Die Begegnung von Nellas ================================================================================ Kapitel 3: Späher im Lager -------------------------- Theo hielt sich bei den Besprechungen im Hintergrund. Ihr kleiner Haufen mochte nur noch aus Deserteuren bestehen, aber seit es keine Hauptarmee mehr gab war immer häufiger von geordnetem Rückzug die Rede. Dass er nicht lachte. Aus den verschiedensten Teilen des Heeres zusammengewürfelt, wahlweise auch in alle Winde zerstreut... hier war nichts geordnet, selbst wenn sie eine reguläre Armee mit richtigen Befehlen wären. Es war natürlich gut, vor den Männern von Rückzug zu sprechen, sicher, aber immer mehr gewann Theo den Eindruck, dass sie es sich gegenseitig immer wieder versicherten. Und das konnte ein böses Erwachen geben. Der große Heinrich war schon wieder ganz der Alte. Vergessen war die Schande der Flucht vor der Entscheidungsschlacht. Gerade sprach er von einem glorreichen Vergeltungsschlag, sobald sie sich gesammelt hatten. Er lullte sie alle ein, wie es schien. Sein neuer Kammerdiener stand wie ein Aushängeschild neben ihm. Als ob man unter Umständen wie diesen an die eigene Bequemlichkeit denken sollte. Aber Theo dachte nicht schlecht über den Jungen. Er war einer der Acht. Die größten beiden waren für ihn, ihren Herren Theoderich von Asch, in den Tod gegangen. Eine Woche nur war er mit den beiden unterwegs, aber er würde es ihnen nicht vergessen. Theos Blick schweifte von Seisyll zum neuen Heerführer. Er beobachtete Gilbert aufmerksam und versuchte abzuschätzen, ob er diesem selbstmörderischen Gewäsch auf den Leim ging oder nicht. Das Hauptheer war schon sehenden Auges in eine Todesfalle gelaufen, das brauchten sie kein zweites Mal. Warum sah er so viele nickenden Köpfe? Sie waren alle hier, weil sie Gefahren gut genug einschätzen konnten um zu wissen, dass desertieren die einzige Möglichkeit war zu überleben. Gil, wie er immer häufiger genannt wurde, war der erste, der von Sammeln und Rückzug gesprochen hatte. Ob er wirklich daran glaubte? Je länger er ihm zusah, desto mehr zweifelte Theo daran. Nein, der Graf verbreitete diesen Unsinn aus den richtigen Gründen. Er tat es, um den Männern Mut zu machen. Um ihnen allen zumindest eine winzige Chance zu geben, lebend nach Hause zurückzukehren. Und wer weiß, wenn sie es geordnet genug taten, dann wurden sie vielleicht nicht als Deserteure... oh fing er auch schon an! Theo versuchte den Gedanken abzuschütteln. Seine Entscheidung war gefallen: Ein Leben in Schande statt dem aufrechten Tod in der Schlacht. Er brauchte sich nicht einzureden, dass die Schande verhandelbar war. Doch je länger Heinrich von seiner ruhmvollen Rückkehr in sein Anwesen zu Hohenwassern sprach, desto schwieriger wurde es wegzuhören. Irgendwann hielt er es nicht länger aus und verließ das Zelt. Sein Verschwinden unterbrach den Wortschwall und ließ Geflüster aufbranden. Allzu viel getuschelt wurde nicht, die große Versammlung aller die Rang und Namen hatten belief sich auf keine zwanzig Männer. Heinrich hatte sich schon wieder Gehör verschafft, da war das Zelttuch noch nicht einmal hinter ihm zugefallen. Und auch wenn er es nicht Wort für Wort verstehen konnte war Theo sich sicher, dass das Gelächter die Reaktion auf einen dummen Witz über Asche war. Es war doch nicht zu fassen... Theoderich hatte aber kaum Zeit, richtig wütend zu werden. Ein Schatten entfernte sich zu hastig vom Zelt, als dass man ihm die Beiläufigkeit abnahm, die er zur Schau stellte. Mit wenigen großen Schritten hatte er den Mann erreicht und riss ihn an der Schulter herum - um in die aufgerissenen Augen des fünften Bruders zu sehen. "...Quintus?" Theo hielt es für schändlich, seine eigenen Nachkommen einfach durchzunummerieren, doch in Sachen Namen merken kam es ihm sehr entgegen. Der Junge sah ertappt zu Boden. Die dreckigen dunkelblonden Strähnen fielen ihm vor das urtümlich geformte Gesicht, das die acht Brüder alle gemeinsam hatten. Er murmelte etwas, das Theo nicht verstehen konnte. "Wie war das?", fragte er forscher als gewollt. "...Quinten, Edler von Asch. ...mein Name.", brachte der großgewachsene Junge