So finster wie die Nacht von BinaLuna ================================================================================ Kapitel 27: Das Geständnis -------------------------- Kapitel 27 ~ Das Geständnis Mit großen Augen starrte Jason die junge Hexe vor ihm an. Ich bin hoffnungslos in dich verliebt. Diese Worten summten durch seinen Kopf. Vielleicht halluzinierte er ja auch schon. Nach dem Blutverlust wäre das wohl nicht mal überraschend. Doch nur ein Blick in Lilians ehrliche, hellbraune Augen überzeugte ihn vom Gegenteil. Lilian war wirklich in ihn verliebt! Noch während dieser Gedanke in Jasons Kopf Gestalt annahm, reagierte sein Körper bereits. Seine Hautfarbe wechselte schlagartig von kreidebleich zu knallrot. Mit seinen siebzehn Jahren hatte er noch nie eine richtige Freundin gehabt. Dementsprechend überrumpelt war er auch von Lilians freimütigem Geständnis. Dass sie sogar einen Teil dazu beigetragen hatte, ahnte er dabei natürlich nicht. Lilian mochte zwar bisher zu schüchtern gewesen sein um Jason direkt anzusprechen, aber ihre Hexenkräfte hatte sie durchaus das ein oder andere mal darauf verwandt, einen Liebesbrief verschwinden zu lassen, der an Jason adressiert war. Langsam machte sich eine unangenehme Stille zwischen ihren breit. Jason schluckte. „Danke für deine Zuneigung, aber ich...“ Zaghaft schaute er sie an – hilfesuchend beinah. „Tut mir leid, ich weiß nicht recht, wie man in so einer Situation reagiert. Das hat mir noch kein Mädchen gesagt.“ Er fuhr sich mit den Fingern durch seine Haare und wirkte dabei zutiefst verlegen. Dennoch schenkte er Lilian ein Lächeln, welches ihren Bauch kribbeln ließ. Das war wieder der Jason, den Lilian kannte und liebte. In letzter Zeit war er immer so angespannt, doch mit diesem verschämten Gesichtsausdruck sah er wieder ganz wie der unbeschwerte Junge aus, der er doch eigentlich war. Das war zumindest ein Trostpflaster dafür, dass Lilian keine richtige Antwort bekam. Sie war nicht davon ausgegangen, dass er ihre Liebe sofort erwiderte, aber ein ganz kleiner Teil in ihrem Herzen hatte das möglicherweise gehofft. Unnötig schwer wollte sie es ihrem Schwarm jedoch nicht machen. „Das ist schon in Ordnung.“ Jetzt, wo sie es ihm gesagt hatte, fühlte sie sich sogar ein wenig erleichtert. „Versprich mir einfach über meine Worte nachzudenken.“ Jason nickte. „Das werde ich.“ Seine Wangen glühten noch immer vor Verlegenheit. „Ach und... Lilian?“ Fragend sah sie ihn an. „Ja?“ Jason legte seine Hand über ihre und mit einem mal wurden seine Gesichtszüge ganz weich. „Danke.“ June hatte alles stehen und liegen lassen um zu Ryan zu gelangen. Er neigte nicht dazu sich in irgendeiner Form dramatisch darzustellen, weswegen sie genau wusste, dass tatsächlich etwas Schlimmes vorgefallen sein musste. Zum ersten Mal seit langem war June froh ein so kleines Auto zu fahren. Einen Mini Cooper. Das Ding mochte zwar aussehen wie ein besserer Einkaufswagen, hatte aber durchaus Vorzüge im dichten Londoner Stadtverkehr. Ihr Herz raste, als sie nervös an einer Ampel hielt. Ihre Finger schlossen sich verkrampft um das Lenkrad. Was in aller Welt mochte passiert sein? Ryan hatte wenig gesagt und dabei doch so verzweifelt geklungen. Ich brauche dich. June schossen die Tränen in die Augen. Ärgerlich wischte