Blood-red Diamond von MarySae (- Blutrote Seele -) ================================================================================ Kapitel 26: Geheimnisse ----------------------- So schnell ich es wagte, hechtete ich den Flur wieder zurück in die Richtung, aus der ich eben erst gekommen war. Dass mein Bein schmerzhaft pochte, war mir völlig egal. Emily wurde zweimal angeschossen und biss trotzdem tapfer die Zähne zusammen und Adelio hatte ein Skalpell im Bein stecken, ohne dass er sich etwas daraus machte! Also konnte ich mich von dieser alten Wunde doch nicht einschüchtern lassen! Die Treppe lag zum Glück wieder verlassen da, als ich mich bis in das unterste Stockwerk wagte. Ich erinnerte mich noch gut an den Lageplan, den ich vor einigen Stunden (Wie lange war das eigentlich wirklich her? Ich hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr!) auf dem Computer entdeckt hatte und hoffte, dort auf die Jungs zu treffen. Und noch mehr hoffte ich, dass ich sie gesund und munter vorfinden würde…   Ich achtete nicht auf die Personen, die meinen Weg säumten. Ich sah nicht das Blut, welches die Fliesen bedeckte. Und ich dachte nicht darüber nach, wer genau das hier getan hatte … Mein Atem ging stoßweise und mit jedem Schritt protestierte mein Körper mehr. Ich fühlte mich plötzlich wahnsinnig erschöpft und kraftlos. Es fiel mir sekündlich schwerer meine Muskeln dazu zu bringen, sich zu bewegen. Auch der Gedanke an mein Ziel rückte immer weiter in die Ferne. Der Ruf nach einer längeren Pause und etwas Schlaf war kaum noch zu ignorieren. Doch als ich die Tür, nach der ich suchte, am Ende des Flurs erspähte, verschwand diese erdrückende Müdigkeit schlagartig aus meinem Körper und Adrenalin pumpte augenblicklich durch meine Blutbahn. Doch kurz bevor ich mein Ziel erreicht hatte, blieb ich stehen. Mein Atem ging stoßweise und die Innenseite meines trockenen Mundes fühlte sich wie Schmirgelpapier an. Meine Muskeln zitterten wegen der Anstrengung beim Laufen und ich fühlte, wie mein Herz vor Anspannung unregelmäßig schlug. Jetzt war es wirklich soweit. Hinter dieser Tür würde alles ein Ende nehmen. Wie auch immer dieses aussehen mochte.   Die Eisentür machte den Eindruck, als befände man sich vor dem prall gefüllten Tresorraum einer gut gesicherten Bank. Rechts daneben befand sich ein kleiner Computer, der dort in die Wand eingelassen war. Für mich unverständliches Kauderwelsch blinkte auf dem Monitor auf, gefolgt von einem Cursor, der wohl auf die Tastatureingabe eines Passwortes wartete. Sogar so etwas wie einen Fingerabdruckscanner konnte ich an der Maschine ausmachen. Hier hinter war definitiv etwas sehr Wichtiges vor der Außenwelt verborgen worden. Nicht zuletzt die bestimmt 30 Zentimeter dicke Tür aus massivem Stahl deutete etwas Derartiges an. Doch dass dieser Zugang für mich nicht länger blockiert war konnte nur bedeuten, dass die Jungs bereits in der Höhle des Löwen waren. Aber es ging ihnen sicherlich gut. Es musste einfach!   