schließlich heraus. Er hörte sich elend an. Theo ließ ihn noch ein wenig in seinem Saft schmoren. "Warum hast du gelauscht?" Bei jedem anderen würde er sich Sorgen machen, für wen er spionierte oder was er gehört hatte, aber nicht bei den Acht. Sie konnten arbeiten, sie konnten spähen, sie konnten kämpfen. Aber sich lange Reden merken und Details weitererzählen? Nein. "I-ich hab' nich'... Nich' wie d-... wie Ihr meinst. ...Meint." Theo sah ihn abwartend an. Der Junge beugte seinen Rücken wahrscheinlich so gut er konnte, aber nicht genug. Theo musste noch immer nach oben sehen. Bei Hof und selbst in einer richtigen Armee auf dem Feld wäre das undenkbar. Aber unter Deserteuren wollte er mal nicht so sein. "...hab' mir Sorg'n g'macht..." Auch wenn sich der Fünfte sichtlich Mühe gab, deutlich zu sprechen, war es manchmal schwer ihn zu verstehen. Theo runzelte die Stirn. "Alle dort drin machen sich Sorgen, deswegen besprechen wir die Lage. Wir machen uns Sorgen, damit ihr keine haben braucht. Das verstehst du doch, oder?" Das eifrige Nicken ging in ein Kopfschütteln über. "Wollt' ni't sag'n, dass... Nu' mein Bruder." Ach daher wehte der Wind. Die Anspannung löste sich, als Theo ein plötzliches Lachen unterdrücken musste. Sie waren hier mitten im Feindesland, ein winziges Häufchen. Die Armee, die den Hauptteil des Heeres scheinbar mühelos zerschlagen hatte, war ihnen dicht auf den Fersen. Und der Fünfte der Acht machte sich Sorgen um den Sechsten, weil eine Zeltwand sie trennte. Theo wollte schon etwas beruhigendes sagen und seiner Wege gehen, aber der Fünfte hatte wohl noch etwas zu sagen. Das einzige, das Theo aus dem Gedruckse heraushörte, war das Wort für "Schatten". Die Bauern nannten sie Schoon oder d'Schoon, harmlose Bezeichnungen für die gefürchteten Nachtalben und ihre Sippe. Ein Zeichen, dass die meisten dieser Schoon tatsächlich nichts weiter als gewöhnliche Schatten waren. Gut möglich, dass sich der Fünfte von dummem Gerede verrückt machen ließ. "Schatten? Ja ich werfe einen Schatten. Und du auch, siehst du", versuchte Theo zu scherzen. So manch ein Vertreter des Adels würde ihm eine solch erniedrigende Unterhaltung mit einem Mann aus der untersten Schicht der Gesellschaft als Schwäche auslegen. Aber alle, die auf so etwas Wert legten, waren jetzt tot oder saßen außer Hörweite im Zelt bei der Besprechung. "M-m! Seisyll sei' Schoon. Mein Bruder." Das Kopfschütteln war eine Spur zu sicher und der Blick zu ernst, um es als Aberglaube und Leichtgläubigkeit abzutun. Es gehörte einiges dazu, um einen der Acht dazu zu bringen, jemandem von Theos Stand direkt in die Augen zu sehen. "Du meinst d'Schoon?", fragte Theo. Er wusste, dass er den Dialekt des einfachen Volkes nicht ganz getroffen hatte. Aber der Fünfte nickte eifrig. Gleichzeitig legte er einen Finger auf die Lippen. "Sei tut horch'n." Sie tun horchen? Das klang nun wirklich nach Aberglaube. Wie sollten die Schatten auch hier ins Lager gekommen sein? Sie hatten überall Wachfeuer. "Mach dir darüber keine Gedanken, das Zelt ist gut ausgeleuchtet." Der Fünfte schüttelte nachdrücklich den Kopf. "Sei. Seisyll. Mein Bruder." Wollte ihm der Junge etwa sagen, dass...? Theo sah sich um und schob das massive Häufchen Elend weiter vom Versammlungszelt weg. Er senkte die Stimme zu einem Flüstern: "Soll das heißen, dein Bruder ist ein Spion?" Die Augen des Jungen weiteten sich und er richtete sich auf, als hätte Theo gerade auf das Grab seiner Eltern gespuckt. "Nein!!" Aus dem sollte man schlau werden! Beschwichtigend deutete Theo ihm, leiser zu sprechen. Langsam verlor er die Geduld. "Dann nochmal. Was hat dein Bruder mit den Schatten zu tun?", fragte er nachdrücklich. Jetzt war dem Jungen eindeutig wieder elend zumute. Er setzte mehrmals an, brach wieder ab und rang nach Worten. Schließlich entschied er sich für einen deutlichen vollständigen Satz: "Da is' ein Albtraum in ihm." Diemal war es Theo, dem die Gesichtszüge entgleisten. "Bin nich' schnell, aber 'n guter Späher.", meinte der Fünfte stolz, während er sich an die Schläfe tippte. Der Sechste war besessen?! Unter Theos abschätzendem Blick beugte sich Quintens Rücken wieder