So finster wie die Nacht von BinaLuna ================================================================================ Kapitel 28: Familie ------------------- Kapitel 28 ~ Familie „Lady Ashara? Lionel wartet vor der Tür.“ Die Vampirin hob sacht den Kopf, dann nickte sie. „Danke, Rick. Bring ihn rein.“ Der farbige Vampir verneigte sich, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum, um ihren Befehl auszuführen. Sie seufzte. Asha war schon immer der Meinung gewesen, dass Lionel viel zu sanftmütig war für seinen Posten. Vielleicht hätte sie ihn schon längst entlassen sollen, dann wäre es möglicherweise gar nicht erst zu all dem gekommen. Aber viele der Vampire niederen Ranges hörten auf ihn und er war sonst immer sehr loyal gewesen – Fähigkeiten, die sie an ihm eigentlich schätzte. Die Obere erhob sich langsam von ihrem Schreibtisch und trat zu der Glastür, die zum Balkon führte, um sich den Vollmond anzusehen. Das volle Licht des hellen Mondes beleuchtete ihr bleiches Gesicht, doch ihre hellblauen Augen nahmen ihn kaum wahr. Sie war zu versunken in die Geschehnisse der letzten Nacht. „Nicht doch, Ninon. Verletz ihre Hände nicht. Sie spielt viel zu begnadet Klavier, um ihr die Finger zu brechen.“ Die kleine Vampirin ließ tatsächlich ab von ihrer Beute, als sie erkannte, wer da mit ihr sprach. „Lady Ashara. Welch eine Freude, Euch zu sehen.“ „Die Freude ist ganz meinerseits, Schätzchen. Aber sie dir an, was du mit Mona angerichtet hast. Welch ein Trauerspiel. Ein Glück, das sie noch lebt.“ Sonst würde es ja auch gar keinen Spaß machen, sie zu quälen, nicht wahr? Noël hatte ebenfalls von der dunkelhaarigen Vampirin abgelassen, als Asha aufgetaucht war. Niemand würde je wagen, sich gegen die Obere zu stellen, nicht einmal er. „Sie hat selbst Schuld“, murrte er. „Ja, das hat sie, gewiss. Aber ich brauche sie noch.“ Immerhin habe ich sie erschaffen. Mona war noch bei Bewusstsein, aber schwer verletzt. Die Zwillinge hatten ganze Arbeit geleistet, die Klavierspielerin beinahe zu töten. Asha klappte ihr Handy auf und wählte eine Taste. „Rick, Schätzchen, ich brauche ein Säuberungskommando. Und jemanden, der Mona in die Kammer bringt.“ Sie klappte das Handy wieder zu, ohne auf eine Antwort von ihrem Diener zu warten. Rick würde wissen, was zu tun ist, auch ohne, dass sie ihr Anliegen näher erklärte. Deshalb mochte sie ihn ja so. „Wo ist ihr Umhang?“, fragte sie die beiden jungen Vampire. „Sie hatte ihn nicht bei sich“, antwortete Ninon. „Ein Jammer. Wer weiß, wo sie ihn gelassen hat? Das Ding ist wertvoll, wir brauchen es auf jeden Fall zurück. Aber nun, Kinder, geht wieder spielen, seid so gut. Ich rufe euch, wenn ich euch wieder brauche, ja?“ Sowohl Noël als auch Ninon nickten lächelnd und verschwanden. Als Lionel ihr Büro betrat, drehte sich Asha zu ihm um. Ihr glattes, langes, dunkelbraunes Haar umspielte ihr fein geschnittenes Gesicht, in welchem sich ein freundliches Lächeln zeigte. Ein falsches Lächeln. Eins von der Art, vor denen man Angst haben sollte. „Ihr habt nach mir gerufen, Mylady?“ „Gewiss. Und du wirst auch sicher wissen, warum, nicht wahr, Lionel?“ Sie konnte hören, wie der Vampir schluckte. Das erfüllte sie mit einer gewissen Genugtuung. „Wegen Mona.