Huans von Nagisa_Tsubaragi ================================================================================ Kapitel 11: Huans ----------------- Der Rest der Ferien schien an dem Trio vorbeizufliegen. Nia war vollauf mit Hausaufgaben, Träumereien, Schwärmereien und Tagebucheinträgen beschäftigt, Salvatore schien sich vorgenommen zu haben, die Bibliothek durchzulesen, denn gerade las er Charles Berlitz "Das Bermudadreieck - Fenster zum Kosmos?", mit dem er fast fertig war. Vor ihm lagen Illuminati, Meteor, Sakrileg, Die Päpstin, Der träumende Delfin, Wuthering Heights, Romeo und Julia und noch einige andere Titel. Cedric seines Zeichens faulenzte und trieb viel Sport: Tennis, Schwimmen, Joggen und das ganze andere Sportangebot des Internats. Nach und nach tröpfelten die Schüler wieder in das Lehrinstitut - alle braun, erholt und fröhlich. Niemand ahnte, was in den Ferien vorgefallen war. ___________________________________________________________________________ Schließlich kam auch der erste Schultag. Frau Wood war zu vieler Entsetzen ihre Klassenleitung geblieben, was sie nicht im mindesten zu stören schien - irgendwen musst man als Sadist ja immer quälen. "So meine Lieben,", begann sie, "eure Ferien waren sicher alle angenehm und ihr seid wunderbar erholt. Deshalb brauch ich euch nicht zu schonen und kann gleich zur Sache kommen. Das Geheimnis dieser Schule wird so gut bewahrt, dass wir nach dieser Schulstunde in ein anderes Gebäudekomplex umziehen werden, m jeden Informationsaustausch mit nicht betroffenen Klassen zu unterbinden." Aufgeregtes Gemurmel. Was konnte so geheim sein, dass man zu solchen Maßnahmen griff? Viele waren erst gestern angekommen und dementsprechend froh, dass sie ihre Sachen noch nicht ausgepackt hatten. "Ruhe!", befahl die strenge Lehrerin, nachdem einige Schüler wild das diskutieren angefangen hatten. "Auf dieser Erde gibt es drei verschiedene Arten von Menschen - und damit meine ich weder Hautfarbe, Religion oder sonst was -: Zum einen gibt es natürlich die ganz "normalen" Menschen. Aber es gibt auch sog. "Huans": das sind Menschen mit Tiergenen. Es kommt von "Human" + "Animal". Durch die Tiergene können sie auch die typischen Eigenschaften des jeweiligen Tieres nutzen. Wer z.B. ein Geparden-Gen hat, ist unglaublich schnell, jemand mit einen Fisch-Gen kann wahnsinnig gut schwimmen, usw." Grabesstille. Dann: Vereinzeltes Kichern. Anschließend: Lautes losprusten und grölen. Viele hielten sich vor lachen den Bauch. Fantasy-Fans bekamen leuchtende Augen. "Ihr glaubt mir nicht? Ich liefere euch den Beweis - ich habe das Eulen-Gen." Die Schüler konnten sich nicht mehr halten - Hatte die Wood gekifft?! Doch das Lachen erstarb augenblicklich und wandelte sich in ein entsetztes Schreiben, als Frau Wood ihren Kopf um 180° drehte. "Nun?", fragte sie und grinste breit, als wolle sie sagen: Noch irgendwelche Zweifel, die ich beseitigen muss? "Ist doch praktisch, nicht wahr? Superscharfe Augen, ich kann euch selbst beobachten, wenn ich vorne etwas anschreibe ... Hat eigentlich nur Vorteile!" Jeder glaubte ihr. Mit großen Augen starrten sie sie an und hingen förmlich an ihren Lippen. "Die zweite Sorte von Menschen sind sog. "Waker", die später zu "Rulern" werden. Solch eine Person hat zwei Huans unter seiner Kontrolle, wobei ein Waker nur einen hat. Ein Waker "erweckt" einen seiner Huans. Hat er das auch mit dem zweiten getan, wird er automatisch zum Ruler, jemanden, der über die Kräfte seiner beiden Huans verfügen kann, wann und wo er will." Inzwischen hatten die Glupscher der 10D die Größe von Tellern angenommen. Unfassbar! Das klang ja wie im Märchen - oder besser: Wie in einem Fantasyfilm! "Nur die Huans selbst kennen ihr Tiergen von Geburt an. Ein Waker erweckt seinen Huan dadurch, dass er beim bloßen hinschauen