Creepypasta Extra 3: Last Judgement von Sky- (Die Thule-Verschwörung) ================================================================================ Kapitel 13: Die Wahrheit über den alten Kult -------------------------------------------- Anthony war sofort bei seinem Halbbruder, als dieser einfach zusammengebrochen war und sich nicht mehr regte. Er rief nach ihm und versuchte, ihn wieder aufzuwecken, doch mit Entsetzen stellte er fest, dass er sich ganz kalt anfühlte und er konnte auch kein Lebenszeichen mehr erkennen. War es etwa möglich, dass er… „Nein… bitte nicht“, brachte er hervor, als er Nathaniel auf den Rücken drehte, um seinen Herzschlag zu überprüfen. Gar nichts. Er war einfach so tot zusammengebrochen und mit Sally verhielt es sich genauso. Mit einem Male überkam Anthony Verzweiflung und Trauer. Er drückte Nathaniel fest an sich und musste sich zusammenreißen, um nicht zu weinen. Es war so plötzlich geschehen und er hatte es nicht verhindern können… Vincent stand wie betäubt da, als auch er erkannte, was passiert war. Dann aber fand er doch noch Worte, die er an den halb bewusstlosen Johnny richtete. „Wie konnte das passieren? Warum sind Sally und Nathaniel tot?“ „Ich weiß es nicht“, erklärte dieser und versuchte, sich aufzusetzen, doch selbst dazu war er nicht mehr in der Lage, weshalb er sich von Ezra und Eneos helfen lassen musste. „Cedric, du bist hier der Spezialist.“ Cedric, der sich inzwischen eines neuen Körpers bemächtigt und sich vorhin eher im Hintergrund gehalten hatte, wanderte unruhig auf und ab und versuchte selbst zu verstehen, was da gerade passiert war. „Es scheint so, als wäre ihre gesamte Lebensenergie in das Buch gezogen worden.“ Ein Geräusch ertönte, als würde sich mit einem Male ein metallenes Schloss öffnen. Als ihre Blicke zum Buch wanderten, erkannten sie, dass das erste Siegel aufsprang und kurz danach öffnete sich auch das zweite. „Verdammte Scheiße“, rief Christine und griff sich das Buch. „Die Siegel öffnen sich selbstständig. Wir müssen sie wieder schließen, bevor noch ein Unglück geschieht.“ „Und was ist mit Sally und Nathaniel?“ „Was ist dir wichtiger?“, fragte sie Anthony, für den sie in diesem Moment wenig Mitgefühl hatte. „Das Leben zweier Menschen oder das Schicksal der ganzen Welt? Manchmal müssen Opfer eben gebracht werden, auch wenn das beschissen klingt.“ Doch bevor Christine etwas tun konnte, um die Siegel wieder zu schließen, schossen mehrere Pfeile auf die Gruppe, die Ezra, Cedric und Thomas noch im letzten Moment abwehren konnten. Pristine hatte sich wieder einigermaßen berappelt und hatte ihre nichtmenschlichen Soldaten direkt hinter sich stehen, die ihre Gewehre auf die anderen richteten. „Gib mir das Buch Schwester, oder ich werde jeden töten, der mir Widerstand leistet.“ „Das kannst du mal schön vergessen“, entgegnete Christine wütend. „Ich überlasse dir das Buch sicher nicht, damit du irgendeinen Unsinn damit machst. Und außerdem…“ und damit nahm sie einen ihrer sieben Pfähle und zielte mit der Spitze auf ihre Brust, „werde ich dich mit in den Tod nehmen, wenn du es wagst, Thomas und den anderen auch nur ein Haar zu krümmen.“ Um wenigstens eine Hand freizuhaben, hatte Christine das Buch unter ihren anderen Arm gedrückt und versuchte mit aller Macht zu verhindern, dass es sich öffnen könnte. Denn sollte das geschehen, würde seine ganze Kraft herausströmen und das wäre höchstgefährlich. Pristine konnte nicht glauben, was ihre Schwester da tat und hielt es für einen schlechten Scherz. „Bist du verrückt?“ „Durchaus nicht. Eine Mutter sollte immer bereit sein, ein solches Opfer für ihr Kind zu bringen. Und du müsstest wissen, dass ich von uns beiden der größere Sturkopf bin. Wenn ich dich und deine Machenschaften auf diese Weise stoppen kann, dann habe ich keine Probleme damit, hier und jetzt den Löffel abzugeben.“ Damit holte Christine zum Schlag aus mit dem Plan, das Buch und seine Kraft mit in den Tod zu nehmen, doch bevor die Spitze des Pfahls ihre Brust durchbohren konnte, tauchte plötzlich eine schwarze Schlange mit rot glühenden Augen auf und biss ihr in die Hand, sodass sie den Pfahl losließ. Sowohl sie als auch Pristine waren erschrocken, als sie das sahen. „Das… das ist doch nicht möglich…“ Eine weiße Schlange schoss hervor und attackierte ihrerseits nun Pristine und biss ihr ins Handgelenk, sodass sie die Armbrust fallen ließ. Laut grollte der Donner und zwischen den beiden Schwestern schlug ein Blitz ein, der eine tiefe Brandfläche im Boden hinterließ. In einem unbedachten Moment lockerte Christine ihren Griff um das Buch und mit einem lauten Klacken sprangen die restlichen fünf Siegel auf, woraufhin sich das Buch vollständig öffnete. Und kaum, dass sie Seiten offen lagen, wurde eine so gewaltige Druckwelle freigesetzt, dass sie mit einem Schlag die gesamte Anlage in Trümmern legte. Christine warf sich schützend