sie sie weg. Jetzt war wirklich ein ganz schlechter Zeitpunkt um zu heulen. Sie würde Ryan niemals im Stich lassen – und, wenn sie sich dafür mit einer ganzen Horde von Vampiren anlegen musste. Unterdessen hatte Carol den alten Laptop der Parkers in Betrieb gesetzt. Nicht ohne jegliche Schwierigkeiten, denn der Akku erfüllte nur noch rein dekorative Zwecke. Wäre sie eine ganz gewöhnliche Hexe gewesen, so hätte sie vermutlich mittels Magie mit ihrem Zirkel Kontakt aufgenommen. Doch da sie alles andere als eine gewöhnliche Hexe war und noch dazu eher eine Einzelgängerin, wählte sie andere Wege. Darüber hinaus hatte sie herausgefunden, dass die Kristallgoogle jene altmodische Kristallkugel in einigen Fällen um Längen schlug. Carol hegte eine vage Vermutung bezüglich Ryans außerordentlicher Fähigkeiten. Sie kannte niemanden sonst, der Vampiren nur durch bloße Berührung derartigen Schaden zufügen konnte. Aber sie wusste, dass es solche Menschen geben musste, denn es gab immer zwei Seiten einer Medaille. Wenn die Vampire Geschöpfe der Finsternis und des Mondes waren, so war Ryan ein Kind des Lichts. Carol zog urplötzlich die Augenbrauen zusammen. Kind des Lichts. An irgendetwas erinnerte sie das. Allerdings klingelte es an der Tür, bevor sie in der der Lage war diesen Gedanken zuende zu führen. Carol erhob sich seufzend um zu öffnen. Es war zwar nicht ihre Wohnung, aber die anderen hingen eigenen Sorgen nach. Als sie eine völlig atemlose, besorgte June auf der Türschwelle vorfand, schlich sich ein beinah nachsichtiges Lächeln auf ihre Lippen. „Er ist im Wohnzimmer“, sagte Carol nur und ließ sie vorbei. Ryan saß gebeugt auf dem Sofa und hatte das Gesicht in seinen Händen vergraben. „Ryan?“ Als er seinen Name hörte, blickte er langsam auf. Junes Fingerspitzen strichen sanft über seine Wange. Er hatte sie gar nicht kommen gehört. Schmerzhaft zog sich sein Herz zusammen. Bis dato hatte er es geschafft sich irgendwie am Riemen zu reißen, doch nun da er June sah, fiel seine Selbstbeherrschung in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Er umarmte sie wie ein Ertrinkender. „Sie hat ihn verletzt“, flüsterte er mit brüchiger Stimme. „Du hattest Recht. Ich hätte sie niemals hierher bringen dürfen. Es ist alles meine Schuld. Es wäre meine Aufgabe gewesen, Jason zu beschützen.“ Er wurde immer lauter. Trotz ihrer aufsteigenden Sorge um Jason und ihrer Neugier darüber, was eigentlich geschehen war, legte sie einen Finger auf Ryans Lippen. Er musste jetzt nichts sagen. Damit tat er sich nur selber weh. Mitfühlend legte sie ihre Arme um ihn und streichelte über seinen Rücken. Ein Schluchzen entrang sich Ryans Kehle. Mit zitternden Fingern klammerte er sich an ihrem Pullover fest. Es brach June fast das Herz ihn schwach und verletzlich zu sehen. Doch war es wirklich ein Zeichen von Schwäche, wenn man seine Gefühle so unverblümt zeigen konnte? Sie kannte den Ryan, der niemals den Mut verlor und der eigentlich für jeden ein Lächeln übrig hatte. Diese Seite an ihm war ihr jedoch nahezu unbekannt. Ihre Finger kraulten beruhigend seinen Nacken, als könnte sie seine Ängste damit vertreiben. Er fühlte sich warm an und doch spürte sie sein Zittern ganz deutlich. June wusste nicht, wie lange sie so dort saßen, bis Ryan sich beruhigt und das Zittern nachgelassen hatte. Sie schaute ihn an, woraufhin er versuchte ihrem Blick zu entkommen, weil er sich für seine Tränen schämte. Doch June legte ihm sanft aber bestimmt ihre Hände auf die Wangen. „Es ist nicht deine Schuld“, sagte sie leise. „Ich kenne niemanden sonst auf dieser Welt, der sich so für seinen kleinen Bruder einsetzt, wie du. Deswegen würde ich auch niemals glauben, dass es deine Schuld war.