So finster wie die Nacht von BinaLuna ================================================================================ Kapitel 19: Schwere Entscheidung -------------------------------- Kapitel 19 ~ Schwere Entscheidung Lionel saß über seinen Schreibtisch gebeugt da. Unter seinen braunen Augen lagen dunkle Schatten und er wirkte um Jahre gealtert, wobei dies natürlich ein Luxus war, der den Vampiren verwährt blieb. Man kam jedoch nicht umhin zu erwähnen, dass ihn etwas quälte. Konnte das, was er gespürt hatte der Wahrheit entsprechen? Damals – vor gut einhundert Jahren – hatte es niemanden gegeben, an den Mona ihre Kraft hätte weitergeben können. Die Kraft einer Seherin. Und plötzlich tauchte diese Macht wieder auf. Die Erkenntnis hatte Lionel vollkommen unerwartet getroffen und er konnte sich keinen Reim darauf machen, was geschehen war. Was ihm größeres Kopfzerbrechen bereitete, wusste er nicht: die Existenz einer neuen Seherin oder die Tatsache, dass Mona es zweifellos auch gespürt hatte. Es war bisher schon schwer genug sie im Zaum zu halten. Jetzt würde es nahezu unmöglich werden. Seufzend stieß sich Lionel mit den Händen vom Stuhl ab, erhob sich und trat auf den kleinen Balkon hinaus, über den sein Arbeitszimmer verfügte. Der kalte Wind blies ihm entgegen, wie der Hauch des nahenden Winters. Die undurchdringliche Wolkendecke gab keinen Blick frei auf den nächtlichen Sternenhimmel. Lionel fühlte sich für einen Augenblick genauso alt wie das Firmament. Eine einzige Sekunde reichte aus um ihm alle Entscheidungen und Ereignisse der vergangenen Jahre wieder vor Augen zu führen. Er umklammerte das Geländer bis ihm die Fingerknochen weiß unter der ohnehin schon blassen Haut hervortraten. Das hätte nicht passieren dürfen! Unter keinen Umständen! Der relative Frieden, den er mit aller Macht versucht hatte zu schaffen, verblasste nun langsam vor seinem Inneren Augen. Es hatte immer kleinere Rangeleien mit anderen Orden oder gar Übergriffe auf Hexen gegeben. Doch war die Bedrohung, die von den Hexen ausging, nie unmittelbarer gewesen. Sie hatten ihre mächtigste Waffe zurück erhalten. Lionel musste handeln, bevor jemand herausfand, wie diese zu benutzen war. Von einem schlagartigen Gefühl der Unruhe erfasst, verließ er das Zimmer. Er ging die Treppe hinunter und übersprang dabei fast jede zweite Stufe. Eile sah ihm sonst gar nicht ähnlich. Habe ich wirklich so viel Schuld auf mich geladen? Lionels Blick huschte zur dem blauen Deckengewölbe hinauf, welches dunkel und drohend über ihm lag. Eine vollkommen unsinnige Empfindung, die er schnell beiseite schob. In der großen Halle fand er schließlich diejenigen, nach denen er so übereilt gesucht hatte. War das wirklich eine gute Idee? Lionel maß der Frage keine weitere Bedeutung bei. Er hatte eigentlich auch keine andere Wahl – so glaubte er jedenfalls. Zwei Paare beunruhigend grüner Augen richteten sich auf ihn. Ninon und Noël Milton waren zwar keine eineiigen Zwillinge und doch war ihr Blick exakt gleich – unergründlich und ein klein wenig unheimlich. Dabei sahen die beiden ansonsten ganz harmlos aus: dunkelblonde, fast schon braune Haare und weiche Gesichtszüge. Mit vierzehn Jahren hatte man sie in Vampire verwandelt, was nun aber auch schon an die zweihundert Jahre her war. „Können wir etwas für dich tun, Herr?“ Ninons Stimme klang wie Vogelgezwitscher an einem Frühlingstag. Das Mädchen lächelte arglos, während er Bruder fragend den Kopf zur Seite neigte. „Ja, das könnt ihr in der Tat“, erwiderte Lionel. Der Blick, den man vom British Airways London Eye auf die Stadt hatte, war atemberaubend. Das 135 Meter hohe Riesenrad hatte sich seit seiner Errichtung im Jahre 1999 zu einem echten Wahrzeichen der Stadt entwickelt. In einer der Gondeln hatten bis zu 25 Menschen Platz. Heute waren es erheblich weniger, was eher ungewöhnlich war. Zwei der insgesamt vier Fahrgäste schienen sich überhaupt nicht für die Aussicht zu interessieren. Lediglich Daniel warf ab und an einen Blick auf die Themse hinunter. „Glaubst du, die wissen, wer er ist?