auf Anthony und Vincent und auch Thomas, Cedric und Ezra warfen sich noch rechtzeitig zu Boden, bevor sie von der Druckwelle fortgerissen werden konnten. Die Kraft, die mit einem so gewaltigen Schlag freigesetzt wurde, war so stark, dass sie mit einem Mal den gesamten Himmel klärte, wodurch wieder die Sonne schien. Als es vorbei war, sah Anthony auf und bemerkte, dass das Buch nicht mehr da war. Stattdessen stand da ein junger Mann mit einem vergoldeten Stab in der Hand, an welchem sieben Ringe befestigt waren. Die schwarze Schlange, die gerade eben noch Christine in die Hand gebissen hatte, schlängelte sich um seinen linken Arm und legte ihren Kopf auf seinen Handrücken ab. Die weiße wickelte sich um seine Schultern und ihre strahlend blauen Augen schienen auf den beiden Schwestern zu ruhen. Diese glaubten, ihren Augen nicht zu trauen und auch Johnny war über alle Maßen sprachlos. Die anderen hingegen verstanden nun überhaupt nichts mehr. „Das… das ist doch…“, brachte Pristine hervor und schüttelte verwirrt den Kopf. „Das ist doch unmöglich!“ „Vater!“ rief Christine und in ihren Augen sammelten sich Tränen. Sie konnte sich nicht zurückhalten und eilte auf ihn zu. Anthony wandte sich fragend an Johnny. „Wie hat sie ihn genannt? Vater?“ „Du hast richtig gehört. Der da ist mein Großvater und der eigentliche Besitzer des Buches.“ Sie beobachteten, wie Christine zu ihm lief und ihn stürmisch umarmte, was irgendwie befremdlich an ihr wirkte, denn mit einem Male kam sie den anderen so jung vor. Der Mann mit den beiden Schlangen erwiderte die Umarmung und lächelte liebevoll. „Es ist wirklich schön, dich wiederzusehen. Ich habe euch beide auch sehr vermisst… Tut mir Leid, dass ihr so lange auf mich warten musstet.“ Doch Pristine machte keine Anstalten, zu ihm zu gehen. Sie sah die beiden mit einem seltsamen Blick an, dem sich auch Wut beimischte. „Was hat das zu bedeuten?“ rief sie und hielt sich dabei ihre verletzte Hand. „Warum bist du hier, Vater? Du bist doch tot! Wir haben damals gesehen, wie du gestorben bist. Was hat das alles zu bedeuten und wieso versuchst du, mich aufzuhalten?“ Er wandte nun den Blick zu ihr und nun sahen auch Anthony und die anderen, dass er genau wie Ezra unterschiedliche Augenfarben hatte. Ein rotes und ein blaues Auge. Langsam löste er sich von Christine und ging auf ihre Schwester zu, die immer noch wie gelähmt war. Sie verstand das alles nicht, war vollkommen durcheinander. Und als sie ihrem Vater ins Gesicht sah, da sah sie keine Wärme, kein liebevolles Lächeln wie er es bei Christine hatte, als sie ihn umarmte. Aber sie sah auch keine Wut. Was dachte und fühlte er gerade? Diese Frage füllte ihren ganzen Geist aus und so registrierte sie erst eine Sekunde später, dass er ihr eine Ohrfeige gegeben hatte. Sie presste sich eine Hand auf die gerötete Stelle und sah ihn fragend an, da setzte es einen weiteren Schlag in ihre Magengrube. Nun gut, er wirkte bei weitem nicht so verheerend wie bei Christine und Johnny, aber dennoch war er stark genug, dass Pristine vor Schmerz stöhnte und in die Knie sank. „Wa-warum tust du das, Vater?“ „Du wagst es, mir so eine Frage zu stellen?“ entgegnete er in einem kalten und abweisenden Ton. „Nach all dem, was du getan hast? Du tötest tausende Unschuldiger und trachtest sogar deinem eigenen Kind nach dem Leben, weil es nicht deinen Vorstellungen von einem absolut reinen Wesen entspricht und dann fragst du mich, wieso ich das tue? Ich frage dich: Wozu habe ich damals mein Leben geopfert, damit ihr alle leben könnt, wenn du all das mit Füßen trittst? Du solltest dich schämen, dass du so etwas Grausames tust!“ „Aber Vater, ich habe doch nur versucht, die alte Ordnung wiederherzustellen. Ich wollte uns alle wieder zum wahren Gleichgewicht zurückführen und eine perfekte Welt erschaffen.“ „Und zu welchem Preis?“ fragte er und stieß seinen Stab auf den Boden, wobei die Ringe klapperten. „Dass unschuldige Mischlinge auf solch grausame Art und Weise ihr Leben lassen müssen, habe ich niemals gewollt und ich habe dich auch nicht in diese Richtung erzogen. Und ich habe dir genug Chancen gegeben, dich zu ändern. Ich hatte gehofft, dass du diese Ideen und Fantasien fallen lässt, wenn dein eigenes Kind auch ein Mischling ist. Aber was hast du getan? Du hast ihn grausam gefoltert und sogar versucht, ihn zu töten! Nun gut, dass du und deine Schwester etwas speziell seid, das weiß ich selbst gut genug, aber ich war stets bemüht, euch beide gleichzuhalten und euch ein guter Vater zu sein. Aber was du Johnny angetan hast, ist unverzeihlich und ich habe dir niemals so etwas vorgelebt. Warum also tust du nur so etwas?