Shards von UrrSharrador (At the End of Nightfall ... no one will be safe ... [Trailer online]) ================================================================================ Kapitel 23: The Abacus' Prophecy -------------------------------- Albtraumschloss, DigiWelt Mittwoch, 23. August 2007 22:08 Uhr In der Ferne grollte Donner. Mit steinerner Miene sah Matt durch das weite Spitzbogenfenster zu, wie das Devidramon Cody davontrug. Sora hatte den Blick abgewandt und ihr Gesicht an seiner Schulter vergraben. Er wollte ihr übers Haar streicheln, aber er schaffte es nicht. Nach einer Weile wurde es dunkel draußen, bald schwarz wie Tinte, als hätte das Licht abgewartet, das Spektakel zu sehen, ehe es der Nacht nachgab. Matt löste sich aus Soras Umarmung. „Komm“, sagte er tonlos. Sora nickte. Tränen standen ihr im Gesicht. Sie stiegen eine steinerne Wendeltreppe hinab. Auf dieser Seite des Albtraumschlosses war alles grauschwarz, voller Staub und Spinnweben. Die Wände und Decken waren rissig, der Boden unförmig, vom Zahn der Zeit aufgewölbt. Es sah so aus, als wäre auf dieser Seite nicht nur ein einzelnes Stockwerk intakt. Die Treppen waren oft in kleinen Kammern oder unter schrägen Wänden versteckt, aber ingesamt konnte man wohl bis ins Erdgeschoss gelangen. Von dem ungewöhnlichen Mechanismus oder Fluch waren die gewöhnlichen Türen, die aus dunkler, knarrender Eiche zu bestehen schienen, nicht betroffen, aber sicherlich würden sie das Schloss nicht einmal dann verlassen können, wenn sie den Ausgang fanden. Sie mussten abwarten, bis die Sonne aufging. Und bis dahin konnte noch alles passieren. Matt fürchtete, das Flugwesen könnte zurückkehren und sie durch eines der glaslosen Fenster als neue Beute betrachten, daher wollte er Sora in einen fensterlosen Raum bringen. Sie hielten sich in der Mitte der Zitadelle und er öffnete eine Tür, die sogar mit Eisen beschlagen war. Vielleicht waren sie dahinter sicher. Es war stockdunkel. Sie leuchteten sich den Weg mit ihren Handys – in der DigiWelt waren sie zwar nicht zu gebrauchen und bislang hatten sie sie ausgeschaltet lassen, aber die Displays waren hell genug, um sie als behelfsmäßige Taschenlampen zu verwenden. „Kein Riegel“, murmelte Matt enttäuscht, als er sich die Innenseite der Tür ansah. „Matt!“, hauchte Sora in dem Moment und drückte seine Hand. „Sieh mal!“ Er schwenkte sein Handy herum. Im matten Schein wurde ein gigantisches Spinnennetz vor ihnen sichtbar, das den halben Raum ausfüllte und schräg vom Boden bis zur Decke reichte. Matt trat näher. „Sei vorsichtig!“, flüsterte Sora. Das Licht erfasste einen kleinen Fadenkokon, unter dem etwas schwarz durchschimmerte. Es sah nicht aus wie ein Lebewesen, das in das Netz gegangen war. Matt packte es und riss es aus den Spinnweben heraus. Angeekelt schüttelte er die Hand, um die klebrigen Fäden loszuwerden, und schälte aus dem Kokon ein Kästchen von der Größe eines Schuhkartons heraus. „Matt?“, kam es leise von Sora. Matt drehte das Kästchen in den Händen. Es war mit einem kleinen Messingschloss gesichtert, aber es sah nicht so aus, als würde es … „Matt!“, rief Sora etwas lauter. Matt sah sie an. „Da … Da ist etwas!“ Ihre Stimme klang furchtsam. „Komm lieber wieder zurück, bitte.“ Er drehte sich um und starrte in die Wirren des Netzes. Die Fäden erzitterten und ein leises Säuseln erfüllte die Luft. Matt kniff die Augen zusammen, versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen … Ein Maul mit Zähnen an drei Seiten klaffte fauchend vor ihm auf und fauliger Atem drang in seine Nase. Eine Wolke grüner Augen glühte vor ihm auf. Matt schrie auf und prallte zurück, ließ dabei das Kästchen fallen. Eine riesige Spinne war aus einem Knäuel im Zentrum des Netzes gekrochen. Hinter ihr wuselte ein Teppich weiterer, kleinerer Spinnen über das Netz, sodass kaum noch etwas von den Fäden zu sehen war. „Schnell!