Chronicles of rebels von _Hikari-chan_ (No.6 OS-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 1: Geschenke -------------------- Mit einem Ruck riss der Junge das Fenster auf und im nächsten Moment begann der Wind an seinen Haaren zu zerren. Doch es störte ihn nicht, solch ein Wetter hatte ihn schon immer fasziniert und er ließ das Fenster immer über Nacht offen. Schließlich hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass er eines Tages wieder auftauchen würde, so wie versprochen. Vielleicht… vielleicht wäre es heute endlich soweit. Denn heute war ein besonderer Tag. Sein zwanzigster Geburtstag. Vor acht Jahren hatte er ihn das erste Mal getroffen, doch einen Tag später war er bereits wieder verschwunden gewesen. Weder jenen einen Abend, noch diese nicht mal ganz zwei Monate vor vier Jahren, würde er jemals vergessen können. Nach wie vor waren die Erinnerungen so frisch, als ob wäre alles erst einen Tag her gewesen. Mit einem Seufzen setzte er sich auf sein Bett und ließ sich einen Moment später nach hinten fallen. Verglichen mit all den Dingen, die in der kurzen Zeit als er sechszehn gewesen war passiert waren – in diesen nicht mal ganz zwei Monaten –, war sein Leben in den letzten vier Jahren sehr ruhig verlaufen. Beinahe wünschte er sich manchmal den Trubel von damals zurück, als er noch bei ihm gewesen war. Alles war aufregender gewesen. Nicht alles, was passiert war, war positiv gewesen, zumindest nicht auf den ersten Blick, doch irgendwie hatten sie es zusammen geschafft, alles zum Guten zu wenden. Nun… fast alles. Manches hatte nicht mehr geändert werden können. Wie beispielsweise der Tod von Safu, seiner Kindheitsfreundin. Auch das war bereits vier Jahre her. Und jedes Mal, wenn er nach Westen, in Richtung des ehemaligen Westblocks und des 'Gefängnisses', das dort gestanden hatte, sah, kamen die Erinnerungen an damals wieder hoch. Er war wirklich froh, dass es vorbei war und dass die Stadt sich wieder beruhigt hatte. Doch das wäre nicht möglich gewesen, wenn er nicht gewesen wäre.   Der Junge drehte sich zur Seite und sah zum geöffneten Fenster, doch niemand stand dort. Nur der Wind bewegte leicht die Vorhänge. Ob er wieder auftauchen würde? Wieder in sein Zimmer kommen würde, wenn nicht nur ein leichtes Unwetter, sondern wieder ein Taifun über die Stadt ziehen würde? Würde er dann wieder plötzlich in seinem Zimmer stehen, so wie damals? Wütend auf sich selbst schüttelte er den Kopf und setzte sich auf. Er wusste selbst, dass es keinen Sinn machte, ewig über diese Dinge nachzudenken. Es würde ihn auch nicht schneller zurückbringen. Aber dennoch… Erneut kam ein Seufzen über seine Lippen. „Shion? Der Kuchen ist fertig!“ Die Stimme seiner Mutter riss ihn aus seinen Gedanken und er stand auf. „Ich komme schon!“ Nachdem er noch einen kurzen Blick zum Fenster geworfen hatte, öffnete er die Zimmertür und verließ den kleinen Raum. Mit schnellen Schritten ging er die Treppe nach unten ins Wohnzimmer, wo seine Mutter bereits wartete. Der Kuchen stand aufgeschnitten auf dem Tisch bereit. Wie jedes Jahr hatte Karan Kirschkuchen gebacken und nach wie vor hing der Geruch vom Backen in der Luft. „Alles Gute zum Geburtstag.