zu einer unterwürfigeren Haltung. Er wagte es nicht mehr, das Wort zu ergreifen. Nach allem was Theo gehört hatte, musste der Fünfte tatsächlich ein guter Späher sein. Denn er hatte nichts gehört. Jeder beschwerte sich über jeden, aber die Acht waren außen vor. Vielleicht tat er gut daran, auf den Rat eines Spähers zu hören, der Schatten ausfindig gemacht zu haben glaubte. Theo hatte genug gesehen um Albträume zu fürchten und sich vor den Schatten zu schützen, aber selbst er tat es nicht offen. Jeder hatte sich diesen einen Satz angewohnt, der fast schon zum Reflex geworden war: Die Männer glauben nun mal daran. Was wenn wirklich ein Alb unter ihnen war? Was wenn es nicht nur einer war...? Auch wenn sie alles taten, um hier im Lager sicher zu sein. Aber so drunter und drüber es hier ging wäre es nicht verwunderlich... Sie waren noch dabei sich zu organisieren und die Männer in Gruppen aufzuteilen, da gab es regelmäßig Missverständnisse in Sachen Wachablösung... "Zur Kenntnis genommen.", beschloss Theo schließlich. Auf den unsicheren Blick des Fünften legte er die Hand auf seine Schulter und fügte hinzu: "Danke. Wenn du noch einmal oder noch mehr Schoon siehst, dann berichte es mir. Und nur mir, ist das klar? Niemand sonst erfährt davon." Das unsichere Nicken wurde nachdrücklicher, dann ließ Theo den jungen Mann los. Er gab ihm mit einem Wink zu verstehen, dass er sich entfernen durfte, doch so schnell wie der Bursche verschwand glaubte er kaum dass er auf die Geste gewartet hatte. Den beiden ältesten der Acht zu Ehren ließ er auch das durchgehen, wo doch ohnehin niemand zugesehen hatte. Welches Trauma die Acht auch zu bewältigen hatten, der Fünfte schien ganz gut zurecht zu kommen. Theo beschloss, sie von nun an öfter zusammen als Späher loszuschicken. Wenn Quinten Recht hatte, dann war der Sechste außerhalb des Lagers gut aufgehoben - unter den wachsamen Augen seines Bruders. Und falls er sich täuschte... Wenn schon so wenig von der Familie übrig war, sollte Theo seinen Teil tun um den Rest zusammenzuhalten. In den nächsten Tagen erhielt er immer wieder sogenannte Berichte von Quinten. Die Lage wurde ernster, Heinrich war drauf und dran alle zu überzeugen, dass sie siegreich wie Helden heimkehren würden. Durch seinen Abgang war Theo schnell zum ewigen Neinsager abgestempelt worden, der die Gegenseite repräsentierte. Er war überrascht, wie schnell dadurch sein Einfluss wuchs. Immer wieder kamen Einzelne zu ihm, die ihm ihre Unterstützung zusicherten, obwohl sie von höherem Rang waren als er. Was prinzipiell ja auch nicht schwer war. Gilbert, der inoffizielle neue Heerführer, gab sich nicht damit ab. Er hatte die Rettung ihrer aller Leben zu organisieren, da konnte er nicht seine Zeit damit verschwenden Hoffnungen zu zerstören, wodurch sich womöglich noch einzelne Herren samt Gefolge abspalten würden. Wenn sie überleben wollten, dann mussten sie zusammenbleiben. Wenn jedes verstreute Grüppchen für sich niedergeritten wurde, dann half das niemandem. Zumindest war es das, was Theoderich annahm. Er hoffte, dass Gil sich nicht der Illusion hingab, als freier Mann nach Hause zurückkehren zu können. Denn das war ebenso gefährlich wie die Armee in ihrem Rücken. Und die Schatten in ihrer Mitte... Theo war sich inzwischen sicher, dass Quinten keine Gespenster sah. Er glaubte selbst den Albdruck gesehen zu haben, der sich im Schein des Wachfeuers um den Sechsten der Acht gewunden hatte. Seisyll. Je mehr er dem Jungen seine Aufmerksamkeit schenkte, desto unheimlicher wurde er ihm. Mittlerweile hegte er keine Zweifel mehr daran, dass er es mit einem verschlagenen Spieler zu tun hatte. Er führte alle um ihn herum hinters Licht. Auch andere im Lager wurden von Schatten befallen, still und heimlich. Theo hatte es einmal angesprochen, vage und rein hypothetisch, halb im Scherz. Sie hatten es als Aberglaube abgetan, und Theoderichs Ansehen war durch die Aktion nicht gestiegen. Sicher musste er einsehen, dass schlechte Träume in einer Situation wie der diesen nicht ungewöhnlich waren... Dazu bedurfte es nicht der Anwesenheit eines Alben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)