“, rief Sora. Matt riss sich von dem Anblick los und sprang auf. Sora schnellte an ihm vorbei und schnappte sich das Kästchen. Er sah sie verdutzt an, dann nickte er ihr anerkennend zu. Er hätte es total vergessen. Sich an den Händen haltend, stürmten sie aus dem Raum, gerade als das Dokugumon und die kleineren Ausgaben seiner selbst ihr Netz verließen und festen Boden betraten. Matt warf die Tür zu, aber verschließen konnten sie sie nicht. „Wohin jetzt?“, fragte Sora. Matt sah sich gehetzt um. Dort drüben ging es in den nächstunteren Stock. „Da lang!“ Sie rannten über die Treppe, während die Tür wieder aufflog und das Säuseln anschwoll. „Ah!“ Sora übertrat sich den Fuß an einer ausgetretenen Stufe und prallte gegen Matt, der sie festhielt und selbst einen Moment ums Gleichgewicht kämpfen musste. „Was ist los?“, fragte er alarmiert. „Mein … mein Knöchel …“ Eine Schmerzträne glitzerte in Soras Auge. „Es … Es geht schon wieder.“ Matt sah sie zweifelnd an, aber das Trippeln von tausenden Spinnenbeinen auf Stein, das über das Säuseln hinweg zu hören war, trieb sie weiter. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte Sora die Treppe hinunter, Matt stützte sie, so gut er konnte. Sie erreichten einen neuen, düsteren Gang mit verloschenen Fackeln an den Wänden und sahen sich gehetzt um. In stiller Übereinkunft nahmen sie die mittlere Tür, die links abzweigte. Dahinter lag ein großer, kahler Raum, der wieder zwei Fenster hatte, die buchstäblich ins Nichts führten. Es war eine Sackgasse, und es gab nicht einmal Mobiliar zum Verstecken, aber mit Soras verstauchtem Knöchel waren sie zu langsam, um den Spinnendigimon zu entkommen. Sie konnten nur abwarten und hoffen. Matt zog die Tür zu und lugte durch die Bretterritzen. Er sah kaum etwas, aber ein Heer aus grün schillernden Augen wogte an der Tür vorbei. Erleichtert atmete er auf. „Zeig mal her“, sagte er leise und zog sanft Soras Schuh aus. Er konnte im Licht seines Handydisplays nur eine leichte Schwellung entdecken. „Das gibt sich garantiert wieder“, murmelte er. „Vermutlich.“ Dann erst fiel es Sora wieder ein. „Die Schatulle!“ Matt nahm das Kästchen zur Hand. Das rostige Schloss hielt seinen Bemühungen erst stand, aber als er es – so leise wie möglich – ein paar Mal gegen den steinernen Boden klopfte, zerbröselte es förmlich. Der Deckel öffnete sich mit einem leisen Quietschen. Sora und Matt warfen gespannte Blicke hinein. Das Innere des Kästchens war mit blauem Samt ausgekleidet, und darin eingebettet lag … „Das sind sie, Matt“, flüsterte Sora aufgeregt. Matt nahm den Kartenstapel heraus. Es waren in Summe sieben Karten: Gomamon, Andromon, Drimogemon, Gazimon und ShogunGekomon, wobei Gazimon und ShogunGekomon doppelt waren. Schweigend sahen sie auf ihre Errungenschaft hinab, dann verstaute Matt die Karten in seiner Hosentasche, die er mit einem Klettverschluss verschließen konnte. Und jetzt galt es zu warten, bis es Morgen wurde. Sie setzten sich in eine Ecke und starrten die Sekunden weg. Was mit Cody passiert war, steckte ihnen noch in den Knochen, und Matt fühlte sich verantwortlich. Bedrücktes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Sie hielten sich fest an den Händen. Immer wieder schwoll draußen vor der Tür das Säuseln der Spinnen an, und jedesmal begannen ihre Herzen schneller zu schlagen. Matt brach der Schweiß aus, als die Tür ein Stück aufschwenkte, aber es war wohl nur eine Spinne dagegengestoßen. Sie wagten es nicht, aufzustehen und die Tür wieder zu schließen. Ihre einzige Hoffnung war, dass die Spinnen kaum einen Funken Intelligenz besaßen und sie nicht finden würden und stattdessen wieder in ihr Netz abtauchten. Matt überlegte, ob er das Kästchen auf den Gang stellen sollte, damit sie ihr Eigentum wieder hätten, aber wenn etwas schief ging und ihn eines der Digimon bemerkte … Er wagte es sich kaum vorzustellen, wie er, von Gift betäubt, das ihn schleichend tötete, in einen Kokon eingesponnen in diesem ekligen Netz hängen würde … Die Zeit war wie zäher Honig. Je öfter man auf die Uhr sieht