Eine Kerze für die Welt von UrrSharrador (Eine religiöse Weihnachtsgeschichte) ================================================================================ Kapitel 1: Eine Kerze für die Welt ---------------------------------- Schneeflocken tanzten vor mir her. Der nächtliche Wald lag verschneit und friedlich da, die Schneedecke schluckte jeden Laut. Nichts regte sich, alles war gefangen in der Starre des Winters. Die Bäume ließen die Äste hängen, aber es sah trotzdem nicht so aus, als würden sie unter ihrer Last leiden; vielmehr verlieh ihnen der Schnee etwas Prachtvolles, Einmaliges, ein Spiel aus dunkler Rinde und weißem Schnee, vereint zu einem monochromen Bild negativer Schattierungen. Ich stapfte weiter, schlug den Kragen hoch. Obwohl ich warm angezogen war, fror ich. Sechs Stunden in diesem Winterwunderland – und das alles nur, um mich innerlich zu befreien, um mich in den zweidimensionalen Schneeskulpturen zu verlieren, aus denen der Wald bestand. Um zu versinken im weichen, wattigen Schnee, der sanft war und ruhig, rein und wunderschön. Um körperlich und vor allem geistig zu versinken. Ob sich meine Familie bereits Sorgen machte? Vielleicht. Wenn sie nicht zu sehr damit beschäftigt waren, zu streiten. Ob sie bereits Bescherung hatten? Sechs Uhr abends war es; wahrscheinlich also noch nicht. Ich konnte nicht vergessen. Als ich zwischen den letzten Bäumen auf die Straßen trat, dachte ich immer noch an den Streit. Die Lichter in den Straßen, die goldenen Sterne und Lichterketten, sie alle schienen mich zu verhöhnen. Weihnachten. Heute war Heilig Abend. Die Straßen lagen friedlich und verlassen da. Die Familien waren in ihren Häusern, sangen, aßen und beteten gemeinsam. Nur ein Bettler saß mit einem weiten Mantel am Straßenrand ihm Schnee. „Armer Mann. Dir geht es genauso wie mir“, sagte ich. Er sah mich nur stumm an. Heilig Abend. Wärme. Friede. Behaglichkeit. Freude. Das gab es für mich nicht. Ich war allein in dieser Stadt. Aufgewühlt, ruhelos, wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Ziellos schlenderte ich durch die Straßen, bedachte die Weihnachtsbeleuchtung mit einem Blick, so kalt wie der Schnee. Mir war kalt. Ich musste irgendwohin, mich aufwärmen. Da sah ich vor mir die Kirche. Ich trat ein. Es war völlig dunkel, nur vorne, in den vordersten Gebetsreihen, brannte eine einzelne Kerze. Ich ging darauf zu und sah, dass dort ein Mann saß. Er hatte mich bereits bemerkt. „Hallo“, sagte er. „Hallo“, erwiderte ich. „Was tust du hier?“, fragte er. „Solltest du nicht bei deiner Familie sein und die Geburt des Herrn feiern?“ Er war kein Priester, seiner Kleidung nach, aber er sprach auf eine Weise, die mich an unseren Pfarrer erinnerte: Sanft und langsam und weise. Es war schwer zu schätzen, wie alt er war; um die dreißig vielleicht, aber seine Augen leuchteten wie die eines kleinen Kindes. „Nein. Meine Familie wird Weihnachten ohne mich feiern. Ich werde nie wieder zu ihnen zurück gehen“, sagte ich. „Außerdem ist Jesus tot.“ „Das stimmt nicht“, sagte der Mann und lächelte nachsichtig. „Kann ich hier bleiben?“, fragte ich. „Ja“, sagte der Mann. „Aber deine Familie wird dich bereits vermissen.“ „Das glaube ich nicht“, meinte ich bitter. „Sie sind sicher froh, mich los zu sein.“ Und ich erzählte ihm von unserem heftigen Streit und wie ich meine Sachen in meinen Rucksack gepackt hatte und losmarschiert war. „Für mich gibt es kein Weihnachten mehr“, endete ich. „Wenn man Frieden, Freude und Behaglichkeit so einfach durch einen Streit zerstören kann, hat so ein Fest keinen Sinn.