“, fragte der vermeintlich junge Mann. Marguérite dachte darüber nach und schüttelte dann den Kopf. „Vollkommen ausgeschlossen“, erwiderte sie knapp. „Na ja...“ Daniel streckte sich. „Der Orden der Ewigen Nacht war schon immer zu dämlich um irgendetwas zu bemerken.“ „Ich glaube, die haben derzeit ganz andere Probleme“, wandte Marguérite ein. Ob sie damit das Erwachen der Seherin meinte, oder nicht, blieb offen. Sie äußerte sich nicht weiter zu diesem Thema. Daniel nickte. „Auch wieder wahr.“ Plötzlich stieß er ein verächtliches Schnauben aus. „Ich verstehe nicht, warum wir ihn nicht einfach killen.“ Wer war er? Marguérite kräuselte missbilligend die Lippen. Daniels Ausdrucksweise hatte sie nie sonderlich gemocht. Dieses mal wies sie ihn jedoch nicht zurecht. Stattdessen warf sie einen flüchtigen Blick auf seinen Arm. „Du weißt ja, was dir das eingebracht hat.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, wir sollten uns vorerst bedeckt halten.“ Vor Ärger lief Daniel rot an, hatte sich aber nach einigen Minuten wieder unter Kontrolle. Einzig der Blutdurst war geblieben und sang in seinen Ohren – verführerisch. Aus den Augenwinkeln schaute er zu den zwei anderen Passagieren hinüber, einem jungen Pärchen. „Es wird Zeit fürs Abendessen“, meinte er halblaut und grinste dabei. „Wehe, wenn du dabei wieder eine Sauerei veranstaltest und meine Schuhe ruinierst.“ Drohend hob Marguérite eine Augenbraue. Sie waren hier nicht ganz ungestört, aber für ihr Abendessen gab es hier wenigstens kein Entkommen. Seufzend gab sich Marguérite geschlagen. Man bekam Blutflecken so furchtbar schlecht ausgewaschen. Mona kam sich vor wie ein Einbrecher. In Gedanken korrigierte sie sich sogleich selbst: ein Ausbrecher traf wohl eher zu. Doch sie fühlte sich nicht nur komisch, weil sie hier heimlich durch die Dunkelheit schlich und sich hinter irgendwelchen Hecken und Sträuchern versteckte. Auch ihre Kleidung fühlte sich merkwürdig an. Sie hatte ihr Samtkleid aus praktischen Gründen gegen eine schwarze Hose und eine Bluse eingetauscht. Ein wenig unbehaglich zupfte sie daran herum. Außer dem Laptop, welchen sie zusammen mit Bram gekauft hatte, trug sie nichts weiter bei sich. Sie benötigte nicht mehr. Allein der Computer war wichtig, weil sie nicht wusste, wie sie sonst mit Ryan in Verbindung treten sollte. Er war die beste Möglichkeit um das verlorene Amulett zurück zu bekommen. Und sie bezweifelte insgeheim, dass sie noch einmal freiwillig hierher zurückkehren würde. „Darf ich fragen, wo du hinwillst?“ Mona fuhr vor Schreck herum, war aber geistesgegenwärtig genug um den Laptop mit dem Fuß ins Gebüsch zu schieben. Sie presste die Lippen fest aufeinander, als sie Katherine erkannte. Die hochgewachsene Vampirin schaute verächtlich, aber auch ein bisschen selbstgefällig zu Mona. „Ich dachte mir schon, dass du hier bist“, fuhr sie fort. „Dachtest du etwa, Lionel würde dich einfach so ziehen lassen? Er wusste, dass du versuchen würdest zu fliehen. Deswegen bin ich hier.“ Katherines Lippen verzogen sich zum einem wölfischen Grinsen. „Ich soll dich aufhalten. Notfalls mit Gewalt.“ Mona stellte sich breitbeinig hin, um so einen festeren Stand zu haben. „Versuch es doch“, knurrte sie. „Ich werde mich nicht länger gegen meinen Willen einsperren lassen. Ich gehöre Lionel nicht. Nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft.“ „Ich, ich, ich.“ Katherine ahmte ihren Tonfall nach. „Natürlich geht es wie immer nur um dich. Du bist ja auch etwas Besonderes. Die Prinzessin, die auf uns andere hinab sieht.