Blood-red Diamond von MarySae (- Blutrote Seele -) ================================================================================ Kapitel 21: Familie ------------------- Das Knistern des Feuers war längst verstummt. Die Tiere im Wald hatten sich in ihren Unterschlupf zurückgezogen und warteten nun auf das Erwachen eines neuen Tages. Es war so still, dass ich glaubte, Autos auf der weit entfernten Landstraße fahren zu hören. Die ungläubigen Gesichter der beiden jungen Männer direkt vor mir, jagten mir fast ein wenig Angst ein. Ihre Augen waren plötzlich so leer, dass es mich beinahe an Colins Gesichtsausdruck erinnerte, als er mit starrem Blick in seinem eigenen Blut vor mir lag …   „Woher hast du das?“ Jaden war der Erste, der das Wort nach langem Schweigen wiederfand. Sein Blick lag jetzt wieder auf mir. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte ich bestimmt über seinen dämlichen Gesichtsausdruck lachen müssen. „Meine Eltern“, ich schluckte schwer bei diesem Wort, „hatten mir zum Geburtstag ein Buch über die Wissenschaft der Segenssteine geschenkt. Wahrscheinlich hatten sie es irgendwo auf einem Flohmarkt gefunden. Als wir dann in meiner Wohnung waren und ich es da auf der Kommode liegen sah … Ich habe erst gemerkt, dass ich es mitgenommen hatte, als wir bereits vor dem Haus waren. Und hinten im Einband war dann dieser Brief versteckt. Ich habe ihn auch nur entdeckt, weil ich es … gegen meine Zimmertür geworfen hatte.“ So, wie sich das Ganze ausgesprochen anhörte, kam ich mir gleich wieder wie ein kleines, verwöhntes Kind vor. Das zeigte mal wieder, dass das körperliche Alter nichts mit dem geistigen zu tun hatte. Zumindest bei mir nicht. „Das war dann wohl meine Schuld“, meinte Adelio monoton und ich hatte die Vermutung, dass das einer seiner üblichen Witze hätte werden sollen, wenn er nicht gerade so absolut mies gelaunt gewesen wäre. Darum ging auch niemand weiter auf seinen Kommentar ein, sodass er fortfuhr. „Ich hatte dich eigentlich hierher abholen wollen.“ Sofort überflutete mich mein schlechtes Gewissen, als ich daran denken musste, wie er sich wohl dabei gefühlt hatte. Eine Angelegenheit, die ihm so nahe ging, und was tat ich? Rumheulen und auf den Gefühlen anderer herumtrampeln. Was war ich bloß für ein großartiger Mensch! „Entschuldige, dass wusste ich-“, begann ich, doch verstummte, als der Braunhaarige kaum merklich mit dem Kopf schüttelte. „Wir müssen diesen Brief McSullen zeigen. Er ist zwar ein Dickkopf, aber das kann selbst ihn nicht kalt lassen.“ „Nein, das hat keinen Zweck, Adelio. Ich habe es schon versucht. Doch in all der Zeit, in der ich ihn nun kenne, war er nie so stur gewesen.“ Wut kehrte seine Stimme zurück, als der Rothaarige an das Gespräch mit seinem Ziehvater dachte. „Er hat sich komplett in seinen Idealen verrannt und versteht nicht, dass Angriff die beste Verteidigung wäre. Aber er ist der Meinung, dass es wichtiger wäre, dieses Bergwerk abzuriegeln. Dabei wäre es nicht so schwer die Menschen hier zu evakuieren. Doch er glaubt, dass wir überall sonst dem Tod geweiht wären. Aber das wir auch hier bald überrannt werden und dem kaum etwas entgegenzusetzen haben, sieht er anscheinend nicht.