Meine zittrigen Finger griffen nach dem Metall und mit einiger Anstrengung stemmte ich den Flügel soweit auf, dass ich hindurch schlüpfen konnte. Ich zögerte einen Moment und überlegte, ob es nicht sinnvoller wäre, die Tür zu schließen, damit niemand sonst mehr hinein kam. Aber etwas in mir verlangte, die Tür wenigstens einen spaltbreit offen stehen zu lassen. Und weil ich gerade eh nichts anderen tun konnte, hörte ich dieses Mal auf mein Bauchgefühl. Es würde mich schon nicht enttäuschen … Wieder stand ich in einem Flur, doch dieser war nur gut drei Meter lang. Stirnseitig sowie rechts und links waren jeweils eine Tür. Die auf der rechten Seite war aber bloß eine Abstellkammer, wie die geöffnete Tür mir offenbarte. Durch ein kleines Fenster in der anderen Tür jedoch, war ein leerer Raum zu erkennen, in dem bloß ein medizinischer Stuhl in der Mitte thronte und eine große Lampe darüber für Licht sorgte. Eigentlich sah es ziemlich normal aus. Wären da nicht die Befestigungen auf dem metallischen Stuhl gewesen, die die darauf sitzende Person am Aufstehen hindern sollte. Ich wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf, um die aufkommenden Bilder darin sofort wieder zu verbannen. Hier hatten sie also wirklich Experimente an lebenden Menschen durchgeführt. Und wahrscheinlich hätten meine Eltern und ich die nächsten Versuchskaninchen sein sollen… Ich schaltete meinen Kopf ab und ließ das Bild von mir vor Schmerzen schreiend auf diesem widerlichen Stuhl sitzend verschwinden. Dahin, wo ich es nie wieder sehen würde.   Am ganzen Körper zitternd ging ich der letzten Tür entgegen, holte tief Luft und drückte die Klinke so leise runter, wie ich nur konnte. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde, aber ich wollte auf keinen Fall mit einem lauten Knall in diese Party platzen. Tatsächlich hörte ich Stimmen und Geräusche, die aus dem hell beleuchteten Raum kamen. Und ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich zwei dieser Stimmen erkannte. „Adelio! Hinter dir!“ Jadens Aufschrei ließ mich zusammenfahren und ich wagte es, mich ein Stück weiter in den Raum zu beugen. Schnell versuchte ich mir einen Überblick zu machen. Ein typisches Labor. Weiße Wände, ein roter Steinfußboden, Tische und Ablagen vollgepackt mit massenweise, mit bunten Flüssigkeiten gefüllten Reagenzgläsern, Computern und anderen technischen Apparaten, sowie schriftlichen Dokumenten. Und eine komplette Vitrine voller wertvoller Edelsteine, die wahrscheinlich einmal Segenssteine gewesen waren und an denen wohl noch immer das Blut ihrer rechtmäßigen Besitzer klebte.   Doch ich wandte meinen Blick ab und sah gerade noch, wie ein schwarz gekleideter Mann von hinten auf Adelio zustürmte, der gerade damit beschäftigt war, einen anderen Typen von sich wegzuschieben und k.o. zu schlagen. Wie ein nasser Sack fiel er in sich zusammen, als der schwere Gegenstand ihn am Hinterkopf traf. Ich schlug meine Hände vor den Mund, um zu verhindern, dass der Schrei über meine Lippen kam. Der Braunhaarige krampfte auf dem Boden und hielt sich die blutende Stelle an seinem Nacken. Sein schmerzvolles Stöhnen brannte sich in meinen Kopf und ich war mir sicher, dass ich dieses Geräusch nie wieder vergessen würde. „Hab ich dich endlich, du Mistkröte“, lächelte der Mann, dessen kantiges und vernarbtes Gesicht von den Kämpfen zeugte, die er wohl in seinem Leben schon bestritten hatte. Und die blutige Platzwunde über dem Auge wohl davon, weshalb er Adelio „Mistkröte“ nannte. In aller Seelenruhe hob er eine Waffe vom Boden auf, die direkt neben seinen Füßen gelandet war und entsicherte sie. Das mordlüsterne Grinsen in seinem Gesicht ließ mich würgen. Plötzlich brannte mein Körper, als der Typ die Waffe auf meinen auf dem Boden liegenden Freund richtete und sein Finger sich um den Abzug schloss. Im nächsten Moment, sah ich Rot.   Ich wusste nicht, wie diese Eisenstange in meine Hände kam und warum der eben noch so widerlich grinsende Typ plötzlich in seiner eigenen Blutlache auf dem Boden lag. Und erstrecht konnte ich mich nicht daran erinnern, wie ich hierhergekommen war. Hier, direkt neben Adelio. „Amelina?