So finster wie die Nacht von BinaLuna ================================================================================ Kapitel 15: Ultimatum --------------------- Kapitel 15 ~ Ultimatum June war mit ihren Nachforschungen endlich zu einem Ergebnis gekommen. Obgleich Ergebnis vielleicht zu viel gesagt war, denn so recht schlau wurde sie noch immer nicht aus dem, was nun vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Ein Freund ihres Vaters war es schließlich gewesen, der die Buchseite für sie übersetzt hatte. Dieser war Anfang der Siebziger Jahre von Deutschland nach Großbritannien übergesiedelt und hatte die Sütterlinschrift seinerzeit noch in der Schule gelernt. Das Resultat dessen überraschte June über alle Maßen, denn sie hatte mit so ziemlich allem gerechnet – nur nicht damit. June zog die Augenbrauen zusammen und griff dann beinah automatisch nach ihren Autoschlüsseln. Höchste Zeit, dass Ryan und Jason davon erfuhren. Außerdem war sie dankbar dafür, sich zumindest für den Moment von dem leisen Gedanken abzulenken, der sich in ihrem Unterbewusstsein eingenistet hatte und vor dem sie sich eigentlich fürchtete. Müde schreckte Ryan von der Couch hoch, als es an der Tür klingelte. Er hatte nur am Vormittag gearbeitet und den halben Nachmittag verschlafen. Da es aber nur eine Person gab, die er im Moment erwartete, war er schnell auf den Beinen. „Hi, June.“ Ryan lächelte unwillkürlich, so wie er es fast jedes Mal tat, wenn er sie sah. Es geschah ganz von allein – ohne, dass er groß darüber nachdachte. Doch dieses mal wurde er sogleich wieder ernst, als er ihr nachdenkliches und besorgtes Gesicht sah. „Hallo“, murmelte June. Ryan wollte schon fragen, ob etwas vorgefallen war, als sie eintrat. „Ich habe die Übersetzung. Das solltest du dir ansehen“, sagte sie ohne weitere Umschweife. Ryan nickte und ging dann mit ihr ins Wohnzimmer. Vorher warf er noch einen flüchtigen Blick auf Jasons Zimmertür. Sein Bruder war noch immer nicht wieder von der Schule zurück und so langsam aber sicher keimte Sorge in Ryan auf. June breitete derweil die Übersetzung auf dem Tisch aus. „Es ist ein Lied.“ Ryan blinzelte verwundert. „Ein Lied?“ Er setzte sich neben sie auf die Couch und spähte neugierig über ihre Schulter. „Genauer gesagt ein altes Kinderlied“, erklärte June. Geistesabwesend fuhr sie mit den Fingerspitzen über das Papier. „Ein Bekannter meines Vaters, der in Deutschland aufgewachsen ist, hat den Text für uns übersetzt. Ich war erstaunt, als er mir mitteilte, dass er es nicht nur ins Englische übertragen könne, sondern auch wüsste, was es ist. Es ist ein Lied – eine Sage, die er in seiner Kindheit gehört hat.“ Ryan ahnte bereits, dass die Geschichte damit noch kein Ende hatte, denn June spielte immer wieder an ihrem Ohrring herum, wie sie es nur tat, wenn sie nervös war. „Ehrlich gesagt“, fuhr June fort, „für etwas, das man Kindern vorsingt, ist es ziemlich gruselig, fast schon brutal. Die Rede ist hier immer wieder von Bluttrinkern und Wiedergängern.“ „Wie in den Berichten, die du über den Orden der Ewigen Nacht gefunden hast“, entfuhr es Ryan. „Es geht also wieder um Vampirismus?“ Er zog eine Augenbraue nach oben. Langsam nickte June. „So, wie ich es verstanden habe – ja.“ Ihr Verstand weigerte sich noch immer an solche Dinge zu glauben. Aber – ganz gleich – wie rational ihre Gedanken für gewöhnlich waren, so musste sie zugeben, dass sich bei ihr Zweifel eingeschlichen hatte nach all den merkwürdigen, zum Teil verstörenden Ereignissen der jüngsten Zeit. „Aber nichts, was dort steht, hilft uns weiter oder beantwortet unsere Fragen“, murmelte Ryan ein wenig skeptisch. „Oder wir übersehen etwas“, warf June ein. „Aber was?“, folgerte Ryan daraus logischerweise. June zuckte beinah resigniert mit den Schultern. „Ich weiß es wirklich nicht“, gab sie zu. „Umso mehr wir erfahren, desto verwirrender erscheint mir alles. Mein Leben kam mir niemals langweilig vor, aber verglichen mit dem, wie es jetzt ist, war es das wohl.“ Ryan verschränkte die Hände hinterm Kopf. „Von mir aus kann es dann ruhig wieder langweilig sein“, seufzte er. „Ich mache mir in letzter Zeit Sorgen um Jason.