“ Ihre Worten trieften förmlich vor Sarkasmus. Mona sagte nichts, wollte Katherine nicht noch mehr Angriffsfläche bieten. Stattdessen stellte sie sich auf den ersten Angriff ein, der sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Dazu war Katherine viel zu unbeherrscht und Mona hoffte, das für sich nutzen zu können. „In meine Augen bist du nichts weiter als ein Störfaktor. Das warst du schon immer.“ Der Boden unter Katherines Füßen knirschte und im nächsten Moment hatte sie sich auch schon auf Mona gestürzt. Mona hatte damit gerechnet, war aber dennoch ein bisschen beunruhigt, als ihr gewahr wurde, wie viel Kraft und Wut Katherine bereits in diesen ersten Vorstoß legte. Sie war tatsächlich bereit alle Waffen zu benutzen, die ihr zur Verfügung standen. Ihr Griff war wie ein Schraubstock, doch Mona wollte ihr keine Genugtuung gönnen und so schrie sie auch nicht auf, als Katherine die Hand noch fester um ihren Arm schloss. Katherine zog blitzschnell einen langen Dolch aus ihrem Stiefel, aber Mona gelang es sich zu entwinden und wich im letzten Moment zurück. „Ich frage mich wirklich, was du gegen mich hast?“, keuchte sie. „Tu nicht so unschuldig!“ Mit einem wütenden Schrei griff Katherine erneut an. Als er Eves Hand auf seiner Schulter spürte, wäre Lionel fast zusammengezuckt. Nicht etwa, weil er ihr Kommen nicht bemerkt hatte, sondern weil sie ihn sonst fast nie berührte, von dem Moment auf dem Turm mal abgesehen. Es freute und verstörte ihn gleichzeitig sie so nah an seiner Seite zu spüren. Ich bin immer bei dir. Ihre Worte klangen noch immer in seinen Ohren. „Du siehst bedrückt aus“, stellte Eve fest. Ihre Stimme klang nahezu unberührt, wie sonst auch. Lionel erwiderte nichts. Immerhin hatte sie ihm keine Frage gestellt. Es war eine Feststellung gewesen. Er wandte sich um und jetzt trennten sie nur noch wenige Zentimeter voneinander. Zögerlich musterte er sie. Sein Blick verharrte am längsten auf ihren blauen Augen und den perfekt geschwungenen Lippen. War Eve schon immer so sinnlich gewesen? Ja, das war sie – aber Lionel hatte sich immer gezwungen nicht daran zu denken, wenn er in ihrer Nähe war. Vielleicht war es der gequälte Ausdruck in seinen Augen, der Eve dazu veranlasste ihre Hand auf seine Wange zu legen. Womöglich auch etwas völlig anderes, er wusste es nicht und es war ihm egal. „Ich hätte dich nicht dazu zwingen dürfen deine Freundin zu verraten“, meinte Lionel – einfach, weil er das Gefühl hatte etwas sagen zu müssen. Es klang wie eine unbeholfene Ausrede. „Du hast mich nicht gezwungen und es geschah um unseren Orden zu beschützen“, entgegnete Eve ruhig. Fast zu leise um es zu verstehen, fügte sie hinzu. „Ich habe dich gewählt.“ Lionel hätte sie am liebsten umarmt, doch er wagte es nicht. Dass sie sich von dem abgestoßen fühlen könnte, was er als nächstes vorhatte, sorgte ihn am meisten – nicht die Konsequenzen. Er musste es ihr sagen. Und er wusste, wenn er es nicht jetzt tat, würde ihm wahrscheinlich irgendwann der Mut dafür fehlen. „Eve, ich... ich muss sie melden“, brachte er langsam hervor. „Die Oberen müssen von Mona erfahren.“ Er gab sich keinen Illusionen hin. Dies konnte Monas Todesurteil sein. Eve wich nicht zurück, verharrte in ihrer Position. „Ich verstehe“, sagte sie. Mehr nicht. Einfach nur „ich verstehe“. Trotz der Nüchternheit ihrer Worte, war es für Lionel wie eine Absolution. Eve würde ihm auch nach dieser Entscheidung nicht den Rücken kehren. „Jason, kommst du heute nicht zum Training?“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe einen wichtigen Termin.“ Okay, das war glatt gelogen. „Könnt ihr euch eine Ausrede für mich einfallen lassen?“ „Klar.