“ Diese Szene kam Vincent irgendwie vertraut vor. Er musste an seinen heftigen Streit mit Mary Lane im Labyrinth des Traumfressers denken, als er sie nach langer Zeit wiedergesehen hatte. Er hatte sie und einige andere Konstrukteure unter Einsatz seines Lebens aus dem Institut gerettet und schließlich erfahren, dass Mary sie alle getötet hatte. Vor Wut hatte er ihr auch schwere Vorwürfe gemacht, dass er sie am liebsten zurückgelassen hätte, wenn er dadurch so etwas hätte verhindern können. Pristine wirkte irgendwie wie ein Kind, das von seinem Vater ausgeschimpft wurde. Doch dann wurde sie wütend und holte zum Gegenschlag aus. „Du hast doch keine Ahnung, Vater! Diese Mischlinge sind ein Verbrechen gegen das höchste Gesetz und eine Abart, die nicht geduldet werden darf. Sie gehören nirgendwo dazu und um die Ordnung wiederherzustellen, müssen sie ausgerottet werden. Nur so können wir unseren Kult wieder zu seiner alten Größe verhelfen. Du hingegen lässt dich täuschen und hast nur Augen für meine Schwester. Ich will alles zu seinem Ursprung zurückführen, das müsste auch in deinem Interesse sein. Und da hat dieser Mischlingsabschaum keinen Platz!“ „Du bist doch völlig durchgeknallt“, rief Christine und packte sie am Kragen. „Vater hat uns doch immer wieder eingeschärft, dass wir nicht leichtfertig mit dem Leben anderer spielen dürfen, nur weil wir dir Macht dazu haben. Echt, dein Geschwafel ist einfach nur zum Kotzen.“ Irgendwie ergab sich für Anthony langsam ein klares Bild von der eigentlichen Situation und allmählich verstand er das vorherrschende Familienproblem. Offenbar fühlte sich Pristine in der Vergangenheit vernachlässigt, weil ihr Vater ihre radikalen Ideen nicht unterstützen, geschweige denn überhaupt tolerieren wollte. Und als er verstorben war, hatte sie das genutzt, um ihre Pläne auszuführen. Irgendwie verrückt, dass selbst bei so mächtigen Wesen genau die gleichen Familienprobleme herrschen konnten wie bei uns, dachte Anthony und musste den Kopf schütteln. Dieser Anblick war einfach nur seltsam. Aber eines machte ihm doch schwer zu schaffen: Nathaniel und Sally. Was war mit ihnen passiert und wieso mussten sie sterben? Hatte dieser Kerl ihnen die Lebensenergie entzogen? Er wandte sich an Johnny, der bei diesem Familienstreit erst einmal außen vor war. „Besteht eine Chance, dass wir Nathaniel und Sally irgendwie retten können?“ „Ich denke schon. Der Alte wird sich schon etwas dabei gedacht haben, sonst hätte er es nicht gemacht. Ihm kann man vertrauen, keine Sorge.“ „Wer genau ist er eigentlich und wo kommt er so plötzlich her?“ „Wie schon gesagt, er ist mein Großvater. Er starb bereits vor meiner Geburt, als er im Alleingang gegen eine feindliche Armee kämpfte und dabei die Kraft des Buches einsetzte. Sein Körper konnte diese nicht aushalten und das hat ihm den Rest gegeben, genauso wie Sally vor 200 Jahren. Er hat den Kult damals angeführt und ihn quasi aufgebaut. Außerdem war er der Einzige, der es geschafft hat, Christine und Pristine in Einklang zu bringen. Einige sagen ihm sogar nach, dass er das Geheimnis um die Existenz der Nekromanten und Vivomanten kennt und was es mit dem Ursprung der Seele auf sich hat. Wahrscheinlich hat es auch damit zu tun, warum er Sally und Nathaniels Lebenskraft absorbiert hat. Wir werden es sicherlich noch früh genug herausfinden.“ So wie es klang, schien Johnny seinem Großvater blind zu vertrauen. Und auch Christine machte den Anschein, als würde sie es tun. Jedenfalls schien dieser Kerl nicht gerade begeistert von Pristines Säuberungsplänen zu sein und so konnten sie sicherlich davon ausgehen, dass er auf ihrer Seite war. Hoffentlich fand dieser ganze Alptraum bald ein Ende… und hoffentlich gab es eine Möglichkeit, Sally und Nathaniel wieder zurückzuholen. Ein angenehm warmer Wind wehte und Nathaniel hörte ein Geräusch, welches er als Vogelgezwitscher wiederzuerkennen glaubte. Soweit er richtig ertasten konnte, lag er im Gras. Also war er nicht wieder in der Zwischenwelt, so viel wusste er schon mal. Was war eigentlich passiert? Zumindest konnte er sich erinnern, dass er versucht hatte, die Kraft in Johnnys Körper wieder zurück auf das Buch zu übertragen, damit er seinem Freund helfen konnte. Und dabei hatte er das Bewusstsein verloren. Da er im Gras lag und es sich auch nicht mehr danach anhörte, als würde noch gekämpft werden, war sich Nathaniel sicher, dass er wohl das Meiste verpasst haben musste und der Kampf gegen Thule vorbei war. Nun endlich öffnete er die Augen und blickte in den strahlend blauen Himmel. Er fühlte sich vollkommen frisch und erholt und freute sich, Anthony und Johnny wiederzusehen. Als er sich aber aufsetzte und vor ihm eine maskierte Gestalt in einem pechschwarzen Gewand hockte und ihn anstarrte, bekam er einen solchen Schreck, dass ihm fast das Herz stehen blieb. Entsetzt schrie er auf, kam auf die Beine und rannte weg und fand nicht weit entfernt Sally, die auch gerade erst aufgewacht war. Ängstlich versteckte er sich hinter ihr und rief „Sally, da!