“ Er seufzte und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Den Brief hielt er noch immer in den Händen. „Ihr müsst wissen …“, begann er wieder und sah plötzlich unheimlich müde aus, „McSullen hat schon einiges durchgemacht. Aber sein Leben geriet völlig aus der Bahn, als er damals mit seiner Frau und seinen beiden sechsjährigen Zwillingstöchtern in ihrem Lieblingsrestaurant essen waren. Die beiden Mädchen wären in der nächsten Woche eingeschult worden. Das wollten sie feiern. Doch gerade, als Keith auf die Toilette gegangen war, detonierte eine Bombe im Speisesaal und riss viele Menschen in den Tod. Die schwarzen Männer kamen und stahlen von den Menschen Geld und Segenssteine. Alle, die den Angriff überlebt hatten, töteten sie noch an Ort und Stelle. Keith war währenddessen auf der Toilette von Trümmern begraben. Als er sich schwer verletzt befreit hatte und in den Speisesaal zurückgekommen war, war seine Familie längst tot gewesen. 22 Menschen verloren damals ihr Leben. So viele Menschen wurden einfach so aus ihrer Existenz gerissen. McSullen hat nur durch einen blöden Zufall überlebt. Er flüchtete damals einfach vom Tatort und wankte einige Tage ruhelos durch die Stadt. Das war auch der Zeitpunkt, an dem er den Überfall auf meine Familie mitbekommen hatte. Damals, als er mich vor dem sicheren Tod bewahrt hatte, hat er beschlossen, diesen Kerlen den Krieg zu erklären. Darum ist er heute so, wie er ist. Und jetzt hat er hier Freunde und …“ Als ob plötzlich kein einziger Muskel mehr in meinem Nacken wäre, sackte mein Kopf nach vorne und ich starrte nichtssehend auf den dreckigen Betonboden unter mir. Ich verstand plötzlich, warum McSullen so handelte, wie er es tat. „Er hat schon einmal seine Familie verloren, weil er sie nicht beschützen konnte, und er will das nicht noch mal durchmachen müssen …“ Meine Stimme klang gepresst und obwohl ich sehr leise sprach, war sie in der unheimlichen Stille dieser Nacht erdrückend laut. Ja, ich verstand, warum McSullen das Risiko eines Angriffs nicht eingehen wollte. Er hatte Angst diejenigen, die ihm nun ein Zuhause gaben, ungeschützt zurückzulassen. Selbst Jaden, den er lange Zeit wie einen Sohn behandelt hatte, hätte er dafür aufgegeben. Er stellte nun das Allgemeinwohl über das einzelner Menschen. Doch das war nicht richtig! So würde dieser Schrecken nie ein Ende finden! So würden immer mehr Menschen leiden müssen und nie wieder in Frieden leben können!   Das ich aufgestanden war, bemerkte ich erst, als ich aus nächster Nähe in die verdutzen Gesichter der beiden Anwesenden sehen konnte. „Ich verstehe, warum er so handelt, aber ich bin auch gerade dabei meine Familie zu verlieren! Meine Eltern sind alles, was ich noch habe! Meinen Bruder konnte ich nicht retten, obwohl ich ihm in das eisige Flusswasser hinterher gesprungen bin! Ich hatte seinen Arm zu fassen bekommen, doch konnte ihn nicht festhalten! Ich wurde gerettet, mein kleiner Bruder jedoch …“ Ich schluckte schwer. „Ich werde nicht noch einmal zusehen, wie ein geliebter Mensch stirbt! Sie wollen mich, nicht meine Eltern! Sonst hätten die sich nicht die Mühe gemacht, mich aus der Basis ihrer Feinde entführen zu wollen! Sie wollen mich! Nein, besser gesagt, meinen Seelenstein …“ Meine Hand verkrampfte sich vor meiner Brust. An der Stelle, an der er hing. Ich spürte ihn durch den dünnen Stoff meiner Kleidung hindurch. „Aber ich … bin keine Heldin. Ich bin schwach und ängstlich. Am liebsten würde ich zurück in mein Zimmer gehen, mich unter der Bettdecke verkriechen und nie wieder herauskommen. Was soll ich denn bloß ausrichten? Ich kann ihnen nicht helfen, auch wenn ich es so gern tun würde. Ich will loslaufen, doch meine Beine sind schwerer als