und je mehr man darauf wartet, dass die Zeit vergeht, desto mehr zieht sie sich in die Länge. Aber sie vergeht. Selbst wenn man eine Digitalanzeige hat, kann man sehen, dass pro Sekunde wirklich eine Sekunde vergeht. Und darum sah Matt ihmmer wieder auf seine Armbanduhr. Um sich zu vergewissern, dass die Zeit wirklich ablief. Wenn die Minuten zur Ewigkeit wurden, würde er sich eben an die Sekunden halten. Nach einer Weile merkte er, wie Soras Kopf auf seine Schulter sank und sie sich dann erschrocken wieder aufrichtete. „Tut mir leid. Ich bin eingenickt“, murmelte sie. „Das macht doch nichts. Willst du etwas schlafen? Dann würde es dir nicht so lange vorkommen.“ „Aber Matt, die Spinnen …“ „Ich setz mich zur Tür und halte Wache.“ Er küsste sie auf die Stirn. „Versuch etwas zu schlafen.“ Sora lehnte sich weiter in die Ecke. Er fühlte sich nicht wohl dabei, sie so allein in der alten, staubigen grauen Leere sitzen zu sehen, fürchtete, dass sich plötzlich ein Loch im Boden auftun und sie verschlingen könnte – in diesem Schloss schien alles möglich. Aber sie sollte schlafen und etwas von dem Grauen vergessen, das am Gang auf sie lauerte. Matt setzte sich schräg hinter den Türflügel. So konnte man ihn nicht sehen, aber wenn jemand die Tür öffnete, würde er es merken, und wenn sich jemand durch den Spalt schlich, konnte er ihn überraschen. Er machte sich nichts vor. Falls die Spinnen sie wirklich entdecken würden – selbst wenn es nicht Dokugumon, sondern eine der kleineren war –, würden sie sich nicht verteidigen können. Ihre einzige, winzige Hoffnung war, dass die Spinnen hier nicht nachsehen würden. Matt atmete tief durch. Wenn es doch nur ein Geisterschloss wäre. Aber es war ein Schloss voller grauenhafter Monster. Die Spinde waren allesamt leer gewesen. Keine Karten, auch nichts Essbares. Nicht, dass irgendjemand von ihnen hungrig gewesen wäre. Izzy hatte zum Erstaunen aller hinter den Spinden einen versteckten Durchgang gefunden. Ein leerer Türrahmen führte in einen kurzen Gang, in dem unverschlossene Türen zu weiteren Zimmern führten. Am Ende des Ganges, der mit einem billigen Kunstfasterteppich ausgelegt war, führte eine Treppe nach unten zu einer Schiebetür, hinter der ein kahler Raum mit leeren Holzkäfigen lag. Dem Geruch nach zu urteilen, waren einst in den mit Stroh gefüllten Käfigen Kaninchen oder etwas in der Art gehalten worden. Einmal mehr fragte sich Izzy, wo zum Teufel sie eigentlich waren. Wahrscheinlich war nicht einfach nur ein Hotel in die DigiWelt gesaugt worden und mitten im Albtraumschloss aufgetaucht, sondern mehrere Räume aus verschiedensten Häusern in verschiedenstesn Ländern, die alle nichts gemeinsam hatten, und nun in dieser Welt miteinander verbunden waren. Izzy stellte sogar die Theorie auf, dass alles, was sie hier sahen, nur eine Illusion war, wie damals in Devimons Haus auf der File-Insel. Die beiden anderen Zimmer waren nicht ganz so unnatürlich. Das eine war eine kleine Gerümpelkammer, wo zwischen leeren Kartons und Kisten und rauen Holzbrettern sogar ein alter Flügel stand, der allerdings keinen Ton von sich gab. An der Decke brannte hinter einem milchig gelben Schirm eine Glühbirne. Der andere Raum war behaglicher eingerichtet. Alte Tapeten klebten an den Wänden, lösten sich an den Enden schon ein wenig. Ein Schrank mit muffigen Kleidern, die geschätzt aus den Achtzigern stammten, und ein einzelnes Bett gaben eine bewohnbare Atmosphäre her – selbst wenn auf der uralten Matratze kein Bezug und auch keine Kissen oder Decken lagen. Die Gruppe hielt sich deshalb in diesem Raum auf. Die Stimmung war gedrückt. Davis hatte sich etwas beruhigt, war aber schweigsam und noch verbitterter geworden. Die anderen waren ebenfalls still, sogar Mimi. Yolei hatte sich auf dem Bett niedergelassen und döste vor sich hin. Die alte Schirmlampe über ihren Köpfen surrte leise, auch in den anderen Räumen gab es elektrisches Licht. Irgendwann hielt Davis das Nichtstun nicht mehr aus und ging davon. Niemand hielt ihn auf. Er betrat das Zimmer mit dem Flügel und stöberte in den Kisten herum. Außer noch mehr Staub und belanglosen Papierblättern fand er zunächst nichts, dann weckte etwas seine Aufmerksamkeit, das hinter den Brettern, die an der Wand lehnten, verborgen war. Es war ein alter Abakus mit Kugeln in verschiedenen Farben. Er wollte ihn soeben wieder zurücklegen, als er eine Stimme hörte. „Weißt du, was das ist?