äußere Formen eines Tieres erkennt und diese dann dem Huan mitteilt. Liegt er richtig, ist einer der Huans erweckt. Später kämpft ihr als Ruler gegen andere Huans - diese Kämpfe werden aber nie gleich verlaufen, denn es gibt immer bestimmte Regeln, die sich jedes Mal ändern. In dieser Klasse haben wir nur einen einzigen Huan, die Parallelklasse (Salvatores Klasse) hat dagegen keine Waker/Ruler." Frau Wood räusperte sich kurz, um die Informationen durchsickern zu lassen, als sie schließlich sagte: "Cedric, Nia - darf ich bitten?" Der blonde Hüne stand ohne weiteres auf - man hörte aufgeregte Luftjapser - aber Nia saß wie versteinert da. Sie war doch kein Huan! "Nia ist ein Waker. Das System mit dem Erwecken war vorher etwas abstrakt und sehr vereinfacht dargestellt, denn in Wirklichkeit muss ein Waker das Äußere des Tieres des Huans erkennen und dann sogleich aufzeichnen. Nur wenn der Waker richtig liegt, ist die fertige Zeichnung für uns unsichtbar und für Huan und Waker sichtbar." Nia war entsetzt - sie wollte jeden als "Huan" haben, nur nicht den behinderten Idioten! Hilflos schaute sie sich um. Aber es gab anscheinend kein Entkommen. Außerdem hatte sie keinen blassen Schimmer, was ER für ein Tier sein sollte - es interessierte sie auch einfach nicht! Er schaute sie reuig und fordernd zugleich an. Reuig - hatte er es verdient, ihr Huan zu sein, nach allem, was passiert war? Fordernd - warum fing sie nicht an? So schlimm war's jetzt auch nicht! "Du hast ich schon einmal fast erweckt. Erinnerst du dich?", fragte er und schaute ihr direkt mit seinen pechschwarzen Augen an. Sie zuckte zusammen - wann sollte das denn gewesen sein?! Hektisch dachte sie nach und mit einem Mal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Da war doch dieser Junge im Kindergarten gewesen, der ihre Zeichnung von ihm zerrissen hatte! Damals war sie in diesen Bengel verliebt, weshalb sie ihm dieses Geschenk machen wollte. Doch dieser hatte all ihre Mühe einfach in Fetzen gerissen! ___________________________________________________________________________ "Nia, du magst doch Cedric, oder?", fragte Frau Diener, die Kindergärtnerin. Im Hintergrund tobten viele kleine Kinder, die entweder im Sandkasten spielten, mit Legos hantierten, auf Bäume kletterten oder gerade Cowboy spielten. Der Lärmpegel war enorm, aber es war einer der wenigen Augenblicke des Tages, wo mal kein Kind schrie, weil man ihm das Spielzeug weggenommen hatte. Das kleine Mädchen namens Nia nickte schüchtern. Die erwachsene Frau seufzte. "Wenn du ihn magst, solltest du ihn nicht immer ärgern. Wie wäre es, wenn du ...", sie überlegte kurz, "ihn so malst, wie du ihn siehst? Nein, noch besser: Zeichne ihn einfach als Tier! Da freut er sich bestimmt!" Der letzte Satz überzeugte Nia vollkommen - solange Cedric sich freute, würde sie alles machen! Voller Eifer setzte sich das kleine Mädchen im rosa Kleidchen und weißen Schleifchen an einen abgenutzten, verschmierten Tisch - vor ihr ein weißes Blatt und gaaaanz viele Buntstifte. Was war Cedric für ein Tier? Ein Hase? Nein, er war nicht ängstlich. Eine Schlange? Cedric war nicht falsch. Also auch nicht. Eine Biene? Nein. Eine Eule? Erst recht nicht. Ein Fuchs? Schon eher. Cedric war wild und ungestüm und zugleich der Schwarm jedes Mädchens im Kindergarten. Aber ihn juckte das nicht - er war zu allen gleich, außer zu Nia, die piesackte er immer. Er nannte sie ja noch nicht mal bei ihrem Namen! Na-i, weil er doof war! Immer wollte er sie nur ärgern! Cedric war unglaublich stark, viel stärker als alle anderen. Plötzlich hatte sie eine Eingebung und malte drauflos. Sie gab sich die größte Mühe, denn Nia hatte noch nie gut malen können. Mit einem Mal stand ihr junger Schwarm hinter ihr. "Na, was machst du denn da, Na-i?", fragte er keck und