“ Doch anstatt, dass die maskierte Gestalt ihm folgte, ergriff sie ebenfalls die Flucht und versteckte sich selbst hinter jemandem. Es war ein Mädchen in einem weißen Kleid und die Ähnlichkeit mit Sally war nur schwer zu übersehen. Sie hatte kurz geschnittenes pechschwarzes lockiges Haar und rot leuchtende Augen. Nathaniel hatte sie noch nie gesehen, aber irgendwie kam sie ihm dennoch vertraut vor. „Wer… wer ist das?“ fragte Sally verwirrt und verstand nicht, was das alles zu bedeuten hatte und wo sie überhaupt war. Das Mädchen wandte sich der maskierten Gestalt zu, die sich ängstlich versteckte und lächelte. „Ist schon gut, du brauchst keine Angst zu haben.“ Langsam richtete sich der Maskierte auf und nahm Kapuze und Maske ab. Nathaniel glaubte nicht recht zu sehen, als er einen Jungen sah, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah. Schüchtern lächelte dieser ihm zu und wich seinem Blick aus. Das Mädchen sprach ihm gut zu und ging schließlich zu Sally und Nathaniel hin. „Schön, euch beide wiederzusehen. Ihr habt das wirklich gut gemacht.“ „Kennen wir euch etwa?“ fragte Sally ungläubig und ihr Blick wanderte abwechselnd zwischen den beiden hin und her. Das Mädchen nickte. „Zumindest Nathaniel hat schon mit uns beiden Bekanntschaft gemacht, nämlich in der Zwischenwelt.“ „Dann… dann seid ihr Nekros und Vivus?“ „So hat uns Eli genannt. Davor hießen wir Elyssia und Azarias. Um es verständlicher auszudrücken: Ich bin die allererste Sally und ihr Ursprung.“ Als die Nekromantin das hörte, konnte sie es erst mal nicht glauben. Natürlich wusste sie, dass sie selbst nur eine von vielen Reinkarnationen war, die mit einem großen Machtpotential geboren wurden. Und es waren auch viele Mädchen nach ihr gefolgt, die ihr ähnlich sahen und auch Nekromantinnen waren. Dathans Schwester Christie war ihre derzeit letzte Reinkarnation. Aber nun stand die allererste „Sally“ direkt vor ihr. Dann musste dieser Azarias ja der erste Vivomant sein, wenn sie richtig schlussfolgerte. Schließlich aber fragte sie „Wo genau sind wir hier überhaupt?“ „Wir befinden uns sozusagen im Zentrum von Elis Seele. Er hat eure Lebenskraft aufgenommen, um die Zwischenwelt verlassen zu können, um eure Freunde zu retten, aber auch, damit wir die Chance bekommen, euch zu sehen. Wir wollten euch schon länger kennen lernen und euch die ganze Geschichte erklären, damit ihr die Zusammenhänge versteht. Aber kommt erst mal mit, dann können wir in Ruhe miteinander reden.“ Elyssia führte sie zu einem Pavillon, wo sie alle Platz nahmen. Azarias, der offenbar extrem schüchtern war, hielt sich sehr zurück und schaffte es nicht einmal, Augenkontakt zu halten. Elyssia klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Entschuldigt bitte, dass Azarias euch so erschreckt hat. Er ist extrem scheu und versteckt sein Gesicht, damit ihn niemand erkennt. Also, das Beste ist, ich fange ganz von vorne an zu erzählen.“ Elyssia goss sich eine Tasse Tee ein und trank einen Schluck, bevor sie begann. „Als unsere Geschichte beginnt, lebten wir in einer Zeit und in einer Welt, die fernab der menschlichen Zeitrechnung liegt. Damals war alles noch streng in zwei verschiedene „Klassen“ unterteilt: Positiv und Negativ. Es gab die Vivomanten und Nekromanten. Die Vivomanten, die vollkommen positive Kräfte hatten, gehörten dem damaligen Azarias-Kult an und waren arg verfeindet mit den Nekromanten, die zu meinen Anhängern gehörten. Ständig herrschten Fehden, es kam zu Anfeindungen und an ein harmonisches Miteinander war gar nicht zu denken. Azarias und ich besaßen eine so enorme Kraft, dass für uns ein normales Leben gar nicht vorstellbar war. Meine Kräfte waren so stark, dass selbst eine einfache Berührung zum sofortigen Tod geführt hätte. Deswegen hatten alle Angst vor mir und mieden mich. Im Grunde war ich ziemlich einsam und obwohl ich meine Anhänger um mich hatte, war ich nie wirklich glücklich, weil mir immer etwas fehlte. Aber ich konnte nie genau sagen, was mir fehlte. Da ich nicht gerade die Einfachste war, hatte ich den einen oder anderen Wutausbruch, was oft zu erheblichen Katastrophen und Zerstörungen führte. Deshalb sprach man schlecht über mich und sagte mir sogar nach, ich würde Neugeborene verschlingen oder in ihrem Blut baden. Folter, Morde und viele andere Dinge wurden mir nachgesagt und im Grunde hat mich niemand geliebt. Die Vivomanten hassten und fürchteten mich und meine eigenen Leute hatten es nur auf meine Kräfte abgesehen, durch die sie das ewige Leben besitzen und den Tod beherrschen konnten. Irgendwie ziemlich traurig, wenn man darüber nachdenkt. Jedenfalls war das Ironische daran, dass Azarias genau das gegensätzliche Problem hatte.“ „Wie soll ich das verstehen?