“ Durch sein eines, halb geöffnetes Auge sah er mich an, und versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Das Eisen klirrte, als ich die Stange auf den Boden fallen ließ, und half dem Braunhaarigen, sich wieder aufzurichten. „Was zum Teufel machst du hier?“, fragte er durch seine zusammengebissenen Zähne, als er wieder auf seinen Füßen stand. Doch das nicht ohne mein Zutun und der Hilfe des Labortisches vor ihm. „Seit wann hört jemand in den Actionfilmen tatsächlich darauf, wenn man ihm sagt, er solle weglaufen? Das wäre total entgegen dem Klischee!“ Ich war so erleichtert, ihn zu sehen, dass mir sogar dieser blöde Witz über die Lippen kam. Ein schmerzverzerrtes Grinsen huschte über sein Gesicht. „Mach dir nicht die Mühe dir Ausreden auszudenken, nur um zu überspielen, dass du einfach nicht hören kannst. Das ist längst zu spät.“ Jaden stand nur einen guten Meter von uns entfernt hinter einem weiteren Labortisch und versuchte angestrengt seine Worte böse klingen zu lassen. Doch mir entging das Zucken seiner Mundwinkel nicht. Er sah mitgenommen aus. Blutige Kratzer und blaue Flecke am ganzen Körper. Sein Jacket und das Hemd hatte er sich wohl inzwischen entledigt, und nun verstand ich auch, warum er unbedingt ein T-Shirt unterziehen wollte. So jedoch waren die vielen kleinen Wunden noch besser zu sehen. Aber immerhin stand er noch und hielt sich nicht stöhnend die Platzwunde an seinem Hinterkopf, so wie Adelio es noch immer tat. Also beschloss ich mich, ihn selbst entscheiden zu lassen, ob er noch konnte, oder nicht. Und seinen Worten nach zu urteilen, hatte er seine Entscheidung längst getroffen.   Ich gönnte ihm nicht die Genugtuung eines Lächelns meinerseits, also ließ ich meinen Blick noch einmal durch den Raum wandern. Ich zählte fünf Leute, die verstreut auf dem Boden lagen. Dazu der, den ich eben niedergeschlagen hatte. Doch entgegen allem, was ich gedacht hatte, tat es mir nicht einmal ein ganz klein wenig leid, das getan zu haben. Dieser Mistkerl hatte die Kopfschmerzen gehörig verdient!   „Es ist doch wirklich unglaublich, dass ein paar Kinder meine gut ausgebildeten Männer so einfach ausschalten können. Es ist wirklich schwer heute noch gutes Personal zu finden.“ Ich zuckte zusammen, als die Stimme eines fremden Mannes durch den Raum hallte. Ein kleiner, dicklicher Mann mit kurzen, dunkelbraunen Haaren und schwarzem Anzug schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Er stand mit verschränkten Armen am stirnseitigen Ende des Raumes, direkt neben der Segenssteinvitrine, und sah mit einem Lächeln zu uns hinüber. Es fiel mir in diesem Augenblick schwer, nicht zusammenzubrechen. Wenn Adelio nicht wieder soweit auf die Beine gekommen wäre, dass nicht mehr ich ihn, sondern er mich stützte, hätten meine Beine wohl unter meinem bleischweren Körper nachgegeben. Erinnerungen an den Tag der Wahlveranstaltung durchfluteten meinen Körper und plötzlich wusste ich, dass ich nicht paranoid gewesen war.   „Leynardh!“, zischte Jaden plötzlich ebenso überrascht, wie ich es war. Er war es gewesen! Die ganze Zeit er! „Der kleine Davis-Sprössling! Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich dir noch einmal gegenüber stehen würde. Ich hatte eigentlich befohlen, dass auch du damals um die Ecke gebracht werden solltest.“ „Du Mistkerl! Du warst ein Freund meines Vaters! Wie konntest du das nur tun?