“ Ryan hätte ewig in ihre milden, haselnussbraunen Augen sehen mögen – es war wie Balsam für die Seele. Jedoch gab es Dinge, die gesagt werden mussten. „Mona hat Jason gebissen und nun ist er verletzt und sie fort.“ Langsam begann er zu berichten, was sich in der Wohnung der Parkers abgespielt hatte. Über die Tatsache, dass es Mona gewesen war, welche in ihre Wohnung eingestiegen war, schien June nicht sonderlich überrascht. Blass hingegen wurde sie, als Ryan von Jasons Verletzung erzählte. Der Junge war ihr ans Herz gewachsen, wie ein eigener kleiner Bruder. Jason hatte überlebt, aber das bedeute nicht, dass sie außer Gefahr waren – denn zwischen ihm und Mona bestand anscheinend über Generationen hinweg eine Verbindung. Für Letztere konnte die sonst so sanftmütige June keinerlei Mitleid aufbringen. Sollte sie sich doch zum Teufel scheren, schoss es June unversöhnlich durch den Kopf. Ryan war fertig mit seinem Bericht. Jetzt fühlte er sich müde, zerschlagen, aber auch irgendwie erleichtert. June hatte seinen Worten ohne Vorurteil gelauscht und auch jetzt war sie ihm noch ganz nah. Auch, wenn es traurig aussah, brachte Ryan ein kleines Lächeln zustande. „Warum liegt dir eigentlich so viel an mir?“ Dass es so war, daran bestand kein Zweifel. June beugte sich vor und küsste ihn hauchzart auf den Mundwinkel. „Das muss ich dir nicht erst erklären, oder?“ Mona rannte durch die Dunkelheit. Egal, wie sehr sie sich bemühte, sie war nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Von Panik erfasst, lief sie immer weiter bis ein harter Schlag in den Nacken ihre Flucht abrupt beendete. Unsanft ging Mona zu Boden und schlug sich die Knie auf. Vor ihren Augen tanzten bunte Punkte. Wut verdrängte für einen Moment lang die Verwirrung. Leise fluchend rieb sie sich den schmerzenden Nacken. „Wie oft willst du deinen Geliebten eigentlich noch töten?“ Die Stimme ließ Monas Inneres gefrieren. Nicht nur, dass dies scheinbar ihre schlimmste Befürchtung bestätigte – nein, sie wusste nun auch, mit wem sie es zu tun hatte. Sie hob zögerlich den Kopf und blickte in zwei kindliche und beängstigend schöne Antlitze. Kaum einer unter den Vampiren bekam die Zwillinge Ninon und Noël je zu Gesicht und doch wusste jeder, wer sie waren. Meistens hielt Lionel sie von anderen fern, weil sie unberechenbar waren. Obgleich war es nicht Angst, die sich in Mona ausbreitete sondern pure Verzweiflung. Hatte sie den Jungen wirklich getötet? David. Schon wieder. Ihre Hände, welche sie eben noch zu Fäusten geballt hatte, sanken nun schlaff hinab. Warum sich noch wehren? Damit würde sie das Endergebnis doch nur hinauszögern. Ninon kicherte fröhlich. „Siehst du, Bruder. Sie gibt von allein auf.