Kingdom Hearts - Radix von Rainblue (~ The written version ~) ================================================================================ Prolog: Awakening ----------------- Es gibt eine Prophezeiung… Über einen jungen Ritter, der Frieden und Zerstörung über die Welt bringen wird… Die flimmernde Luft wurde von einem Schrei zerrissen, ein Schrei mit der Kraft eines Lauffeuers. Eine Flut von weiteren Schreien folgte, dann schnelle Schritte, aufgewirbelter Staub, der Kehlen zerkratzte, die unermüdlich weiter schrieen, als gäbe es kein morgen. Und das würde es tatsächlich nicht geben. Klingen trafen in blinder Wut aufeinander, Funken sprühten in den schwarzen Himmel auf, ein Himmel, der unnatürlich zerpflückt war, um einen gigantischen Mond sichtbar zu machen, der ungerührt über die brutalen Kämpfe zu seinen Füßen wachte. Erste Todesrufe. Blut, das die trockene Erde in erschreckender Menge tränkte. Augen, die längst nicht mehr zwischen Feind und Verbündetem zu unterscheiden wussten, Angriffe, die keine Gnade mehr kannten und dazwischen die sich auflösenden Überreste der Gefallenen. Allerorts emporsteigende Lichtbündel, das Leben selbst, das sich im kalten Auge des Mondes sammelte, ihn nährte, sodass er von Sekunde zu Sekunde an Größe gewann. Und plötzlich… Stille. Keine Regung, kein Atem, nur die Reaktionen der Herzen, die alle dasselbe fühlten, es aber nie verstehen würden. Wie die Brüder, die sie einst waren, blickten sie zum Himmel auf, in das gefrorene Licht des Mondes. Und es war, als wollte er sagen: Genug. Im nächsten Moment brach der Boden auf, tiefe Krater rissen sich ihren Weg durch die rot befleckte Ödnis, verschlangen alles, was ihnen in den Weg kam, Stimmen flehten um Hilfe, andere verstummten bereits endgültig. Es gab kein Entkommen, schon lange nicht mehr. Felsen zersprangen, zerfielen wie greise Ruinen, stürzten über den Kriegern zusammen, ließen sie eins mit ihren gefallenen Gefährten werden. Und überall stiegen weitere Lichter auf, die der Mond unbetroffen in sich aufnahm. Niemand verließ dieses Land lebend. Einzig die Schwerter blieben zurück, als sich die Wolken zusammenbrauten und beißend kalten Regen über die Wüste schütteten. Und er stand daneben, hatte all das mit angesehen und konnte nicht begreifen. Konnte nicht begreifen, was er getan hatte… Die Veränderung kam plötzlich, aber haarfein, sodass er ihr nicht gleich Beachtung schenkte. Eine unmerkliche Verschiebung der Gegebenheiten, wie ein Schmetterling, der eine Blume verlässt, um auf einer anderen zu landen. Ein lautloser Vorgang, den nur sieht, wer genau darauf achtet. …nx… Zaghafte Umbrüche, minimale Wandlungen; es war dunkler geworden, schattiger, als wäre eine Wolke auf ihrem Weg im Himmelssee vor die Sonne geraten. Die Luft schmeckte noch gleich, nach sonnenwarmem Gras und Erde und den Blumen, die irgendwo unten am Vorsprung des Hügels wuchsen. Aber zu all diesen Gerüchen war ein Duft hinzugekommen, der sich nur geringfügig von den anderen abhob. So wie der subtile Nuancenunterschied des Morgen- und des Mittaghimmels. …Lynx… Zuletzt dieses weit entfernte Geräusch, das weder Windgesäusel noch Wasserplätschern war und in seiner Art beidem doch so ähnlich blieb. Vertraut. Warm und… „Lynx.“ Er öffnete ein Auge und führte reflexartig die Hand zur Stirn, um sich vor dem Sonnenlicht abzuschirmen, das, trotz des Schattens, stark genug war, um zu blenden. Aber apropos Schatten… Das war keine Wolke, sondern ein schmales Gesicht, die blauen Augen groß und erwartungsvoll, das schwarze Haar in der Brise tanzend. Gerade noch gelang es ihm, einen Laut zu unterdrücken, bevor er sich abrupt aufsetzte und dem Mädchen einen Blick über die Schulter zuwarf. Wie eine ungesagte Antwort, verzogen sich ihre Lippen zu einem Grinsen. „Endlich wach!“ Er wandte seufzend das Gesicht ab. „Erschreck mich doch nicht so, Rea.“ Er nutzte die kurze Pause, um sich zu fangen. Diese Träume häuften sich in letzter Zeit. Und jedes Mal wurden die Details schärfer, wie der präzise langsam vollzogene Verlauf einer Folter… „Lynx, du Faultier!“, tadelte Rea, eine Hand an die Hüfte stemmend. „Das Training hat schon längst angefangen!“ Er unterdrückte ein weiteres Seufzen. Gerade vor ihr wollte er sich nicht die Blöße geben, eine Ausrede zu suchen, die der Wahrheit zu nahe kam. Das war riskant. Darum log er. „Das Training interessiert mich null.“ Kurze Zeit herrschte Stille, in der seine Freundin offenbar versuchte, den genauen Sinn seiner Worte zu entschlüsseln, ehe sie ihn rabiat am Kragen seines Mantels im Nacken packte. „Ist mir doch egal!“, fauchte sie. „Du kommst jetzt mit!“ Ihm war entfallen, dass Rea bezüglich ihrer Ausbildung kein Pardon kannte. Und nur Schwarz und Weiß erst recht nicht. „He!“, stieß er hervor, als sie fester zog, belehrte sich jedoch eines Besseren, indem er einfach gar nichts tat. Was sie nicht daran hinderte, ihn – ungeachtet dessen, dass er kein Fliegengewicht war – weiter hinter sich herzuschleifen. „Ich hab die Schnauze voll von deinem Geschwänze!“ „Was kümmert’s dich?“, giftete er mürrisch zurück. Es dauerte einen Moment, ehe eine Antwort kam. „Na ja…“, sagte sie schließlich leise. „Eigentlich will ich nur wissen, warum du nicht mehr kommst.“ Treffer. Lynx biss die Zähne aufeinander. „Das wüsste ich auch gerne.“ Beide verharrten in ihrer Haltung und richteten die Augen auf einen Punkt weiter oben des Hügels, wo wie aus dem Nichts jemand erschienen war und ob der Haltung seiner Freunde anfing zu kichern. „Sera“, stellte Lynx knapp fest. Da sich Reas Griff um seinen Kragen gelockert hatte, nutzte er den Moment, um auf die Beine zu kommen. „Der Meister will mit uns heute die neuen Übungen besprechen“, erklärte Sera, wofür Lynx nur ein Schnauben übrig hatte – was zeitgleich einen entrüsteten Blick von Rea erntete, der sich nur vertiefte, als er noch ein tonloses „Na und?“ dahinter setzte. Allerdings ohne die Rechnung mit Sera zu machen, welcher kurzerhand die Fingerspitzen unter das Kinn seines besten Freundes legte, ein anzügliches Grinsen auf den Lippen. „Soll ich dich zwingen, Lynx?“ Wenn Lynx in dem Augenblick, der darauf folgte, eines erfuhr, dann, dass er schneller laufen konnte, als er es sich bisher zugetraut hatte… „Ich… hab wohl etwas übertrieben, nicht?“, fragte Sera lachend. „Och, er wird es überleben!“, erwiderte Rea, die ebenfalls nach Luft schnappte vor lachen. Es ist immer das gleiche mit den beiden. „Wir sollten auch zurück“, meinte er schließlich und durchpflügte das hohe Gras, das sich im Wind bog und hob wie Wellen im Meer. „Ja.“ Die warme Mittagssonne im Rücken, das Tal, die kantigen Klüften, Felsen und das feine Summen der Kristallsplitter in der Stadt. Und dazwischen die Melodie der Freude, geboren aus den Herzen der Bewohner dieses Landes. Der Alltag in Radiant Garden begann stets mit einem Lächeln. Kapitel 1: Three Hearts ----------------------- Ein plötzlich auflebender Wind fuhr zwischen den Ästen des Baumes hindurch, warf eines der Blätter hinauf, zog und zupfte, bis es unter seiner Kraft nachgab und, auf seiner Welle tänzelnd, über den Platz getragen wurde. Seine polarblaue Färbung erweckte den Eindruck, ein Eisvogel würde den Himmel kreuzen, um dann zwischen seinen Artgenossen zu landen, einem der Laubhügel auf den Straßen Radiant Gardens. Die Stadt war bekannt für ihren „Laubmeer-Herbst“, da sich die Blätter nur hier bläulich verfärbten und in ihren vielfältigen Schattierungen die Sinnestäuschung erschufen, die Straßen stünden unter Wasser. Auf dem weiträumigen Gelände, neben dem Schloss, hatte das Hofpersonal jedoch dafür Sorge getragen, kein einziges Blatt unaufgekehrt zu lassen. Die Fläche erfüllte nun mal einen besonderen Zweck. „Ich bin heute nicht gut gelaunt“, brummelte Sonus, indem er seinen Schülern einen scharfen Blick zuwarf. „Also wäre es nicht besonders klug mich zu verärgern.“ Die Auszubildenden wussten, dass ihr Meister keine halben Sachen machte, wenn es um das Training ging. Er mochte einen gutmütigen Eindruck abgeben, aber Schlüsselschwertmeister wurde man nicht im Handumdrehen; wer die Prüfung bestanden hatte, wusste, wovon er sprach. Und kurz darauf wurde einem Teil der Schülerschaft das auch wieder ins Bewusstsein gerufen, als diese sich unauffällig zur Gruppe zu gesellen versuchte. „Ihr Frischlinge seid zu spät!“, tobte Sonus. „Hundert Liegestütze!