So finster wie die Nacht von BinaLuna ================================================================================ Kapitel 17: Mit dir ------------------- Kapitel 17 ~ Mir dir June hatte sich ein T-Shirt von Ryan geliehen, welches natürlich viel zu groß war und ihr bis auf die Oberschenkel reichte. Bei diesem Anblick musste Ryan schmunzeln. Die junge Frau, die sonst sehr bedacht ihre Kleidung auswählte, so zu sehen, hatte etwas durchaus Erheiterndes an sich. Wenn Ryan an die letzte Gelegenheit zurück dachte, bei der June seine Klamotten getragen hatte, wurden seine Wangen ganz heiß. Schnell verscheuchte er den Gedanken. Es war einer dieser Vormittage, die man mit guten Vorsätzen, aber wenig Lust begann und eher seine Zeit vertrödelte, was nicht unbedingt das Schlechteste war, was man tun konnte. Ein klein wenig Ruhe war sogar ganz erfrischend. Entspannt hatte June im Wohnzimmer auf dem Fußboden platz genommen und saß nun vor Ryans altem Plattenspieler, den er irgendwann mal auf einem Flohmarkt gekauft hatte. Lächelnd strich sie mit den Fingerspitzen über die glatte Oberfläche. Keinerlei Staub befand sich darauf, was einerseits überraschend war bei Ryans fehlendem Ordnungssinn und andererseits darauf schließen ließ, das dieses Gerät noch immer benutzt wurde. Sie warf einen Blick auf die dazugehörigen Vinyl-Platten. Pink Floyd, Led Zeppelin, Bob Dylan – Ryan stand offensichtlich nach wie vor auf klassische Rockmusik. Ryan beugte sich von hinten über June, reichte ihr ein Tasse Tee und grinste sie an. „Ich stehe nicht nur auf alten Kram“, meinte er und legte demonstrativ eine CD ein. June lächelte unverbindlich. „Ich habe mich ja gar nicht beschwert.“ Er setzte sich neben sie auf den Teppich, als gerade die ersten Töne von Joe Bonamassas „Steal your heart away“ erklangen. Früher hatten sie viele Sonntage auf diese Weise verbracht – nichts tuend, aber dafür zufrieden. Ryan mochte die friedliche Stimmung, welche dabei entstand, obwohl er sonst ein eher unruhiger Geist war. Vielleicht, dachte er manchmal bei sich, waren diese Tage auch nur mit June schön. Nachdenklich wandte er den Kopf in ihre Richtung. „Hast du es eigentlich je bereut mit mir zusammen gewesen zu sein?“, fragte er aus einem plötzlichen Impuls heraus. Als er Junes erstaunten Blick bemerkte, verfluchte er sich sogleich für seine unbedachte Frage. „Nein. Niemals“, erwiderte sie ebenso schlicht, wie aufrichtig. Nun war es an Ryan überrascht zu sein. „Wirklich nicht?“ Junes sanftes Lächeln wärmte sein Herz. „Wirklich nicht“, bestätigte sie. „Oh, ich habe oft auf dich und seinen Leichtsinn geschimpft, das kannst du mir glauben. Du warst wie ein großes Kind, das man besser im Auge behielt.“ Sie lehnte sich leicht an seine Seite – eine vertraute Geste. „Aber nein, unsere gemeinsame Zeit habe ich niemals bereut.“ Ryan wollte etwas erwidern, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Sie sprach zwar in der Vergangenheit, aber vielleicht war noch nicht alles verloren, was sie beide einst verband. Dieser Gedanke ließ Ryan ein wenig zur Ruhe kommen. Er musste nicht weiter fragen, musste heute nicht alles erfahren – dieses Band zwischen ihnen würde nicht einfach reißen. „Mit dir...“, setzte Ryan an. June blickte fragend auf. Er grinste – wieder mit seiner gewohnten Leichtigkeit. Er würde immer zu ihr stehen, das wusste er nun. „Mit dir bin ich immer glücklich.“ Bin – nicht war. „Ich werde nach der Schule mit zu dir kommen und sehen, was ich tun kann. Und wenn ich dafür mein Geheimnis preis geben muss, dann ist es eben so!