Kurzgeschichten von Hoellenhund ================================================================================ Anna (13. Schreibaufgabe) ------------------------- THEMA: Unheimlich Ich weiß nicht, ob es gerade dieser Tag war, an dem dieser Wahnsinn begann, vielleicht konnte ich mich nur nicht mehr an daran erinnern – doch mit Sicherheit kann ich sagen, dass dieser Traum der Anfang war, er hat die Lawine losgetreten, die mich mit sich riss. Meine Mutter hatte stets gesagt, ich sei bereits als Kind sehr phantasievoll gewesen und daran hatte sich auch bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr nicht viel geändert. Ich liebte es, mich Tagträumereien hinzugeben und manchmal kam es mir sogar so vor, als könnte ich einige Dinge, die ich mir erdachte, für wenige Sekunden wirklich sehen. Sicher hätten mich viele um diese Gabe beneidet und ich konnte es gut verstehen – wer wünscht sich nicht, sich einfach leichthin aus dem Alltag fort zu träumen? Doch mit diesem Traum sollte sich meine Einstellung bald verändern. Ich stand bis zu den Knöcheln in herrlich kühlem Wasser, in den Ausläufen des Meers. Vor mir erstreckte sich eine Sandwüste – so weit das Auge reichte nichts als Sand. Es war phantastisch, das Meer berührte die Wüste, leckte an ihr, und doch vermochte es die Wüste nicht fruchtbar zu machen, genauso wenig wie die Wüste dazu im Stande war, den Ozean auszutrocknen. Ein Ort, so unwirklich und beklemmend. Fast schien es der Hohn Gottes zu sein, der Wasser und Wüste so greifbar nahe zusammengeführt hatte; ohne eine Aussicht auf eine Berührung. Ich ließ meine Augen über den Sand gleiten, der sich unendlich vor mir ausbreitete – dann veränderte sich etwas. Vor mir, mit beiden Füßen fest auf dem Sand stehend, erschien eine junge Frau mit langem braunen Haar und dunklen Augen, leicht unscharf, als würden ihre Konturen in der Hitze der Wüste flirren. Sie war ein aufrecht stehendes Spiegelbild von mir. Doch wie war das möglich? Sie streckte eine Hand nach mir aus, doch sie war zu weit von mir entfernt, um mich zu berühren. Ganz langsam tat ich ihre Geste nach, streckte meine Hand nach den Fingern meines Spiegelbildes aus, berührte sie- „Anna, Zeit zum Aufstehen!“ Das war die fröhliche Stimme meiner Mutter, die mich unsanft aus dem Schlaf riss. Sie hatte nur den Kopf zur Zimmertür hereingesteck und den Lichtschalter betätigt, dann war sie sofort wieder verschwunden. Und ich musste meine Augen nun mit der Bettdecke vor dem unbarmherzigen Licht der Glühlampe schützen. Erst, als ich den Kopf wieder unter der Decke hervorzog, wurde mir klar, dass ich mich an jedes Detail des Traumes erinnern konnte, in dem ich noch eben geschwelgt hatte. Es war seltsam, denn ich konnte mich nur sehr selten an meine nächtlichen Träume erinnern und wenn es doch einmal vorkam, erschien es mir stets, als versuchte ich die Bilder wie Wasser in hohlen Händen zu halten. Sie entglitten mir immer mehr, bis schließlich nichts mehr von ihnen übrig war. Doch dieses Mal war alles so klar und beständig, dass es mich beinahe ängstigte. Ich schüttelte den Gedanken ab und stapfte die Treppe hinab, um erst einmal zu frühstücken. Als ich gerade am unteren Treppenabsatz angelangte, sollte das erste wunderliche Ereignis seinen Auftritt haben. Ich sah meine Mutter gerade noch im Bad verschwinden und ging weiter in die Küche – dort fand ich sie am Tisch sitzend, die Nase in die Tageszeitung gesteckt, die sie vor einigen Monaten abonniert hatte, fröhlich wie fast jeden Morgen – meine Mutter war eine klassische Frühaufsteherin, ganz im Gegensatz zu mir. Ich war verwundert, schob diesen merkwürdigen Umstand allerdings auf meine Müdigkeit und blühende Phantasie, sodass ich den Gedanken rasch beiseite schob und nach einem gekochten Ei griff, das auf der Anrichte für mich bereit lag. Alles wie jeden Morgen, ich bin ein Mensch, der Überraschungen auf den Tod nicht ausstehen kann, schon gar nicht bei