“ Was er auch sagte, und jeder Entschuldigung der Lehrlinge zum Trotz, den Meister musste man beim Wort nehmen. Während die Schuldigen sich ächzten auf dem Boden niederließen, um, unter den provozierenden Rufen ihrer älteren Kollegen, die „Strafe“ hinter sich zu bringen, schlenderte Lynx seelenruhig dem Pulk entgegen. „Sorry, bin zu spät“, ließ er höflichkeitshalber noch verlauten. Erstaunlicherweise gab es doch noch mehr über Sonus zu sagen. Es stimmte, er wusste, wovon er sprach, aber ganz unvoreingenommen blieb auch er nicht. Immerhin zerstörte der hohe Status keinesfalls seine leidenschaftliche Hingabe in der Rolle des Elternteils… „Ach! Aber das macht doch nichts, mein Sohn!“, lächelte er. „Kann doch mal vorkommen.“ Lynx schluckte, die, nicht deutbaren, Blicke seiner Mitschüler ignorierend, so gut es eben ging. „Aber… ich will ja nicht“, setzte Sonus unverdrossen an, „den Kindern Angst machen.“ Bei letzterer Klassifizierung wurde es überraschend still unter den Umstehenden – und Umliegenden, da es noch immer fünfundneunzig Liegestützen zu bewältigen galt. Von irgendwo kam ein geflüstertes „Kinder?!“, dem ein unterdrückter Laut folgte, den ein Ellenbogen in Kontakt mit Rippen zur Verantwortung hatte. „Ich hasse es, wenn er das tut…“, murmelte Lynx Sera zu, welcher grinste, als wäre gar nichts geschehen. „Du meinst, dich allen anderen vorziehen?“ Er sagte es so schamlos laut, dass wieder Leben in die Schüler kam. Der reinste Heringsschwarm war das! „Ach, komm schon…“, mischte sich da Rea ein. „Er ist eben dein Vater. Freu dich doch darüber.“ „Rea…“, brachte Lynx nur hervor und wagte es kaum, ihr in die Augen zu sehen. Sie lächelte in dieser selbstvergessenen Weise, wie er sie schon oft gesehen hatte. Und eben drum wusste er, was sie verbarg, was seine Freundin damit versteckte. Aber so gern er es wollte… was hätte er schon sagen können? „Nun denn!“, unterbrach Sonus die Unordnung, die ringsum aufgekommen war. Sofort stand Lehrling um Lehrling wieder in Reih und Glied – mit Ausnahme derer, die inzwischen nur noch fünfundachtzig Liegestützen vor sich hatten. „Dann beginnen wir mit dem Training! Lynx und Rea.“ Zuerst genannter zuckte zusammen, zweite wartete geduldig, was der Meister zu sagen hatte. „Würdet ihr uns bitte die Basiszaubersprüche vorführen?“ Beinahe wäre Lynx ein „war ja klar“ rausgerutscht, aber er riss sich am Riemen. Er war lange nicht beim Training erschienen, wollte aber unter keinen Umständen wie ein rohes Ei behandelt werden. Der Punkt war nur, dass sein Vater etwas tat, was in ihm noch mehr Ärger hervorrief, als die Berührung mit Samthandschuhen. Der Vorzeigekomplex. „Denkt daran, dass ihr nicht viel Magie zur Verfügung habt“, ermahnte Sonus, während die beiden Gegner die Mitte des Platzes betraten. „Setzt sie darum mit Bedacht ein.“ Der leicht angesäuerte Ausdruck wich von Lynx’ Zügen, als Rea ihm ein unverkennbar freches Grinsen schenkte. Wie von selbst hob sich sein Kinn einige Zentimeter. „Ich hoffe, du bist nicht eingerostet, Lynx“, rief sie und streckte die Hand von sich, woraufhin ihr Schlüsselschwert Zwielichtherz erschien. Er tat es ihr gleich und beschwor – mit dumpf fühlbarem Missfallen – sein eigenes, das den Namen Source trug. Wie schon so oft verstörte ihn das intensiv glühende, nahezu ekstatische Gefühl, welches seinen gesamten Körper durchströmte, kaum dass er diese wundersame Waffe in der Hand hielt. Er sträubte sich dagegen, denn in seinen Augen stand ihm diese Macht überhaupt nicht zu. „Eingerostet?“, wiederholte er spöttisch und schwang das Schwert auf die Schulter. „Pah!“ Von irgendwo rechts hinten erklang das hohe Flöten eines Mädchens, welches kettenreaktionsgleich Seufzer durch die Schar der anderen Schüler schickte. (Und auch vereinzeltes Stöhnen, denn noch standen fünfundsechzig Liegestützen aus). Lynx musste sich nicht umdrehen um – ebenso wie alle anderen – zu wissen, was für den Tumult verantwortlich war. Früher hatte es in Radiant Garden denkbar strengere Richtlinien in Bezug auf das Aussieben derjenigen gegeben, die zum Meister ausgebildet werden sollten. Es stimmte zwar, dass rein proportional gesehen, weniger Frauen als Männer vom Schlüsselschwert auserwählt wurden, aber in der Vergangenheit war es dem weiblichen Geschlecht zusätzlich gänzlich verwehrt gewesen, ausgebildet zu werden. Das hatte sich erst mit der ersten Königin des Reiches geändert. Ein Effekt dieser inadäquaten Epoche hatte sich darin gezeigt, dass Schlüsselschwertträger unter den Frauen und Mädchen einen höheren Rang genossen, begehrter waren und die erste Wahl eines Heiratskandidaten darstellten. Doch um es kurz zu machen: Von dieser Vorliebe hatte sich relativ viel in der Neuzeit bewahrt. „Lynx, du musst sie besiegen!“, rief eine junge Frau aufgeregt. „Mach sie fertig!“, stimmte eine zweite energisch zu. Sie waren nicht allein; die ganze Umzäunung entlang hatte sich ein Mob von wild schnatternden, teilweise bis zur Schmerzgrenze herausgeputzten, „Fans“ zusammengefunden. Die meisten von ihnen hatten jedoch kein Auge mehr für die „normalen“ Schüler – der Fokus lag auf ihrem Favoriten. Nur, dass Lynx in der Beziehung noch einen Konkurrenten hatte. „Sera soll kämpfen!“, schrie eine kleine Frau, die kurz vor der Ohnmacht zu stehen schien, auf der gegenüberliegenden Seite des Kampfplatzes. „Genau! Sera ist viel besser als Lynx!“, kam es als Zustimmung aus der Ansammlung der Sera-Verfechterinnen. Ein chaotisches Fauchen, Beschimpfen und weiteres Anfeuern beider Zaunparteien folgte, welchem Lynx ebenso wenig Beachtung schenkte wie üblich. Heute schienen die Verehrerinnen zwar besonders zahlreich erschienen zu sein – was wohlweißlich daran lag, dass der Sohn des Meisters sich wieder beim Training blicken ließ – aber anders, als Sera, welcher leicht überfordert lächelte, ließen ihn die Umstände kalt. Davon abgesehen hatte er nur Augen für eine Person auf dem Feld, welcher der Lärmpegel offenbar mehr gegen den Strich ging. „Haltet die Klappe, ihr Hupfdohlen!“, herrschte Rea die Meute beider Seiten unwirsch an. Überraschenderweise verstummten sie augenblicklich, einschließlich der männlichen Schüler ringsum. Eines war sicher; Rea hatte es nicht leicht als eine der wenigen Frauen im Bund, aber sie hatte sich schon frühzeitig ihren Respekt erkämpft. „Tz. Jetzt reicht’s mir!“ Lynx senkte den Kopf, da er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. „Genug geredet!“, schloss Rea unvermittelt und eröffnete zielstrebig den Kampf. Gerade noch rechtzeitig riss Lynx sein Schwert hoch und parierte ihren Schlag. Das Klirren der Klingen schien die Atmosphäre zu teilen, denn binnen von Sekunden wurde es absolut still um sie her. Angespannte Glieder, angehaltener Atem, hin und her zuckende Augen, die dem Kampfgeschehen folgten. Ein Privileg, über das nur zwei Fortgeschrittene, wie die beiden, verfügten. Lynx vergrößerte den Ausfallschritt, um Rea wegzustoßen. So ungern er es zugab, seine Muskeln fühlten sich merklich steif und schwer an. Er war zweifelsfrei doch eingerostet. Aber deswegen würde er den Teufel tun und sich jetzt schonen. Das alles fand den Weg durch seine Gedanken in den wenigen Sekunden, in denen Reas Gesicht nur ein paar Zentimeter entfernt war. Einige schwarze Strähnen fielen vor die Lippen, die sich in selbem Moment angriffslustig verzogen und plötzlich verschwammen, ehe er den Gegenstoß ausführen konnte. Teleport, dachte er zähneknirschend und wirbelte herum. Wie erwartet befand sie sich hinter ihm in der Luft. Aber in Punkto Reflexe konnte der Sohn des Meisters gut mithalten. „Aero!“, schrie er und feuerte die gebündelte Windmagie auf sie ab. Die Böe hob Reas Körper wieder in die Luft, ehe die Fußspitzen den Boden berührten. Womit er jedoch nicht gerechnet hatte, war, dass sie den Auftrieb für einen Gegenangriff nutzen würde. Die Schwarzhaarige überschlug sich einmal, führte dabei ihr Schwert über den Kopf und spannte die Muskeln an, um den Sturmwehungen standzuhalten. „Blitzregen!“, beschwor sie mit fester Stimme. Die Luft lud sich in sekundenschnelle auf, jeder Millimeter knisterte und pulsierte vor Elektrizität. Sie wartete, bis die Spannung ihren Höchstpunkt erreicht hatte, um sie in einer konzentrierten Attacke auf ihren Gegner zu schleudern. „Blitzga!“ „Schutz“, keuchte Lynx, was ihm den Stromschock ersparte, nicht aber die Druckwelle, die ihn um Haaresbreite umriss wie ein Sturm den Grashalm. Rea nutzte die Pause, um federnden Schrittes auf dem Platz zu landen und die Waffe herumzuführen. Lynx schüttelte die Benommenheit ab, ehe er wieder näher kam, eine ungerührte Miene auf dem Gesicht. „Ich bin dran.“ Doch als er Sources Griff fester packte, war es, als schnappte eine Bärenfalle in ihm zusammen. Um sein Herz. Anstatt das Schwert fallen zu lassen, verkrampften sich seine Finger hart darum. Was ist das? „Lynx?!