“ Ashas Lächeln wurde breiter, als sie mit ruhiger Stimme weitersprach. „Richtig. Ich musste ihr viel von meinem Blut geben, damit sie mir nicht wegstirbt. So wird sie zwar zu einer willenlosen Puppe, aber immerhin lebt sie. Aber sag mir, Lionel, wie konnte es überhaupt so weit kommen? Wie konntest du sie entwischen lassen? Du weißt, dass sie nicht freiwillig bei uns ist.“ „Ich bitte um Verzeihung, Mylady. Sie hat sich zuvor immer gut benommen, deshalb habe ich ihr mehr Freiheiten gestattet.“ In seiner Stimme klang Furcht mit. „Ist das so? Oder lag es eher daran, dass Eve dich gebeten hat, ihr mehr Freiheiten zu lassen?“ Wieder ein Schlucken seitens Lionel. Ah, wir kommen der Wahrheit schon näher. Interessant. Asha ließ dem anderen Vampir keine Zeit zu einer Antwort. „Lionel, ich enthebe dich mit sofortiger Wirkung aus deinem Amt, bis du wieder Herr deiner eigenen Sinne bist. Eve verdreht dir zu sehr den Kopf, fürchte ich.“ „Aber...“ Ihm stockte der Atem, den er bis eben unbewusst angehalten hatte. Natürlich brauchten Vampire gar nicht zu atmen, aber es war eine Angewohnheit, die sich nur schwer ablegen ließ. „Widersprichst du mir?“ Die Stimme der Oberen klang scharf. Gefährlich. „... nein, Mylady...“ „Gut. Es wäre ein Jammer, wenn ich gezwungen wäre, dich zu züchtigen. Folge mir.“ Lionel sah seine Herrin, die so etwas wie seine Vorgesetzte war, fragend an. Was hatte sie mit ihm vor? Als sie vor einer Kammer im Schloss ankamen, wusste er, was. Er konnte das Klavier hören. Mona spielt. Ein vor der Tür postierter Vampir öffnete die Tür der Kammer und die Musik wurde sogleich lauter und wohlklingender. Mona saß an einem Klavier und spielte, ohne auch nur ein einziges Mal die falsche Taste zu drücken. Sie trug ein dunkles Samtkleid, wie es genau ihre Mode war und ihr Haar war zu einem Zopf gebunden. Lionel konnte erkennen, dass sie Bissmale am Hals hatte. Und nicht nur am Hals, auch ihre Arme schienen damit übersäht zu sein. Aber am Erschreckensten waren ihre Augen. Sie hatten nicht mehr das Feuer, das sie zuvor besaßen, sondern blickten willenlos auf ihre Hände herab. Mona schien nicht zu bemerken, dass jemand ihre Kammer betreten hatte. „Sieh sie dir an, Lionel. Das ist nicht die Hexe, die sie einmal war. Das ist nur noch eine klavierspielende, leere Hülle einer Hexe. Aber so kann ich sie nicht gebrauchen.“ „Was können wir dagegen tun?“, wagte Lionel zu fragen. „Oh, das ist ganz einfach. Bring mir Eve.“ Jason war noch immer ziemlich fertig, obwohl sich seine Bisswunde oberflächlich komplett geschlossen hatte. Er wollte nichts lieber, als noch ein bisschen schlafen, als sein Bruder, June und Carol endlich sein Zimmer wieder verlassen hatten. Und als sein Blick auf Lilian fiel, die sich wieder auf den Stuhl neben seinem Bett gesetzt hatte, bemerkte er, dass auch sie dunkle Ringe unter den Augen hatte und noch viel Schlaf gebrauchen konnte. „Leg du dich ins Bett und schlaf ein bisschen“, sagte er. „Ich leg mich aufs Sofa.“ Die Hexe sah ihn an, als wäre er vollkommen verrückt. „Nein, das geht nicht. Ich werde dich nicht aus deinem Bett vertreiben“, lehnte sie sofort ab. Jason hatte keine Lust auf lange Diskussionen, dafür war er viel zu müde – und vermutlich hatte sich ein Teil seines Verstandes bereits verflüchtigt. „Dann leg dich doch zu mir.