“ Ihre grünen Katzenaugen funkelten vor Boshaftigkeit. Dank ihrer mentalen Fähigkeiten war sie in der Lage gewesen genau zu verfolgen, was sich in dem Haus zugetragen hatte. Sie wusste auch, dass Jason noch lebte. Nur ergötzte sie sich lieber an Monas Elend als ihr die Wahrheit mitzuteilen. Die dunkelhaarige Vampirin war viel zu aufgebracht um selbst Realität von Täuschung zu unterscheiden. Doch mit einem hatte Ninon nicht gerechnet. Nämlich damit, dass Mona sich nun wie ein Berserker auf sie stürzte. Der Orden hatte Mona alles genommen, was sie einst geliebt hatte. Und nun war sie es selbst, die jegliche Hoffnung zerstörte. Sie wusste es beim ersten Schritt. Dieser Kampf war aussichtslos. Aber vielleicht war ihr dadurch zumindest ein schnelles Ende vergönnt. Wie ein aufgescheuchtes Huhn lief Carol durch die Wohnung. Vielleicht machte sie ein wenig zu viel Aufhebens darum, dass sie ein kleines Puzzelteil für ihr Rätsel gefunden hatte, aber sie fand Euphorie durchaus angebracht. Im Grunde genommen hatte sie die Antwort die ganze Zeit über gekannt und ärgerte sich jetzt darüber. Das Naheliegenste verlor man leicht aus den Augen. „Ich weiß jetzt die Lösung.“ June und Ryan hoben beide den Kopf, als die Hexe unvermittelt im Wohnzimmer auftauchte. Ryan hatte sich dank June mittlerweile beruhigt und seine Stimme klang gefasster. „Was für eine Lösung?“, fragte er misstrauisch. Triumphierend grinste Carol ihn an. „Du“, sagte sie schlicht. „Du bist die Lösung.“ Ryan und June wechselten einen verwirrten Blick miteinander. Diese Reaktion ließ Carol schmunzeln. Den beiden war vermutlich gar nicht bewusst, wie oft sie zur selben Zeit das gleiche taten. „Geht es etwas genauer?“, hakte June nach. „Natürlich.“ Carol nickte. „Erinnert ihr euch noch daran, was ich vorhin gesagt habe? Dass eine Wiedergeburt immer einem bestimmten Zweck dient?“ Sie wartete keine Antwort ab, sondern fuhr gleich fort. „Genauso kann es vorkommen, dass zwei Schicksale dadurch untrennbar mit einander verbunden sind.“ Ryan starrte sie an, als hätte sie gerade irgendeine lateinische Weisheit von sich gegeben. June war schon einen Schritt weiter. „Redest du von Jason und Mona?“ „Nein“, winkte Carol ab. „Noch ein Versuch.“ Da dämmerte es June. Carol hatte es ja vor wenigen Sekunden selbst angedeutet. „Jason und Ryan“, stellte sie nicht ohne Überraschung fest. Carols breites Lächeln war Antwort genug. Ryan kratzte sich derweil am Hinterkopf. „Ich fürchte, das verstehe ich nicht ganz.“ „Die Geburt deines Bruders stand unter einem gefährlichen Stern. Vom Schicksal war es so bestimmt“, erwiderte Carol ruhig. „Aber dieses drohende Unheil hast du ausgeglichen. Dir war es vorherbestimmt deinen Bruder zu beschützen.“ Sie musterte ihn mit freundlichem Blick. „Aber hauptsächlich hat wohl etwas anderes dich geführt.“ „Und was?“, wollte Ryan wissen. Carol tippte gegen seine Brust. „Dein eigenes Herz war es.“ Sie schmunzelte, was ihr ein leicht diabolisches Aussehen gab. „Doch jetzt brauchen wir etwas anderes von dir.“ Jason erwachte, konnte sich aber nur mit Mühe dazu zwingen die Augen zu öffnen. Sein Kopf fühlte sich schwer an, ebenso wie seine restlichen Glieder. Er musste wieder eingeschlafen sein. Als er sich aufsetzen wollte, hielt in etwas zurück. Überrascht blickte er zur Seite. Lilian war selbst auf dem Stuhl eingedöst, doch sie hielt noch immer seine Hand. Schmunzelnd betrachtete er die schlummernde Hexe. Sie sah wirklich unheimlich niedlich aus. Und zum ersten mal in ihrer Nähe fühlte er ein angenehmes Flattern im Bauch. Das dringliche Klopfen an der Tür ließ ihn hochfahren. Etwas verlegen zog er seine Hand zurück. „Ja?