“ Seine Mutter hielt ihm ein kleines Paket hin, das ihm bis eben nicht aufgefallen war. Wahrscheinlich hatte sie es versteckt gehabt, als er reinkam. Auch, wenn er es eigentlich nicht für nötig hielt, so fand sie jedes Jahr eine Kleinigkeit, die sie ihm zu seinem Geburtstag schenkte. Noch ohne das Geschenk auszupacken, setzte er sich zu ihr an den Tisch. Dann begann er langsam und vorsichtig, das Papier zu öffnen. Zum Vorschein kam ein Buch. Erstaunt sah Shion es an. Es war Macbeth. „Das…“ Shions Blick wanderte zu seiner Mutter. „Du hattest doch gesagt, du hättest es gerne. Es war nicht leicht, eine Ausgabe davon zu finden, aber die Mühe hat sich ausgezahlt.“ Langsam nickte Shion. Seine Mutter hatte recht. Als er vor Kurzem eine elektronische Ausgabe des Buches gesehen hatte, war in ihm der Wunsch hochgekommen, das Buch zu besitzen. Nicht das Elektronische, sondern die gebundene Ausgabe. Das hatte er jedoch seiner Mutter nicht gesagt, da er ihr keine Probleme bereiten wollte. Er wusste, es wäre kein Problem eine elektronische Ausgabe zu finden, doch er wollte das Buch. Das, was auch er gehabt hatte. Und neulich war ihm dieser Wunsch seiner Mutter gegenüber dann doch herausgerutscht. „Danke …“ Er starrte das Buch an. Den Inhalt kannte er gut. Im Winter nach seinem sechszehnten Geburtstag hatte er es mehrmals gelesen und auch immer wieder Zitate daraus gehört. Dennoch, oder gerade deshalb, hatte er es sich gewünscht. Ohne ein weiteres Wort, doch mit einem Lächeln im Gesicht, stellte ihm seine Mutter ein Stück Kirschkuchen auf einen Teller, ehe sie sich selbst ebenfalls eines nahm. Shion legte das Buch neben sich auf den Tisch. „Lecker!“ Begeistert sah Shion seine Mutter an, nachdem er einen Bissen genommen hatte, und konnte ihr ansehen, dass sie sich freute. Die Sachen, die sie backte, waren immer sehr gut, doch er wurde es nicht leid, sein Lob immer und immer wieder zu wiederholen. Er wusste, dass sie sich darüber freute. Und schließlich war es auch nicht gelogen, was er sagte. Fiep. Fiep. Etwas lief an ihm hoch und dann spürte er ein leichtes Gewicht auf seiner Schulter. „Tsukiyo! Willst du…“ Die Worte blieben ihm im Hals stecken als er die Maus, die auf seiner Schulter saß, erblickte. Es war nicht Tsukiyo. Sondern Cravat. Eine der beiden Mäuse, die bei ihm geblieben waren. Hieß das etwa…? Shion sprang auf und stieß dabei beinahe den Stuhl um, auf dem er gesessen hatte. Wie von einer Tarantel gestochen eilte er die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Das erschrockene „Shion!“ seiner Mutter hörte er gar nicht mehr. Vielleicht… vielleicht war endlich…   Ruckartig riss er die Tür zu seinem Zimmer auf und erstarrte. Vor dem Fenster stand eine Person. Der inzwischen aufgegangene Mond schien von hinten in das Zimmer hinein und warf das Gesicht des anderen in Schatten, aber trotzdem konnte er dessen Augen sehen. Silberne Augen. Stechend silberne Augen. „Nezumi …“ Seine Stimme war lediglich ein Flüstern, während er zögernd das Zimmer betrat. Was, wenn das hier nur ein Traum war? Sollte Nezumi wirklich endlich wiedergekommen sein? Der Andere reagierte nicht sondern stand einfach nur da. „Bist du es wirklich?“, wollte Shion wissen, während er auf ihn zuging. „Was glaubst du denn?“, kam prompt die Antwort und Shions letzte Zweifel verflogen. Es war eindeutig Nezumi. Diese Stimme gehörte eindeutig ihm. Aber, wenn das doch nur ein Traum war…? Kurzerhand zwickte er sich in den Arm und zuckte vor Schmerz zusammen. Nein, das hier war real. Nezumi war wirklich hier. Er war zurückgekehrt, so wie er es versprochen hatte. „Beginnst du jetzt etwa zu weinen?