“ Er konnte sie doch nicht einfach auf dem unbequemen Schreibtischstuhl lassen. Lilian glaubte, sich verhört zu haben. Das muss ein Traum sein, dachte sie. Sowas ist nur im Traum möglich. Ihr fielen die Augen bereits halb wieder zu, weshalb sie keinen weiteren Widerstand leistete, sondern einfach nur tat, wie geheißen. Sie kuschelte sich neben ihn in das schmale Bett und noch bevor sie sich richtig zugedeckt hatte, waren sie beide bereits eingeschlafen. „Wollen wir heiraten, Mona?“ David freute sich sehr. Er würde Vater werden! Man konnte seiner Freundin die Schwangerschaft bereits ein wenig ansehen. „Ich täte nichts lieber als das“, antwortete sie. „Aber ich bin die Seherin. Der Zirkel wird es nicht gern sehen. Und meine Eltern auch nicht.“ Ihr Blick war ein wenig traurig, als sie dies sagte. Ihre haselnussbraunen Augen füllten sich bereits mit Tränen. „Nur, weil ich aus einer Familie von Bauern stamme? Sind die Hexen so viel besser als wir Bauern?“ „Nein. Du trägst kein Hexenblut in dir. Das ist der Grund. Es wird meine Hexenlinie verdünnen. Die Seherin sollte stets in eine andere Linie einheiraten.“ „Aber dafür ist es doch eh bereits zu spät!“, rief er, auf ihren Bauch deutend. Sie nickte, und eine Träne rollte ihr über die Wange. Und nun wusste er, warum sie so verzweifelt war. Der Traum hallte in ihrem Kopf noch nach, als Lilian wieder erwachte. Was war das denn? fragte sie sich. Eine Vision? Erst dann fiel ihr auf, dass Jason sie ansah, ihr direkt in die Augen schaute. Sie lagen dicht aneinander in seinem Bett, beinahe Nase an Nase. Lilian wurde auf der Stelle knallrot. Jason lächelte, bekam aber eine ähnliche Gesichtsfarbe. Beide wussten nichts zu sagen, bis Lilian der Traum wieder einfiel. „Ich habe Seltsames geträumt“, murmelte sie. „Du auch?“, fragte er. So langsam normalisierte sich seine Gesichtsfarbe wieder. „Ja. Von Mona und... David“, antwortete sie. Jason war schlagartig hellwach. „Du hast auch von Mona und David geträumt?“ Die Augenbrauen der Hexe verzogen sich fragend. „Wie, ich auch?“ „Ich habe davon geträumt, wie sie seinen Heiratsantrag mehr oder weniger ablehnt“, erklärte Jason. „Oh.“ Lilian richtete sich auf und strich sich ihre langen Haare zurück. „Dann haben wir wohl das gleiche geträumt.“ „Wie kann das sein?“ Auch er setzte sich hin und ignorierte die pochenden Kopfschmerzen dabei. „Ich bin die Seherin. Vielleicht habe ich dich einfach an einer Vision teilhaben lassen“, überlegte sie. Sie wusste gar nicht, ob das möglich war, aber anders konnte sie es sich auch nicht erklären, dass sie beide zeitgleich denselben Traum träumten. „Aber ich habe schon zuvor solche Träume gehabt. Von Mona“, gab er zu bedenken. Lilian sah den jungen Fußballer an, der ihr so nah war und in den sie schon so lange verliebt war. „Du bist eine Wiedergeburt von David, oder? Das hat doch Mona gesagt?!“ Jason nickte. „Ja, das hat sie gesagt.