“, hörte er Reas Stimme wie durch Beton hindurch. Es war, als hätte ihm jemand mehrere Messer in den Rücken und durch die Brust gebohrt, die nun in kurzen Abständen abwechselnd gedreht wurden… Der Schmerz verbiss sich förmlich in seinen Sehnen und Muskeln, bahnte sich einen Weg in den Kopf hinein, entfesselte sich selbst und ließ ihn zur Marionette werden – einer Spielfigur in den Klauen der eigenen Qual. Er hätte alles dafür getan, dass es endlich aufhörte. Und dann war da auf einmal nur noch Taubheit. Die Umgebung, die Menschen, die Farben, Gerüche, Geräusche, alles hatte sich in ein glattes, monotones Rumoren verwandelt und kannte nicht länger eine Bedeutung für ihn. Das Ziel war jetzt ein anderes. Er hob den Blick vom Boden und begegnete zwei vor Schock geweiteten blauen Augen. „L-Lynx…?“, stieß Rea ängstlich hervor. Aber es war nicht Rea, die er sah. Er kannte keine Rea. Er wusste nur, dass sie ein Feind war. Etwas, das man vernichten musste. Töten. Genau, sie war der Feind. Und musste getötet werden. Auf der Stelle. ~ Ihr erster Impuls war Flucht. Ein Urinstinkt. Eine simple Abwehrreaktion, die jeder Mensch irgendwo in sich trägt. Und trotzdem stemmte sie die Beine in den Bauch und widerstand ihm. Denn es gab keinen Grund zur Flucht, keinen Grund zurückzuweichen. Es war schließlich Lynx. Er würde ihr nichts tun. Niemals. Und doch sah sie sich einem leeren, tierhaften Ausdruck gegenüber, als er den Blick hob. Die blauen Augen funkelten wie geschliffene und doch undurchsichtige Diamanten. Der Impuls kam – drängte sie dazu, zumindest Abzuwehren. Aber das Schlüsselschwert ruhte in ihren Fingern wie in Puppenhänden. Vom Kopf an abwärts war sie erstarrt angesichts des gefühllosen Starrens ihres besten Freundes. Selbst als die wahnsinnige Sekunde der Erkenntnis, dass er vorhatte, sich auf sie zu stürzen, kam, rührte sie sich nicht vom Fleck. Stattdessen sah sie zu, wie er den ersten Schritt setzte, bevor… „Genug!“ Lynx’ Kopf wurde zurückgeworfen, als Sera ihn mit beiden Händen umklammerte. „Beruhige dich.“ Für einen Augenblick befürchtete Rea, er würde nicht auf Sera hören, aber im nächsten blinzelte er heftig. Sein Gesicht nahm diesen Zug an, den Schlafwandler haben, wenn man sie unversehens aufweckt. Die kalte Wut in seinen Augen verlosch und machte bloßer Irritation Platz. „Was ist passiert?“, flüsterte er heiser. Ein neuer Impuls kam, aber auch diesen unterdrückte Rea, ohne recht zu wissen warum. Womöglich hatte sich das Entsetzen noch nicht vollständig verloren. Darum beobachtete sie nur Lynx, wie er sich mit der Hand durchs Haar fuhr, als könnte er sich nicht an das erinnern, was eben geschehen war. „Lynx“, unterbrach Sonus gefasst die atemlose Stille, die sich über den Platz gelegt hatte, „komm mal eben mit. Die anderen trainieren weiter.“ Natürlich befolgte keiner der Schüler seinen Befehl; kaum dass er und sein Sohn ins Schloss verschwunden waren, setzte sich frenetisches Getuschel und Gemurmel in Gang. Mit einem Mal kam sich Rea komplett fehl am Platz vor. Sie sah den beiden hinterher, auch noch als sie längst den Eingang betreten hatten. Verwirrung und eine irreale Verletztheit betäubten ihre Gedanken. Und das Gerede der Leute um sie herum – welches sie seltsamerweise Wort für Wort verstehen konnte – machte es nur noch schlimmer. „Was war denn mit Lynx?“ „Keine Ahnung.“ „Sehr verdächtig…“ Es gelang ihr nicht, den Blick von dem Punkt zu lösen, wo er eben noch gestanden hatte. Das Déjà-vu-Gefühl ließ sich nicht fernhalten. Auch wenn es diesmal noch irgendetwas gab, etwas, das anders gewesen war als die vorherigen Male. Lynx… „Bist du okay, Rea?“ „Hm?“, machte sie leicht erschrocken und blinzelte zu Sera hoch. „Äh… Ja, ja. Alles in Ordnung!“ Unter keinen Umständen sollte sich jetzt jemand um sie sorgen. Viel wichtiger war… „Sera, du bist sein bester Freund. Du weißt doch bestimmt, was mit ihm ist.“ Wobei ihnen beiden klar war, dass sie nicht nur von eben sprach. Allein in dieser Woche hatte Lynx schon vier dieser Anfälle gehabt. Manche stärker, manche schwächer… „Hm…tja…“, gab Sera Schulter zuckend zur Antwort. „Keine Ahnung.“ Rea klappte der Mund auf. Das konnte nicht sein Ernst sein. Sie wusste nicht, ob die Bedeutung seiner Worte oder die saloppe Art, mit der er sie aussprach, sie mehr aufregte. Konnte er eigentlich auch was anderes, als seine Umgebung in einer Tour auf den Arm zu nehmen? Doch als sie wieder aufsah, lächelte er. „Wieso fragst du ihn nicht einfach?“ Schnell schlug sie wieder die Augen nieder. „Meinst du, er wird mir eine Antwort geben?“ „Bestimmt“, erwiderte er, ohne zu zögern. Nun, er musste es wissen, oder nicht? Ehe sich ihr Kopf eine neue Ausrede ausdenken konnte, doch nicht zu gehen, hob sie den Blick wieder. „Hm, okay! Ich versuch’s!“ Das war dem Kampf doch letztendlich gar nicht so unähnlich – wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Dass Rea das plötzlich energisch auftretende Bedürfnis ereilte, sich aufzumachen, könnte eventuell aber auch daran liegen, dass sie sich dezent beobachtet fühlte. Was wiederum an dem Mob von Sera-Verfechterinnen liegen könnte, der sich wie eine bedrohliche Gewitterwolke hinter ihr zusammengebraut hatte, da sie für den Geschmack der Damen viel zu vertraut mit dem jungen Prinzen umging. Aber nur eventuell. „Wir sehen uns später!“, warf sie ihm noch zu, bevor sie Richtung Schloss davonlief. Sera grinste nur verschmitzt vor sich hin, als eine leise und dabei doch nicht überhörbare Stimme erklang. „Prinz Sera.“ Als er sich umdrehte, blickten ihn zwei aufreizend zusammengekniffene, wellenblaue Augen an. Sie gehörten zu einer jungen Frau, die die Kleidung einer Schülerin trug und doch niemals den Eindruck erwecken könnte, eine zu sein. Jedenfalls wenn man genauer hinsah. „Hättet ihr ein paar Minuten Zeit?“ Rea lief Korridor um Korridor ab, vorbei an aufwendig verzierten Säulen, prachtvollen Portraits früherer Residenten, über die spiegelfein geputzten Fliesen, auf denen der Sonnenschein funkelte. Die Bewohner des strahlenden Gartens hatten es mit den Äußerlichkeiten schon immer etwas zu ernst genommen. Der Name ließ immerhin schon darauf schließen, dass er aus dem Affekt entstanden war. Wo sind sie?, dachte Rea, nur um sich gerade noch rechtzeitig zu stoppen, da hinter der nächsten Kurve Stimmen erklangen. „Sei ehrlich zu mir, Lynx.“ Sie schlug sich rasch eine Hand auf den Mund, wich einen Schritt zur Seite und presste sich an die Wand, um möglichst vorsichtig näher an die Biegung heranzuschleichen. „Wenn wir nicht aufpassen wird dich die Finsternis übermannen.“ Sie hörte ein mühsam unterdrücktes Knurren von Lynx und sah bildlich vor sich, wie er ruckartig den Blick abwandte. Aber Sonus fuhr bereits eindringlich fort. „Nimm das gefälligst ernst! Mir ist aufgefallen, dass du diese Anfälle stets… “ – sie beugte sich etwas vor, um ihn besser zu verstehen – „…in der Nähe von Caprea bekommen hast.“ Und schrak sofort wieder zurück. Was…? „Dein Herz“, setzte Sonus erneut an und es war unüberhörbar, dass es ihm schwer fiel, die Worte auszusprechen, „reagiert stark auf die Dunkelheit.“ Rea hielt unbewusst den Atem an, während ihre Hand herabsank, bis sie sie auf der Brust ruhen ließ und auf die Stelle presste, wo das stockende Pochen fühlbar war, das bizarrerweise bei jedem Schlag mehr schmerzte. Was meint er…? „Hör zu, Lynx…“ Wieso tat ihr Herz so weh? Es war, als wäre dort etwas eingeschlossen, das nun versuchte, einen Ausweg zu finden. Einen Ausweg, den es nicht gab, weswegen es gegen die Wände trat… „Rea ist…“ „SCHNAUZE!!!“ Sie fuhr zusammen und vergaß für einen Augenblick das Stechen in der Brust. Sie hörte, wie Lynx ein Schnauben ausstieß, bevor er mit wieder beherrschter Stimme weiter sprach. Unwillkürlich drehte sie sich herum, bis sie am Rand der Mauer vorbei einen Blick auf ihn erhaschen konnte. Sein Gesicht war gestrafft, emotionslos. Und sein Tonfall ebenso. „Halt Rea da raus! Selbst wenn die Dunkelheit mich eines Tages übermannt, es ist allein meine Sache!“ Große Worte, wenig Bedeutung für ihren Sprecher. Zumindest im Auge des Betrachters. Aber was Lynx dabei dachte, was er fühlte, wie viel es ihn womöglich kostete, konnte niemand erkennen. Es blieb ein unmögliches Unterfangen, denn seine Unnahbarkeit, auch den engsten Freunden und sogar der Familie gegenüber hielt sie und auch ihn – gerade ihn selbst – gefangen. Er lässt niemanden an sich heran… Ihre Stirn sank langsam gegen den kühlen weißen Stein. Wenn er doch nur… Sie schloss die Augen und die Dunkelheit, die Welt und Leben verbarg, übte eine sonderbare Beruhigungskraft auf sie aus. …mir vertrauen könnte… „Du bist mein Sohn“, erwiderte Sonus schließlich verhalten. „Es geht auch mich etwas an.