“ Die Wut in Jadens Stimme überschlug sich und um ein Haar wäre er dem Politiker an den Kragen gesprungen, doch eine schwere Hand legte sich urplötzlich um seinen Oberarm und hielt ihn zurück. Ich schrie, als der Typ ihm den Lauf einer Pistole an den Hinterkopf drückte. Wo kam der auf einmal her? Jaden stoppte seine Bewegungen, was ihn aber nicht davon abhielt, die Wut weiterhin aus seinen Augen sprechen zu lassen. „Na, na, junger Freund. Wer wird denn gleich so an die Decke gehen? Immerhin war ich so freundlich euch trotz eures rüden Eindringens in mein Hotel“, er betonte das Wort „mein“ besonders stark, „einfach so rein spazieren zu lassen. Dein Vater war nie mein Freund. Wie könnte er auch? Er war bloß ein unverbesserlicher Idealist, der seinem lächerlichen Traum von Gerechtigkeit und Nächstenliebe blind hinterher gerannt war. Ich hingegen habe schon immer weitaus größere Ziele verfolgt. Und dein Vater hatte genau das, was ich dafür gebraucht habe.“ „Dreckskerl!“ Der Rothaarige versuchte, sich gegen den Griff des Mannes zu wehren, worauf dieser die Waffe entsicherte. Das Klicken der Pistole machte mich beinahe taub. „Jaden! Nicht!“, ich rief hilflos und tatsächlich hörte er auf, sich zu wehren. Stocksteif stand er nun da und fixierte seinen Blick, in dem so viel Hass lag, auf den Politiker. Mein Herz schlug schmerzhaft in meiner Brust und ich bekam kaum noch Luft. Ich umklammerte Adelios Arm mit meinen zitternden Fingern und spürte, dass auch er bis auf das Äußerste angespannt war. „Deine kleine Freundin hat recht. Wenn du nicht so viel zappelst, lass ich dich vielleicht sogar am Leben. Du wärst ein super Testobjekt für meine Gedankenkontrolle. Wenn ich deinen sturen Schädel knacken könnte, kann ich mir sicher sein, dass es bei jedem anderen auch funktionieren wird.“ Doch Jaden sagte nichts. Sein Blick war noch immer auf Leynardh gerichtet. Sein ganzer Hass lag auf dem Mann, der sein Leben auf den Kopf gestellt hatte.   „Ach Jaden. Ihr Kinder wisst doch gar nicht, welche Schätze ihr da eigentlich in den Händen haltet! Das sind nicht nur irgendwelche Schmucksteine, die man nur dafür benutzt, um vor Schulfreunden damit anzugeben!“ Sofort kamen die Erinnerungen an die Tage hoch, an denen meine Mitschüler mich umkreist und immer wieder meinen Segensstein bewundert hatten. Wie sie mich mit funkelnden Augen angehimmelt hatten, weil ich so einen tollen und wertvollen Stein hatte! Aber nie hatte jemand sich für mich gefreut, weil ich eine gute Note in einem Test geschrieben hatte, nein. Die Person hinter dem Diamanten war immer unsichtbar gewesen. „Ich musste so viele Nachforschungen und Tests durchführen lassen, um den Wert hinter den Steinen zu erkennen! Segenssteine stellen die ausgereifte Seele eines Menschen dar. Sie spiegeln die Person wieder, die wir einmal werden wollen! Doch nicht jeder schafft es auch zu diesem Menschen zu werden. Nicht jeder kann seine Seele mit seinem Edelstein in Einklang bringen. Entscheidungen, die getroffen werden, Gefühle, die durchlebt werden, die allgemeine Art sein Leben zu führen. Das alles entscheidet, ob wir wirklich zu demjenigen werden, der wir sein können. Und die, die vom Weg abkommen, werden niemals ihr Leben vollkommen ausschöpfen können.“ Wieso rissen mir seine Worte gerade den Boden unter meinen Füßen weg? Wieso fühlte es sich an, als würde ich inmitten eines dunklen Nichts schweben? „Der Stein reagiert bei denen, die eine Seele im selben Entwicklungsstadium besitzen, wie die eben getroffene Person. Das ist faszinierend und bietet so viel mehr, als die dumme Menschheit es glaubt! Denn wer sein Herz, seine Seele auf der Hand trägt, bietet Leuten wie mir ein Potential, das wir nicht ungenutzt liegen lassen können. Besonders du, kleines Mädchen.