“ Damit zogen seine Kameraden ohne ihn davon. Jason stieß ein frustriertes Schnauben aus, als sie fort waren. Eigentlich hätte er sich beim Fußball gut ablenken können, aber ihm war nicht danach. Lilian war heute nicht in der Schule gewesen. Seit dem gestrigen Nachmittag hatte er nicht mehr mit ihr geredet. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als eine Erklärung. Er dachte zurück. Lilians Mutter und ihre Großmutter hatten besorgte Blicke miteinander getauscht und ihn dann rausgeworfen. Zwar höflich, aber auch bestimmt. Als wenn etwas nicht für seine Ohren bestimmt war. „Verdammt...“ Er trat gegen ein Tischbein. Heftige, unbedachte Reaktionen dieser Art sahen ihm gar nicht ähnlich. Er wollte wissen, was mit Lilian passiert war. Die Ungewissheit machte ihn echt fertig. Abrupt griff er nach seiner Tasche und verließ danach die Schule, ohne dabei jemanden anzusehen. Etwas von dem, was er gestern aufgeschnappt hatte, wollte er gerne überprüfen. Mit der U-Bahn war es nicht weit bis zu Junes Wohnung und so stand Jason nur wenig später vor dem alten Stadthaus, welches im neogeorgianischen Stil erbaut worden war. Als er die Stufen hinauf ging, warf er einen kurzen Blick nach links. Dort stand ein Umzugswagen. Drinnen musste er sich an ein paar Möbelpackern vorbeischlängeln, die gerade einen Schrank nach oben trugen. Er ging weiter. Fast hätte die Frau ihn über den Haufen gerannt. Sie trug eine große Kiste und konnte ihn deswegen nicht sehen. Jason hatte schnelle Reflexe und konnte den Aufprall abfangen. Das Erste, was er sah, war ein honigblonder Haarschopf. Dann lugten ein paar braune Augen seitlich an dem Pappkarton vorbei. „Tut mir leid, ich habe dich nicht gesehen“, meinte sie. „Kein Problem. Soll ich Ihnen helfen?“ Jason wartete ihre Antwort gar nicht ab, denn die Kiste sah schwer aus. „In welche Wohnung sollen die Sachen?“, fragte er. Man musste kein Genie sein, um zu erraten, dass sie diejenige war, die hier gerade einzog. In das Appartement von Mrs. Miller, die ins Altenheim gegangen war, vermutete Jason. Also neben June. Die Frau ging voraus. „Stell die Sachen einfach hier vorne ab.“ Jason nickte und tat wie geheißen. Zum Dank schenkte sie ihm ein freundliches Lächeln. „Das ist lieb von dir. Vielen Dank.“ „Keine Ursache“, erwiderte Jason. Er nickte ihr knapp zu und wandte sich dann ab. Jedoch schielte er, als er bei June klingelte noch einmal hinüber. Er schätzte die neue Mieterin auf Mitte dreißig. Auf dem Umzugskarton hatte „Gray“ gestanden. Dann öffnete June die Tür. Sie trug ein altes, rotes Shirt und hatte einen Farbklecks auf der Wange. Offensichtlich arbeitete sie gerade an einer Illustration. Fast hätte Jason ein schlechtes Gewissen bekommen. Natürlich, sie kann sich nicht nur um uns kümmern, sie muss auch arbeiten, dachte er. „Störe ich gerade?“ Lächelnd schüttelte June den Kopf. „Nein, ich wollte sowieso gerade eine Pause machen.“ Sie sagte das, weil sie nett war und nicht etwa, weil es der Wahrheit entsprach. „Komm rein.“ Jason trat in den Flur. Er legte seine Jacke und die Schuhe ab, folgte June anschließend in die Stube. Der Raum diente ihr gleichzeitig als Arbeitszimmer. Neugierig warf Jason einen Blick auf den Schreibtisch. Das Bild, welches dort lag, kannte er noch nicht. „Ein neuer Auftrag?“ „Ja, ich habe gerade erst damit begonnen“, antwortete June. „Mal sehen, was daraus wird.“ „Gefällt mir“, meinte Jason anerkennend. Die Tatsache, dass June Kinderbücher illustrierte, hatte er immer ein bisschen amüsant gefunden, aber er mochte ihre Zeichnungen sehr. Eines ihrer Bilder hing sogar bei ihm und Ryan im Wohnzimmer. „Möchtest du etwas trinken?“ „Momentan nicht. Danke“, winkte Jason ab und ließ sich auf die Couch fallen. „Du hast ja eine neue Nachbarin.