“ „Und diese Carol meinte doch, eine Wiedergeburt habe immer einen bestimmten Grund“, erinnerte sich Lilian. Sie kletterte aus dem Bett und strich ihren knielangen Rock glatt. Sie trägt gar keine Schuluniform, bemerkte Jason. Er hatte sie bisher immer nur in ihrer Schuluniform gesehen, aber nun trug sie diesen schwarzen Rock und eine hellblaue Bluse und er fand, dass sie gut darin aussah. Wieder breitete sich Röte auf seinem Gesicht aus, als er an ihr Geständnis dachte und verdrängte diese Gedanken schnell wieder. Lilian sprach ohne Unterbrechung weiter. „Vielleicht war David ja einer deiner Vorfahren.“ „Das könnte sein“, stimmte er ihr zu. „Allerdings kenne ich niemanden aus meiner Familie außer Ryan oder meinen Vater.“ Den letzten Satz sprach er sehr leise. Das erinnerte Lilian daran, dass sie ihn noch etwas fragen wollte zu dem, was sich zuvor abgespielt hatte. „Was ist eigentlich mit deinem Vater? Ryan war sehr wütend, als du ihn erwähnt hast.“ Sie fragte sich ohnehin schon länger, warum ihr Schwarm überhaupt mit seinem Bruder zusammenwohnte, statt mit seinen Eltern, aber ihre Frage bereute sie fast sofort, als sie seinen Blick bemerkte. Jetzt sieht er genauso verletzlich aus, wie Mona in dem Traum. „Ah, sorry, es stand mir nicht zu, danach zu fragen“, versuchte sie, die Situation zu retten. „Nein, schon gut. Du hast mir dein größtes Geheimnis anvertraut. Also kann ich dir nun vielleicht auch meines verraten.“ Ein freudloses Lächeln umspielte seine Lippen. Die Hexe fühlte sich schrecklich, setzte sich aber wieder auf Jasons Schreibtischstuhl, als er andeutete, dass er ihr alles erzählen würde. „Wusstest du, dass Ryan und ich nur Halbbrüder sind?“, fragte er sie, während er sich normal aufs Bett setzte, um sie besser ansehen zu können. „Nein“, sagte sie, überrascht von diesem Wissen. Die Brüder waren sich äußerlich so ähnlich, dass sie niemals darauf gekommen wäre. „Wir haben denselben Vater, aber unterschiedliche Mütter. Leider durfte ich meine Mom nicht kennen lernen, sie starb, als ich noch ein Baby war.“ Sofort keimte Mitleid in Lilian auf, als sie dies hörte. Ohne Mutter zu sein, war sicher schrecklich. „Sie war die Sekretärin meines Vaters und als Ryans Mutter von der Affäre erfahren hat, hat sie sich sofort von ihm getrennt. Wir sind dann beide bei unserem Vater geblieben. Der ist allerdings ein hoffnungsloser Säufer und ein Mistkerl! Ich weiß nicht mal, wie ich vorhin auf ihn gekommen bin. Vielleicht, weil er so reich ist.“ Auch dies war eine Überraschung für Lilian. Die Brüder wirkten nicht so, als wären sie sonderlich reich, auch wenn Jason die gleiche Privatschule wie sie besuchte. „Ryan hat mich immer beschützt und sich immer um mich gekümmert. Vater hat uns oft geschlagen, deshalb hasst Ryan ihn so. Er ist so schnell ausgezogen, wie es ihm möglich war und natürlich hat er mich mitgenommen. Er hätte mich niemals allein bei dem Säufer gelassen. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört.“ „Du liebst deinen großen Bruder sehr, nicht wahr?“ Man konnte es ihm sehr anhören, wenn er von Ryan sprach. „Natürlich. Er ist meine einzige Familie. Er und June. Es ist ein Jammer, dass die beiden sich getrennt haben.“ „Eh? Die beiden sind nicht zusammen? Sie sehen aus wie ein Pärchen!“, fand Lilian. „Sie waren eins und ich arbeite daran, die beiden wieder zu verkuppeln“, meinte Jason. Der Gedanke an June tröstete ihn stets. Sie war toll. „Warum hat euch Ryans Mutter nicht einfach aufgenommen?