“ Er war nicht Reas richtiger Vater, aber sie kannte ihn Zeit ihres Lebens und wusste genau, wie viel ihm Lynx bedeutete. Und dass er sich selbst des Meistertitels als unwürdig bezeichnen würde, sollte seinem Sohn etwas zustoßen. Vor allem, wenn es der Dunkelheit zugrunde lag. Ein Schritt war zu hören, dem ein bitteres Lachen folgte. „Glaub mir“, flüsterte Lynx und Rea musste nicht hinsehen, um zu wissen, was sein Gesicht widerspiegelte. Reserviertheit. Unberührbarkeit. „Ich bin nicht so wie Mutter.“ Ihre Lider hoben sich wie von selbst, sodass sie noch sehen konnte wie Lynx – eindeutig kontrollierten – ruhigen Schrittes in den nächsten Korridor verschwand. Lynx’ Mutter? Sonus seufzte schwer und ließ die Schultern sinken. Er wirkte nur noch müde und entkräftet, viel älter, als er eigentlich war und nicht länger wie der Meister, den er ihnen stets zeigte und zeigen musste. Er vergrub das Gesicht in den Händen, nur ein paar Sekunden, ergab sich dieser Schwäche, seiner größten überhaupt. Der Angst. Dann straffte er sich wieder, atmete tief durch und griff nach dem Gürtel, den er kurzzeitig gelöst hatte. Ein Band, in dessen Mitte das Symbol prangte, das jeder Schlüsselschwertschüler trug. Ein Zeichen, das für Ehre, Mut, Licht und Hoffnung stand. Unbewusst griff sie nach ihrem, welches sie an einer Kette um den Hals trug. Schließlich schüttelte sie den Kopf, um sich wieder zu fangen, stieß sich von der Wand ab und sprang zwischen zwei Säulen der gegenüberliegenden Reihe hinunter in die Hecken. Wäre sie den gesamten Korridor zurückgegangen, hätte Sonus sie gesehen und nur eins und eins zusammenzählen müssen. Und das sollte nach diesem Gespräch nun wirklich vermieden werden. Einen Moment verweilte sie im Schutz der wenigen verbliebenen Blätter, deren Blau dem von Lynx’ Augen erstaunlich nahe kam. Anscheinend sehe ich schon Gespenster, dachte sie aufgewühlt, fuhr sich durchs Haar und verwarf den Gedanken rasch. Ihre Füße ließen das Laub rascheln, als sie zwischen dem Geäst hervortrat. Wie schnell der Herbst doch immer in den Winter überging. Nicht mehr lange und die meerfarbenen Blätter würden ausbleichen, weiß werden, genauso wie der Schnee, der sie schließlich zudeckte. Diese weiße Welt, in der sie dann plötzlich für einige Monate lebten, hatte ihr nie besonders gefallen. Obwohl sie weder etwas gegen Schnee noch gegen die Farbe hatte. Doch ihr rabenschwarzes Haar hob sich zu sehr von dem strahlenden Ton ab, machte ihr Tag für Tag aufs Neue bewusst, dass es schwärzer war, als das aller anderen Dunkelhaarigen in Radiant Garden. Wieso blieb ihr ein Rätsel. Irgendwo kümmerte sie die Antwort auch nicht, geschweige denn es gab überhaupt eine. Etwas anderes beschäftigte sie mehr. Nämlich die schneefarbenen Strähnen einer Person, der sie näher sein wollte, als sie es bis zu dieser Stunde war… das musste sie zugeben. Von der sie sich anscheinend jedoch noch viel schärfer abhob, als vom Schnee im Winter. Radiant Garden hatte mit der Zeit viele Namen erhalten und würde in Zukunft womöglich noch eine Handvoll mehr dazubekommen. Den Titel „Stadt des Lichts“ – oder, für ihre Bewohner simpel, „lichter Garten“ – trug sie schon am längsten. Daneben wurde sie aufgrund ihrer Laubmeere und den milden Temperaturen in Herbst und Winter auch „Blue Heaven“ oder „White Wideness“ genannt, wobei letzteres auf die schneebedeckten, schier unendlichen Weiten der Kristallgefilde anspielte, die sich um den Garten herum erstreckten. Eine eher seltenere Bezeichnung war „Darkless World“, die die Bewohner der Stadt normalerweise nicht in den Mund nahmen, da schon das Wort Dunkelheit ihnen zuwider lief. Selbst als Verneinung duldeten sie es nicht in Bezug auf ihre strahlende Heimat. Doch in dieser Nacht kreiste Rea in Gedanken kurze Zeit um diesen verbotenen Namen, als sie das fahle und dennoch unnatürlich helle Mondlicht betrachtete, das schräg durch die Fensterfront des Balkons drang. Unnatürlich… woher wollte sie das wissen? Sie kannte es gar nicht anders. Aus Erzählungen wusste sie zwar, dass der Mond in anderen Ländern nicht halb so gleißend schien, aber wieso versteifte sie sich darauf, dass es anders als hier richtig sein sollte? Seufzend rollte sie sich auf die andere Seite. Letztendlich machte das auch keinen Unterschied, weshalb sie die Gedanken daran verbannte und wieder zum Hauptthema ihrer nächtlichen Überlegungen zurückkehrte, die sie schon seit einiger Zeit wach hielten. Und auch schon vorhin beim Abwasch… Leider ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Ich kenne ihn schon so lange… Lange genug. Das jedenfalls hatte sie sich eingeredet, aber die Wahrheit schien… …dennoch weiß ich so gut wie nichts über ihn. Sie drückte sich enger an ihr Kissen und blies eine wirre schwarze Strähne aus der Stirn. Die Sätze von Sonus und Lynx tanzten ihr regelrecht vor der Nase herum, erfüllten jeden halbwegs klaren Gedanken, den sie sich zurechtformte und nahmen ihm seine Logik. Was hatten all diese Dinge, die geschahen, mit ihr zu tun? Was für eine Verbindung sah Sonus dort, die sie nicht erkennen konnte? Und wieso… wieso nur war Lynx so stur, zu glauben, auch die schwerste Last allein tragen zu können? “Selbst wenn mich die Dunkelheit eines Tages übermannt…“ Wie konnte er das sagen? Wie konnte er… Ach. Sie schloss die müden Augen einen Moment, wälzte sich unter der Decke auf den Bauch und erlaubte sich einen noch tieferen Seufzer. „Das ist alles so kompliziert…“ Mitten in ihr lethargisches Nuscheln hinein erklang plötzlich ein gedämpftes Pochen. Doch als sie sich verwirrt und schlaftrunkener als gedacht, aufrichtete und zum Fenster hinübersah, wäre sie vor Schreck fast aus dem Bett gefallen. Hinter dem Glas erhob sich eine, durch das blendend helle Mondlicht, mehr als gut erkennbare Silhouette, deren silbrigweißes Haar bei den Lichtverhältnissen einen beinahe schon irritierenden Schimmer annahm. „Lynx?!“, stieß Rea laut genug hervor, dass er sie gehört haben musste, bevor sie aus dem Bett gesprungen, zum Fenster geeilt und die Flügel aufgerissen hatte. „Wie bist du hierher gekommen?!“ „Bin den Baum raufgeklettert“, erwiderte er schlicht, so als würde er das jeden Tag tun. „Aber doch nicht mitten in der Nacht“, versetzte sie fassungslos. „Und dann auch noch so hoch! Was soll das?!“ Sie wusste zwar, dass Lynx das Wort Höhenangst womöglich nicht einmal buchstabieren konnte, aber ihr Zimmer befand sich immer noch im dritten Stock. Und die Architektur von Radiant Garden übertrieb es mit den Größenverhältnissen gerne, wodurch schon in der zweiten Etage Lebensgefahr bestand, stürzte man aus dem Fenster. Unter alldem entging ihr die eigene Wortwahl. Denn wenn sie ehrlich war, freute sie sich über seine Anwesenheit. Was nicht hieß, dass er nicht trotzdem die Treppe hätte nehmen können… „Ich wollte mich entschuldigen“, murmelte er und sie glaubte sogar ein wenig Röte auf seinen Wangen zu erkennen. „Also ich…“ Aber weiter kam er nicht, da Rea schnurstracks an ihm vorbei und zur Balustrade des Balkons spazierte. „He!“ „Lass gut sein“, sagte sie sanft. „Es war schließlich keine Absicht.“ Als sie sich umdrehte, sah sie sich der üblichen schmalen Linie von Lynx’ Mund gegenüber, aber in seinen Augen… laubmeerblaue Verblüffung. Ein rarer Anblick. Nicht viele erhielten die Möglichkeit ein Auge auf diesen Lynx zu werfen oder zumindest dieses kleine Bruchstück von ihm. Wie von selbst hoben sich ihre Mundwinkel. „Das weiß ich.