenig Wartezeit sparen können!  Vielen Dank auch an alle Kommentatoren – man kann es nicht oft genug sagen. Ich war nie eine, die um Kommentare bettelt, aber wer veröffentlicht, der möchte hören, was die Leser dazu zu sagen haben. Würde mich das nicht interessieren, könnt ich auch rein für die Festplatte schreiben. In diesem Sinne: DANKEEE!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! Drittens: Bitte entschuldigt die eigentlich unentschuldbaren langen Wartezeiten. Mir ist sehr wohl aufgefallen, dass einige Leser sich zwischendrin abgemeldet haben, und das tut mir ehrlich Leid… ich hoffe, ihr könnt sie wenigstens so jetzt zu Ende lesen; auch wenn ich das nie erfahren werde. Mea culpa. Ich hoffe, ihr kauft mir die Entschuldigung ab (die wohl hundertsechzehnte?) – ich meine sie wirklich ernst. Und ich wär mir selbst als Leser wohl schon längst aufs Dach gestiegen. So und nun… Bleibt mir eigentlich nur noch eins zu sagen; bisher kam hier eigentlich meist die Ankündigung meiner neuen Geschichte. Dieses Mal muss ich euch sagen - ich kann euch keine neue Geschichte versprechen. Mir war diese hier eine Lehre; so lange saß ich nie an einer Fanfiction, so lange hab ich nie Leser warten lassen auf neue Kapitel. Vielleicht kommt mal was Kleines, wenn mich die Muse küsst… aber eine epische Geschichte glaube ich, darf man nicht allzu bald erwarten… wenn überhaupt. Ihr könnt es euch denken, für solche Geschichten braucht man Zeit - die aber leider immer knapper wird, wie ich feststellen musste. In diesem Sinne könnte das hier das Ende sein… ich kanns nicht sagen. Ich wünsch euch alles Gute; ich hoffe, ihr hattet eine schöne Zeit mit dieser Geschichte. Beste Grüße, eure Leira Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)