“ Lilian hörte ihre eigenen Worte noch immer klar und deutlich. Aber als sie nun mit Jason vor dessen Wohnung stand, wurde ihr doch ein bisschen mulmig zumute. Indem sie ihr Geheimnis auch vor anderen Leuten preisgab, machte sie sich verwundbar. Außerdem – sie erhielt ja nicht jeden Tag die Gelegenheit das Zuhause ihres Schwarms zu sehen. Dementsprechend nervös stand sie nun hinter Jason, der gerade seine Tasche nach dem Haustürschlüssel durchwühlte. Bevor er aufschloss, schaute er sich noch einmal zu Lilian um. „Alles okay bei dir?“ Lilian nickte, obgleich ihr etwas bang ums Herz war. „Ja, natürlich“, beeilte sie sich zu sagen. Sie wusste, wie viel auf dem Spiel stand und das es nicht allein um ihre Sicherheit ging. Jason bemerkte ihre Unsicherheit, besaß aber genug Taktgefühl. um darüber hinwegzusehen. „Bin wieder Zuhause“, rief er, als er die Tür aufschob. Ein kurzer Blick nach rechts auf den Boden bestätigte ihm, dass June nicht gegangen war – ihre Schuhe standen noch immer dort. Ryan streckte seinen Kopf aus der Küche heraus. „Oh, du hast ja Besuch mitgebracht“, stellte er sogleich fest. Lilian rang sich ein Lächeln ab. „Hallo. Ich bin Lilian, Jasons Klassenkameradin.“ Grinsend hielt Ryan ihr die Hand hin. „Und ich bin Jasons Bruder Ryan.“ Er wandte den Kopf zur Seite und blickte Jason dabei an. „Wusste gar nicht, dass du seit neuestem eine Freundin hast“, meinte er augenzwinkernd. Über die freche Bemerkung ging Jason einfach hinweg. Er war ganz froh, als June schließlich in den Flur kam. Wie es sich gehörte stellte er sie und Lilian einander vor. Zwar waren sich die beiden Frauen schon einmal begegnet, aber zu diesem Zeitpunkt war Lilian bewusstlos gewesen. Verstohlen musterte Lilian die junge Frau. Die Tatsache, dass diese einer Männershirt trug und offensichtlich nicht erst seit zehn Minuten hier war, brachte die Hexe aus dem Konzept. Was sie daraus folgerte, entsprach zwar nicht der Wahrheit, ließ sie aber feuerrot anlaufen. „Freu... freut mich sehr“, stammelte sie unbeholfen. „Ich hoffe, ich störe nicht.“ „Das tust du nicht. Keine Sorge“, entgegnete June freundlich. „Möchtest du einen Tee? Oder Kaffee?“ Lilian schüttelte den Kopf, wusste aber ansonsten nicht so recht, was sie sagen sollte, weswegen sich Jason einschaltete. „Wir wollten eigentlich mit euch beiden reden. In Ruhe“, setzte er an. Ryan wirkte überrascht, nickte aber und deutete flüchtig den Gang entlang. „Dann last uns doch ins Wohnzimmer gehen“, schlug er vor. Die ernsten Blicke der Schüler hatten ihn neugierig gemacht, doch noch ahnte er nicht im entferntesten, worauf das alles hinauslaufen sollte. Nervös spielte Lilian an ihrem Ring herum. Sie trug nur ganz selten Schmuck, war jedoch heute ganz froh darüber, weil sie nicht wusste, wohin sie sonst mit ihren Händen sollte. Jason warf einen knappen Blick auf die Kopie der Übersetzung, welche auf dem Couchtisch vor ihnen lag, dann tippte er mit dem Finger darauf. „Ihr solltet damit aufhören“, sagte er schließlich – langsam und nachdrücklich. „Womit aufhören?“ Ryan zog eine Augenbraue nach oben. „Mit euren Nachforschungen“, antwortete Jason, weil sein Bruder offenbar nicht verstand, was er damit meinte. Einen Moment lang schwieg der Junge, wog seine nächsten Worte sorgfältig ab. „Ihr seid da an ein paar ganz üble Typen geraten. Und diese Spur lockt euch vielleicht geradewegs in eine Falle.“ „Ein paar Halbstarke und Spinner sollen ganz üble Typen sein? Du machst Witze.“ Ryan lachte, merkte aber selbst sehr schnell, wie unsicher das klang. „Das ist kein Witz“, widersprach Jason. „Glaub mir, ich wünschte, es wäre ein Scherz, aber das ist es leider nicht.“ June hatte die Arme verschränkt und schaute skeptisch drein. „Ihr wisst also, was das für Leute sind.