“ Weil ich dich kenne, obwohl ich nichts über dich weiß. ~ Ihre Augen sind ein Geheimnis. Das waren sie schon immer, schon seit er sie kannte. Manchmal stellte sich ihm die Frage, ob es überhaupt im Bereich des Möglichen lag, dieses Rätsel zu lösen, das Verborgene zu finden, zu lüften und endlich zu verstehen. Doch gleichsam fragte er sich, ob er der Einzige war, der dieses Geheimnis sehen konnte. Im Schloss und auch in der Stadt mochte man Rea. Die fröhliche, hilfsbereite, starke Rea. Das Mädchen, das heimat- und erinnerungslos von Sonus aufgenommen und großgezogen wurden war. Die beste weibliche Schlüsselschwertträgerin in Radiant Garden. Die im Schloss aushalf, wo sie nur konnte. Die frühmorgendliche Spaziergänge hielt, um der Sonne beim Aufgehen zusehen zu können… Allerdings stellte das nur die Oberfläche dar. Nach außen hin gesehen stimmten all diese Dinge, aber hinter den Kulissen wurde geflüstert, sobald sie einen Raum verließ. Dahinter warf man ihr misstrauische Seitenblicke zu. Nannte sie seltsam und gab sich nach Möglichkeit nicht mit ihr ab. Aus einem einfachen Grund. Sie war anders. Sie war eine Fremde. Weniger ihrer Vergangenheit wegen, als ihrer Ausstrahlung. Für die meisten Leute in Radiant Garden schien sie schlicht nicht hierher zu gehören. Und auch wenn es hinter einem höflich aufgesetzten Rahmen aus falschem Wohlwollen geschah, ließ man sie diese Abneigung Tag für Tag spüren. Und Lynx wusste genau, dass Rea sich dessen bewusst war. Mehr noch als jeder andere. Als sie sich ferner zu ihm drehte und lächelte, auf diese, für Rea so typische, selbstvergessene Weise, die Augen jedoch zukniff, beantwortete sich ihm jene Frage. Er war der Einzige. Er durchschaute sie nicht. Aber anders als die anderen sah er das Geheimnis, das in ihren Augen lag. Auch wenn sie es vor ihm versteckte. Und das nur weil er ihr als Einziger wirklich in die Augen sah… Wie durch eine unsichtbare Kraft gezogen, machte er einen Schritt auf sie zu. Bitte… „Morgen finden die Feierlichkeiten statt“, fuhr sie lächelnd fort und drehte ihm dabei wieder den Rücken zu. Der gutgelaunte Tonfall strafte die Worte Lügen. Lynx wusste, dass sie diese Feste nicht mochte, bei denen Massen von Menschen anwesend waren. Schon der Blicke wegen, die man ihr dann wieder zuwerfen würde. „Verdammt!“, setzte sie gespielt ergriffen wieder an. „Ich weiß nicht, was ich anziehen soll.“ Noch ein Schritt. Ich bitte dich… Ein Windzug fegte über den Balkon, bauschte die Vorhänge, verfing sich in ihren kohlschwarzen Strähnen und malte eine feine Gänsehaut auf ihre unbedeckten Arme. „Uh, es ist ganz schön…“ Sie stockte, als sich ein warmer Arm um ihre Schultern schloss, der andere um die Taille und sie rückwärts an seine Brust zogen. …sieh mich nicht so an. „…kalt.“ Sie machte halbherzig Anstalten, sich zu befreien. Offenbar nicht sicher, wie sie damit umgehen sollte. Aber Lynx zog sie nur näher zu sich, ihr Körper bebte schwach von der plötzlichen Wärme an ihrer erkühlten Haut. „W-Was?“ „Dir ist doch kalt“, flüsterte er nahe an ihrem Ohr, was dazu führte, dass ein nicht von der Kälte verursachter Schauer sie durchfuhr. „Willst du nicht lieber wieder reingehen“, fügte Lynx hinzu, der das Zittern wohl falsch gedeutet hatte. „N-Nein!“, erwiderte sie hastig und errötete direkt. Zaghaft hob sie die Hände und berührte den Stoff seiner Jacke am Arm, der um ihre Schultern gelegt war. „Mir ist nicht mehr kalt.“ Und das meinte sie, wie sie es sagte. Er neigte den Kopf ein wenig und drückte die Wange gegen ihr Haar. Tiefschwarz. Solche Farbtöne gab es in Radiant Garden nicht und das war einer der Aspekte, weshalb sie mit schiefen Blicken bedacht wurde, wohin sie auch ging. Aber keiner von denen würde jemals wissen, wie warm und weich dieses Haar war. Wie konnte so etwas als ein Zeichen für Unglück gelten? Langsam löste er den Arm um ihre Taille, führte die Hand behutsam zu ihrer Wange und streifte dabei – flüchtig nur – ihr Kinn, aber das reichte schon. Er spürte, dass etwas in ihm aufwallte, wie schon am Mittag auf dem Kampfplatz. Um vieles geringer zwar, doch die Ähnlichkeit ließ sich nicht leugnen. Ich will nicht… Seine Hand schloss sich um ihre Wange und die unvermittelte Hingabe, als sie sich in die Berührung hineinschmiegte, rief wieder neue Impulse in ihm wach. Es war das gleiche Gefühl wie auf dem Kampfplatz, das gleiche stetig wachsende Verlangen nach etwas, das er nur mit Mühe im Zaum halten konnte. Aber die Richtung war eine andere. …die Kontrolle verlieren. Der kaum merklich zitternde Körper in seinen Armen war kein Feind, nichts, das er töten, aber doch unmissverständlich wollte. Die Sehnsucht nahm ihn völlig ein, zerstreute fest umrissene Gedanken und intensivierte Gefühle und Instinkte. Er wusste, dass der Punkt kommen würde, an dem ihn die Flut mitriss und der Beherrschung über sich selbst beraubte. Und trotzdem ließ er es zu. Fuhr mit den Fingern die Kontur ihres Wangenknochens nach und wanderte noch etwas tiefer, als sie ihm das Gesicht zuwandte, die Augen halb geschlossen, die Lippen leicht geöffnet, als wollten sie ihn dazu provozieren, die Kontrolle endlich abzugeben. Eine Provokation, auf die er bedenkenlos ansprang. Bitte… Sein Daumen berührte ihren Mundwinkel und für eine Sekunde konnte er es aufblitzen sehen; das Geheimnis in ihren Augen, bevor er selbst die Lider schloss und… …nicht… „Was macht ihr denn da?“ Ehe Lynx reagieren konnte, drehte Rea sich komplett in seinen Armen, legte ihm beide Hände auf die Brust und stieß ihn weg, sodass er einen Schritt rückwärts stolperte. Und das alles in nicht mehr als einer Blinzelsekunde. Als die Situation kurz darauf bei ihm ankam, konnte er unten auf dem Weg vor Reas Balkon Sera erkennen, der ein schamlos breites Grinsen zur Schau trug, mit dem er sich selbst in den Schatten stellte… „Ähm…“, stammelte Rea, ihr schoss bereits die Röte ins Gesicht, „wir… äh…“ Seras Grinsen verwandelte sich in ein Schmunzeln, kleiner im Umfang, dafür umso viel sagender im Ausdruck. „Versteh schon“, rief er gönnerhaft. „Ihr solltet jetzt schlafen gehen.“ Wir sind doch keine Kinder mehr!, dachten beide simultan. „Aber… es… äh!“, versuchte Rea noch einmal. Lynx warf ihr einen zweifelhaften Seitenblick zu, der ihre Wangen abermals aufglühen ließ. „Wir, äh, haben nicht… Ähhh…“ „Gute Nacht, ihr zwei“, unterbrach Sera sie und wandte sich amüsiert kichernd ab. „Sera!“, protestierte Rea, aber Genannter war bereits durch das Tor in der Mauer, die das Gelände umgab, verschwunden. Sie wagte es nicht, etwas zu sagen, spürte in der entstandenen Stille aber Lynx’ Blick, was nicht gerade dazu beitrug, die Ruhe wiederzufinden. Im Namen der Königsfamilie, was ging hier eigentlich vor?! Tausend Fragen drängten sie, beantwortet zu werden, Dinge, die sie sich nie hatte vorstellen können, so viel, zu viel, viel zu viel… „Lynx?“, presste sie einigermaßen verständlich hervor. „Hm?“ „Ich bin müde…“ Er sah, dass sie leicht zu schwanken begann, ihre Lider flatterten und die Knie gaben allmählich nach. „Du wirst doch nicht…“ Statt einer Antwort drang nur ein Ton, halb Gähnen, halb Stöhnen aus ihrer Kehle hervor und die Lider beendeten ihren Schmetterlingstanz, um ganz zuzufallen. „He! Schlaf jetzt bloß nicht ein!“ Zu spät, hätte Rea wohl gesagt, wäre sie dazu in der Lage gewesen. Gerade noch rechtzeitig streckte Lynx die Arme aus, um sie aufzufangen, während sich ihr Körper und Geist dem Schlaf ergaben… ~ Der Mond ist zu hell, dachte Sera, als er den vereinbarten Treffpunkt erreichte. Nach all den Jahren hätte er sich an die dunkellosen Nächte seiner Heimat eigentlich gewöhnen müssen, zumal er nie etwas anderes gesehen hatte. Wieso also kam es ihm auch jetzt noch so vor, dass etwas daran nicht richtig war…? Ein Fehler auf dem Bild. „Ich hab dich gewarnt“, drang es mit samtweicher Stimme aus dem Schatten unter den Bäumen. Nur eine Strähne roséfarbenes Haar ließ sich ausmachen, die im Lichtschein ungewöhnlich glänzte. Wahrscheinlich nur eine Sinnestäuschung. „Agni“, murmelte er. „Ich kann das nicht akzeptieren.“ Sie trat ein winziges Stück aus der Dunkelheit heraus, gerade soweit, dass er ihren Mund erkennen konnte, der sich herausfordernd langsam zu einem wissenden Lächeln verzog. Ihm die ungeschminkte Aussage entlockte. „Ich will das nicht akzeptieren.“ Er ballte die Fäuste und richtete den Blick zu Boden. Sie ließ sich Zeit, sich gänzlich aus dem Schatten zu lösen und wie eine Katze auf ihre Beute auf den Prinzen zuzutreten. Wobei sie genug Geschick besaß, nicht den Rahmen zu sprengen und zu zeigen, dass sie in diesem Spiel den überlegenden Part spielte. „Wenn du nichts unternimmst, entfernen sich beide von dir.“ Sera zuckte zusammen. „Sie sind nicht so!“, antwortete er heftig. „Lynx ist wie ein Bruder! Er würde nicht…“ „Bist du sicher?“, fragte sie gelassen. Er verstummte und sie ging noch einen Schritt weiter, indem sie die Fingerspitzen auf seine Lippen legte, das Gesicht kaum eine Handbreit von seinem entfernt. „Ich kann dir helfen.“ Einfache Worte führten einfach zu Ziel. Man musste sich nur darauf verstehen, sie richtig einzusetzen. „Fass mich nicht an.“ Er schob ihr Handgelenk beiseite. „Na schön“, sagte sie ruhig, sah ihn aber noch einen Moment an, ehe sie sich mit überzeugter Präzision umdrehte und ging. Sie musste sich nicht einmal die Mühe machen, besonders schnell zu gehen, als er schon anbiss… „Warte.“ Sie blieb stehen, jedoch ohne sich umzuwenden. „Wie kannst du mir helfen?