“ Zögerlich schaute er sie von der Seite an. „Und ich mache mir Sorgen um dich“, fügte er hinzu. Er kam nicht dazu weiter zu sprechen, denn in diesem Moment fiel die Haustür ins Schloss. June und Ryan wechselten einen Blick und gingen dann beide in den Flur. Jason wirkte müde und fast ein wenig verloren, als er dort vor den beiden stand. Ryan hatte das Gefühl, er hätte wieder den kleinen Bruder vor sich, den er als Kind immer geärgert hatte. „Was ist passiert? Du bist spät dran.“ Mit seinen Gedanken war Jason ganz woanders gewesen, weswegen er nun leicht zusammenzuckte. „Ähm... was?“ „Du bist spät dran“, wiederholte Ryan. „Ich... habe mich noch mit einer Klassenkameradin unterhalten und dabei wohl die Zeit vergessen“, winkte Jason schnell ab. „Ich muss jetzt Hausaufgaben machen.“ Offensichtlich lag ihm viel daran endlich in sein Zimmer verschwinden zu können. Er hatte fast ein schlechtes Gewissen, als er seine Zimmertür hinter sich zuzog. Aber er konnte sich noch immer nicht entscheiden, was er tun sollte. Immerhin hatte er Lilian versprochen, dass ihr Geheimnis bei ihm sicher war. Andererseits wollte er auch Ryan und June nicht belügen. Schlimmer noch – nun wusste er wie gefährlich es tatsächlich war, wenn sie zu arglos weiter forschten. Diese Entscheidung konnte ihm niemand abnehmen und am liebsten hätte er sich für Tage in seinem Bett verkrochen. „Das war eigenartig“, meinte Ryan, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrten. June kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, das hinter dieser kleinen Bemerkung Ryans große Angst um seinen jüngeren Bruder steckte. Sie machte ein bekümmertes Gesicht. „Jason sagte etwas von einer Klassenkameradin. Ich frage mich, ob er das Mädchen von neulich meint.“ Der Vorfall mit der ohnmächtigen Schülerin war ihr lebhaft in Erinnerung geblieben. Fahrig fuhr sich Ryan mit den Fingern durch die hellbraunen Haare. „Durchaus möglich.“ Doch mit seinen Gedanken war er gar nicht richtig bei der Sache. Eine ganze Weile musterte June ihn, während er vor ihr auf und ab lief. Schließlich schüttelte sie leicht den Kopf und erhob sich vom Sofa. „Ich sollte jetzt besser nach Hause fahren. Wir können ja morgen weiter reden.“ Als Ryan ohne Vorwarnung nach ihrer Hand griff, blinzelte sie überrascht. „Geh nicht“, bat Ryan. June machte große Augen und brachte keinen Ton heraus. „Ich meine... es wird bald dunkel“, versuchte sich Ryan – offenkundig verlegen – irgendwie zu rechtfertigen. „Nach all dem wäre mir wohler zumute, wenn du heute Nacht hier bleibst.“ Er zögerte und fügte dann leise ein „Bitte“ hinzu. Mona erwachte, als die Sonne unterging. Ihre Glieder fühlten sich schwer an, wie Blei, und ihre Augen brannten. Die Wunden und Schrammen an ihrem Körper waren dank ihrer vampirischen Fähigkeiten längst verheilt, aber sie spürte noch immer ein Brennen in sich, das schlimmer war als alles andere. Wenn sie die Augen schloss, sah sie genau die Ereignisse der letzten Nacht vor sich... „Du weißt wirklich nicht, wann du die Finger von etwas lassen solltest!“ Noch ehe diese Worte verhallt waren, spürte Mona einen dumpfen Schlag. Benommen ging sie zu Boden. Als sie vorsichtig den Kopf anhob, erblickte sie ein Paar makellos gepflegter Designerschuhe. Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Du hättest auf eurem Anwesen bleiben sollen. Dort ist es sicherer für dich“, warnte Marguérite mit betont gelassener Stimme. Sie neigte den Kopf zur Seite. „Du merkst einfach nicht, wenn etwas deine Fähigkeiten übersteigt.“ Der abartig, mitleidige Ton in Marguérites Stimme mobilisierte Monas Kräfte – innerhalb von Sekundenbruchteilen war sie auf den Beinen und brachte sicherheitshalber einen Abstand zwischen sich und Marguérite sowie Daniel, welcher sie von einer Mauer herab angrinste. „Was wollt ihr von mir?“, stieß sie den beiden zischend entgegen. „Und wieder schätzt du deinen Wert falsch ein“, erwiderte Marguérite. „Wer sagt dir denn, dass wir etwas von dir wollen?“ Mit einem Satz stand Daniel plötzlich neben Mona. „Genau“, pflichtete er seiner Partnerin bei. „Du kommst uns lediglich in die Quere.“ Mona biss die Zähne zusammen, war aber ansonsten stolz auf sich, dass sie keine Miene verzog. Angst konnte sie sich in dieser Situation nicht leisten. Derzeit überwogen ohnehin die Wut und die Enttäuschung über den Verlust ihres Amulettes, die in ihrem Inneren brodelten. „Was ihr wollt, ist mir egal. Ich gehe nirgendwohin.“ „Sei doch nicht dumm“, lachte Daniel. „Wir geben dir die Chance, deine Haut zu retten und dafür musst du nichts weiter tun, als einmal auf uns zu hören und dich aus allem heraus zu halten.