“ Auch Lilian hob verschlafen den Kopf und rieb sich über die Augen. Carol betrat als erste den Raum. „Wie fühlst du dich jetzt?“, wandte sie sich an Jason. Der Junge lächelte bitter. „Könnte schlimmer sein.“ Carols Blick fiel auf den Verband um Jasons Handgelenk. Als sie ohne weiteres einen silbernen Dolch aus ihrer Tasche zog, zuckten alle zusammen. Selbst Lilian war jetzt hellwach. „Was soll das werden?“, fragte sie beinah feindselig. Beschwichtigend hob Carol die freie Hand. „Keine Sorge. Ich habe nicht vor Jason mit einem Messer zu attackieren. Bei so vielen Beschützern würde mir das auch bestimmt nicht gut bekommen.“ Sie klang amüsiert. Seufzend trat Ryan neben Carol und hielt ihr sein Handgelenk hin. „Ich glaube zwar immer noch nicht daran, aber bringen wir es endlich hinter uns.“ „Was hinter uns bringen?“ Jason blinzelte verwirrt. „Was geht hier vor?“ „Sieh einfach zu.“ Carol ließ die scharfe Klinge über Ryans Haut gleiten – so leicht, dass nur ein paar Bluttropfen flossen. Sie löste Jasons Verband ehe sie mit bestimmtem Griff Ryans Arm über Jasons Wunde führte, welche von dem Blut benetzt wurde. Lilian sog scharf die Luft ein. Jason zuckte zusammen und wollte seine Hand gerade wegziehen als er zu seiner Überraschung feststellen musste, dass die Verletzung sich zu schließen begann. „Was zum...?“ Mehr bekam er nicht heraus. Wie in aller Welt war so etwas möglich? „Simple Lösung“, meldete sich Carol erneut zu Wort. „Wenn Vampirismus eine Krankheit wäre, dann wäre Ryan das Heilmittel.“ Unterdessen war June an Ryans Seite getreten und hatte ein Taschentuch auf seine Wunde gelegt, doch auch bei ihm setzte der Heilungsprozess bereits ein. Sanft drückte er June an sich. Um sich selbst oder sie zu beruhigen – das wusste er nicht. Triumph flackerte in Carols Augen auf und etwas, das stark an Bewunderung erinnerte. „Du, mein Lieber, bist ein Vampirjäger“, meinte sie zu Ryan. „Und die Tätowierung auf deiner Brust beweist es.“ Ryan hatte lieber nicht danach gefragt, woher Carol von seiner Tätowierung wusste. Nachdem June ihm berichtet hatte, wie die Hexe nur mit ihrem Geist in Wohnungen eindrang, konnte er es sich in etwa denken. Woher kam das Mal auf seiner linken Brust und warum hatte er sich ausgerechnet für diesen Drachen entschieden? Und warum mussten alle Antworten, die sie fanden immer zu neuen Fragen führen. Ryan raufte sich leise fluchend die Haare. So fern lag des Rätsels Lösung gar nicht mal. Er musste sich nur endlich dazu überwinden einen Anruf zu tätigen. Doch nun stand er schon fünf Minuten in der Küche und starrte das Telefon an. Schließlich überwand er seine Bedenken und wählte endlich. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich eine fröhliche Stimme am anderen Ende der Leitung meldete. „Hi, Mum“, murmelte er etwas kleinlaut. Im Gegensatz zu seinem Vater empfand Ryan für seine Mutter keinen Hass. Doch manchmal kam sie ihm eher wie eine entfernte Verwandte vor, die man ein paar mal im Jahr anrief um sein Gewissen zu erleichtern. Er schämte sich für diesen Gedanken. Victoria Almond, genannt Vicky, war nicht gerade das, was man sich unter einer typischen Mutter vorstellte. Vielmehr war sie selbst wie ein großes Kind, das lieber Tagträumen nachhing anstatt sich mit der Realität auseinander zu setzen. Vicky war Anfang 50 und unterrichtete Yoga. Nachdem sie sich von Ryans Vater hatte scheiden lassen, hatte sie einen Bogen um alles gemacht, was sich auch nur im Entferntesten nach Ehe anfühlte. Doch flatterhaft wie sie war, lebte sie nun schon seit nahezu sechs Jahren mit einem gutmütigen Geschichtsprofessor zusammen – unverheiratet natürlich. „Ryan!“, rief Vicky erfreut aus. „Wie geht es dir?“ „Ganz gut, Mum“, antwortete Ryan möglichst knapp. Er hatte jetzt weder die Zeit noch die Nerven sich auf ein längeres Mutter-Sohn-Gespräch einzulassen. Vor seinem inneren Auge tauchte das Bild seiner lebhaften, rothaarigen Mutter auf. Vermutlich war sie nicht mal beleidigt, wenn er sich kurz fasste. Was ihr an Verantwortungsbewusstsein fehlte, wog sie mit ihrem unkomplizierten Wesen wieder auf. „Es gibt etwas, das ich dich fragen möchte“, begann Ryan vorsichtig. „Klar, schieß los“, erwiderte Vicky munter. Ryan atmete einmal tief durch. „Erinnerst du dich an mein Tattoo?“ „Ja, der Drache. Furchtbares Ding. Wenn du alt bist wird es aussehen wie eine übergewichtige Echse.“ Mühsam unterdrückte Ryan ein erneutes Seufzen. „Ja, genau die, Mum. Weißt du noch, warum ich mir damals ausgerechnet dieses Motiv habe stechen lassen?“ Vicky lachte als könnte sie nicht fassen, dass er sich daran nicht mehr erinnerte. „Weil dein Großvater genau dasselbe hat.“ Rupert Almond lebte im vornehmen Londoner Stadtteil Kensington – unweit des Hyde Park. Ryan hatte nie verstanden, wie der alte Mann sich das leisten konnte, wo er doch Zeit seines Lebens als einfacher Landschaftsgärtner tätig war. Nicht unbedingt der Beruf, der Männer zu Millionären machte. Der Hauch von Luxus, welcher hier durch die baumgesäumten Alleen wehte, hatte Ryan nie behagt, aber sein Großvater mochte es nun einmal gern grün. „Ryan.“ Junes Stimme holte ihn aus dem Reich der Träume zurück. Doch anstatt ihn zur Eile zu treiben, hielt sie ihm einfach nur die Hand hin. Ryan schmunzelte, als er seine Finger mit ihren verschränkte und weiter dem Weg folgte. Solange sie bei ihm war, kam er sich nicht ganz so verloren vor. Die letzten Stunden hatten so ziemlich alles in seinem Leben infrage gestellt, was er über sich selbst zu wissen glaubte. Dass nun ausgerechnet sein knurriger Großvater der Schlüssel sein sollte, erschien ihm auch nicht verrückter als alles andere. Obwohl – dass ein Mann, der mit Rosen so sanft sprach als wären sie seine Kinder, Vampire jagen sollte, war doch ein wenig absonderlich. Mit leicht irritiertem Blick schlängelte sich Ryan um ein Denkmal von Prinz Albert herum. Fast kam es ihm so vor als würde man alle zwei Meter über eins dieser Abbilder stolpern. Dann endlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Das Stadthaus sah von außen nicht sonderlich beeindruckend aus, doch der Garten war geradezu imposant. Gott sei Dank hassten Ryans Großeltern Nippes, weswegen man hier zumindest keine Engelskulpturen fand. Eine Schrulligkeit erwartete jeden Besucher allerdings doch bevor er die Schwelle übertrat. Während vor Millionen von Türen eine Willkommens-Fußmatte lag, gab es hier eine mit der Aufschrift: Fortes fortuna adiuvat. June zog eine Augenbraue hoch. „Den Tapferen hilft das Glück?