Blei. Ich will jeden einzelnen dieser Männer ins Gesicht schlagen, doch meine Arme sind so taub, als gehörten sie nicht zu meinem Körper. Ich möchte ihre Namen rufen, meinen Eltern sagen, dass alles gut wird, doch ich bekomme keinen Ton heraus …“ Die Schwerkraft riss plötzlich so stark an mir, dass ich aufhörte mich dagegen zu wehren und sackte auf dem harten Boden zusammen. Die Kälte fraß sich gleich durch den dünnen Stoff bis zu meiner Haut und lief mich am ganzen Körper erschaudern. Was sollte ich denn tun? Es war purer Zufall, riesiges Glück und das Werk von anderen, dass ich überhaupt so lange überlebt hatte! Ich konnte nicht kämpfen. Ich war keine Heldin.   „Du weißt aber schon, dass Helden immer gute Freunde an ihrer Seite haben, die ihnen, egal was auch passiert, zur Hilfe eilen, oder?“ Es war so lange ruhig gewesen, dass ich ein wenig zusammenzuckte, als Adelios Stimme ganz nah bei mir erklang. Ich hob meinen Kopf und blickte ihm direkt in sein Gesicht. Das kleine Lächeln, das auf seinen Lippen lag, ließ mich stutzen. Er kniete nun vor mir auf dem Boden und sah mich aus ruhigen Augen an. „Lina, wir können dir helfen! Es ist noch nicht zu spät deine Eltern zu retten! Gib die Hoffnung nicht auf, hörst du? Auch ich habe, seit ich hier bin, schon viele meiner Freunde sterben sehen. Menschen, die mich jahrelang begleitet hatten, und mir wichtiger waren, als meine eigene Familie, waren plötzlich einfach nicht mehr da. Das Blutvergießen muss endlich aufhören! Und jetzt, wo wir so kurz vorm Ziel sind, werden wir nicht einfach aufgeben, verstanden?“ Ich konnte ihn nur perplex anstarren. Seine Worte schienen sich in meine Seele zu brennen. Aufgeben? War ich wirklich gerade dabei das Leben meiner Eltern einfach aufzugeben? „Die wandelnden Spaghetti haben recht, Prinzesschen. Wir sind auch noch da. Wir können auch ohne McSullen und die anderen etwas ausrichten.“ Mein Blick streifte Jadens Gesicht, das im Licht der Handylampe Weiß hervorstach. Die Trauer war aus seinen Zügen gewichen und eine Entschlossenheit war an dessen Stelle getreten, die mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Doch auch seine Mundwinkel waren leicht nach oben gezogen. Aber das war keine Freude, die sich dort zeigte. Das war der unbändige Kampfgeist, der in ihm brodelte. „Nenn mich nicht Spaghetti, Rotschopf“, zischte Adelio aus dem Mundwinkel und ich hätte beinahe grinsen müssen. Wahrscheinlich hätte ich das auch getan, wenn nicht noch immer Tränen in meinen Augen gestanden wären. „Geh wen anders nerven. Ich versuche Linchen grade aufzumuntern.“ „Oh, oh, oh. Ich merke, wenn ich nicht erwünscht bin“, sagte Jaden und das Grinsen wurde breiter. Jetzt hatte er wieder diesen so vertrauten Charme … Jung und arrogant. Das war der Jaden, wie ich ihn kennengelernt hatte. „Dann verzieh dich auch.“ „Wieso denn? Willst du ihr jetzt grade deine Zuneigung gestehen?“ Ich zuckte zusammen und Blut erhitze meine eben noch eisigen Wangen. Ich war zu perplex, um ihn zu fragen, was dieser blöde Spruch jetzt sollte. „Ja, genau das.“   Hatte mein Herz eigentlich zwischenzeitlich schon wieder geschlagen, oder war es immer noch so still da drin? Anhand Jadens ziemlich geschocktem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass ich mich grade nicht verhört hatte. Adelio bekam von der Reaktion des Rothaarigen nichts mit, denn sein Blick lag direkt auf mir. Ich tat währenddessen einfach gar nichts.    „Lina, hör zu. Du bist mir wirklich sehr wichtig geworden. Ich verstehe deine Angst und ich verspreche dir, dass ich auf dich aufpassen werde, okay? Ich werde deine Eltern da rausholen und den Typen ein für alle Mal den Harn abdrehen! Dann brauchst du nie wieder zu leiden, das verspreche ich dir.“ Ich war zu verwirrt, um überhaupt etwas zu denken, oder zu fühlen. Nur am Rande nahm ich wahr, dass mein Mund aufgeklappt war und mir plötzlich ganz heiß wurde. Was zum …? Mein steifer Blick lag kurz auf dem Rothaarigen neben mir und ich bemerkte einen komplett neutralen Ausdruck in seinem Gesicht. Plötzlich fühlte ich mich unwohl. So … emotionslos und steif hatte ich ihn noch nie gesehen. Bevor ich irgendetwas tun konnte, fuhr Adelio fort. „Es gibt da etwas, was ich dir schon lange einmal zeigen wollte. Doch die Gelegenheit hat sich nie wirklich ergeben.“ Der Braunhaarige erhob sich und ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Er öffnete langsam den Verschluss seiner grauen Weste und ich konnte mich gerade noch davon abhalten aufzuspringen und panisch wegzurennen. Es dauerte einige lange Momente, ehe ich begriff, was genau er da tat. Mir stockte der Atem. „Das … Das ist doch …?!“, stotterte ich und mein Körper verkrampfte. „Wir beide sind uns ähnlicher, als du denkst.“ Ich hörte das Lächeln aus seiner Stimme heraus, doch ich konnte meinen Blick nicht von seiner Gürtelschnalle nehmen. Dort, in der viereckigen, versilberten Schnalle, die mit einigen silberfarbenen Ranken verziert war, prangte in der Mitte ein zitronengelber Stein, dessen Facetten selbst im schwachen Licht der Sterne so hell funkelten, dass sie mich beinahe blendeten. Die markante Form ließ sofort auf die Art des Steins schließen. Es war das erste Mal, dass ich einen anderen außer meinem eigenen sah. Einen Diamanten. „Der ist zwar lange nicht so wertvoll wie deiner“, meinte Adelio dann, „aber zumindest stimmt die Art.“ Er lachte. Ich öffnete für einen Moment meinen Mund, doch es kam kein Ton heraus. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Bevor ich jedoch meine Sprache wieder finden konnte, ließ mich das Geräusch eines lauten Knalls zusammenzucken. Direkt neben mir war nun genau dort eine kleine Delle in der Metallwand, wo Jaden eben einen Stein gegengetreten hatte. „Es ist zwar wirklich süß euch beiden hier zuzusehen, aber darf ich euch daran erinnern, dass wir etwas Wichtiges zu tun haben? Ihr könnt später weiter turteln.“ Obwohl sein Gesicht noch immer keine Gefühle verriet, war mir so, als wäre in seiner Stimme neben der offensichtlichen Ungeduld auch eine Spur Wut mitgeschwungen. Aber ich konnte mich auch geirrt haben. Ich war mir in diesem Augenblick mit gar nichts mehr sicher. Wieso tat dann plötzlich meine Brust so weh?   Adelio warf seinem Freund einen sehr finsteren Blick zu, was dieser aber gar nicht bemerkte, da er sich bereits abgewandt hatte. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen lief er zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren. „Mistkerl“, murmelte der Braunhaarige so leise, dass das wahrscheinlich nicht für meine Ohren gedacht war. Doch bei dieser Totenstille war es nicht zu überhören gewesen. „Okay, dann lass uns losgehen. Wir werden das schon irgendwie schaffen, glaub mir!“ Sein Lächeln stimmte mich tatsächlich etwas zuversichtlicher, aber die Hand, die er mir anbot, schlug ich aus. „Ich komme gleich nach“, sagte ich bloß und hoffte, dass er den Sinn hinter meinen Worten verstand. Und tatsächlich nickte er mir kurz zu, stand auf und lief Jaden hinterher.   