“ Ich erwartete, dass er mir irgendeinen klugen Rat gab, wie es Erwachsene gerne tun. Aber er nickte nur und fragte: „Weißt du, warum es hier so dunkel ist?“ „Weil keine Kerzen brennen“, antwortete ich. „Und weißt du, warum keine Kerzen brennen?“ Das wusste ich nicht. „Weil ein Windstoß sie ausgeblasen hat, nach der Messe, als der letzte gegangen war. Jetzt ist es in dieser Kirche dunkel und kalt“, erklärte der Mann. „Das stimmt“, sagte ich und spürte die Kälte wieder. Es war kaum anders als draußen. „Aber diese eine, kleine Kerze hier“, sagte der Mann und deutete auf die Kerze, die er in der Hand hielt, „diese eine brennt noch. Und mit dieser Kerze kann ich die anderen wieder entfachen und die Kirche wird wieder hell und warm. Solange die kleinste unter den Kerzen nicht erlischt, kann der Wind die anderen tausendmal auslöschen, es ist immer noch eine Flamme da, um sie wieder zu entfachen.“ Ich sah in die kleine Flamme und dachte nach. „Willst du mir helfen, die anderen Kerzen wieder zu entzünden?“, fragte der Mann. Ich nickte und half ihm, berührte mit dem brennenden Docht die toten Kerzen, und je mehr davon brannten, desto schneller gaben wir auch allen anderen ihr Leben zurück. Und als alle brannten, war es hell und ich spürte tatsächlich, wie mir warm wurde. Vor allem innerlich, denn mir war plötzlich etwas klar geworden: Auch wenn Streit noch so vielen Menschen die Freude verdirbt, sie verbittert und griesgrämig, entmutigt und haltlos werden lässt, solange noch ein Mensch unter ihnen ist, dessen Freude und Liebe nicht erloschen ist, kann er die anderen damit anstecken, bis sie wie ein Meer aus funkelnden Lichtern die Nacht erhellen. Aufgeregt berichtete ich dem Fremden von meiner Erkenntnis. „Diese Kerze könnte mit ihrem Licht auch alleine bleiben“, sagte er. „Sie würde alleine leuchten und damit die schönste Kerze der Welt sein. Aber sie gibt ihr Licht an andere weiter, denn Geben bedeutet Freude, und diese Freude ist die Wärme aller anderen Kerzen, die sie beschenkt.“ Ich war plötzlich ganz außer mir. „Danke, dass Sie mit mir geredet haben“, rief ich. „Ich weiß jetzt, dass ich ganz schnell nach Hause muss!“ Und schon war ich bei der Tür und drehte mich dort noch einmal um. „Haben Sie keine Familie, mit der Sie Weihnachten feiern können?“, fragte ich. Der Mann lächelte. „Ich habe eine sehr große Familie. Und ich werde mit ihnen allen und meinem Vater gemeinsam feiern.“ Ich lächelte auch und lief rasch weiter. Die Lichter kamen mir mit einem Mal gar nicht mehr so feindselig vor. Es war ein freundliches Licht, das sie verstrahlten. Ich erreichte mein Haus, klopfte laut gegen die Haustür. Meine Eltern öffneten, wir fielen uns um den Hals. Sie hatten sich Sorgen gemacht. Sie hatten mich sogar gesucht. Ich erzählte ihnen von dem Mann in der Kirche und wie er die Flamme in mir neu entfacht hatte. Ich erzählte ihnen von der wohltuenden Wärme, die ich gefühlt hatte, und wir waren überglücklich, der Streit war vergessen, und ich wusste, wir würden uns vielleicht wieder einmal streiten, aber solange einer von uns seine Liebe zu den anderen nicht verlor, konnten wir unsere Herzen immer wieder neu entfachen. Wir wollten gerade ins Haus gehen, als ich den alten Bettler wieder sah, der an der Hausecke hockte. Ich ging lächelnd zu ihm hin. „Wollen Sie nicht Weihnachten mit uns feiern?“, fragte ich und hielt ihm die Hand hin, um ihm aufzuhelfen. „Je mehr Kerzen brennen, desto heller und wärmer wird es.“ Er sah mich aus großen Augen an, dann schenkte er mir ein erlöstes Lächeln und ergriff meine Hand. ==================== Frohe Weihnachten! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)