“ June zog einen Mundwinkel nach oben. „Ja, die Handwerker machen schon seit ein paar Tagen Lärm. Ich bin froh, wenn sie endlich mal fertig werden.“ „Ich bin ihr gerade auf dem Flur begegnet“, erzählte Jason. „Sie ist ziemlich hübsch, erinnert mich ein bisschen an diese Schauspielerin... Diane Kruger.“ June hob eine Augenbraue. „Nicht so hübsch, wie du natürlich“, fügte Jason deswegen breit grinsend hinzu. „Du bist eine Audrey.“ Damit meinte er Audrey Hepburn. „Vielen Dank auch“, entgegnete June erheitert. „Also, was hast du auf dem Herzen?“ Jason schaute sie ertappt an. Er wusste selbst nicht, was er erwartet hatte. Sie aufgesetztes Grinsen konnte sie offenkundig nicht täuschen. Er zögerte, aber nur kurz. „Es gibt da etwas, was mich seit gestern beschäftigt. Ich habe schon versucht mit Ryan darüber zu reden, aber der war keine große Hilfe.“ Der Junge zuckte leicht mit den Schultern. „Weißt du, was eine Seherin ist?“ „Eine Seherin?“ June sah ihn überrascht an. Jason nickte. June dachte darüber nach. „Kassandra würde mir als Erstes in den Sinn kommen.“ „Wer?“ „Kassandra“, wiederholte June. „Eine Figur aus der griechischen Mythologie. Angeblich hat sie den Trojanischen Krieg vorhergesehen.“ „So eine Art Hellseherin?“, hakte Jason nach. „So in etwa. Ihre Wahrnehmung überbrückt Zeit und Raum. Solche Leuten wurden entweder bewundert oder gefürchtet“, erklärte June. „Einigen wurden gar magische Kräfte nachgesagt.“ Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Allerdings kann ich dir auch nicht sagen, was davon stimmt. Das sind alles nur Vermutungen, die mal irgendwelche mehr oder weniger klugen Menschen angestellt haben.“ „Verstehe.“ Jason kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Was June sagte, leuchtete ihm ein. Aber war es wirklich das, was Lilian war? „Wieso interessiert dich das plötzlich?“, wunderte sich June. War das wieder ein Geheimnis? Lilian hatte ihn zumindest nicht gebeten Stillschweigen zu bewahren. Möglicherweise nur, weil sie zu verwirrt gewesen war. Jason selbst war es gar nicht so recht bewusst, aber insgeheim sorgte er sich doch um die junge Hexe. Jason blickte wieder zu June auf. In knappen Worten berichtete er ihr, was am Tag zuvor geschehen war. „Kurz bevor man mich dann hinaus geworfen hat, sagte ihre Großmutter etwas von einer Seherin“, schloss er. „Und... nun ja, ich gehe davon aus, dass sie Lilian damit gemeint haben.“ „Es klingt ganz danach“, stimmte June ihm zu. Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Das wird ja immer merkwürdiger.“ Sie hatte sich gerade an den Gedanken gewöhnt, dass Jasons Klassenkameradin eine Hexe war – also warum nicht auch eine Seherin. „Und was sagt Ryan dazu?“ Jason schnitt eine Grimasse. „Der hat gesagt, dass es bei Asterix auch mal einen Seher gab.“ Trotz der ernsten Situation musste June nun leise kichern. „Das ist typisch Ryan.“ „Ja, ist es“, brummte Jason. Carol Gray hatte gerade dem letzten Möbelpacker etwas Trinkgeld in die Hand gedrückt und die Tür hinter sich geschlossen. Sie ging in die Küche hinüber, wo noch überall Kartons herumstanden. Auf den meisten davon stand „Vorsicht Glas“, obwohl sich nichts Zerbrechliches darin befand. Carol konnte es nur nicht leiden, wenn man mit ihrem Eigentum nicht pfleglich umging. Sie hob die Tageszeitung vom Küchentisch auf. „Umwerfender Ausblick – zwei Tote nach Unglück im London Eye“ titelte die Sun. Zwei amerikanische Touristen waren nach einer Fahrt in dem Riesenrad mit Blutarmut aufgefunden worden. Beide erlagen noch in der Nacht ihrem Leiden. Die Polizei suchte nun nach zwei angeblichen Zeugen – einer Frau und einem Jugendlichen, die man dort kurz zuvor gesehen hatte. Carol schüttelte den Kopf. „Ihr werdet sie niemals finden“, murmelte sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)