“, fragte Lilian nun nach. Sie fand es seltsam, dass sie ihren Sohn einfach zurückgelassen hatte. „Ich weiß es nicht so genau. Ryan meint immer, sie sei nicht in der Lage, sich um irgendwas anderes zu kümmern, als um sich selbst – und selbst das kriegt sie kaum gebacken. Und ich glaube, sie mag mich nicht. Bestimmt erinnere ich sie an die Affäre ihres Ex-Mannes.“ „Bist du dir da sicher? Du bist vielleicht nicht mit ihr blutsverwandt, aber immerhin ist ihr Sohn dein Bruder, oder nicht?“ Lilian verstand allmählich, warum Jason von seiner Familie als Geheimnis sprach. Es musste sich furchtbar anfühlen, keine richtige Familie zu haben. Auf einmal kam ihr ihre eigene Familie gar nicht mehr so schrecklich vor. „Ich bin sicher. Vicky konnte meinem Vater nie verzeihen. Aber ihr Vater ist noch schlimmer. Als Ryan mich einmal mit zu seinen Großeltern genommen hat, hat mich Mr. Almond direkt wieder rausgeworfen und beschimpft. Und ich kann es ihm nicht mal verübeln.“ Lilian hatte genug gehört. Sie stand ganz plötzlich auf und umarmte den sitzenden Jason, der viel zu verblüfft war, um zu reagieren. Sie drückte ihn sanft an sich und strich ihm über die kurzen Haare, als könnte sie seine seelischen Wunden, an denen er offensichtlich litt, damit lindern. Natürlich lief er dabei wieder rot an, aber gleichzeitig fühlte es sich auch irgendwie schön an. Er stellte fest, dass er Lilian wirklich mochte. Sie war unkompliziert und ehrlich. Dieses Mal umspielte ein aufrichtiges Lächeln seine Lippen – bis ihm bewusst wurde, dass sein Kopf auf der gleichen Höhe war wie ihre Brüste. Diese Tatsache verdoppelte gleich seine Röte, dann schob er sie vorsichtig von sich. Ganz schön weich, diese Dinger, konnte er sich nicht verkneifen zu denken. Und größer, als ich dachte. „Was ....was David betrifft, sollten wir Nachforschungen anstellen, ob er tatsächlich ein Vorfahre von dir ist“, sagte Lilian, um auf ein anderes Thema zu lenken. Auch ihr Gesicht war wieder rot. „Dazu könnten wir morgen nach der Schule mal die Ämter abklappern.“ „Ja, das sollten wir machen. Dann finde ich vielleicht auch endlich heraus, was es mit diesen Träumen auf sich hat“, stimmte er ihr zu. An die Schule hatte Jason länger nicht mehr gedacht, aber Lilian hatte Recht – sie mussten endlich mal wieder hingehen. Sie hatten jetzt beide länger gefehlt. Der Fußballclub würde ihn schon schmerzlich vermissen und er wagte auch gar nicht darüber nachzudenken, wie viele Klausuren er verpasst hatte. Hoffentlich konnte er seinen guten Notenschnitt noch halten! Als er an die Noten dachte, fiel ihm auf, dass auch Lilian eigentlich eine sehr fleißige und gute Schülerin war. Sie konnten öfter mal zusammen lernen, überlegte er. Dann könnten wir uns auch öfter sehen. „Aber jetzt würde ich gern erst mal etwas essen“, sagte er und zur Unterstreichung dieser Worte knurrte sein Magen. Carol war wieder nach Hause gegangen, nachdem Ryan endlich mit seiner Mutter telefoniert hatte. Für die moderne Hexe war es auch langsam Zeit gewesen. Der Morgen graute bereits und sie war müde. Nun war sie froh, wieder in ihrer eigenen Wohnung zu sein, auch wenn sich in dieser noch immer diverse Umzugskartons stapelten. Sie lächelte, als sie daran zurückdachte, wie sie sich verabschiedet