“ „Da er so eine unfassbar starke positive Kraft besaß, brauchte es nur eine Berührung, um Kraft, Vitalität, ewige Jugend und Schönheit, aber vor allem Glück zu erlangen. All das, was sich jeder wünscht. Und genau das war es, was Azarias zum Verhängnis wurde. Er wurde von allen Seiten belagert und bedrängt, sodass er eine regelrechte Scheu vor anderen entwickelte. Um wenigstens ein bisschen seine Ruhe zu haben, war er gezwungen, sich zu verhüllen und eine Maske zu tragen, damit niemand ihn erkannte. Aber auch er war nicht wirklich glücklich, obwohl er von allen Seiten belagert wurde. Denn sie alle wollten nur seine Kraft, aber mehr auch nicht und das war das Traurige. Wir waren beide sehr einsam, weil wir niemanden hatten, der uns liebte.“ Das klang wirklich nach einer traurigen Geschichte. Sally und Nathaniel kannten das beide sehr gut, sie hatten ähnliche Erfahrungen gemacht. Sally wurde von allen Leuten gehasst und gefürchtet, sie wurde regelrecht zu Tode geprügelt und auch ihre Familie hatte darunter leiden müssen. Und Nathaniel hatte knapp 90 Jahre allein in einem Keller verbracht und weitere sechs Jahre in der Villa, ohne sie jemals verlassen zu haben. Und er hatte niemals jemand anderen außer Johnny, Amducias und seinen schrecklichen Bruder Hinrich gekannt. Nathaniel sah Elyssia mitleidig an. „Das ist wirklich eine traurige Geschichte. Und wie ging es weiter?“ „Azarias ist zwar extrem scheu, aber er kümmerte sich sehr um seine Leute und hat sich oft gefragt, warum beide Lager so verfeindet waren. Außerdem wollte er wissen, ob ich wirklich so ein schreckliches Monster bin, wie alle sagen. Also hat er sich heimlich in mein Anwesen geschlichen, um sich selbst eine Meinung zu bilden. Da er ja auch die Fähigkeiten eines Konstrukteurs besitzt, konnte er sich ja quasi unsichtbar machen, aber als er mein Zimmer betrat, konnte ich ihn trotzdem sehen. Wir haben beide einen Heidenschreck gekriegt, als wir einander bemerkten. Immerhin waren wir beide die Oberhäupter zweier völlig verschiedener und vor allem verfeindeter Gruppen und der Inbegriff von Leben und Tod. Es wurde sozusagen von uns erwartet, dass wir uns gegenseitig hassten und bekämpften. Aber dem war nicht so. Nachdem sich Azarias zu erkennen gab, fragte er mich, ob ich genauso einsam wäre wie er. Und als sich herausstellte, dass wir beide unglücklich mit unserer Situation waren und uns im Grunde trotz unserer Unterschiede nach genau dem Gleichen sehnten, wurde uns eines klar: Wir gehörten zusammen. Eben weil wir so verschieden waren, passten wir paradoxerweise perfekt zusammen. Ich sehnte mich nach der Nähe zu anderen, er wollte sie auf einem sicheren Abstand haben und gemeinsam wollten wir jemanden, der uns um unsertwillen liebt und nicht wegen unserer Fähigkeiten. Wir haben uns schließlich ineinander verliebt.“ „Das klingt doch nach einem Happy End.“ „Ja, wenn es nicht einen Haken gegeben hätte. Leider ist es so, dass wir beide viel zu stark waren. Meine Macht reichte aus, ganze Welten zu zerstören, während Azarias ganze Welten erschaffen konnte. Und leider wirkte sich das negativ auf den anderen aus. Wir wurden krank und schwach, wenn wir uns zu nahe kamen und allein schon, wenn wir uns berührt hätten, wäre dies allein verheerend genug gewesen, um alles in unserer Umgebung ins absolute Chaos zu stürzen. Es war ein Stachelschweindilemma wie in Schopenhauers Buch.“ Nathaniel konnte nichts damit anfangen und wandte sich fragend an Sally, aber die verstand es auch nicht. Also erklärte es Azarias, wobei er aber ziemlich leise war und zwischendurch etwas stotterte. „Wenn es kalt wird, rücken Tiere näher zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen. Aber Stachelschweine stehen vor dem Problem, dass sie sich gegenseitig mit ihren Stacheln verletzen, wenn sie sich zu nahe kommen. Deshalb müssen sie einen geeigneten Abstand finden damit sie nicht frieren, ohne die Stacheln ihres Nachbarn spüren müssen.“ „Das heißt, wir waren gezwungen, auf Abstand zu bleiben“, fuhr Elyssia fort und ihre Stimme klang traurig dabei. „Wir waren beide sehr unglücklich mit dieser Situation und konnten uns an niemanden wenden. Immerhin waren die Vivomanten und Nekromanten verfeindet. Aber dann trafen wir eines Tages einen kleinen Jungen namens Ribal. Und er war der bis dahin ungewöhnlichste Junge, den wir jemals kennen gelernt hatten. Er war Waisenkind und gehörte keine der beiden Seiten an. Doch damals war es so, dass man sich für eine entscheiden musste oder irgendwo hineingeboren wurde. Aber er wollte nicht. Er sagte ganz einfach, dass er sich weder für die eine noch für die andere entscheiden kann und fragte deshalb, warum er nicht beiden angehören könnte. Bis dato war er der Allererste, der überhaupt den Gedanken aufgeworfen hatte, dass man Vivomanten und Nekromanten auch zusammenführen könnte. Azarias und ich freundeten uns schließlich mit Ribal an und er wurde unser erster als auch einziger und engster Freund, weil er die gleichen Ansichten vertrat, wie wir: Warum können Nekromanten und Vivomanten nicht in Frieden koexistieren? Warum müssen sich Gegensätze immer bekämpfen