“ Sinnlos dies als Frage zu formulieren. „Darüber hinaus haltet ihr sie für gefährlich, aber ich wüsste schon gern, warum. Mal abgesehen von den ganz offensichtlichen Gründen.“ Lilian und Jason tauschten einen Blick miteinander. Ob man ihnen glauben würde? Jason hielt es – obgleich er wusste, dass es die Wahrheit war – ja selbst immer noch für verrückt. Letztendlich war es Lilian die ihren ganzen Mut zusammen nahm. „Wenn ich mich nicht irre, was ich offen gesagt bezweifle, dann haben wir es mit Vampiren zu tun.“ Für ein paar endlos erscheinende Sekunden herrschte Stille in der kleinen Wohnstube. Fast so, als hätte jeder der Anwesenden vergessen, wie man atmet. „Ich weiß, dass das vollkommen absurd klingt“, fuhr Lilian fort, die irgendwie das Gefühl hatte sich verteidigen zu müssen. In einer aufgeklärten Zeit wie ihrer war es so gut wie unmöglich geworden an blutsaugende Nachtgestalten zu glauben, aber eben nur so gut wie. Manchmal mussten sich die Menschen eingestehen, dass sie eben doch nicht alles verstanden, was sich zwischen Himmel und Erde abspielte. Als Lilian in die nachdenklichen Gesichter von June und Ryan blickte, erkannte sie, dass diese zwei sie nicht sofort für verrückt erklären würden. Sie hatten in den letzten paar Wochen viel gesehen und gehört, was ihren rationalen Verstand überstieg. Und nun lieferte jemand ihnen eine Erklärung – absurd oder nicht spielte dabei keine Rolle. Möglicherweise waren June und Ryan noch nicht bereit das alles zu akzeptieren, aber sie waren bereit Lilian zuzuhören, was die junge Hexe Mut schöpfen ließ. „Es ist die Wahrheit“, sagte Lilian. „Vampire existieren. Wie erklärt ihr euch sonst die beachtliche Körperkraft, die ihr zweifellos festgestellt haben müsst und wie, dass diese Leute mühelos durch Fenster in hoch gelegenen Stockwerken gelangen können?“ Sie atmete einmal tief durch. „Versucht euch zu erinnern – ihr seid ihnen bisher nur bei Dunkelheit begegnet, nicht wahr?“ Ryan kramte in seiner Erinnerung, stellte dabei fest, dass sie tatsächlich recht hatte. „Woher weißt du das alles?“, hakte June voller Verwunderung nach. Sie betrachtete Lilian nun mit ganz anderen Augen – aufmerksamer und eine Spur misstrauisch. Lilians Herz hämmerte in ihrer Brust. Und wenn ich dafür mein Geheimnis preis geben muss... „Ich bin eine Hexe“, antwortete sie langsam. Wieder diese Stille, die alles im Raum zu verschlingen schien. Wäre jetzt zur Unterstreichung von Lilians Worten irgendwo ein Blitz eingeschlagen, es hätte wohl niemanden ernsthaft gewundert. Die Ruhe war viel beunruhigender. Ryan räusperte sich. „So wie in Merlin & Mim?“, fragte er – einen alten Kinderfilm zitierend. „Ähm... ja, so in etwa“, gab Lilian ein bisschen verdutzt zurück. Mit einem solch eigenartigen Vergleich war sie bisher auch noch nie konfrontiert worden. „Ich zähle zu den so genannten weißen Hexen.“ „Was bedeutet, dass es auch schwarze Hexen gibt“, folgerte June daraus. „Ja, das ist richtig.“ Lilian nickte. „Sie praktizieren meist schwarze Magie zu ihrem eigenen Vorteil“, erklärte sie. „Und das tust du nicht?“, fragte Ryan. „Nein.“ Lilian klang beleidigt, obwohl sie ja eigentlich wusste, dass er es nicht böse meinte. Er wusste es einfach nicht besser. Dennoch wollte sie die Sache klarstellen. „Mein Zirkel und ich agieren zum Schutz der Menschen. Gegen Vampire und ihresgleichen.“ „Zirkel? Dann gibt es also noch mehr von deiner Sorte?“, hakte Ryan weiter nach. „Ja.