Und plötzlich war ich wieder alleine. Ich spürte, wie mein Herz unangenehm gegen meinen Brustkorb schlug. Den Rest von mir hingegen nahm ich kaum wahr. Es vergingen einige Sekunden, in denen ich mich nur auf meinen Atem konzentrierte, um das Klingeln in meinen Ohren zum Schweigen zu bringen. Die Tränen waren versiegt, doch meine Augen brannten. Auch das Wegwischen der letzten Flüssigkeit, verbannte nicht dieses klamme Gefühl von meinen Wangen. Meine Hände zitterten, als ich mir vorsichtig durch das Haar ging, um es zu ordnen. Ich verstand nicht, was die letzten Stunden geschehen war. Für mich war das, was in meinem Kopf war, keine Erinnerung, sondern nur Szenen, die ich in einem schlechten Low-Budget-Actionfilm gesehen hatte. Ich verband das alles nicht mit mir. So etwas konnte mir gar nicht passiert sein!   Doch die Zweifel waren weg. Sorgsam im hintersten Teil meines Kopfes eingeschlossen. Dort, wo sie nie wieder hervorkommen sollten. Ja, das Ganze war ein Selbstmordkommando. Jeder, den ich kannte, hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und mich gefragt, ob ich noch ganz dicht sei. Und mir war bewusst, dass sie damit absolut recht hatten. Trotzdem war dies meine einige Chance. Sie hatten meine Eltern in ihrer Gewalt und drohten, ihnen etwas anzutun. Wenn ich jetzt nicht handelte, wären sie so gut wie tot. Ich würde sie nie wieder sehen. Damals hatte ich versucht meinen Bruder zu retten, doch es war mir nicht gelungen, weil ich einfach noch zu klein gewesen war. Vielleicht war dies meine letzte Chance es wieder gut zu machen. Vielleicht konnte ich wenigstens sie retten. Und selbst wenn ich bei dem Versuch sterben würde, wüsste ich, dass ich alles, was ich hatte, gegeben habe. Auf McSullen konnte ich nicht zählen. Ich hatte nicht viele Freunde, die mir bei dieser Aktion helfen konnten. Doch die, die mitkommen würden, hatten ihre eigenen Gründe dafür. Gründe, diesem sinnlosen Massaker ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Unser Ziel war edel. Doch ob uns diese selbstsüchtige Handlung verziehen wird, würden wir vielleicht nie erfahren …   Als ich die beiden wieder traf, standen sie etwas seitlich des Maschendrahtzauns, durch den ich eben noch geschlüpft war. Ihr Gespräch verstummte, als sie mein Näherkommen bemerkten. „Ich bin fertig mit Heulen. Wir können los“, meinte ich so selbstsicher und zickig wie möglich. Die beiden sollten ruhig merken, dass ich auf dieses Thema nicht angesprochen werden wollte. Das würde auf beiden Seiten viel Ärger ersparen. Im Moment musste ich so tun, als wäre ich stark. So, als könnte ich die Dinge schaffen, die ich mir vorgenommen hatte. Ob das eine Lüge war, oder doch der Wahrheit entsprach, würde ich erst noch feststellen müssen. Doch im Moment wollte ich diese Tatsache erst einmal so gut es ging verdrängen. Ich hätte vor Erleichterung beinahe aufgeseufzt, als Jaden tatsächlich darauf einging. „Ich weiß, wie wir dorthin kommen. Wir müssen zwar vorsichtig sein, damit niemand uns entdeckt, aber sobald wir hier raus sind, nehmen wir eins der Autos.“ Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Adelio mir einen seltsamen Blick zuwarf, doch ich wagte es nicht ihn direkt anzusehen und zum Glück beließ er es zunächst dabei. „Ein Auto? Und wie bitte soll das funktionieren? Du weißt schon, dass jede einzelne Fahrt erst von McSullen genehmigt werden muss, oder?