und gibt es nicht vielleicht eine Möglichkeit, sie irgendwie in Einklang zu bringen? Das waren Fragen, die uns immerzu beschäftigten. Wir drei sahen einfach keinen Grund darin, dass wir uns gegenseitig bekämpfen sollten, denn im Prinzip gehörten wir zusammen und waren aufeinander angewiesen. Ohne den einen konnte der andere nicht existieren. Schließlich bemerkte Ribal, dass Azarias und ich uns zueinander hingezogen fühlten und uns gerne näher sein wollten, es aber nicht konnten. Da er der Einzige war, der die Fähigkeit besaß, Gegensätze in Einklang zu bringen, bot er an, unsere Kräfte in seinem Körper aufzunehmen und uns somit zu ermöglichen, uns näher zu kommen. Dies funktionierte tatsächlich, aber leider hatten wir nicht die Konsequenzen bedacht.“ Elyssia senkte traurig den Kopf und auch Azarias schien bekümmert zu sein. Sally ahnte nichts Gutes und fragte „Was ist passiert?“ „Die Kraft in Ribals Körper war einfach zu groß für ihn. Zwar schaffte er es, sie zu einer Einheit zu verbinden, aber sein Körper hielt es einfach nicht aus und wenige Sekunden später starb er in meinen Armen. Doch obwohl ihm dieser Prozess so starke Schmerzen bereitet hatte, lächelte er und hatte Tränen in den Augen. Er war so glücklich, wie ich noch nie jemanden zuvor gesehen hatte. Grund dafür war die Energie, die aus meiner und Azarias Kraft entstanden ist, als sie sich zu einer Einheit vermischten. Es war etwas völlig Neues, was wir zusammen erschaffen hatten und sie war so… so wunderbar, dass wir sie mit allen teilen wollten. Nicht nur mit uns beiden, sondern auch mit den Nekromanten und Vivomanten und allen anderen Lebewesen. Diese neue Energie, die aus positiver und negativer Kraft entstanden ist, nannten wir Seele. Sie wurde die neue Lebensenergie aller Lebewesen. Und sie sollte ein Symbol dafür sein, dass Gegensätze einander brauchten und etwas Wunderbares ergeben konnten, wenn sie miteinander harmonieren konnten. Im Grunde wird das „Produkt“ aus zwei sich verbindenden Gegensätzen sogar noch schöner als seine reinste unvermischte Form. Nehmt den Sonnenaufgang oder den Sonnenuntergang. Sie sind jedes Mal ein wunderschönes und atemberaubendes Schauspiel. Selbst der Regenbogen wird aus zwei Gegensätzen geformt, nämlich Sonne und Regen. Nachdem uns das alles klar wurde, wollten wir diese Gedankengänge und Ideen weiterführen. Dank meiner Kräfte konnte Ribal wiedergeboren werden und obwohl er uns nicht mehr erkannte, war er immer noch der Alte und er wurde zum Hoffnungsträger, dass er den Einklang und die Harmonie bringen würde. Wir machten es uns zur Aufgabe, ihn zu beschützen und nahmen daraufhin eine andere Gestalt an, um unerkannt bei ihm zu bleiben. Der wiedergeborene Ribal war es schließlich, der die Nekromanten und Vivomanten zusammenführte und das war sozusagen die Entstehung des alten Kultes, dem auch Johnny, Christine und Pristine angehörten.“ So allmählich verstand Sally die ganze Geschichte und was das alles mit ihr zu tun hatte. Sie und Nathaniel waren sozusagen Fragmente und verkörperten die Urformen, aus denen die Lebensenergie und damit die Seele erschaffen wurden. Im Prinzip gehörten sie zu den ältesten Lebensformen, die bis heute noch fortbestanden. Ja im Grunde waren sie beide der Ursprung der Seele! Aber warum gab es sie beide überhaupt? Genau diese Frage wollte Sally stellen, aber da kam Nathaniel ihr mit einer anderen Frage zuvor. „Ist Eli etwa Ribal?“ „Nicht er selbst, aber seine Reinkarnation. Als seine Kraft im Laufe der Zeit zu groß wurde und er somit das gleiche Schicksal erneut zu erleiden drohte, versiegelte er mit unserer Hilfe diese Kraft in das Buch mit den sieben Siegeln. Dieses Buch war eine Zerstörungswaffe, aber auch ein Werkzeug für eine bessere Zukunft. So war es ihm möglich, das Schicksal zu ändern, als er seine Kinder und seine Freunde und Kameraden verlor. Ebenso, wie er auch dir helfen konnte, die Tragödie ungeschehen zu machen, als deine Freunde getötet wurden.“ Hieraufhin sah Sally Nathaniel entsetzt an und rief „Dann ist das keine Vorhersehung gewesen, sondern das ist alles wirklich passiert!“ Etwas eingeschüchtert nickte er und erklärte „Eli hat mir die Chance gegeben, zurückzukehren und alles ungeschehen zu machen, wenn ich ihm dafür das Buch zurückgebe.“ „Das ist richtig“, bestätigte Elyssia. „Nachdem ihm klar wurde, dass er niemandem das Buch oder die Schlüssel anvertrauen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als es sich wieder anzueignen. Und dazu brauchte er euch. Da Eli in der Zwischenwelt gefangen war und nichts tun konnte, vertraute er darauf, dass die Nekromanten und Vivomanten eines Tages zum alten Kult finden und ihm dann helfen würden, das Buch zurückzubekommen. Und indem ihr für Johnny als Medium fungiert habt, um die Kraft wieder auf das Buch zu übertragen, nutzte Eli eure Lebensenergie, um alle sieben Siegel zu öffnen.