“ Ein Lächeln sprang auf ihre Lippen. Einfache Worte. Man musste nur ihre Macht kennen und alles lief, wie es sollte. Selbst Prinzen konnte man damit in die Falle locken. ~ Rea erwachte mit einem Gefühl von Leere im Kopf, das sie mangels einer besseren Erklärung darauf schob, gestern einfach zu spät eingeschlafen zu sein. Mit einem herzhaften Gähnen strich sie über den schwarzen Haarhaufen, den sie später wohl oder übel noch in eine Frisur verwandeln würde müssen, und ließ die Augen noch mal zufallen, um sich besser auf die Erinnerungen konzentrieren zu können, die wie träge Tiere aus ihrem Winterschlaf gekrochen kamen. Kalter Wind… Kuss… Balkon… Lynx…? Sie versuchte alles, aber die Bilder wollten in diesem Zusammenhang schlichtweg keinen Sinn ergeben. Vielleicht eine andere Reihenfolge? Balkon… Kalter Wind… Lynx… Kuss… „Mm“, machte sie verschlafen. Da war was. Sogar mehr, als erwartet. Aber… Tz, als ob Lynx das wirklich tun würde… Dachte sie, doch ein leises Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus, als ihr durch den Kopf ging, wie sein Daumen ihre Lippen berührt hatte. Was aber nichts an der Tatsache änderte, dass es nur ein Traum gewesen war. Bist du eigentlich bescheuert? Schlag dir das schnell wieder aus dem Kopf! Du spinnst doch… Dem entgegen hob sie jedoch die Hand und legte den Zeigefinger auf die Stelle, wo sein Daumen geruht hatte. Wärme stieg ihr in die Wangen. Wieso eigentlich? Es hatte diesen Moment nie gegeben. Sie konnte nicht wissen, wie es sich anfühlte. Das hatte sich alles nur in ihrer Fantasie abgespielt, es war und blieb bloß ein Traum. Aber… Sie ließ den Finger dort verweilen und spürte darum mehr, als dass sie es bewusst gelenkt hatte, wie sie lächelte. Es war ein sehr schöner Traum… _____________________________________________ Nahtod… äh, Nachwort! Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich unzufrieden… Ich habe den größten Teil des Kapitels wider meiner Schreibblockade geschrieben und bin mehrmals halb ausgeflippt, weil die Sätze wie zerkratztes Porzellan aussehen; sie sagen, was ich sagen will, aber nicht WIE ich es sagen will. Verstanden? XD Mir fehlen die Wörter – ich hab noch nie so oft das Synonym-Lexikon benutzt wie hier – und das hängt womöglich mit meiner derzeitigen Situation zusammen. Das gehört jetzt hier nicht hin und ich habe auch nicht die Absicht, jemanden damit vollzutexten. Rechtfertigen möchte ich mich eigentlich auch nicht (obwohl ich’s schon getan hab ;D), aber Fakt ist, dass es mir leid tut, dass es nur so ein halbgares Geschreibsel ist. Q-Q Das hat der Douji nämlich nicht verdient. Bitte verzeih mir, ! Ich hoffe, dass ihr trotzdem Spaß am Lesen hattet! ~ So, das aber nur dazu. ^-^ Das Kapitel war die reinste Spielwiese! (Trotz dem Kreatief). Mein voller Ernst – über Rea, Lynx, Sera, Agni und Sonus zu schreiben macht echt Spaß. >//< Danke noch mal, dass ich sie mir ausleihen durfte, Escria! Ich habe einiges zusammengedichtet, auch in Bezug auf Radiant Garden, wie man vielleicht merkt. (Darkless ist übrigens ein Fantasiewort. Ein Engländer würde mich töten, wenn ich ihm das erzählte…) Aber das wenigste davon ist just for fun entstanden, darin verstecken sich Unmengen von Botschaften, die ich einbauen konnte, weil mich Escria liebenswerterweise mit Spoilern versorgt hat. :D Zu dem Thema könnte ich jetzt – und ich will ich – tausend Dinge schreiben, aber hier ist nicht genug Platz dafür. Darum mach ich das im Weblog, sobald sich die Zeit dafür findet. Wer Interesse hat, kann ja mal vorbeischauen! ^-^ PS: Bis hierhin ist der Douji noch nicht fortgesetzt wurden. Das nächste Kapitel kommt also erst mit den nächsten Seiten. Allerdings habe ich noch ein kleines Special für euch (mit Erlaubnis von Escria). Was das ist, seht ihr dann! Tausend Dank auch dafür, dass ihr es gelesen habt! Kapitel 2: Moonlight Weave -------------------------- Hier das versprochene Special! Und mit ihm die gute Neuigkeit, dass wir einen Ausschnitt davon auch im Douji – in Form eines Flashbacks – sehen werden! :D Viel Vergnügen! ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Schläft einfach ein. Nicht zu fassen… Selbst als Lynx den anderen Arm unter ihre Knie legte und sie hochhob, schmatze sie nur leise, um dann seelenruhig weiterzuschlafen. Es gab sie also wirklich. Diese Menschen, die von hier auf jetzt in Tiefschlaf fallen konnten. Er erlaubte sich ein Seufzen. Das eben Geschehene kam ihm etwas irreal vor, fast wie ein Traum… Was nur darin liegen konnte, dass er der „Grenze“ wieder gefährlich nahe gekommen war und kurz davor gestanden hatte, sie zu übertreten. Was geschah, wenn er sie tatsächlich einmal überschritt, wusste er nicht… oder vielleicht doch. Die Szene auf dem Kampfplatz heute Mittag zog noch einmal wie ein Kurzfilm an seinem geistigen Auge vorbei. Und doch existierte da ein Unterschied, eine stille Abweichung. Obwohl sich in beiderlei Fällen sein Verstand abschaltete, um durch ein nahezu animalisches Verlangen ersetzt zu werden: Die Begierde trug zwei Gesichter: Eines, das töten wollte und eines, das… Unwillkürlich senkte Lynx die Augen auf Reas Lippen, die einige Millimeter geöffnet waren und zart bebten. Bevor er sich wieder in ihrem Anblick verlieren konnte, fiel ihm auf, dass das Zittern von der Kälte herrührte, da sie sich noch immer auf dem Balkon befanden. Er schob eine der, durch den Wind angelehnten, Türen mit dem Fuß ein Stück weiter auf, trat in das Zimmer und ließ Rea achtsam aufs Bett gleiten. Dann schloss er die Flügeltür so leise wie möglich, auch wenn sie von dem Geräusch wahrscheinlich nicht mal aufzucken würde. Dennoch breitete er die zurückgeschlagene Decke bedachtsam über sie, prüfte, ob sie es auch warm genug hatte und strich ein paar der verworrenen Strähnen aus ihrer Stirn. Das Mondlicht fiel in fragilen Schachbrettmustern durch den Vorhang auf ihre Haut, die allein durch den Kontrast zum Haar bereits blasser erschien, als gewöhnlich. Er verharrte in der Bewegung. Waren die geheimnisvollen Augen geschlossen, konnte erkannt werden, wie zerbrechlich Rea im Grunde war. Kaum noch eine Spur von der furchtlos direkten Kämpferin und doch war sie da, eine Schlüsselschwertträgerin, ein Mensch, den das Schicksal zu Höherem bestimmt hatte… Zumindest laut Aussage des Königreiches. Lynx hatte da manchmal so seine Zweifel dran. Doch wenn er Rea sah, verließen ihn diese Urteile Wenn er sie sah, konnte und wollte er daran glauben, dass „auserwählt zu sein“ nicht nur mit Schlechtem verknüpft war. Dass die mystischen Schwerter, die schon seit ewigen Zeiten in ihrem Leben zu existieren schienen, ihre Wahl sorgsam überdachten und erkannten, in wem von ihnen schlichtweg mehr steckte. Ausreichend, um zu beschützen, zu helfen, zu heilen. Nicht zu zerstören. Wenn er Rea sah, wusste er, dass dies der ursprüngliche und wahre Sinn hinter der Wahl zum Träger war. Und sie machte es ihm gleichsam so viel leichter, das auch bei sich selbst zumindest im Ansatz zu begreifen. Vielleicht sogar Glauben daran zu wecken… Langsam strich er mit den Fingerspitzen an ihrer Schläfe hinab, zeichnete die Kontur ihres Kinns nach, den Blick weiterhin auf ihren Mund geheftet. Sie seufzte leise im Schlaf, ihre Wimpern zuckten und er fürchtete schon, sie könne wieder aufwachen. Aber sie sank nur ein wenig tiefer in die Kissen, ehe ihr Atem gelinde weiterfloss. Was machst du da bloß? Lynx atmete kurz durch, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und erhob sich von der Bettkante, um zu gehen. Aber bevor er die Tür erreichte, drehte er sich doch noch einmal um, beobachtete, wie sich ihr Brustkorb gleichmäßig auf und ab bewegte, wie die Lichtzweige auf ihrer Haut verblassten und wieder auflohten, als eine Wolke am Mond vorbeizog. Und noch ehe er den Impuls verdrängen oder auch nur entkräften konnte, trat er nochmals auf sie zu, stützte einen Arm neben ihrem Kopf ab und beugte sich vor, bis ihr Duft ihn traf. Der vertraute Duft, der sich aus dem Geruch der Morgensonne, die sie so oft betrachtete, dem von Brot und Gewürzen, der sich während der Küchendienste in ihr Haar webte, sowie dem der Amrince-Blumen, die sie in einem Topf neben ihrer Kommode hielt, zusammensetzte. Und darüber lag, wie ein Netz, die Note, die niemand hätte definieren können. Etwas, das ihn auch jetzt von all diesen Gerüchen, die sie umgaben, am meisten traf, einer der Gründe, weshalb es ihm denkbar schwer fiel, die Grenze zu meiden. Denn dieses Feuer drang ohne Umwege zu seinen Sinnen vor, um sie anzufachen… Er neigte sich noch ein wenig näher zu ihr, zögerte, versuchte abzuwägen, ob und wie weit er gehen konnte. Auf ihren Lippen vibrierten die winzigen Schattenornamente des Vorhangs. Er kniff die Augen zusammen und schließlich… hob er den Kopf und drückte ihr nur einen sanften Kuss auf die Stirn. Dann wich er zurück und zog den Saum der Decke, der minimal von ihren Schultern gerutscht war, wieder hoch, ehe er sich abwandte und das Zimmer verließ. Denn wäre er jetzt nicht gegangen, wäre er womöglich gar nicht mehr gegangen. ~ Kapitel 3: The Ball ------------------- Wie so oft begannen seine Träume mit der größten Abstraktion, die sie kannten – er erwachte. Mittlerweile hatte sich Lynx‘ Bewusstsein angepasst und ließ sich nicht länger von der Illusion untergraben, oder wenn doch nur für das erste Viertel des Albtraums. Früher hingegen hatte er, eben weil die Träume ausnahmslos mit dem Aufschlagen seiner Augen eröffnet wurden, geglaubt, dass es gar keine Träume waren. Und all die gefühlten Stunden mit der Angst gekämpft, nicht mehr entkommen zu können. „Was…?