alltäglichen Tätigkeiten. Und doch war etwas anders. Ich konnte es nicht erklären, vielleicht waren einfach nur meine stetig zu meinem Traum abschweifenden Gedanken Schuld daran – ich fühlte mich seltsam, als ginge die Realität einfach an mir vorbei und ich durchwanderte sie wie ein Geist. Das sollte sich auch nicht ändern, als ich später am Morgen meine Schule betrat; ich besuchte die dreizehnte Klasse des örtlichen Gymnasiums und würde dieses Jahr mehr oder weniger erfolgreich abschließen. Auf einer der hölzernen Bänke in der Pausenhalle des gläsernen Gebäudes entdeckte ich Kai, der bei weiteren Schülern meines Deutschkurses saß und wie so oft kein Wort mit ihnen wechselte. Als er mich erkannte, grüßte er mich erfreut: „Morgen Anna!“ Es überraschte mich jedes Mal aufs neue, wie fröhlich Kai sein konnte, denn während er schwieg wirkte er auf mich und vermutlich auch auf unsere Kommilitonen eher mürrisch. Vermutlich hätte ich diese fröhliche Seite an ihm nie entdeckt, wenn die Leitung des Deutschkurses im letzten Jahr nicht beschlossen hätte, eigenmächtig einen Sitzplan zu erstellen und ich in der vordersten Sitzreihe zwischen Kai und Vanessa, einer mir unsympathischen Modemieze, gelandet wäre. Manche nennen das wohl Schicksal – ich sage 'Zufall' dazu. „Du wirst so abwesend“, setzt Kai hinzu, als ich mich neben ihn gesetzt, ihn allerdings nicht gegrüßt hatte. „Also ich meine noch abwesender als sonst.“ Damit hatte er es wohl mit mathematischer Genauigkeit erfasst, daher nickte ich nur: „Ich hatte einen seltsamen Traum..:“ „Ach, ich träume ständig komisches Zeug“, versuchte er mich aufzumuntern, doch ich hatte das Gefühl, er glaubte selbst nicht daran, dass es gelingen würde. „Ich für gewöhnlich nicht“, gab ich also zurück und ließ meine Gedanken schweifen, doch ehe sie einen festen Ort für sich gefunden hatten, sah ich bereits unsere Kursleitung an uns vorbei auf den Gang mit den Oberstufen-klassenräumen zugehen. So zwang ich mich auf den Boden der Tatsachen zurück, der mir so fremd schien, und folgte Kai in unseren Raum. Ich glaube ich habe selten eine Stunde damit verbracht, ausschließlich aus dem Fenster zu starren, doch dieses Mal konnte ich mich beim besten Willen nicht konzentrieren – vielleicht wollte ich es auch gar nicht. So starrte ich also hinaus, ohne wirklich zu sehen, was sich vor mir befand. Doch dann geschah es. Rot und orange züngelten die Flammen an der Kirche nahe der Schule, leckten an ihrem Turm. Erschrocken sprang ich auf: „Die Kirche brennt!“ Alle Köpfe wandten sich erst dem Fenster und dann mir zu. „Das ist nicht lustig Anna! Ich glaube du solltest den Rest der Stunde besser vor der Tür verbringen, wenn du nur aus dem Fenster starrst und träumst!“, fuhr mich die Kursleitung an. Verwirrt wanderte mein Blick erneut aus dem Fenster – sie hatte Recht. Weit und breit kein Feuer auszumachen. Aber ich hatte es doch gesehen! Oder doch nicht? Resigniert packte ich meine Sachen und verschwand durch die Tür auf den Flur, wo ich mich an der Wand hinabgleiten ließ und mit zusammengezogenen Augenbrauen über das nachdachte, was ich gesehen hatte. Wurde ich langsam verrückt? Oder vermochte meine so lebendige Phantasie nun selbst ihren Schöpfer auszutricksen? Ich wusste es nicht und im Grunde war es mir gleich. Ich war sauer – auf mich selbst und den Rest der Welt, der mir so ignorant erschien. „Vielleicht solltest du dich zu Hause ins Bett legen“, schlug Kai vor, als er mich an den Bushaltestellen vor der Schule verabschiedete. „Ich bin nicht krank“, gab ich halb beleidigt zurück, sein Unverständnis enttäuschte mich. Doch was erwartete ich, wenn ich mich selbst nicht mehr verstand? „Ich meine es ernst, du siehst echt nicht gut aus.“ „War das eine Beleidigung?“ „Himmelhergott, nein!“, fuhr Kai ungeduldig auf. „Du bist doch sonst nicht so gereizt.