“ Ich schluckte schwer, als seine eiskalten Augen direkt in meine Seele zu blicken schienen. „Du hättest ein vorzügliches Testobjekt abgegeben! Dieser unglaublich wertvolle Diamant … Irgendwas muss an dir besonders sein und ich wüsste zu gerne, was es ist … Und ohne diese rothaarige Nervensäge hätte ich dich und deinen Stein so viel einfacher bekommen! All dieses ungenutzte Potential! Begreift ihr jetzt, wie dumm ihr eigentlich seid?“                                                                                                                        Mein Gehirn war in diesem Moment nicht in der Lage das Gehörte zu verarbeiten. Irgendwie schien alles gleichzeitig Sinn zu ergeben aber ebenso auch nicht. Der Segensstein spiegelte den Zustand, den unsere Seele haben sollte, sobald wir uns körperlich und seelisch am Ende unseres Lebens fertig entwickelt hatten? Und der Partner, den er für jeden Menschen individuell bestimmte, war auf demselben Stand, demselben Weg? Wie sollte das bloß der Mensch verstehen können? „Du Mistkerl willst dir die Macht und Geheimnisse der mächtigsten Männer und Frauen der Welt aneignen und dadurch den Tod so vieler Menschen riskieren, nur um deine eigenen Pläne durchzusetzen? Wer von uns ist hier eigentlich dümmer?“   „Nervtötend moralisch wie immer, nicht wahr?“ Eine helle Frauenstimme schien aus dem Nichts zu kommen und mischte sich in das Gespräch ein. Allein bei ihrem süßlichen Klang stellten sich mir die Nackenhaare auf. Und noch schlimmer war die Tatsache, dass ich mir sicher war, sie schon mehr als einmal gehört zu haben. In einer Tür in der hinteren Ecke, die ich bisher gar nicht bemerkt hatte, stand plötzlich eine junge Frau. Ihre blonden Haare wirkten beinahe Weiß im Licht der grellen Leuchtstoffröhren des Labors. Ein kaltes Lächeln lag auf ihren rosigen Lippen und ihre grünen Augen ließen keine Sekunde von uns ab, als sie sich auf Leynardh zubewegte.   Ich traute meinen Augen kaum, als der Politiker seinen Arm um ihre Schultern legte und sie mit einem seltsamen Stolz in seinen Augen anlächelte. „Meine Tochter Aurelia Starchain, oder sollte ich richtigerweise sagen, Leynardh, habt ihr bereits kennengelernt, nehme ich an?“ Mein Mund war staubtrocken und der Kopf war leer. Ich fühlte mich, als wäre mein Kopf ein randvolles Fass, das bei dem nächsten Tropfen überlaufen würde. „Was soll das heißen, „Tochter“? Aurelia, was zum Teufel tust du hier?“ Ihr leises Lachen hing in der Luft, bevor sie zu einer Antwort ansetzte. „Du hattest mich doch einmal nach meiner Familie gefragt, erinnerst du dich Jaden? Ich habe dir erzählt, dass ich bei einer Pflegefamilie aufgewachsen bin und meine wahre Mutter nicht kenne, weil sie mich einfach bei meinem Vater, einem chronischen Lügner und Betrüger, zurückgelassen hat, der jedoch nicht in der Lage war, sich um ein kleines Baby wie mich zu kümmern? Damals habe ich nicht gelogen.“ Ihr kleines fieses Grinsen wurde noch breiter, als sie den geschockten Ausdruck auf Jadens Gesicht sah. „Meine Mutter kenne ich nicht. Sie war bloß auf das Geld meines Vaters aus, der schon damals in den oberen Kreisen der Gesellschaft gewandelt ist. Als sie plötzlich schwanger mit mir wurde und mich heimlich auf die Welt brachte, ließ sie alles zurück und hat wahrscheinlich auch nie mehr an mich gedacht. Doch das macht mir nichts aus. Alleine bin ich umso stärker.