“ Als er dieses Mal im Schlaf aus der Realität auftauchte, umgaben ihn bereits das Fauchen der brennenden Erde, das Grollen tausender Stimmen in scharlachrotem Aufruhr und das totsuchende Zerschellen von Stahl auf Stahl. Schlüsselschwerter sind Brüder und Schwestern der Herzen ihrer Auserwählten. Es war Lynx immer ein Rätsel gewesen, wie es sein konnte, dass sie ebenso nach Vernichtung lechzen konnten wie hungrige Tiere. „Wo bin ich?“ Aber ihm stand der Beweis allzu deutlich vor Augen, wenngleich er nicht dazu gehörte. In diesen Träumen war er immer Teil des Bildes, doch nie eine Facette seiner Geschichte. Haarscharf zischte die Klinge einer, von ihrer Rüstung geschützten, Trägerin an seinem Arm vorbei, nur um sich in den Rücken des Mannes einen Meter weiter zu bohren, ihn niederzustrecken, zu vergessen, den nächsten aufzuspüren… „Was geschieht… hier?“ Eine ganze Front von Kämpfern formierte sich zum Gegenschlag und Lynx war irritiert, denn bisher hatte er nie Parteien in dieser donnergrellen Schlacht ausmachen können. Die Gruppe stürzte entschlossen voran, durchbrach den Fluss, lichtete Reihen und meuchelte, was sie zu fassen bekamen. Doch am Ende, als ein jeder des attackierten Areals gefallen war, richteten sie die Waffen, von Zweifeln frei, auf ihre vorherigen Mitstreiter und streckten sich gegenseitig nieder, sodass am Ende niemand mehr stehen würde. „Wieso… kämpft ihr…?“ Er begriff den Sinn hinter all dieser Brutalität nicht, selbst wenn Kriege sich zumeist nicht mit Logik unterzeichnen ließen. Aber das hier… das waren Schlüsselschwertträger. Friedenshüter. Das war falsch, vom ersten Klingenstreich bis zum letzten Atemzug der Sterbenden. Von Grund auf. Und es nahm kein Ende. „So unendlich viel… Blutvergießen…“ Aber es war ihm verwehrt, in das Geschehen einzugreifen, ebenso wie es in ihn. All diese Menschen, sie kämpften unerbittlich und mit aller Kraft. So befeindeten sich nur Seelen, die verzweifelt um etwas bangten, verzogen mit blauroter Furcht davor, zu verlieren, was sie liebten. Während es eben das war, was sie ausmerzten, bis ihnen nichts mehr blieb. Nicht einmal das eigene Leben. „Bemerkt ihr denn nicht, dass dieser Kampf aussichtslos ist?“ „Also hört auf!“ Lynx spürte, dass sich etwas in der kreischenden Atmosphäre verschoben hatte. Wieder und wieder drückten unsichtbare Widerstände durch das Gewebe der Illusion, sodass Licht hindurchflackerte. Aber was das bedeutete, konnte er nicht sagen, auch nicht nach all den Malen, die er nun schon Zeuge des Unaufhaltsamen geworden war. Die schwere Rüstung auf seinem Leib klirrte, als trüge sie ihn, nicht umgekehrt und als hätte sie seine Schritte durch jahrhundertealten Nebel getragen, hin zu diesem Punkt, zu diesem Tag, um das hier zu sehen. In vollkommener Ohnmacht. Das gläserne Visier seines Helmes war gesplittert. Unwillkürlich richtete er die schmerzenden Augen nieder auf seine Hände. „Selbst meine Hände sind befleckt mit Blut.“ Der Riss wurde sekündlich größer, einzelne Bruchstücke lösten sich scharf glitzernd aus der Fassung und rieselten zu seinen Füßen auf den Boden. Er sah es, weil er den Blick immer noch auf seine Hände geheftet hielt. Nicht gesteuert. „Mein Körper gehorcht mir nicht mehr.“ Etwas Warmes streifte seine Schulter, selbst durch die breiten, harten Rüstungsteile war es fühlbar. Es war eins der Herzen, die überall auf dem Schlachtfeld aufstiegen, um sich am Himmel zu versammeln. Heimzukehren… Lynx fuhr zusammen, die Maske entbehrte krachend weitere Splitter und dann glitt sein Blick hinauf, den illuminierenden Lebensgeistern hinterher, bis er es sah. In all seiner Pracht, das Himmelszelt krönend, die Dunkelheit verschluckend. „Das heilige Licht… Kingdom Hearts.“ Um ihn herum war es still geworden. Er wusste, was nun kam, wie all das sein Ende fand. Aber wie schon zuvor, blieb ihm keine Wahl, wurde ihm jegliche Handlung verwehrt. Stumm hielt er die Augen auf den herzförmigen Mond gerichtet und gab damit den Ausschlag, den Signalton für alle noch verbliebenden Krieger, innezuhalten und es ihm gleichzutun. „Sein Licht ist eiskalt.“ Atemzug in Atemzug, übergreifend wie ein einziges Lebewesen. Herzschlag zwischen Herzschlag, dass selbst die letzte Lücke im Gefüge des Seins noch bebte. Noch rief. „Als ob es sagen wollte: ‚Es ist genug‘.“ Und die Waffen sanken, die Wut verlosch und sie alle erstickten an ihrer eigenen Schuld. Wie fremde Geister sahen sie sich um, schweiften über all die toten Körper ihrer einstigen Gefährten, ihrer Vertrauten, denen sie das Leben entrissen hatten. Die ersten schrien. Aber für Reue war es jetzt zu spät. Ebenso wie für Gnade. „Ich kann hören, wie es weint.“ Die Erde starb brüllend und zornerfüllt. Wie seine Rüstung, bröckelte auch der Boden, wie gigantische Krallen preschte das Ungeheuer über das Feld, durchfurchte Stein und Staub. Erschuf unüberwindbare Klüfte, auf alle Zeit. „Es spürt, wie die Finsternis uns alle kontrolliert!“ Sie hatten es zugelassen, nicht verhindert. Zerfressen und beschmutzt von Habgier, Hass und Neid, hatten sie die Sprünge zwischen sich vertieft, bis sie zu Schluchten geworden waren, die sich nicht mehr schließen lassen konnten. Das Land warf sie lediglich zurück, reflektierte, was in den Herzen der Menschen geschehen war. Sie waren zersplittert, hatten sich unendlich viele Kilometer voneinander entfernt, bis zum Rande und bis hinein ins Vergessen, dass sie jemals eins gewesen waren. Nun passierte dasselbe mit dem Herzen, das sich aus ihnen allen zusammengesetzt hatte. „Wie sie uns verschlingt und vernichtet.“ Es zerbrach. Und ein jedes Bruchstück verlor sich in seiner eigenen Weite. Einsam, auf alle Zeit allein. Wie der Tod selbst. „Aber es gibt noch Hoffnung.“ Das, was vom Kampffeld übriggeblieben war, kam allmählich wieder zur Ruhe, aber er war von der Verwüstung ohnehin unberührt geblieben. Um ihn herum, vergingen die letzten Körper derer, die von der Erschütterung erfasst worden waren. Kein Krieg ohne Opfer hieß es, aber dieser war sogar frei von Überlebenden. Die verbliebenden gleißenden Herzkristalle flossen wie ein Sternensee auf den Mond zu. So rein… „Wir können es aufhalten. Mit unserem Licht.“ Ebbende Stille, noch schwer vom Echo des Chaos. Das Land lag ihm wie eine offene Wunde zu Füßen, geziert von den zum endgültigen Stillstand gekommenen Waffen aufrichtiger Herzen. Obwohl Lynx gesehen hatte, wie viele Kämpfende sich hier aufgehalten hatten, viele es wirklich gewesen waren, erkannte er erst jetzt an den zahllosen Schlüsselschwertern, die den Todespunkt ihres Trägers markierten wie ein Grabstein. „Wehrt euch nicht!“ Entgegen seiner Einwilligung, setzte sich sein Körper langsam in Bewegung. Die schwer auf seinen Schultern lastende Rüstung klapperte dumpf, während das Visier schon vollständig über seinem linken Auge abgeblättert war und nur dadurch konnte er etwas erkennen, denn der Rest lag in winzigen Scherben. „Lasst uns eins werden…“ Mehr und mehr verlor das Licht am Himmel an Kraft, so wie die letzten Herzen in ihm versanken, bis es außer ihm kein Leben mehr gab. Seine Schritte lenkten ihn durch einen Friedhof. „…meine Brüder.“ Die bleischwarzen Wolken verdichteten sich, schoben sich ineinander und verbargen nach und nach die weiße Gestalt. Aber es wirkte nicht, als wäre es der Himmel, der den Mond unter sich begrub, sondern vielmehr, als sei es Kingdom Hearts selbst, das die Kräfte der Natur in Bewegung setzte, um zu verschwinden. Sein Dienst war getan, die Warnung ausgesprochen. Die Zeit für diesen Ort wurde zu Eis. Als der blassneblige Regen einsetzte, das Blut von den Schwertern und der Ödnis wusch und den letzten Schrei der Erde stillte, kamen Lynx‘ Beine erneut zur Ruhe. Sanft ging er in die Knie und streckte die Hand nach dem Talisman aus, der vor dem am Boden liegenden Schlüsselschwert lag. Zwielichtherz. Die schneekalten Tropfen durchdrangen die Rüstung, perlten über seinen Körper wie Nadelstiche, aber er verharrte in ein und derselben Position. Jeder Schmerz geschah ihm nur Recht. Erst jetzt war er ein Teil des Geschehens. Jetzt, wo es zu spät war. Er drückte das Symbol fest an seine Brust. „Was habe ich getan…?