hatte. Ryan und June hatten auch gleich mit ihr die Wohnung verlassen wollen und so hatten sie noch einmal nach dem verletzten Jungen gesehen. Ryans Blick war köstlich gewesen, als er feststellen musste, dass sein kleiner Bruder zusammen mit der Seherin im selben Bett lag und sie beide tief und fest schliefen. Carol hatte sich bereits ihr Nachthemd ausgezogen und wollte nun ein bisschen Schlaf nachholen. Sie ging noch einmal durch ihre Wohnung, um das Licht auszumachen, als ihr Blick auf ihren Küchentisch fiel, auf den sie einen kleinen Laptop und einen schwarzen Umhang abgelegt hatte. „Ich bin schon gespannt, was ihr für Geheimnisse in euch bergt“, murmelte sie grinsend, strich noch einmal über den Laptop und verließ dann schließlich die Küche. Sie war sich sicher, dass Ryan und Jason nicht einmal auffallen würden, dass sie Monas Habseligkeiten einfach mitgenommen hatte. Dank ihres kleinen Blendzaubers hatten June und Ryan nicht einmal gesehen, wie sie die Sachen mitgenommen hatte. Die Hexe stieg diabolisch lächelnd in ihr Bett. Ruperts Arbeitszimmer erwies sich als Vickys ehemaliges Kinderzimmer. Offenbar hatte noch nie jemand darin renoviert, denn noch immer hing eine mit Rosen bedruckte Tapete an der Wand, die genau zu Ryans Mutter passte. Auch ihr Bett stand noch immer in dem Raum, der Rest jedoch wollte so gar nicht zu der Tapete passen – an den Wänden hingen Jägertrophäen und Gewehre. Ein großer Sekretär aus der Kollektion „Eiche rustikal“ stand an der einen Wand und war geschlossen. Auf diesen steuerte Rupert nun zu und steckte einen kleinen Schlüssel in ein Fach, das verschlossen war. „Ich ahnte, dass es eines Tages so weit sein würde“, sagte er. „Ryan, du warst schon immer ein großer Beschützer.“ Dabei dachte Rupert natürlich an dessen kleinen Bruder, den er nicht sonderlich leiden konnte, war er doch der Grund gewesen, warum seine Tochter eine zeitlang furchtbar unglücklich gewesen war. Einmal hatte er ihn aus lauter Wut heraus sogar aus dem Haus geworfen, was er noch heute bitterlich bereute, denn Ryan hatte ihm dafür sofort ordentlich den Marsch geblasen. Und das mit zarten 19 Jahren! Das hatte Rupert ganz schön imponiert, er hätte nie gedacht, dass sein Enkel mal das Wort gegen ihn erheben würde. Wenn er nun so recht darüber nachdachte, hatte er Jason seitdem nicht mehr gesehen. Ryan hatte ihn nie wieder mitgebracht. Dafür aber seine überaus reizende Freundin June. Er öffnete das Fach und holte eine Pistole hervor. „Das ist eine SIG P220, sie kann neun Schuss abgeben. Hier.“ Rupert reichte seinem Enkel die Waffe, die dieser sehr vorsichtig in die Hand nahm und eher wenig begeistert musterte. „Ich habe spezielle Kugeln für das Ding. Allerdings wirst du erst mal einen Waffenschein machen müssen, bevor du sie benutzen darfst. Der MI5 sieht es nicht gerne, wenn diese Waffen ohne Schein benutzt werden. Vielleicht willst du ja Sportschütze oder Jäger werden.“ „Die Kugeln sind aus Silber, nehme ich an?“, fragte Ryan. Er hätte nicht damit gerechnet, dass sein Opa ihm eine Schusswaffe in die Hand drücken würde. Er hatte eher mit ein paar Antworten gerechnet. „Natürlich. Wie sollte man sonst einen Vampir zur Strecke bringen? Die Zeiten des Holzpflocks sind jedenfalls schon lange vorbei.