“ „Die Siegel sind alle offen?“ rief Sally entsetzt und sprang von ihrem Platz auf. Sie wusste, was das bedeutete, wenn Elyssia wirklich Recht hatte. Das würde die Apokalypse und damit das Ende der Welt bedeuten. Doch Elyssia wies sie an, sich wieder zu setzen und konnte sie beruhigen. „Nur weil das Buch über diese Kraft verfügt, muss das noch lange nicht so sein. Was glaubst du, warum Nathaniel in der Lage war, seine Fähigkeiten als Schlüsselträger einfach umzukehren? Es gibt nicht nur die vier Schlüssel, sondern noch weitere, die aber das genaue Gegenstück bilden. Und um an diese zu kommen, brauchte Eli deine Kraft, Nathaniel. So war es ihm möglich, die Zwischenwelt zu verlassen, ohne dabei die Apokalypse auszulösen. Und da er wieder zurück ist, kann er auch Pristine wieder unter Kontrolle bringen.“ „Und was wird aus uns?“ „Keine Sorge, ihr werdet nicht ewig hier bleiben. Eli brauchte eure Kraft nur zeitweise. Wenn er sie nicht mehr benötigt, könnt ihr wieder zurückkehren und dann wird sich hoffentlich die ganze Aufregung gelegt haben.“ Sally lehnte sich zurück und ließ sich die ganze Geschichte noch mal durch den Kopf gehen. Sie versuchte einen Zusammenhang zu sehen, warum Pristine so besessen war, unbedingt alles wieder in seine ursprüngliche Ordnung zu bringen. Aber sie kam zu keinem richtigen Ergebnis. Denn es war doch besser, wenn Gegensätze zusammenhielten und das konnten sie am Besten, wenn es etwas gab, was sie verbinden konnte. Und das waren die Mischlinge. Egal wie viel sie auch überlegte, sie fand keine Antwort und so wandte sie sich an Elyssia und Azarias. Letzterer erklärte in seiner schüchternen Art „Pristine hat etwas, das mit einer Zwangsneurose zu vergleichen ist. Es gibt Menschen, die alles streng voneinander trennen müssen. Seien es Farben, Gegenstände derselben Gruppe, oder den gleichen Eigenschaften. Sie können keine Ruhe finden, solange es kein für sie passendes Ordnungsprinzip in ihrem Leben gibt. Und Pristine ist jemand, der eine feste Struktur braucht und sich nach nichts anderem richten will. Sie kann keine Kompromisse eingehen, oder sich auf etwas Neues einlassen. Allein den Gedanken an eine Veränderung ihrer Grundprinzipien und Regeln erträgt sie einfach nicht. Christine hingegen ist ein völlig chaotischer Geist, genauso wie Johnny. Sie ist impulsiv, kompromissbereit und hält sich nur an Regeln, wenn es sich nicht vermeiden lässt, oder wenn es das Gleichgewicht sichert. Eben weil Christine in dieser Hinsicht ihrem Vater so ähnlich ist, haben sie ein ganz anderes Verhältnis zueinander als Pristine. Sie war immer das große Sorgenkind und sie hat ihren Vater im Grunde gehasst, während sie ihre Schwester allein aufgrund der Tatsache nicht hassen konnte, weil diese ihr Gegenstück verkörperte.“ Mit anderen Worten, Pristines verkorkste Psyche war Schuld an diesem ganzen Dilemma. Unfassbar, dass sie es so weit mit ihren Plänen bringen konnte. Wie viele Leben mussten für diesen Wahnsinn bereits geopfert werden? Aber wenn man es aus der Sicht betrachtete, konnte man Pristine irgendwie besser verstehen und nachvollziehen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Nur leider gefiel ihnen das Ergebnis nicht. „Wenn Eli gewusst hatte, wie Pristine drauf war, warum hat er das mit Johnny riskiert?“ „Weil er auf die Weise hoffte, Pristine von ihrem Wahnsinn zu befreien, indem sie ihre krankhafte Obsession mit Mutterliebe besiegte. So hoffte er, dass Johnny an seiner Stelle beide verfeindeten Seiten wieder in Einklang bringen konnte. Aber… Johnny war nun mal nicht wie sein Großvater und hatte nicht die gleichen Fähigkeiten wie er. Deshalb bat Eli ihn, wenigstens das Buch und die Schlüssel vor Pristine zu verstecken. Aus diesem Grund schenkte er ihm auch die Fähigkeit, durch die Augen anderer sehen zu können. So war es Johnny möglich, die Aktivitäten seiner leiblichen Mutter zu überwachen und sowohl das Buch, als auch die Schlüssel im Auge zu behalten. Und er vertraute auch darauf, dass Christine ihrerseits alles tun würde, um ihre Schwester aufzuhalten.“ Nun endlich verstand Sally alles und konnte die ganzen Fragmente zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Jetzt hatte sie die Antwort auf die quälende Frage, warum sie überhaupt existierte und wieso es Nekromanten gab, wenn sie doch nur ausgestoßen und verachtet wurden. All die Jahre hatte sie geglaubt, sie würde nur existieren, um die Welt auszulöschen und mit ihr die gesamte Menschheit. Aber das stimmte nicht. Sie war geboren worden, damit sie eines Tages zusammen mit einem Vivomanten Eli zurückholen und den Genozid abwenden konnte. Sie war geboren worden, um diese Welt zu beschützen! Als ihr das klar wurde, kamen ihr Tränen vor Erleichterung. All die Jahre hatte sie furchtbare Angst davor, dass sie tatsächlich nur zu dem Zweck geboren wurde, um Menschen zu töten. Auch ihr Nachfahre Dathan, der genauso