linste über ihre Schulter. "Ich heiße nicht Na-i! Ich heiße Nia!", schmollte sie - dabei bemerkte sie nicht, wie starr Cedrics Blick geworden war. "Was soll das denn werden?", wollte er wissen. Beschämt antwortete sie: "Das bist du, so wie ich dich als Tier sehe. Süß, oder?" Dabei lachte sie fröhlich und bekam rote Bäckchen. Doch zu ihrem Entsetzen entriss Cedric ihr Kunstwerk und zerfetzte es in tausend Teile. "Mach das nie, nie wieder!", herrschte er sie an. Nia war so entsetzt, dass sie erst eine Minute später anfing laut zu weinen. Sie hatte sich solche Mühe gegeben! Und das Bild war noch nicht einmal fertig gewesen! "Mach das nie wieder, kapiert?", wiederholte er fauchend, woraufhin sie mit erstickter Stimme schrie: "Du behinderter Idiot!" Das war das erste Mal, dass sie ihn so genannt hatte. Seit diesem Tag mochte sie ihn nicht mehr und wechselte auch kein Wort mehr mit ihm. Anfangs hatte er sie noch geneckt und versucht, sich mit ihr zu versöhnen, aber sie blockte ab, sodass er letzten Endes etwas enttäuscht aufgeben musste. ___________________________________________________________________________ Zu Beginn der neunten Klasse hatte Nia das Gefühl, ein Déja-vu zu haben, als sie Cedric das "erste Mal" sah. Diese weizenblonden, fast weißen Haare und dazu diese unendlich tiefschwarzen Augen hatten schon damals einen tiefen Eindruck hinterlassen. Auch die altbekannte Wut zusammen mit dem scheinbar aus dem nichts kommenden Ausdruck "behinderter Idiot" kamen ihr wieder ins Gedächtnis, ohne dass sie wusste, warum. Cedric war ihr von Anfang an unsympathisch gewesen - er grenzte sich immer aus, war murrig und unsozial, mischte sich in ihre Angelegenheiten und durchschaute ihre Gedanken und Gefühle. Das gab alles in allem schon viele Minuspunkte - aber ohne zu wissen, dass er im vornherein schon welche gehabt hatte. Doch warum? Nia hatte damals nicht die leiseste Ahnung gehabt. ___________________________________________________________________________ Nun aber kehrten all diese Erinnerungen zurück und machten Nia, obwohl sie mit ihren sechzehn Jahren eigentlich darüber stehen musste, leicht säuerlich. Jetzt erinnerte sie sich auch daran, was für ein Tier sie gezeichnet hatte - und nun ergab sein seltsames Verhalten von damals einen Sinn! Irgendwie beruhigte sie die Tatsache, endlich zu wissen, was dies alles zu bedeuten hatte. Ob er noch weiß, dass Nia damals in ihn verliebt war? Ach was - Jungs vergessen so was! Nachdem sein seltsames Verhalten sie vor über zehn Jahren wütend gemacht hatte, konnte sie es jetzt nachvollziehen und bedauerte sogar, dass sie oft so grob zu ihm war und ihn unabsichtlich in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht hatte. Doch nun wollte sie sich revangieren: Schnell nahm sie Blatt und Stift - und malte drauflos. Ihr Zeichenniveau war seit dem Kindergarten kaum besser geworden, weil sie sich seit dem Vorfall geweigert hatte, auch nur einen Buntstift in die Hand zu nehmen. Aber die Hauptsache war, dass Cedric nun erkannte, was sie zeichnete. Die ganze Klasse schaute gespannt zu. Viele hielten die Luft an. Andere schauten skeptisch. Innerhalb einer Minute war Nia fertig und hielt ihrem Huanklassenkameraden das vollendete Werk unter die Nase. Nun geschah etwas, was sie bei dem "behinderten Idioten" noch nie erlebt hatte: Er lächelte! Es war ein seltsames, sanftes, beruhigendes Lächeln, das bei Nia Gänsehaut verursachte. "Du bist seit dem Kindergarten echt nicht besser geworden, Na-i.", griente er, "Aber es ist vollkommen richtig, so wie damals auch." Nia schaute erst verdutzt Cedric an, dann ihre Schmiererei und prustete los. Auf ihrem Blatt war ein Teddybär - Cedric war ein Bär! ___________________________________________________________ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)