“ Was interessierte mich, wie ich sonst war? Für mich zählte nur das hier und jetzt, das mich beinahe verrückt machte – Ja, ich war anders und es ängstigte mich. „Tut mir Leid“, murmelte ich also, bevor ich mich mit einer flüchtigen Umarmung von Kai verabschiedete. „Halt die Ohren steif“, rief er mir noch nach, als ich in den Bus stieg, der mich fast bis vor meine Haustür bringen würde. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Das kam nur sehr selten vor, denn selbst wenn ich nicht müde war, hatte ich immer die Fähigkeit gehabt, mich hinzulegen und mich einfach davonzuträumen, sodass ich irgendwann automatisch in den Schlaf hinüberglitt. Doch in dieser Nacht wollte das nicht funktionieren. Sobald ich die Augen schloss, breitete sich die Wüste erneut vor mir aus, an der das weite Meer leckte. Ich weiß nicht wieso, doch jedes Mal, wenn dieses Bild vor meinem inneren Auge auftauchte, schreckte ich hoch, als würde ich etwas beängstigendes sehen. So kauerte ich mich in meinem Bett zusammen, die Beine eng an den Körper gezogen, von einem beklemmenden Gefühl gefangen. Die Schatten im Raum um mich her schienen unablässlich dunkler und undurchdringlicher zu werden, auf mich zuzukommen, als wollten sie mich erdrücken. Dann dieser Lärm. Eulen, ein ganzer Schwarm Eulen segelte durch das offene Fenster hinein. Ich hatte es doch geschlossen, ich war völlig sicher, es geschlossen zu haben! Die Vögel segelten im Zimmer umher und krächzten ihre schaurigen Lieder, die mir Schauder über den Rücken laufen ließen. Sie schwirrten um meinen Kopf, streiften mich mit ihren mächtigen Schwingen – doch von der Berührung konnte ich nichts spüren. Ich bildete mir die Tiere ein, sie waren nicht existent, ich konnte sie nicht berühren! Und doch – sie sahen so real aus, klangen so natürlich – Ich musste raus. Rasch sprang ich auf, schlug nach den Eulen, um sie zu verscheuchen, ohne sie auch nur zu berühren, zog mir Schuhe und einen Mantel über. Dann rannte ich so leise ich konnte die Treppe hinab und zur Haustür hinaus – die Nachtvögel folgten mir nicht. Vor der Tür, im unnatürlichen Licht der Straßenlaternen, fühlte ich mich noch viel beklommener, doch die beißende Angst war verschwunden, das Gefühl gefangen zu sein, war verschwunden. Nach einigen Sekunden entschloss ich mich, eine runde um den Häuserblock zu machen, vielleicht würden sich dabei meine Nerven beruhigen. Was war es bloß, das mich verfolgte, mir Geschichten vorgaukelte, die nicht wahr waren, realer, als ich sie je erträumen konnte? Ich ging gerade über die kleine Holzbrücke, die den Fluss unserer Nachbarschaft, der kaum mehr, als ein Rinnsal war, überspannte, als ich wie angewurzelt stehen blieb. Das Herz schlug mir bis zum Hals, immer schneller, immer heftiger. Ich wollte mich umdrehen, davonlaufen, doch ich konnte es nicht. Da war sie, sie stand mir stumm gegenüber und blickte in meine Augen, ihre Konturen leicht verzerrt, als wäre sie von feinem Nebel umgeben. Sie war ich. „Anna“, sagte sie mit meiner Stimme, die mir einen Schauder über den Rücken jagte – ja, ich zitterte, zitterte erbärmlich wie ein Beutetier, das seinem Räuber gegenüberstand und wusste, dass es keine Chance hatte, selbst wenn es nun loslaufen würde. Mein Spiegelbild streckte die Hand nach mir aus – sie war anders, als der Rest von ihrem Körper, sie hob sich völlig klar gegen die Umgebung ab und war keinen Deut verschwommen. Ich blinzelte und für eine Sekunde glaubte ich, mein Gegenüber in der unendlichen Wüste stehen zu sehen, während meine Füße vom Meerwasser umspült wurden. Ich streckte meine Hand nach meinem Spiegelbild aus, es war ganz leicht, ich hatte es schon einmal getan. Unsere Fingerspitzen berührten sich, gleich würde ich erwachen, meine Mutter würde das Licht anschalten und ich würde lachen. Lachen über mich selbst, denn der ganze Tag wäre nur ein Traum gewesen. Die Hand meines Gegenübers schloss sich fest um die meine, er zog mich zu sich heran, zugleich schritt er an mir vorbei. Dann ließ er los. Ich hatte das Gefühl zu