ein Nekromant war und leiden musste wie sie, war all die Jahre im Selbstzweifel gewesen. Doch dann hatte er in der Zwischenwelt jemanden getroffen, der ihm klar gemacht hatte, dass die Nekromantie auch ihre guten Seiten hatte. Denn Nekromanten, die sich alles hart erkämpfen mussten, waren die glücklichsten und ehrlichsten Menschen von allen und sie hatten die Macht, jene zu beschützen, die sie liebten. Dann musste dieses mysteriöse Spiegelbild, welchem Dathan begegnet war, Eli gewesen sein. Und nun hatte Sally die ganze Geschichte erfahren, woher die Nekromanten kamen, warum es sie gab und was für eine Rolle sie überhaupt spielten. Nekromanten waren der Ursprung der Seele. Indem sich ihre Kräfte mit denen der Vivomanten vereint hatten, konnten sie etwas völlig Neues erschaffen, nämlich die Lebensenergie aller Lebewesen. „Da Eli jetzt wieder frei ist, was wird dann aus Nathaniel und mir? Eigentlich haben wir jetzt unseren Daseinszweck erfüllt und werden nicht mehr gebraucht, oder etwa nicht?“ Erschrocken sah Nathaniel sie an, als er das hörte, denn irgendwie klang das danach, als würden er und Sally nicht mehr gebraucht werden und deshalb nicht mehr zurückkehren. Doch Elyssia konnte sie beide beruhigen. „Ihr habt doch Freunde und Familie, richtig? Nur weil ihr eure Rolle erfüllt habt, bedeutet das nicht, dass ihr für immer hier bleiben müsst. Natürlich steht es euch frei zu entscheiden, ob ihr immer noch diese Kraft besitzen wollt, oder nicht.“ Als Sally hörte, dass sie sich für oder gegen ihre Fähigkeiten entscheiden konnte, musste sie nachdenken. Was hatte ihr diese Gabe denn gebracht? Nur Unglück. Vor zweihundert Jahren war jeder Mensch getötet worden, der ihr nahe stand, weil sie eine Nekromantin war und vor kurzem hatte Dathans Familie versucht, sich ihre Kräfte anzueignen. Solange sie eine Nekromantin war, würden die Menschen immer Angst vor ihr haben, oder ihr misstrauen. Im Grunde hatte sie nur Vorteile, wenn sie ihre Fähigkeiten für immer aufgab! Schließlich sammelte sie sich und erklärte „Ich werde meine Kräfte behalten. Es stimmt schon, dass sie mir persönlich nur Unglück bringt und ich es immer schwer haben werde, weil die Menschen sich vor mir fürchten. Aber… ich will das auf mich nehmen, weil ich meine Familie beschützen will. Wer weiß, was irgendwann wieder passieren wird. Was, wenn noch jemand auftaucht, der ähnlich wie Pristine eine Gefahr für andere Menschen darstellt und ich nicht die Kraft habe, meine Familie zu beschützen?“ „Du nimmst da wirklich viel auf dich. Ich finde das echt bewundernswert!“ Nathaniel selbst schien auch noch unsicher zu sein, was er tun sollte. Er wusste, dass er seine Kräfte nicht unter Kontrolle hatte und sie sogar gegen seine eigenen Freunde anwandte. Dank dieser Gabe würde er niemals erwachsen werden und immer auf jemanden angewiesen sein. Aber andererseits hatte er Anthony helfen können, weil dieser doch diese Lichtkrankheit hatte. Was, wenn er eines Tages lernen konnte, seine Gabe gezielt einzusetzen, um anderen zu helfen? Also traf er die gleiche Entscheidung wie Sally und beschloss, seine Kräfte zu behalten. Azarias und Elyssia tauschten kurze Blicke aus und mussten schmunzeln. „Wir sind uns wirklich sehr ähnlich…“, sagte Elyssia schließlich und wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger. „Und ich denke, das Meiste ist bereits gesagt worden. Habt ihr noch Fragen an uns?“ „Was genau wird aus euch werden?“ fragte überraschend Nathaniel, der bis dato noch so gut wie gar nichts gesagt hatte. „Werden wir euch irgendwann mal wieder sehen oder verschwindet ihr für immer?“ Azarias wurde rot im Gesicht und senkte den Blick vor Verlegenheit. „Wir werden… also… äh…“ „Was Azarias sagen will ist, dass wir weiterhin Eli zur Seite stehen werden. Aber… vielleicht sehen wir uns tatsächlich eines Tages wieder. Die Welt ist ja bekanntlich klein.“ Damit erhob sich Elyssia und wenig später auch Azarias. Obwohl er eigentlich größer als sie war, wirkte er um einiges kleiner, da er sich stets geduckt hielt, als fürchte er sich vor jemandem. „Es wird Zeit, dass wir gehen. Eli wird uns gleich brauchen und auch für euch ist der Augenblick gekommen, wieder zurückzugehen. Dieses Treffen war zwar kurz, aber es war doch wirklich schön, euch beide persönlich kennen zu lernen.“ Elyssias Lächeln hatte etwas so Herzliches, dass Nathaniel irgendwie warm ums Herz wurde. Irgendwie konnte er sich gar nicht vorstellen, dass sie so gefährlich war, dass selbst eine Berührung den sofortigen Tod bedeuten konnte. Und sie sich als babytötende Hexe vorzustellen, fiel ihm auch ziemlich schwer. Wie Azarias damals richtig erkannt hatte: Sie war einfach nur furchtbar einsam und traurig gewesen. Genauso wie er selbst… Insgeheim wünschte er sich schon, dass er sie und Azarias irgendwann wieder sehen würde, auch Eli. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)