So finster wie die Nacht von BinaLuna ================================================================================ Kapitel 12: Lilians Erwachen ---------------------------- Kapitel 12 ~ Lilians Erwachen June sah sich die Buchseite genau an, aber dann seufzte sie ernüchtert. „Das ist auf deutsch. Aber ich beherrsche die deutsche Sprache nicht.“ Auch Ryan konnte mit der germanischen Sprache nichts anfangen. „Dann werden wir wohl etwas nachforschen müssen“, sagte er ruhig und überlegte, wie sie am besten vorgehen konnten. Die Seite schien wirklich mitten aus einem alten Buch herausgerissen zu sein. Die Buchstaben waren eindeutig Altdeutsch und nur schwer zu lesen für jemanden, der die lateinische Schrift gewöhnt war. „Das könnte Kurrentschrift, wahrscheinlich Sütterlin sein“, meinte June nach einer Weile. Ryan sah seine Exfreundin wenig begeistert an. „Das wird dauern, das zu übersetzen, oder?“, fragte er. „Mit Sicherheit. Ich kenne leider auch niemanden, der uns das übersetzen könnte, wir werden also selbst suchen müssen. Offenbar will man es uns nicht zu leicht machen“, sagte sie nickend. „Ich weiß gar nicht, ob Jason in der Schule vielleicht Deutsch lernt“, stellte Ryan fest. „Wo ist dein Bruder überhaupt?“ „In seinem Zimmer. Er hat vorhin was davon gesagt, dass er müde sei und sich ein wenig ausruhen wolle.“ In der Tat befand sich Jason Parker in seinem Bett und schlief. Die Träume in den letzten Nächten hatten ihn kaum zur Ruhe kommen lassen und das seltsame Verhalten seiner Klassenkameradin Lilian hatte nicht gerade zu seiner Beruhigung beigetragen. Auch jetzt schlief der junge Fußballer alles andere als ruhig. Er war bereits schweißnass und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Haselnussbraune Augen blickten ihn verliebt an, ihre Hände streichelten den eigenen geschwollenen Leib zärtlich. „Liebster“, hörte er ihre flüsternde Stimme. Doch auf einmal war alles dunkel, das haselnussbraun wandelte sich abermals zu blutrot, der Ausdruck auf dem Gesicht der hübschen Frau wurde finster und betrübt, überall war Blut. Etwas Goldenes blitzte auf und er richtete seine Aufmerksamkeit darauf. Es war ein Medaillon. Ein goldenes Medaillon. Als Jason erwachte, fühlte er sich schrecklich. Sein Mund war ausgetrocknet, seine Kehle brannte und als er sich über das Gesicht wischte, stellte er beinahe entsetzt fest, das er im Schlaf geweint haben musste. „Verdammt“, murmelte er. Wie von allein glitt seine zitternde Hand neben das Bett, um die Flasche Wasser zu ergreifen, die dort immer stand. Nachdem er ein paar Schlucke getrunken hatte, fühlte sich Jason ein wenig besser. Doch noch immer hallte der Traum in seinen Gedanken nach. „Das Medaillon... es gehört ihr....“, begriff er endlich. Nun war ihm endlich bewusst, wo er das Schmuckstück schon mal gesehen hatte. Aber warum träumte er von ihr? Von dieser Frau mit den blutroten Augen? Was wollte sie von ihm? Und warum tauchte ausgerechnet jetzt das Medaillon auf? Jason stand auf und verließ sein Zimmer. Er musste es haben. Das goldene Medaillon war gar nicht zu Ryan gekommen. Es wollte eigentlich zu ihm. In der Wohnung war es bereits dunkel, nirgends war mehr ein Licht zu sehen. War es schon so spät? Ein Blick auf die digitale Wohnzimmeruhr bestätigte ihm, dass es schon spät war. In fünf Stunden würde er aufstehen müssen, um anschließend zur Schule gehen zu können. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass er so lange geschlafen hatte. Es war ihm bei weitem nicht so lang vorgekommen. Er begab sich zum Zimmer seines Bruders und lauschte. Kein Schnarchen, aber auch kein anderer Laut. Jason klopfte an und wartete einen Moment. Er wollte gerade noch einmal klopfen, als ein „Komm rein“ ertönte. „Ryan?“, fragte der Jüngere in den Raum hinein, als er die Tür öffnete. „Was ist?“, fragte Ryan zurück. Sein Zimmer wurde nur noch von der Nachttischlampe erleuchtet und ein Buch lesend lag Ryan in seinem Bett. Er hob fragend die Augenbraue, als er seinen kleinen Bruder musterte. „Hast du schlecht geschlafen?“ „Sehr schlecht“, antwortete Jason ehrlich. „Alpträume?“ „Ja. In letzter Zeit dauernd.“ „Ich weiß.“ „Du weißt...?