fallen, obwohl meine Füße fest auf dem Boden standen, alles drehte sich, war unscharf. Sie ging davon, in die Richtung, aus der ich gekommen war. Ich wollte ihr folgen, doch ich prallte auf eine unsichtbare Wand. Panik kroch in meiner Brust umher, ließ mich die Hände flach an diese Mauer pressen, ihr nachblicken, mir nachblicken – dann war mein Spiegelbild aus meinem Blickfeld verschwunden. Langsam, ganz langsam wandte ich mich um. Auf der anderen Seite des kleinen Flüsschens sah ich meine Stadt, sie lag wie immer da, Menschen eilten durch ihre Straßen – doch etwas war anders: Es war nicht mehr Nacht. In einem spontanen Reflex blickte ich an mir hinab, um festzustellen, dass ich ein schlichtes apricotfarbenes Kleid trug – von Turnschuhen, Mantel und Nachthemd war weit und breit keine Spur. War ich noch ich selbst? In meinem Schrank befand sich kein einziges Kleid, da war ich mir völlig sicher – und doch war ich mir nicht mehr sicher. Besaß ich solche Kleider? Dann sah ich ihn. Der dunkelhaarige Mann ging gerade an mir vorbei, wohl auf dem Weg zur Schule: Es war Kai. „Kai!“, rief ich ihm nach und er wandte sich zu mir um. „Anna, du sollst die Namen doch nicht rückwärts aussprechen, das bringt Unglück“, ärgerte sich Kai, obwohl er offenbar erfreut war, mich zu sehen. Doch wovon sprach er? Rückwärts? „Iak!“ Ein Mädchen mit langem Zopf winkte Kai und er wandte sich um, um halbherzig zurückzuwinken, und dann zu mir blickend die Augen zu verdrehen. Es war Vanessa, meine ehemalige Sitznachbarin im Deutschkurs. „Die Schule fällt heute aus. Die Kirche ist gestern Nacht abgebrannt und wir sollen helfen, das gröbste aufzuräumen, nachdem der Brand gelöscht ist“, fuhr Vanessa fort und verabschiedete sich dann, wohl um sich zur Kirche aufzumachen. Sie hatte gebrannt – ich hatte es mir nicht eingebildet. In diesem Augenblick war ich nicht sicher, ob ich mich freuen sollte oder nicht. Das, was ich gesehen hatte, entsprach der Wahrheit – doch wieso hatte es mir zuvor niemand geglaubt, was war hier los? Und ich entschloss mich, genau das Kai zu fragen. Dieser schüttelte allerdings nur verwundert den Kopf: „Was ist denn los mit dir?“ Er legte mir die Hände auf die Schultern, nur um sie anschließend rasch wegzuziehen, als hätte er sich an mir verbrannt. Aus dunklen Augen starrte er mich an, als käme ich von einem anderen Stern. „Anna... Deine Aura ist weiß, du hast deine Magie verloren! Du musst mir erzählen, was passiert ist“, drängte Kai, doch ich verstand kein Wort. „Meine Magie?“, frage ich verwundert und er konnte mich nur weiterhin anstarren, ungläubig. „Du bist nicht Anna.“ Es hat lange gedauert, bis ich diese Welt verstanden habe, bis ich mich selbst verstehen konnte. Es war mein Name, der diese Welt und die Meine miteinander verband. Anna – egal von welcher Seite man ihn liest, er lautet immer gleich. Er ist ein Verbindungsstück zwischen den Welten, die sich so sehr ähneln und es doch nicht tun. Wird ein Name rückwärts gelesen, schlägt er für wenige Sekunden eine Brücke zwischen hier und dort und wenn eines der Tore geöffnet wird, können seltsame Dinge geschehen, sowohl hier als auch in meiner Welt. Mein Name ist eine beständige Verbindung – und vielleicht, vielleicht wird mich diese eines Tages in meine Welt zurückbringen. Doch bis dahin habe ich es schwer – meine Phantasie habe ich zwar nicht verloren, auch wenn ich nun nicht mehr von Magie sondern von der Technik träume, doch in mir selbst liegt kein Funke Magie, mit dem ich diese Welt kontrollieren könnte. Meine Träume sowie mein Leben haben das Genre gewechselt: Von Fantasy zu Science Fiction, von Science Fiction zu Fantasy – und ich fühle mich fehl am Platz – so unglaublich ohnmächtig. Bitte Anna, lass uns noch einmal die Plätze tauschen. Eine Fortsetzung von Mark_Soul gibt es hier: http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/titel/A/177583/ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)