“ Nezumi klang amüsiert, als er auf Shion zukam und dieser schüttelte heftig dem Kopf. „Nein, tu ich nicht. Ich bin kein Mädchen.“ Im nächsten Moment hallte das Lachen von Nezumi durch den Raum und er blieb vor Shion stehen. Seine Hand berührte den Kopf des Weißhaarigen und dieser sah den Anderen an. Nach wie vor war Nezumi etwas größer als er, das hatte sich nicht geändert. Und auch sonst hatte er sich nicht großartig verändert, zumindest äußerlich. Seine Haare waren lediglich etwas länger, aber das war es dann auch schon. „Nezumi …“ Shion konnte nicht anders als einmal mehr den Namen des anderen auszusprechen. „Ja? Willst du mir etwas sagen?“ Die nach wie vor amüsiert klingenden Worte holten ihn zurück in die Gegenwart und er schüttelte heftig den Kopf. Da war Nezumi endlich zurückgekehrt und er brachte kaum einen Satz heraus. „Geht es dir gut? Wo bist du gewesen? Was hast du die ganze Zeit gemacht? Wieso kommst…“ Abrupt brach Shion in seinem Schwall an Fragen ab, als er den Blick des Anderen bemerkte. Er kannte diesen bestimmten Blick. Nezumi hatte ihn immer gehabt, wenn Shion seiner Meinung nach zu viel geredet oder gefragt hatte. „Du fragst immer noch viel zu viel“, kam es ganz wie Shion erwartet hatte, von dem Anderen. „Aber ich …“ Er wollte alles wissen. Alles, was er eben gefragt hatte, und noch mehr. Doch er wusste auch, dass Nezumi die Fragen wohl nicht beantworten würde. So wie früher auch, wenn er ihn etwas Persönliches gefragt hatte. „Warte hier. Ich hole etwas Kuchen. Meine Mutter hat Kirschkuchen gebacken, so wie jedes Jahr. Ich bringe dir ein Stück, also warte bitte hier, ja?“ Einen Moment sah Shion Nezumi an, dann wollte er sich umdrehen, um erneut ins Wohnzimmer zu seiner Mutter zu gehen, doch der Andere packte seinen Arm und hielt ihn zurück. Verwirrt sah Shion zu ihm. „Willst du etwas anderes? Ich kann auch etwas zu trinken holen, wenn dir das lieber ist.“ Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er an ihr erstes Treffen dachte. Damals hatte er Kakao gemacht. „Ich brauche nichts zu essen oder zu trinken, also bleib hier.“ Seine Hand wurde losgelassen und Shion nickte. Nezumi ließ sich auf dem Bett nieder und nach kurzem Zögern setzte sich Shion zu ihm. Er unterdrückte den Drang zu fragen, ob es Nezumi gut ging, und ließ sich stattdessen nach hinten fallen. Nezumi tat es ihm nach.   „Erzählst du mir, wo du warst? Ich will es hören. Ich will alles wissen, Nezumi. Also erzähl es mir bitte.“ Shion drehte den Kopf und sah in die silbernen Augen des Anderen, als auch dieser den Kopf drehte. Ja, er wollte alles wissen. Doch noch wichtiger war, dass Nezumi nun hier war. Hier, neben ihm. Im gleichen Zimmer. Es war ihm egal, ob er am nächsten Tag wieder verschwunden sein würde, so wie vor acht Jahren – auch, wenn er sich wünschte, dass er bleiben würde. Er würde ihn jedoch nicht überzeugen können, sollte er etwas anderes wollen. Doch er war froh, dass Nezumi sein Versprechen gehalten hatte und gekommen war. Das war alles, was in dem Moment zählte. Auch, dass Nezumi mal wieder nicht auf seine Frage antworten zu wollen schien, störte ihn nicht sonderlich. Nein, alles was zählte, war, dass er hier war. Das war das einzig Wichtige im Moment. Und das wohl schönste Geburtstagsgeschenk, das man ihm je hätte machen können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)