“ Ebenso abgehackt wie jedes Mal, warf es Lynx in die entgegengesetzte Richtung zurück; aus dem Traum in die Wirklichkeit. Und wieder war das Erwachen eine einzige Qual. Er konnte die Schweißperlen wahrnehmen, die sich von seiner Stirn aus ihren Weg über sein Gesicht bahnten und blinzelte angestrengt in die Helligkeit des Zimmers, nachdem seine Lider wie lang überlastete Bänder aufgesprungen waren. „…Lynx“, drang es flackernd wie aufkommende Wellen an seine Ohren, aber er hatte sich noch nicht weit genug gefangen, um ihm einen Namen zuzuordnen. Innerlich auf das erneute Auftreten des Albtraumes fluchend, blieb er liegen. Seine Glieder waren so taub wie nach einem Tag voller Intensivtraining und das im Bewusstsein des Faktes, dass niemand einen ganzen Tag damit zubringen konnte, ohne zusammenzubrechen „Hey, Lynx. Ich bin’s, Rea.“ Matt ließ er den Kopf ein wenig nach rechts fallen. Hinter seinem Fenster erhoben sich die dürren, labyrinthartig verästelten Zweige eines Baumes, an denen noch einige stahlblau getupfte Blätter hingen und sich hartnäckig gegen den sturmstimmigen Wind behaupteten. Lang würden sie ihm nicht mehr standhalten, zu ihresgleichen auf die Straßen rieseln und bald schon unter einer dichten Schneedecke schlummern. Der Herbst in Radiant Garden verging oftmals in einem gefühlten Muskelzucken. „…bist du da?“, fuhr Rea hinter der Tür stoisch fort. Ein leises Pochen an der Tür folgte. Stöhnend hievte er sich in eine aufrechte Position, sodass die Decke raschelnd herunterfiel, dann fuhr er sich heftig durch Haar, als könnte er die Erinnerungen so aus seinem Kopf verscheuchen. Es ergab alles keinen Sinn. Nacht für Nacht der immer gleiche, immer schreckliche Traum und er kam einfach nicht dahinter, was er zu bedeuten hatte. Er kannte weder den Ort, an dem sich all abspielte, noch hielt er es für möglich, dass sich so eine Szene jemals ergeben würde. Oder hoffte er? Mit einer Mischung aus Ärger und Resignation stellte er fest, dass er zitterte. „Hey“, zog der nach wie vor nicht aufgebende Gast seine Aufmerksamkeit wieder auf sich, hielt sie aber nicht lange fest, da allein der kurzkantige Blick Richtung Tür einen jähen, sensenförmigen Schmerz durch seine Schädeldecke schrammte. Verdammt!, dachte er mit zugekniffenen Augen, war aber nicht in der Lage, die Hand nach dem Tischchen neben seinem Bett auszustrecken. „Ich komm jetzt rein.“ „Hm?“, gelang es Lynx noch auszustoßen, da öffnete sich schon sacht knarrend die Tür und Rea lugte hinter dem Rahmen hervor. „Ich habe nicht ‚herein‘ gesagt“, bemerkte er knurrend, aber überflüssigerweise. Noch halb benommen, musterte er seine Freundin, die im Moment lediglich ein unscharfes Schemen war. Wahrscheinlich lächelte sie. Und noch wahrscheinlicher fiel es ihr gerade von den Lippen wie schmelzendes Wachs. „Du bist ja doch da und wach noch dazu!“, wütete sie, war mit zwei Schritten beim Bett und nahm stückchenweise eine fest umrissene Form an. „Wieso antwortest du nicht?!“ „So was nennt man ‚ignorieren‘“, kommentierte Lynx regungslos, bevor er seine kurzweilig wiederhergestellte Klarsicht dazu benutzte, sie ausgiebig zu beobachten. Davon überrumpelt, beugte sie sich hastig zurück und ließ einen flüchtigen Rotschimmer auf den Wangen erahnen. „Wa-Was ist?“ Kein Wort zu gestern?, dachte er stirnrunzelnd, als sich Rea bereits abgewandt hatte, um aus seinem prüfenden Blickkegel zu entkommen. „Ach nichts…“, kehrte er das Thema kurzentschlossen beiseite, denn die Kopfschmerzen meldeten sich wie fräsende Sägen zurück. „Kannst du mir bitte die Tabletten da drüben geben?“ Vage wies er mit der Hand auf den Tisch und rieb sich die Augen. „Öh, klar“, lächelte Rea verhalten, tapste um das Bett herum und machte sich daran, die Kapseln in Wasser aufzulösen. Aus dem Augenwinkel bildete er sich jedoch ein, zu erkennen, wie sie stockte. Hatte sie womöglich die Packung neben den Schmerztabletten als Schlaftabletten identifiziert? Falls ja, behielt sie ihre Meinung für sich und sowieso ließ es sich jetzt auch nicht mehr ändern. Zumindest hatte er sich das eingeredet. „Du, Lynx…“, murmelte sie, kaum, dass er ihr das Glas mit der Medizin abgenommen hatte und schnellstmöglich, ob des bitteren Geschmacks, herunterkippte. „Wenn dich etwas beschäftigt, dann würdest du es doch Sera und mir erzählen?“ Er erstarrte, kam nur noch soweit, dass leere Glas sinken zu lassen und erfasste am Rande, wie Rea die eine ihrer zierlichen Hände im Stoff ihres Kapuzenshirts verkrallte. „Nicht wahr?“ Es fühlte sich an, als liefe etwas in ihm in der Zeit zurück, gegen den Uhrzeigersinn und jeder Zeigerschlag, der ihn passierte, warf die Bilder erneut auf, graue Federn in endlos weißer Stille. Er stand wieder auf dem Schlachtfeld, und wieder und wieder. Die Schreie dröhnten mit der Macht aller Visionen, die er nun schon hatte über sich ergehen lassen. Die Wege versperrt, ein Entkommen ausgeschlossen. Und zu seinen auf den durchnässten Wüstenboden fallenden Knien das Schlüsselschwert. Reas Schlüsselschwert. Er presste die Lippen so fest aufeinander, als wollte er einen niemals endenden Ruf unterbinden, eine Bestie an ihren Ketten halten und impulsiv streiften seine Augen den Baum hinter dem Fenster. Der Wind gewann das Kräftemessen und zupfte die Blätter harsch von den Zweigen, trieb sie in den farblosen Himmel hinauf und trug sie außer Reichweite. „Na klar“, antwortete Lynx mit einem angedeuteten Lächeln. Erleichtert blies Rea die Luft aus, grinste ebenfalls und beugte sich zaghaft vor, um ihre Hände auf seinen Schultern abzulegen. „Natürlich würdest du das“, flüsterte sie beruhigend, lehnte sich ihm noch ein Stück entgegen und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Dem Fakt untergeben, eben noch mit schmerzstillenden Stoffen versorgt worden zu sein und dass Rea sich keinen Wimpernschlag später wieder abwandte und mit einem vergnügten „Wir sehen uns beim Frühstück“ aus seinem Zimmer schlenderte, war er nicht dazu in der Lage, anstandsgemäß darauf zu reagieren. Und anstandsgemäß definierte er bislang lediglich mit anders als schlichtweg fiebrig rot zu erröten und eine Hand auf die Stelle zu pressen, als hätte sie ihm einen Schlag versetzt, anstatt ihre Lippen darauf zu legen. Ihre Lippen… genauso weich, wie er sie sich vorgestellt hatte. Hm, dachte er ungewollt versonnen und senkte den Blick. Auf die Stirn. Unwillkürlich schweiften seine Augen nochmal hinüber zur Tür, durch die sie verschwunden war. Ebenso wie er gestern Nacht durch ihre. Ob sie wohl auch nur irgendetwas von seiner Aktion mitbekommen hatte? Sicher, sie hatte komatös tief geschlummert – wie es ihr gelang morgens ihren Wecker wahrzunehmen, war ihm bis heute ein Rätsel – aber diese Geste, dieser Stirnkuss… War es im Unterbewussten geschehen? Oder legte er sich da unrealistische Hoffnungen zurecht? Überhaupt. Was dachte er da eigentlich schon wieder? Und dass schon seit geschlagenen zehn Minuten, die Sonne hinter dem Fenster hatte die Baumkronen längst mit weichem blauem Herbstlicht schraffiert. Mit knapper Präzision hob Lynx die Hand und verpasste sich selbst kurzentschlossen eine Ohrfeige. Reiß dich zusammen! Aber wenn er daran dachte, dass er früher oder später wieder mit ihr im Speisesaal saß, wo sie nicht nur von einem Haufen Zeugen umgeben waren, die jede auch nur allerkleinste Verschiebung in ihrer festgefahrenen Normalität witterten und sich darauf stürzten wie bluthungrige Insekten. Nein, ferner schien auch Rea selbst keine Veränderung, kein Neuempfinden oder dergleichen zu teilen. Dabei hatte sie zumindest den ersten Part in vollem Wachzustand miterlebt… Weshalb es ihn bei diesen Gedanken, dass Rea offenbar all das derart schnell und kompromisslos von sich geschoben und ins Vergessen gedrängt hatte, ein wenig in sich zusammensank, blieb ihm verschlüsselt. Oder eigentlich redete er sich das nur ein. Wieso war es auch so schwer, sich selbst zu belügen? Das war ihm doch auch früher schon gelungen. War es? Rau stöhnend kämpfte sich Lynx aus den Decken frei und lief fahrig im Zimmer auf und ab, um alle seine Klamotten zusammenzuklauben und sich für den Tag fertigzumachen. Seit wann grübelte er überhaupt so viel? Er würde damit zu keinem Ergebnis kommen. Also sollte er sich lieber in die Aufrechte zwingen, so wie immer, den Atem flachhalten und so tun… als wäre das Ganze nicht passiert. ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)