“ June hatte eine ganz andere Frage. „MI5? Die Regierung weiß, dass Vampire existieren?“ „Natürlich, Herzchen. Es gibt jede Menge Vampirjäger und Hexen, die in der Regierung oder beim MI5 sitzen und alles vertuschen, was mit ihnen oder den Vampiren zu tun hat. Man will ja immerhin auch keine Massenpanik. Dem Vampirproblem wird man dadurch aber leider nicht Herr. Von denen sitzen auch zu viele in hohen Stühlen.“ „Hast du schon viele Vampire vernichtet, Großvater?“ „Wäre ich sonst noch am Leben? Ich habe jeden einzelnen umgebracht, der mir in die Quere kam. Der letzte ist allerdings schon etwas her, ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste. Und nun liegt es auch an dir, diesen Monstern den Gar aus zu machen.“ Ryan dachte an Mona und fand die Bezeichnung Monster für sie sogar ganz passend, immerhin hatte sie seinen Bruder verletzt. Er würde ihr das nie verzeihen, da mochte sie noch so gute Gründe für diese Tat haben! Die Tatsache, dass Jason ihr sein Blut freiwillig angeboten hatte, ignorierte er einfach. Es rechtfertige Monas Verhalten keineswegs. „Wie kommt es eigentlich, dass Ryan in der Lage ist, die Vampire mit bloßer Berührung zu Verbrennen?“, fragte June. Diese Frage brannte ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge. „Was? Du hattest bereits Kontakt zu ihnen? Damit bist du weiter, als ich gedacht habe!“, rief Rupert überrascht aus. Dann räusperte er sich und beantwortete die Frage von June. „Vor einigen Jahrhunderten haben die Hexen einen Blutbann gewirkt, der dafür sorgt, dass wir gegen einige der vampirischen Fähigkeiten immun sind. So können sie uns zum Beispiel nicht so leicht hypnotisieren. Und sie können eine Berührung nicht ertragen. Wie das ganze Funktioniert, weiß ich nicht, dass müsst ihr eine Hexe fragen. Offenbar kennt ihr schon eine, sonst hättet ihr bereits gefragt, ob es denn Hexen wirklich gibt.“ Vor Ryans geistigem Auge tauchte sofort das Bild von Lilian und Jason auf, die beide friedlich zusammen im Bett lagen und schlummerten. Er wurde leicht rot, als er daran dachte, dass sein Bruder nun offenbar eine Freundin hatte. „Ja, wir kennen in der Tat eine“, nickte er. „Ich finde es erstaunlich, dass diese Magie auch jetzt noch aktiv ist, wenn sie schon vor Jahrhunderten gewirkt wurde“, staunte June, fasziniert, dass so etwas möglich war. „Nun ja“, sagte Rupert, „leider wird die Magie von Generation zu Generation schwächer, da das Blut dünner wird. Aber das Problem haben die Hexen selbst ja leider auch. Leider werden wohl nur Frauen zu Hexen, ein Jammer, das macht ihr Problem umso größer.“ „Du weißt ja echt eine ganze Menge über diese Sachen, Großvater“, meinte Ryan. Er war wirklich erstaunt, wie wenig er Rupert tatsächlich kannte. „Besonders über Hexen.“ „Nun, ich kannte mal eine ganz gut. Leider ist sie voriges Jahr gestorben. War auch nicht mehr die Jüngste, die gute Melissa Jones.“ Ryan sah June an und lächelte. So langsam ergaben die Ereignisse der letzten Zeit Sinn und er fühlte sich nicht mehr ganz so verloren. Er wollte noch mehr herausfinden und als er June zurücklächeln sah, wusste er, dass sie ihm dabei helfen würde. Fortsetzung folgt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)