“ Lilian sagte nichts weiter dazu, wollte nicht zu viel über ihren Zirkel preisgeben. Den anderen Hexen – allen voran ihrer Mutter – hätte es sicherlich missfallen. Lilian wagte sich schon jetzt auf dünnes Eis. Und das alles nur, weil sie Jason helfen wollte. Jason, der die ganze Zeit über schweigend zugehört hatte, beugte sich nun vor. „Begreift ihr nun, was ich damit meinte, als ich sagte, dass wir an ein paar üble Typen geraten sind?“ Sowohl Ryan, als auch June nickten. „Aber in einem Punkt irrst du dich, glaube ich.“ June nahm das Blatt mit dem alten Kinderlied zur Hand. „Inwiefern?“, wunderte sich Jason. „Das hier,“ June hielt den Zettel hoch, „ist keine Falle sondern eine Warnung. Man will uns damit sagen, dass wir unsere Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken sollen.“ Ryan schaute sie von der Seite an. „Warum glaubst du das?“ „Ganz einfach“, erwiderte June. „Solche Geschichten erzählt man Kindern um sie zu erschrecken und damit sie sich in Acht nehmen. Genau das sollen wir vermutlich auch tun. Uns in Acht nehmen.“ „Leichter gesagt, als getan.“ Seufzend lehnte sich Ryan auf der Couch zurück. „Es ist ja nicht so, als ob wir jede dieser Begegnungen provoziert haben.“ Ernst sah er seinen jüngeren Bruder an. „Tut mir leid, aber ich fürchte wir können die Nachforschungen nicht so einfach ruhen lassen, wie du glaubst. Wenn ihr mich fragt, sind wir in Gefahr, egal was wir tun, denn offensichtlich hegt jemand – warum auch immer – Interesse an uns. Zähneknirschend musste Jason zugeben, dass er damit nicht ganz unrecht hatte. Da fiel ihm plötzlich wieder etwas ein. Er kramte in seiner Hosentasche und zog das Bild hervor, auf dem die Frau namens Mona zu sehen war – und ein Mann, der Jason auf verblüffende Weise ähnelte. „Aber das...“ Ryan riss die Augen auf, als er einen Blick darauf warf. „Der Kerl sieht aus wie du... oder so, wie du vielleicht vor hundert Jahren ausgesehen hättest.“ Nun verstand er wirklich gar nichts mehr. Jason nickte. „Ja, das ist ist uns auch schon aufgefallen. Was mich momentan aber mehr interessiert, ist, ob du die Frau auf dem Bild auch wiedererkennst.“ „Die Frau?“ Ryan zog die Augenbrauen zusammen. Dann begriff er, worauf sein Bruder hinaus wollte. „Das ist die Frau aus dem Buchladen. Sie war es, die das Amulett verloren hat“, antwortete er. Also doch, dachte Jason. „Ihr Name ist Mona. Jedenfalls war das in dem Anhänger eingraviert.“ „Und sie soll auch ein Vampir sein?“, fragte June. Das Wort Vampir ging ihr noch immer schwer über die Lippen. „Das vermuten wir“, erwiderte Lilian. „Schwachpunkte...“, murmelte June nachdenklich vor sich hin. „Was?“, fragte Lilian verdutzt. June blickte auf. „Nun, ich wundere mich nur gerade, wo die Schwachpunkte dieser Wesen liegen. Bisher haben sich zwei von ihnen irgendwie... verbrannt, als Ryan sie berührte.“ Sie wusste selbst nicht, wie sie es besser ausdrücken sollte. „Das ist doch eigenartig, oder?“ Das schien auch Lilian zu finden. Sie blinzelte verwirrt und wandte sich dann an Ryan. „Hattest du etwas aus Silber bei dir?“, lautete ihre erste Vermutung. Ryan versuchte sich zu erinnern, verneint dann aber schließlich. „Nicht, dass ich wüsste. Tut mir leid.“ Das wurde ja immer merkwürdiger. Selbst Lilian konnte sich keinen Reim darauf machen. Davon hörte sie immerhin zum ersten mal. Ihr kamen nur die üblichen Dinge in den Sinn, um Vampiren zu schaden: Silber, Sonnenlicht, Feuer. Aber eine bloße Berührung? Vollkommen ausgeschlossen. „Du solltest hereinkommen. Es wird bald anfangen zu regnen.“ Eve saß wieder einmal auf ihrem Lieblingsplatz – dem alten Uhrturm – und ließ die Beine baumeln. Sie gab keine Antwort. Lionel trat neben sie, obgleich der schmale Sims kaum Platz bot, um sich zu bewegen. Besorgt schaute er zu ihr hinunter. Im fahlen Mondlicht sah sie noch blasser aus als sonst, hell und zerbrechlich wie Porzellan. „Lass uns hineingehen.