“ Jason sah seinen großen Bruder fragend an. In der Tat hatte Ryan schon des öfteren mitbekommen, das der Jüngere schlecht schlief. Aber er hatte ihn nicht darauf ansprechen wollen. Er wusste, Jason würde von sich aus kommen, wenn er wollte. Ryan antwortete nicht, sondern bedeutete dem Bruder, sich neben ihn zu setzen. Dieser Aufforderung kam Jason ohne zu zögern nach. „Wovon träumst du?“, wurde er gefragt. „Von einer Frau. Sie ist hübsch. Sie hat lange, dunkle Locken und braune Augen und sie bittet mich um etwas. Aber ich verstehe nie, was sie von mir will. Und auf einmal wird sie ganz kalt und ihre Augen werden rot. Und dann wache ich immer auf.“ „Das ist ein seltsamer Traum. Ist es immer derselbe?“ „Ja. Er variiert zwar manchmal, aber es ist immer diese Frau.“ „Hast du Angst vor ihr?“ „Anfangs nicht. Aber ich bekomme Angst, wenn sie anfängt, kalt und blass zu werden“, gab Jason zu. „Und sie trägt das Medaillon.“ „Das Medaillon?“ „Ja. Das, dass du mir gezeigt hast. Im letzten Traum hat sie es getragen.“ Ryan hatte das goldene Schmuckstück erst einmal in die Schublade seines Nachttisches gelegt, aber nun holte er es wieder hervor. „Bist du sicher, dass es dieses ist?“ „Nein. Aber irgendwas ist damit.“ Wenn es wirklich dieser seltsamen Frau gehörte, die Ryan in der Buchhandlung getroffen hatte, dann konnte Jason mit seiner Vermutung durchaus Recht haben. „Es lässt sich nicht öffnen, obwohl hier ein Verschluss ist“, erklärte Ryan, als er Jason das Medaillon gab. Der Fußballer sah sich das Schmuckstück genau an, aber auch er konnte es nicht öffnen. Da kam ihm eine Idee. „Ryan, darf ich es morgen mal meiner Klassenkameradin zeigen? Sie weiß vielleicht, was es damit auf sich hat.“ Immerhin schien Lilian ja eine ganze Menge merkwürdiges Zeug zu wissen, wenn sie ihm schon so seltsame Warnungen zukommen ließ. „Klar. Mach. Ich weiß ehrlich gesagt sowieso nichts damit anzufangen“, meinte Ryan. Es regnete. Natürlich regnete es. Immerhin befand sie sich ja in England. Ihrer Mutter zuliebe hatte Lilian diesmal sogar einen Schirm aufgespannt. Der Schultag war normal gewesen – bis auf die Tatsache, dass sie diesen Morgen nicht beim Fußballtraining zugesehen hatte. Nachdem Jason sie so abserviert hatte, hatte sie keine Lust mehr gehabt, ihm zuzusehen. Ihre Mutter hatte ihr zwar geraten, auf den Jungen aufzupassen und es ihr sofort zu melden, falls sie erneut Vampirgeruch an ihm feststellte, aber Lilian hatte es einfach nicht fertig gebracht. Sie ärgerte sich viel zu sehr darüber, es sich mit Jason vermasselt zu haben. Während des Unterrichts hatte sie nichts Ungewöhnliches an ihm feststellen können und so dachte sie sich, dass er vielleicht auch einfach rein zufällig einem Vampir begegnet war. Vielleicht war sein Bruder ja auch gar nicht von Vampiren angegriffen worden, sondern von einfachen Räubern! Sie würde ihn beobachten, das musste sie. Das war ihre Pflicht als Hexe. Aber sie wollte ihm nicht wieder so nahe kommen. Es schien ein Wink des Schicksals zu sein, als es nun ausgerechnet Jason war, der auf Lilian zukam. Sie war bereits beinahe beim Schultor angekommen, als er sie abfing. „Lilian? Kann ich dich was fragen?“ Das hat mir gerade noch gefehlt!, dachte sie grimmig. Sie wollte nach Hause, nicht mit Jason diskutieren! „Was gibt es?“, fragte sie jedoch. Sie wollte nicht unhöflich sein und ignorieren konnte sie ihn ja nun auch nicht mehr, wo er sie direkt ansprach. Der Fußballer hatte keinen Regenschirm bei sich, also deutete er auf die überdachten Fahrradständer. „Wollen wir uns kurz unterstellen?“ Das Mädchen nickte und sie begaben sich zu den fast komplett geleerten Ständern. Nach Schulschluss blieb immer kaum ein Rad hier stehen. „Also...“, begann Jason nun, als Lilian ihn fragend ansah. „Ich wollte dich etwas fragen...“ Er ist ja richtig nervös, dachte Lilian, als sie ihn musterte. Seine dunkelblonden Haare waren völlig durchnässt, ebenso wie die dunkelblaue Uniformjacke, die er trug. Er musste also schon länger auf sie gewartet haben. Außerdem nestelte er an einem Knopf der Jacke herum, wie er es immer tat, wenn er nervös war. Lilian wusste das, immerhin beobachtete sie den Jungen schon seit einiger Zeit. „Dann frag“, forderte sie ihn auf, als er vorerst schwieg. „Ich hab hier was....