“ Doch Jaden ließ sich von Adelios Einwand nicht beeindrucken. Er grinste ihm sogar direkt ins Gesicht. „Tja, ich bin eben gut vorbereitet. Ich habe mir schon vor einiger Zeit heimlich in der Stadt einen Ersatzschlüssel für einen der Wagen anfertigen lassen. So kann ich ihn mir Mal ohne betteln ausleihen“, lächelte der Rothaarige und zog einen kleinen, schwarz/silbernen Gegenstand aus seiner Hosentasche. „Nicht dumm, Davis, nicht dumm. Das muss ich wirklich zugeben.“ Adelio nickte ihm zu. Nicht ohne ein wenig Bewunderung für die gute Idee mit in diese Geste zu legen. „Aber wie kommen wir zu dem Auto hin? Sind nicht überall Wachen aufgestellt?“, wandte ich ein. McSullen hatte grade noch rumgeprahlt, die Wachen um ein Vielfaches zu erhöhen! Und jetzt, da die Beerdigung schon seit Stunden vorbei war, würden diese garantiert ihre Posten bezogen haben! Wir hatten es damals nur mit Mühe, Not und ganz viel Glück geschafft, ungesehen abzuhauen und da war es noch deutlich einfacher gewesen! „Das sollte nicht das Problem sein. Ich kenne von meinen eigenen Schichten einen toten Winkel zwischen zwei der Gebäude. Da werden wir bestimmt durchschlüpfen können.“ Jadens Blick wurde starr und ich vermutete, dass er schon alles vor seinem geistigen Auge sah. „Toter Winkel? Sollten die anderen davon nicht erfahren, bevor einer unserer Feinde diesen auch entdeckt?“, äußerte Adelio den Gedanken, der auch in meinem Kopf rumspukte. „Nein, nicht zwingend. Von außen lässt der sich nicht so leicht ausnutzen.“ Er schüttelte den Kopf. Seine kupferroten Haare wirkten im schwachen Licht noch heller als sonst. „Kommt einfach mit und vertraut mir, dann werdet ihr schon sehen.“   Meine Gedanken waren ganz weit weg. Ich achtete kaum darauf, wohin wir gingen, wohinter wir uns versteckten oder durch welchen Spalt wir uns zwängten. Hätten Adelio und Jaden mich nicht das eine oder andere Mal zurückgezogen, wäre ich bestimmt der einen oder anderen Wache direkt vor die Füße gelaufen und hätte uns längst auffliegen lassen. Tatsächlich bemerkten wir an jeder Ecke Wachposten. Die Waffen in ihren Händen schienen meinen Blick wie Signalfeuer auf sich zu lenken. Meine Glieder wurden schwer, als ich an diese Momente dachte, als der Lauf einer Pistole direkt auf mich gerichtet gewesen war. Mit Erschrecken stellte ich fest, dass das tatsächlich schon mehrmals passiert war. Ich versuchte wirklich, mich zusammenzureißen, doch es fiel mir unglaublich schwer. Alles in meinem Kopf war so dickflüssig wie diese Smoothies, die es gerade an jeder Ecke zu kaufen gab. Zäh krochen Worte und Gedanken durch mich hindurch, ohne irgendetwas Sinnvolles zu ergeben. Was sollten wir bloß tun? Was konnten wir drei gegen eine Bande von Verbrechern ausrichten? Und wie sollten wir sie erst einmal finden? Was würden die Koordinaten uns zeigen? So viele Fragen und auf keine gab es eine Antwort. Wir liefen blind in einen dichten Nebel ohne die Richtung und das Ziel zu kennen …   Es dauerte nicht lange, ehe wir durch den blinden Fleck ungesehen das Bergwerksgelände verlassen hatten und uns nun im Schutz des Waldes bewegten. Der Himmel über den Baumwipfeln hatte schon das gewohnte Hellblau des herangebrochenen Tages angenommen. Die Wolken der letzten Nacht hatten sich größtenteils in harmlose Dunstschleier verwandelt und ließen das warme Licht der Sommersonne ungehindert durch. Die Blätter an den Bäumen leuchteten in einem frischen Hellgrün, wo die Strahlen sie berührten. Tatsächlich schien es an diesem Tag angenehm warm statt unglaublich heiß zu werden. Die Hitzewelle war wohl erst einmal vorüber.   