“ Er zog spöttisch die Mundwinkel nach oben. „Ich finde, das ist schon mehr als liebenswürdig von uns, oder?“ Mona würdigte ihn keiner Antwort und reckte ihren Angreifern nur kühn das Kinn entgegen. Gleichzeitig fragte sie sich, warum die Vampire so viel Interesse an etwas hatten, dass sie doch eigentlich gar nicht betraf. Oder doch? Daniel schien ihr nachdenkliches Schweigen richtig zu deuten. Er grinste. „Weißt du, wir sehen einfach genauer hin, während du dich nur auf eine Sache versteifst“, meinte er bedeutungsvoll und doch gleichzeitig abgedroschen. Und tatsächlich waren Marguérite und Daniel nicht allein Monas wegen hier aufgetaucht. Nein, sie suchten ebenso nach dem Mann, an dem sich Daniel im wahrsten Sinne des Wortes die Finger verbrannt hatte. Es war die sonst so kühle Marguérite, die schließlich die Nerven verlor und einen angriffslustigen Schritt auf Mona zuging. „Du wirst es noch bereuen, dass du nicht abgehauen bist, als du noch die Zeit dazu hattest“, knurrte sie und ließ dabei ihre Fangzähne aufblitzen – eine Herausforderung, die man schwerlich missverstehen konnte. Mona wappnete sich schon, aber Marguérite war eine Sekunde schneller und schleuderte Mona unbarmherzig zu Boden. Als diese sich aufrichten wollte, packte Marguérite ihren Schädel und schleuderte sie mit voller Wucht gegen eine steinerne Mauer. Sterne tanzten vor Monas Augen. Daniel tauchte hinter ihr auf und presste ihr die Hände auf den Rücken. „Du hättest auf uns hören sollen“, flüsterte Daniel nah an ihrem Ohr. Sein unbekümmertes, freches Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. Wahnsinn blitzte für einen winzigen Moment in seinen blauen Augen auf. Mona zuckte zusammen, als er eine Klinge aus Stahl in ihren Arm bohrte. Ein Gutes hatte der Schreck jedoch – er brachte sie dazu, aus ihrer Starre zu erwachen und endlich zu handeln. Abrupt warf sie ihren Kopf in den Nacken, wodurch sie Daniels Nase traf, der zu dicht hinter ihr gestanden hatte um noch rechtzeitig zu reagieren. Er ließ sie fluchend los und verlor dabei sein Messer. „Miststück“, fauchte er. Er setzte zum Sprung an, doch dann ging jäh ein Ruck durch seinen Körper. Mona blickte misstrauisch auf. Zunächst wollte sie ihren Augen nicht trauen. „Eve...“, murmelte sie. Eve bog Daniels Arm unsanft nach hinten und das, obwohl der Mann wesentlich größer war, als sie selbst. Der Schein konnte allerdings trügen – das galt insbesondere für die Welt der Vampire, wo Stärke von anderen Faktoren abhing. Die zierliche Eve hatte Daniels Messer aufgehoben und hielt es diesem nun an die Kehle. „Ihr solltet gehen“, sagte sie mit leiser Stimme. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. „Sofort!“ Marguérite fauchte leise und straffte dann die Schultern. „Daniel“, sagte sie ohne diesen dabei anzusehen, „für heute ist es genug.“ Daniel wollte schon lautstark protestieren, als seine Erinnerung an die scharfe Klinge zurückkehrte. „Warum?“, brachte er mit unterdrücktem Zorn hervor. „Weil es derzeit das Klügste ist“, lautete Marguérites schlichte Antwort. Ohne eine weitere Silbe zu verlieren, wandte sie sich ab und verschwand in die rabenschwarze Nacht. Eve ließ Daniels Arm los. „Geh!“, befahl sie. Er wusste, dass er ohne seine Partnerin kaum eine Chance gegen zwei Gegnerinnen hatte und so zog er sich widerwillig zurück, jedoch nicht ohne den beiden Frauen zuvor noch einen finsteren Blick zu zuwerfen. „Das werdet ihr büßen!“ Dann war auch er verschwunden. Mona gab einen erleichterten Seufzer von sich. „Danke, Eve. Ich weiß nicht...“ „Ruhe“, schnitt Eve ihr eisig das Wort ab. Abwehrend hob sie die Hand. „Du solltest mir nicht danken. Dazu hast du nicht den geringsten Anlass. Ich bin nicht hier um dich zu retten. Ich will dich warnen.“ „Warnen... wovor?“, fragte Mona, obwohl sie die Antwort gar nicht hören wollte. „Du hättest aufhören sollen Fragen zu stellen, denn damit hast du gegen den Orden gehandelt.“ Eve blickte ihr fest in die Augen. „Solltest du dich nur noch ein einziges mal gegen Lionel stellen und seinen Anweisungen zuwider handeln, so werde ich dich in Zukunft als meine Feindin ansehen und dich selbst vor den Oberen anklagen.“ Mona starrte die Decke ihres Zimmers an. Trotz allem war sie hierher zurückgekehrt. Aber warum? Die Antwort war simpel. Wohin hätte sie sonst gehen sollen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)