“, murmelte er, dann zog er eine goldene Kette aus seiner Jackentasche hervor. Im ersten Moment fragte sich die Hexe, was er damit nun bezweckte, aber die Frage, die er nun stellte, war eine andere, als sie erwartet hatte. „Weißt du, wem sie gehören könnte? Mein Bruder hat sie gefunden.“ „Wieso zeigst du mir das?“, fragte sie zweifelnd. „Ich weiß es nicht. Mein Gefühl sagt mir, dass du damit was anfangen kannst.“ „Dein Gefühl, ja?“, fragte Lilian skeptisch. Was genau dachte er eigentlich von ihr? Er konnte doch unmöglich wissen, dass sie eine Hexe war! Aber als sie das Medaillon berührte, durchzuckte es sie sehr heftig. Magie!, schoss es ihr durch den Kopf. Das Ding ist voller Magie! Jason starrte sie beinahe erschrocken an. Eine so heftige Reaktion hatte er nicht erwartet. Seine Klassenkameradin war ja geradezu berauscht von diesem Schmuckstück. Lilian hatte sich von dem ersten Schrecken schnell erholt und betrachtete das Medaillon schließlich eingehend. Sie erkannte beinahe sofort, dass der Verschluss des Medaillons magisch versiegelt worden war und das machte sie neugierig. Die Magie musste einmal sehr stark gewesen sein, war aber im Laufe der Zeit schwächer geworden. Die Hexe konnte den Zauber ohne Probleme brechen und sie tat dies schon beinahe unbewusst. Ein kleines Knacken war zu hören, als das Medaillon schließlich aufsprang. „Wie hast du das gemacht?“, fragte Jason beinahe ungläubig. „Weder mein Bruder noch ich haben es aufbekommen.“ „Zufall“, erwiderte Lilian geistesgegenwärtig. Jason war näher gekommen, um den Inhalt der goldenen Kette ansehen zu können und war ein wenig verwirrt. Das Medaillon enthielt einen kleinen, blutroten Edelstein und zwei Fotos. Die Bilder kamen ihm merkwürdig vertraut vor, aber der Edelstein sagte ihm so gar nichts. „Was ist das?“, fragte er leise, aber Lilian schüttelte unwissend den Kopf. „Ich habe keine Ahnung.“ Aber das Merkwürdigste geschah, als Lilian den roten Edelstein berührte. Sie gab sofort einen spitzen Schrei von sich und ihre Hand, mit der sie den Stein berührte hatte, fühlte sich an wie glühendes Feuer. Beinahe sofort nahmen ihre Augen den goldenen Schimmer ihrer magischen Kraft an und ihre Haare wurden wie von Zauberhand plötzlich schneeweiß. Zeit und Raum verloren an Bedeutung für die Hexe und sie spürte eine große magische Kraft in sich aufsteigen. Der Edelstein war verschwunden – es war, als wäre er in ihren Körper eingedrungen und würde sich dort einnisten, obwohl sie wusste, das dem nicht so war. Ganz im Gegenteil nahm ihre Magie die Magie des Edelsteins völlig freiwillig und recht gierig in sich auf. Eine Vision nahm sie gefangen und im gleichen Moment wusste sie, was mit ihr geschehen war. Sie war erwacht. Die Berührung mit der Magie des blutroten Steins brachte sie dazu, zu erkennen, das sie die neue „Seherin“ war. Jason war gleichzeitig ziemlich das Herz in die Hose gerutscht, als diese seltsame Veränderung mit Lilian geschah. Er hatte Angst, denn er wusste nicht, was da passierte. Diese seltsame Farbe ihrer Augen erkannte er sofort wieder und nun war ihm auch klar, dass er sich das nicht eingebildet hatte. Die goldenen Augen starrten ins Leere und Lilian war gänzlich unbewegt, als ihre Haare sich ebenso seltsam veränderten. „Was zum...?“, flüsterte er voller Ehrfurcht und wusste gleichzeitig überhaupt nicht, was er tun sollte. Aber am meisten erschrak er, als das Mädchen schließlich besinnungslos zu Boden glitt und er sie im letzten Moment auffangen konnte, bevor sie hart aufschlug. „Lilian!“ Sie zitterte stark und war sehr blass, obwohl ein leichtes Schimmern von ihr auszugehen schien. „Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte sich der Fußballer verzweifelt. Er wusste nicht wirklich Rat, er wusste nur, das er Hilfe brauchte. Nachdem er einmal tief Luft geholt hatte, zog er mit zitternden Fingern sein Handy aus der Tasche hervor und wählte. Es tutete mehrfach, bevor jemand abnahm. „Ja?“, meldete sich die klare Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. „June? Ich bin’s, Jason. Ich brauche deine Hilfe!“ Wird fortgesetzt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)