Wir sagten kein Wort, als wir uns durch das dichte Buschwerk schlugen. Die Vögel um uns herum sangen friedlich ihre Lieder und kleine Hasen huschten pfeilschnell durch das Dickicht. Ich bildete mir sogar ein, Eichhörnchen direkt über uns auf einem Ast balancieren zu sehen. Ich konzentrierte mich auf die beruhigende Atmosphäre des Waldes, atmete den frischen Duft der Natur ein und blendete alles andere völlig aus. Meine Gedanken sollten sich überhaupt nicht auf das Kommende fixieren. Ich war nicht allein. Bei mir waren zwei Menschen, denen ich vertraute. Das war alles, woran ich denken wollte. Ich sah die Bäume, die Büsche und erfreute mich an den kleinen, weißen Blumen, die hier und da den belaubten und vermoosten Waldboden zierten. Wie kleine, helle Inseln überstrahlten sie die Braun-, Grün- und Grautöne der Landschaft und zogen mich völlig in ihren Bann. Und so bemerkte ich auch nicht, dass wir bereits an unserem Ziel angekommen waren. Ich konnte dem stehengebliebenen Adelio gerade noch ausweichen und stolperte deshalb beinahe über eine aus der Erde herausragende Baumwurzel. Er hatte angehalten und beobachtete, wie Jaden auf einem Seitenstreifen eines Forstwegs ein dunkelgrünes Auto unter zahlreichen Ästen und einer Plane hervor holte. In wenigen Minuten würden wir den Schutz des Waldes aufgeben und zurück in die Stadt gehen. Ein neuer Geschichtsabschnitt, von dem wir das Ende nicht kannten.   „Wenn ihr geht, werden wir mitkommen.“ Ich schrak so heftig zusammen, dass ich unbewusst ein paar Schritte rückwärts sprang. Die anderen reagierten schneller und wandten sich direkt in die Richtung um, aus der wir die Stimme vernommen hatten. Ungläubig starrte ich auf die beiden Figuren, die gerade hinter dem Stamm eines großen Nadelbaumes hervortraten. „Verdammt! Was soll das? Was macht ihr beide hier?“, zischte der Braunhaarige, als er die beiden Gestalten erkannt hatte. Das erste Mal, seit ich hier in diesem Albtraum gefangen war, sah ich die beiden einfach so, wie sie wirklich waren. Ohne jeden Gedanken an das, was passiert war. Seine blauen Augen funkelten zwischen den wild abstehenden, blonden Haaren. Sein etwas molliger Bauch – der mir bei unserem letzten Treffen gar nicht aufgefallen war - zeichnete sich unter dem hellblauen T-Shirt ab. Die schwarze Jeans bildete einen starken Kontrast zu dem Oberteil. Auf seiner hellen Haut zeichneten sich erste Schweißperlen ab. Die Frau neben ihm, die ihre dunkelblonden, mittellangen Haare im Nacken zu zwei Zöpfen gebunden hatte, hatte ihren Pullover bereits ausgezogen und um die Hüfte gebunden, sodass sie nur ein Tank-Top trug. Unter dem kurzen Jeansrock hatte sie knielange, schwarze Leggins gezogen. Ihre braunen Augen passten farblich zu ihrem dunklen Teint. Der scharfe Ausdruck in ihren Augen, der uns durch die blaue, dick umrandete Brille musterte, beeindruckte mich. „Emily. Sebastian.“, hauchte ich tonlos. „Wir haben euch wegschleichen gesehen. Uns war sofort klar, dass ihr etwas Großes vorhabt. Und wir wollen dabei sein.“ „Seid ihr jetzt auch komplett verrückt geworden? Das wird kein Angelausflug! Ihr wisst schon, dass ihr dabei draufgehen könntet?