“ „Du hast uns … Du hast uns die ganze Zeit belogen?“ Jaden rang richtig um Worte, als er die Tragweite der Situation langsam verstand.   „Ach Jaden. Jetzt guck doch nicht so tief betroffen. Du hattest es doch die ganze Zeit geahnt, oder etwa nicht? Eines Tages stand mein richtiger Vater, Theodor Leynardh, plötzlich vor meiner Tür und hat mir alles erzählt. Alles über ihn, seine Pläne und die Schwierigkeiten, die er mit einer Bande von Möchtegern-Gerechtigkeitskämpfern hat. Da habe ich nicht lange gezögert. Und alles andere war so einfach gewesen. Ich wusste, dass du einen auf Retter machen würdest, wenn ein armes, unschuldiges Mädchen in Gefahr wäre.“ Jaden stieß ein zischendes Geräusch aus und ich sah, wie er sich immer mehr anspannte. Am liebsten wäre er seiner ehemals besten Freundin wohl an die Gurgel gegangen. „Es war alles von langer Hand geplant. Was gab es besseres, als sich beim Feind einzuschleusen und sie Tag und Nacht auszuspionieren? So war es für mich ein leichtes, meinem Vater die Informationen zukommen zu lassen, die er brauchte, um euer kleines Rattennest vollends auszuräuchern. Ich gebe zu, es hat nicht alles 100 prozentig so funktioniert, wie ich es gewollt hatte, …“, ihr Blick fiel dabei verdächtigerweise direkt auf mich, „aber ich denke, wir haben trotzdem das Beste draus gemacht.“ „Wegen dir sind dutzende Menschen gestorben, ist dir das eigentlich klar?“ In Adelios Worten brodelte die Wut, als er an die vielen Freunde dachte, die wegen dieser ganzen Misere ihr Leben lassen mussten. „Ach, so viele waren es gar nicht. Die meisten haben sich völlig ohne mein Zutun selbst ausgeschaltet. Dass der arme Colin hingegen gestorben ist, war wohl wirklich meine Schuld gewesen. Zumindest hatte ich seinem Mörder bereitwillig die Tür geöffnet und ihm genauestens beschrieben, wo er zu finden ist.“ Sie sprach über Colins heimtückischen Mord so, als würde sie mit einer guten Freundin über das Kleid plaudern, das sie sich gerade erst gekauft hatte. Da waren keine Trauer, keine Schuldgefühle. Ja nicht mal so etwas wie Reue! Es war ihr völlig gleichgültig, dass Menschen ihretwegen starben, solange sie das bekam, was sie wollte.                                                               „Du widerliche, falsche Schlange.“ Jaden wehrte sich gegen die Hand die ihn hielt, beinahe so, als hätte er vergessen, dass ihm jemand eine Waffe an den Kopf hielt. Ich hatte Angst um ihn, furchtbare Angst. „Tja, um dich ist es wirklich schade, Jaden. Ich hatte echten Gefallen an dir gefunden! Ich hatte wirklich gehofft, dass wir beide am Ende gemeinsam hier stehen und triumphieren würden. Natürlich hatte ich meinen Vater gebeten, dich zu verschonen. Es war alles bereits geregelt. Auch die Sache im alten Krankenhaus war bloß inszeniert. Wobei ich an einem Punkt wirklich befürchtet hatte, dass diese Trottel dir etwas angetan haben. Aber dummerweise musstest du dich dem Trupp ja anschließen und wir konnten nicht zulassen, dass du unseren Plan vereitelst. Oder warum glaubst du haben wir dich als einzigen am Leben gelassen? Wegen der Informationen? Pah. Und als ich dann auch noch mitbekam, dass diese zwei Möchtegern-Helden tatsächlich aufbrechen und dich retten wollten, hab ich mich ihnen angeschlossen, um sie davon abzuhalten, alles kaputt zu machen.