“ „Die Kälte stört mich nicht“, erwiderte Eve geistesabwesend. Lionel packte ihre Oberarme und zog sie sanft hoch. „Ich weiß, dass dir die Kälte nichts ausmacht“, sagte er und die unterdrückte Heftigkeit in seiner Stimme ließ Eve aufhorchen. Schließlich ließ er sie seufzend los, als hätte er sich selbst dann besser unter Kontrolle. „Ich versteh nur nicht, warum du am liebsten hier bist – so weit fort von mir.“ Eve sah ihn lange aus ihren unergründlichen blauen Augen an, ehe sie ihm eine Antwort gab. „Ich bin nie weit fort. Ich bin immer bei dir.“ Sie legte ihre Hand über die Stelle, an der sein Herz lag. „Genau hier.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging sie ins Innere des Anwesens. Was wichtig war, hatte sie ihm gesagt. Mehr zählte für sie nicht. Für Lionel hätte sie alles getan und das aus Gründen, die nur sie selbst kannte. Mona zu verraten hatte sie nicht weiter geschmerzt – ihr Herz war längst aus Eis. Wie oft hatte sie schon darüber nachgedacht, jedes mal mit demselben Ergebnis. Lionel war das Einzige, was sie noch bewegte. Das Einzige, was sie davon abhielt ins Sonnenlicht zu treten. Lionel schaute ihr nach und erst als Eve sich über ihre Schulter hinweg zu ihm umblickte, löste er sich aus seiner Starre. „Es wird bald anfangen zu regnen“, sagte Eve und wiederholte damit wortgetreu seinen Satz. Für einen winzigen Augenblick lang glaubte Lionel den Ansatz eines Lächelns auf ihren Mundwinkeln zu erblicken, doch schon im nächsten Moment war er sicher, dass er sich geirrt haben musste. Ryan gähnte herzhaft, als er die Tür zur Buchhandlung aufschloss, musste sich dabei leicht dagegen stemmen, weil sie meistens klemmte. Heute war es seine Aufgabe den Laden zu öffnen, weswegen er früher als sonst aufgestanden war. In der Nacht hatte er kaum geschlafen, weil ihm Lilians Geschichte nicht mehr aus dem Kopf wollte. Doch das musste vorerst warten. Routiniert tastete er nach dem Lichtschalter. Jedoch erschreckte er jedes mal von Neuem, wenn er das Bild auf der linken Seiten des Ladens sah, einen Kunstdruck: Ophelia von John Everett Millais. Er konnte nicht verstehen, was die Leute daran fanden. Das Bildnis der im Wasser treibenden, toten Ophelia war für ihn immer nur gruselig gewesen. Warum hatte man das Bild überhaupt dort aufgehängt? Als erstes holte er die Pakete mit den Kundenbestellungen, die während der Nacht geliefert worden waren und schaltete anschließend die Computer an – zwei an der Zahl. Sein Chef war altmodisch und hielt noch immer nicht viel von diesen „neumodischen Dingern“, wie er sie gern nannte. Ryan gähnte noch einmal. Er mochte die Stille, die hier herrschte solange weder Kollegen noch Kunden sich in den Räumen befanden. Diese Momente genoss er am meisten – allein mit den Büchern. Ein kurzer Blick auf seine Armbanduhr verriet Ryan, dass er noch mehr als genug Zeit hatte. Für seine Verhältnisse war er ziemlich früh dran und so beschloss er noch die E-Mails zu kontrollieren für den Fall, dass es etwas Wichtiges gab. Er öffnete das entsprechende Programm und warf einen prüfenden Blick darauf. Das meiste davon war Werbung. „Grow your...“, weiter las Ryan die Betreffzeile lieber nicht vor. Grinsend schüttelte er den Kopf. Er fragte sich wirklich, warum man solche Nachrichten an Firmen schickte. „Was für ein Unsinn“, murmelte er vor sich hin, ehe er die nächste Mail öffnete. Die Adresse kannte er nicht, kein Betreff. Er zog eine Augenbraue hoch. Eins fiel ihm gleich ins Augen, noch bevor er den Text überhaupt gelesen hatte: Die Signatur lautete „Mona“. Fortsetzung folgt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)