“ Adelios Stimme schwoll an, als er seine beiden Freunde zurechtwies. Dass er gute fünf Jahre jünger war, als seine Gegenüber, schien ihn im Moment ziemlich wenig zu interessieren. „Natürlich wissen wir das. Wir sind nicht blöd“, gab Emily zickig zurück und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Dann verstehe ich euch erst recht nicht! Warum wollt ihr dann euren Hintern riskieren? Das macht die ganze Situation in keiner Weise besser!“   „Anstatt euch da so anzukeifen, solltet ihr lieber zusehen, dass ihr endlich einsteigt.“ Noch ehe Adelio seine Tirade fortführen konnte, mischte sich Jaden in das Gespräch ein. Gelangweilt und ein wenig genervt stand er vor der mittlerweile geöffneten Fahrertür des Wagens und sah zu uns hinüber. Als er bemerkte, dass er unsere Aufmerksamkeit hatte, stieg er ein und startete den Motor. Zeitgleich verschwanden beide Fenster mit einem mechanischen Surren im vorderen Bereich innerhalb der Türen. „Was soll denn das?“, nahm Adelio den Faden wieder auf, richtete seine Worte aber diesmal an den Rothaarigen. „Jetzt willst du die beiden auch noch mitnehmen? Ich wusste ja schon immer, dass du spinnst, aber ich dachte, du hättest noch ein bisschen Grips unter deinen tomatenroten Haaren.“ Der Angesprochene zuckte lediglich mit seinen Schultern. „Willst du die beiden etwa zurückschicken und uns so auffliegen lassen? Wenn sie mitkommen wollen, sollen sie das eben tun. Ich bin mir sicher, Emily und Sebastian wissen genau, worauf sie sich einlassen.“ Eine seiner Hände hing relaxt aus dem geöffneten Fenster. „Wer mitkommen will, soll jetzt einsteigen, sonst fahre ich alleine!“   Die anschließende Stille, die sich über unsere kleine Gruppe legte, wirkte leicht drückend. Adelio schien noch zu überlegen, was er nun tun sollte. Das war nicht zuletzt an seinem Mund zu erkennen, den er immer wieder öffnete, um ihn dann doch ohne ein Wort zu sagen wieder zu schließen. Die anderen beiden hingegen schienen leicht geschockt, aber gleichzeitig auch positiv überrascht zu sein. Sie schienen mit so einer Reaktion nicht gerechnet zu haben. Wahrscheinlich waren sie davon ausgegangen, deutlich mehr Überzeugungsarbeit leisten zu müssen. Doch merkwürdigerweise sah ich es genau wie Jaden. Die beiden würden die Anlage nicht unbemerkt wieder betreten können, weshalb wir eine gute Ausrede bräuchten. Und ich konnte besonders Emily gut verstehen. Diese Menschen hatten ihren Freund auf dem Gewissen. Ich würde mich wahrscheinlich auch so entscheiden …   Ohne ein Wort zu sagen, lief ich ebenfalls zu dem Auto hinüber und öffnete die Beifahrertür. Ich sah Jaden nicht an, als ich den Gurt in seiner Halterung befestigte und noch bevor ich fertig war, öffneten sich die beiden hinteren Türen. Durch den Außenspiegel erkannte ich zwei blonde Haarschöpfe, die sich hinter mir bewegten. Als alle sich hingesetzt hatten, blieb es einen Moment komplett ruhig und ich bekam Angst, dass Adelio es sich nun anders überlegen würde, doch bevor ich mir etwas zurechtlegen konnte, wie ich ihn am besten überzeugen könnte, öffnete sich die Tür ein weiteres Mal und der Braunhaarige stieg ein. „Macht doch was ihr wollt“, grummelte dieser leise und ich bildete mir ein aus den Augenwinkeln heraus ein Lächeln auf Jadens Gesicht erkennen zu können.   Schon sehr bald würde es sich entscheiden, ob wir nur Träumer mit einem schönen aber dummen Verständnis von Gerechtigkeit waren, oder tatsächlich etwas erreichen und diesen geheimen Krieg endlich beenden konnten. Die Frage würde nur sein: Wie groß war das Opfer, das wir dafür bringen mussten? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)