“ Ihr Lachen klang genauso, wie ich mir das Lachen eines Wahnsinnigen vorstellte. Aurelia war für mich plötzlich zum Inbegriff eines Bösewichts geworden. Doch ihre Augen strahlten keinerlei Freude aus. Im Gegenteil. „Und es lief alles perfekt. Okay, vielleicht außer in dem Moment, in dem uns diese Trottel beinahe in die Luft gesprengt hatten. Aber ansonsten … Ich bin einfach eine wahnsinnig gute Schauspielerin, nicht wahr? Doch du musstest dich ja unbedingt mit dieser … dieser … Göre anfreunden!“ Sie spie mir das Wort wie Gift ins Gesicht und ich hatte in diesem Moment richtig Angst vor ihr. In ihren giftgrünen Augen loderte der pure Wahnsinn. Wie hatte ich mich bloß anfänglich von ihrer netten Ader täuschen lassen können? „Sieh sie dir doch an, verdammt! Mit ihrem knochigen Körper, den kaputten, strähnigen Haaren und ihrem ständigen Geheule! Wie könnte ausgerechnet die mir je das Wasser reichen?“ Auch, wenn ich es eigentlich nicht zulassen wollte, ihre Worte trafen mich sehr. Adelio trat einen Schritt zur Seite, sodass ich nun fast komplett hinter seinem Rücken verschwunden war. Ich war ihm unendlich dankbar dafür. So sah wenigstens niemand diese albernen Tränen. „Amelina besitzt eine Art von Schönheit, die du niemals verstehen könntest.“ Ich krallte mich in seine Kleidung und ließ mich von ihrem Duft beruhigen. Ich würde mir diese Blöße nicht geben. Besonders nicht vor ihr. „Natürlich. Du bist ja auch noch ganz heiß auf sie. Habt ihr euch schon darauf geeinigt, wer das Mädchen am Ende kriegt? Oder gibt es noch ein episches Duell um ihre Gunst? Sagt mir Bescheid, ich würde es zu gerne sehen.“ Ich spürte, wie der Braunhaarige vor Wut bebte und dass es ihn überaus nervte, nichts gegen diese Frau unternehmen zu können.   „Aber gut. Dazu wird es wahrscheinlich sowieso nicht mehr kommen. Mein Vater hat wirklich besseres zu tun, als euch ständig hinterher zu laufen. Gebt uns einfach eure Segenssteine und dann schicken wir euch dorthin, wo ihr uns nicht mehr auf die Nerven gehen könnt!“ Ich schloss die Augen. Ich wollte nicht sehen, was jetzt mit uns geschehen würde. Ich wollte meinen eigenen Tod nicht sehen.   „Finger weg von meinem Sohn, du Mistkerl!“ Ein Schrei zerschnitt die Luft und ein lauter Knall dröhnte in meinen Ohren. Im nächsten Moment wurde ich zu Boden gerissen und erst, als ich meine Augen wieder öffnen konnte, konnte ich erahnen, was passiert war. Der Mann, der Jaden eben noch bedroht hatte, lag nun regungslos auf dem Boden. Blut sickerte aus der Stelle, an der die Kugel ihn tödlich getroffen hatte. Wie aus dem Nichts stand nun plötzlich McSullen an Jadens Seite, und die Waffe in seiner Hand qualmte noch. „Keith!“, rief der Rothaarige überrascht auf, als er seinen Ziehvater neben sich stehen sah. „Was machst du hier?“ „Für so etwas haben wir keine Zeit! Nimm deine Freunde und verschwindet hier, sofort!“   „McSullen! Du elender …!“ Ein weiterer Schuss fiel, doch ich konnte hinter der Werkbank, hinter die Adelio mich gezogen hatte, nichts erkennen. Ich sah, wie McSullen und Jaden ebenfalls in Deckung gingen und hörte Aurelia hysterisch schreien. „Keith!“ „Geht jetzt, verdammt! Los!“ Jaden zögerte. Doch etwas ließ ihn trotzdem den Worten des Menschen gehorchen, der für ihn die letzten Jahre seine Familie war. Unter Feuerschutz von McSullen, schlüpfte Jaden über den Gang, bis er zu uns gestoßen war. „Adelio, reiß dich jetzt gefälligst zusammen!“, zischte er, als der dem Braunhaarigen half, sich hinzuhocken. Dieser funkelte ihn nur an. „Was denkst du, was ich hier tue, du Schnösel?“ „Dann ist es ja gut. Ich wollte nur prüfen, ob das bisschen Hirn in deinem Schädel nicht durch den Schlag gänzlich unbrauchbar geworden ist.