“ Ryan nickte. „Ja, Opa mochte diesen ganzen lateinischen Kram schon immer“, erinnerte er sich und klingelte dann. Es öffnete ihnen ein nicht überdurchschnittlich großer Mann mit etwas wirrem, grauen Haar. Trotz seines Alters wirkte er noch erstaunlich fit. Der Eindruck wurde abgerundet von der braunen, wettergegerbten Haut eines Gärtners. Als Rupert seinen Enkel erkannte, trat ein lustiges Funkeln in seine Augen, doch es war June, die er zuerst begrüßte. „Herzchen, dich habe ich ja ewig nicht mehr gesehen.“ Fröhlich umarmte er die junge Frau. „Du musst die Geduld eines Engels haben, wenn du noch immer mit meinem Enkel zusammen bist.“ June lachte. „Ja, das muss wohl so sein. Hallo, Rupert. Es ist schön Sie wieder zu sehen.“ Ryans Wangen begannen zu glühen. Rupert hatte nie erfahren, dass sie sich getrennt hatten und June stritt gerade nicht ab, dass sie zusammen waren. Bevor Ryans Herz sich allerdings auf direktem Wege zu Wolke Nummer sieben begeben konnte, begrüßte sein Großvater ihn mit einem gutmütigen Schlag auf die Schulter. „Na, dann kommt mal rein. Ihr kommt gerade rechtzeitig. Emily hat frische Scones gebacken.“ Emily, Ryans schwerhörige Großmutter, konnte mitunter ein echter Hausdrachen sein, war aber eine ausgezeichnete Köchin. Im Haus roch es angenehm nach Gebäck, duftendem Tee und Rosen. Ryan fühlte sich sogleich heimelig, was dazu beitrug, dass er sich etwas entspannte. Möglicherweise war es doch keine so üble Idee gewesen, herzukommen. Mit den beiden alten Leuten hatte Ryan nicht so leichtes Spiel, wie mit seiner Mutter. Offenbar genossen es die zwei mal wieder junge Menschen im Haus zu haben. Rupert beklagte sich darüber, dass all ihre gleichaltrigen Freunde so furchtbar langweilig geworden waren. Rollator-Rennen gehörten wohl nicht zu seinen liebsten Freizeitaktivitäten. Flirten war da schon was anderes. Rupert nutzte schamlos aus, dass seine Frau sich in der Küche zu schaffen machte und schäkerte derweil ein wenig mit June. Ryans Laune sank. Musste der Alte das unbedingt mit seiner June machen? Fast wäre er dem kindischen Impuls gefolgt seinen Großvater an Emily zu verraten. Aber es hatte wirklich Vorteile, dass sie gerade nicht im Zimmer war, denn so konnte Ryan endlich zu dem Punkt kommen, der ihn hierher geführt hatte. Ryan öffnete sein Hemd ein Stück weit, bis die Drachentätowierung aufblitzte, die sich seine Brust hinaufschlängelte. „Du trägst dasselbe Bild auf deiner Haut – oder, Großvater?“ „Ja, die Tätowierung habe ich auch.“ Rupert blickte gemächlich auf. Irgendwie schien er zu ahnen, was als nächstes kam. Mit einem leisen Seufzen erhob er sich und klopfte seine Hose aus, obwohl daran gar kein Staub haftete. „Tja, dann gehen wir wohl mal in mein Arbeitszimmer.“ Erst wunderte sich Ryan, woher sein Großvater so genau wusste, was sie von ihm wollten, aber dann dämmerte es ihm. Wenn es stimmte, was Carol behauptete, war das im Grunde genommen sogar logisch. Ein Vampirjäger, der nicht bemerkte, was die Vampire in der Stadt trieben, wurde bestimmt keine 70 Jahre alt. Fortsetzung folgt... (irgendwann mal XD) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)