“ Ein herausforderndes Lächeln lag auf dem Gesicht des Rothaarigen, das Adelio augenblicklich erwiderte. „Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich hasse.“ „Dann sind wir ja schon zwei. Und jetzt los!“   Ich ging ebenfalls in die Hocke und schlich mit den Jungs, um das Mobiliar herum, um zur Tür zu gelangen. Immer wieder zogen Schüsse nur knapp an uns vorbei. Glas regnete auf uns herab, wenn eine Kugel die Laborutensilien auf den Tischen traf und der Gestank vermischter Chemikalien hing in der Luft. Die teilweise nur aus Eisenstangen bestehenden Tische boten uns wenig Schutz und ich wusste, dass jeder zitternde Schritt mein letzter sein konnte. Doch es war nur noch ein kleines Stück! Ein winziges Bisschen und wir könnten von hier fliehen! Alle zusammen diesen schrecklichen Ort verlassen und endlich in Frieden leben. „Jaden!“ Ein ohrenbetäubender Knall echote von den Wänden wieder und plötzlich war alles still. Ich begriff nicht, was geschehen war. Ich sah bloß, dass McSullen nun direkt vor dem Rothaarigen stand, die Arme ausgebreitet. „So nicht, du Mistkerl.“ Ein weiterer Schuss, ein lauter Aufschrei, gefolgt von einem kreischenden Mädchen. Leynardh, der gerade durch die Tür in sein Privatzimmer fliehen wollte, sackte getroffen zusammen. Aurelia hechtete aus ihrer Deckung und sprang zu ihrem Vater. Selbst durch das Gewirr an Tischen und Stühlen konnte ich sehen, wie sich ein dunkler Fleck um den Politiker herum ausbreitete. Seine Augen starrten nichtssehend ins Leere. „Vater! Vater! Nein! Nicht!“ Ich hörte die Tränen in ihrer Stimme, doch ich empfand kein Mitleid. Mit jemandem wie ihr, die selbstgerecht Menschen für ihr eigenes Wohl opferte, konnte ich einfach keins empfinden. Nicht im Geringsten. „Keith?“ Jadens zögernder Ton ließ mich aufhorchen. Völlig unbeweglich stand er noch immer vor seinem Sohn und stieß seltsam gurgelnde fast lautlose Töne, aus. „Sophia, Isabella, Elizabeth. Jetzt werde ich endlich wieder bei euch sein.“  „Keith!“ Es ging so schnell, ich konnte es kaum mit meinen Augen verfolgen. Plötzlich und ohne Vorwarnung war McSullen in sich zusammengebrochen und lag nun bewegungslos auf dem Boden. Jaden verließ seine Deckung und rannte zu ihm hin. Doch als er seinen Ziehvater auf den Rücken gedreht hatte, hielt er in seiner Bewegung inne. Wie versteinert blickte er auf den sich rasend schnell ausbreitenden Blutfleck auf dessen Brust. Oh Gott. Nein!   Aurelias irres Kreischen lag in der Luft, doch Jaden schien es nicht einmal wahrzunehmen. „Ihr habt meinen Vater umgebracht, ihr verdammten …! Ich bringe euch um, ich bringe euch alle um!“ Mit gezücktem Abzug stand sie dort neben der Leiche ihres Vaters. Ihre Waffe direkt auf Jaden gerichtet. Doch dieser sah sie nicht einmal an. „Es reicht jetzt endgültig, Blondie.“ Aurelias Augen weiteten sich plötzlich unmenschlich und im nächsten Moment schlug sie wie ein nasser Sack auf dem Boden auf. Die Pistole rutschte nutzlos über die Fliesen. Adelio stand mit erhobener Hand hinter der jetzt auf dem Boden liegenden jungen Frau und blickte voller Abscheu auf sie herab. „Ich konnte dich übrigens noch nie leiden, nur damit du es weißt.“   War das unser Sieg? War das das Ende einer für manche jahrelangen Odyssee? Hatten wir es wirklich geschafft, dieses sinnlose Ermorden Unschuldiger zu stoppen?   Doch warum fühlte sich das gerade alles andere als ein Sieg an? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)