“ Davis fuhr herum. Der Besitzer der leisen Fistelstimme war nirgends zu sehen. „Wer ist da?“ Plötzlich gab der Flügel einen Ton von sich. Davis zuckte zusammen. Seine Augen blitzten zu den alten Tasten. Wie von Geisterhand wurden sie nach unten gedrückt, spielten einen einfachen Akkord. Davis blinzelte. Dann nahm eine Gestalt Form an, die auf dem Klavierhocker saß. Sie war menschlich, aber durchscheinend; ein blasser, unscheinbarer und sehr dürrer Mann. „Wer bist du?“, murmelte Davis. Er konnte es nicht fassen, hier einen Menschen zu sehen. Oder auch nur irgendetwas, das aussah wie ein Mensch. „Dieser Flügel gehörte einst mir“, sagte die Gestalt und seufzte. „Genau wie das Haus, in dem wir sind. Oder eher dieser Raum hier.“ „Aber … der Flügel ist doch stumm“, sagte Davis. „Wieso kannst du darauf spielen?“ Der Mann lächelte traurig. „Weil der Flügel tot ist – genau wie ich.“ „Du bist ein … Geist?“ „Ich weiß nicht, was ich bin“, sagte er. „Ich war in meinem Haus und habe auf meinem geliebten Flügel gespielt. Dann passierte etwas, von dem ich heute noch nicht weiß, was es war. Ich war plötzlich hier, aber gleichzeitig auch nicht. Mein Haus brach zusammen, begrub mich, und gleichzeitig spürte ich, wie ich an einen anderen Ort gezogen wurde. Aber an diesem Ort kann ein Mann wie ich nicht leben. Es wundert mich, dass du hier bist, Junge.“ Davis schluckte. „Das hier ist die DigiWelt“, sagte er. „Sie sagen, nur Kinder können sie betreten. So war es früher, aber ich glaube, das hat sich geändert, genau weiß ich es nicht.“ „DigiWelt? Nun, vielleicht. Vielleicht bin ich deshalb nur als Geist hier, wie du gesagt hast. Kommt so etwas vor?“ „Ich … ich weiß nicht.“ Der Mann tat Davis nicht leid – er selbst hatte in letzter Zeit zu viel mitgemacht –, aber er fühlte eine gewisse Betroffenheit. „Was meintest du vorhin, als du gefragt hast, ob ich wüsste, was das ist?“ Er schüttelte die Rechentafel, aber wie durch ein Wunder glitten die Kugeln wieder an ihre ursprüngliche Position zurück. Davis sah das Gerät verwundert an. „Von Zeit zu Zeit kommen merkwürdige Wesen hierher“, sagte der Mann. „Sie sehen unheimlich und … böse aus.“ „Die Scherben“, sagte Davis. „Sie sehen mich nicht. Aber ich belausche sie oft. Sie haben hier irgendwo etwas versteckt, und man kann diesen Ort nur am Tag verlassen und betreten.“ Er zuckte seine durchsichtigen Schultern. „Nicht, dass es mir etwas bringt. Ich kann nicht einmal aus diesem Zimmer hinaus, sonst fühle ich einen Schmerz, als würde mir etwas meine Eingeweide herausreißen. Also bleibe ich hier.“ „Und was ist das jetzt für ein Ding?“ „Was denkst du denn?“ „Für mich sieht’s wie ein Rechenbrett aus.“ Der Geist nickte. „Die Wesen haben ihn hier platziert. Sie sagen, er zeigt die Zukunft. Sie schauen damit nach, ob ihrem Schatz – sie haben von irgendwelchen Karten gesprochen – Gefahr droht. Je nachdem, wer den Abakus anfasst, ändert sich die Konstellation der Kugeln.“ „Aha“, sagte Davis. Ihm sagten die bunten Kugeln gar nichts. „Ich habe nur meinen Flügel und diesen Abakus als Beschäftigung. Ich habe gesehen, wie sie ihn benutzen und die Zukunft damit vorhersagen. Ich kann dir sagen, was die Kugeln, wie du sie siehst, bedeuten.“ „Ich hätte dich schon viel früher treffen sollen“, murmelte Davis düster und hielt ihm den Rechner hin. Der Mann ließ den Blick darüber gleiten und seine Miene wurde ernst. „Dir und deinen Freunden steht keine freudige Zukunft bevor, mein Junge“, sagte er tonlos. „Ihr seid zu acht in diesem Gebäude. Aber sieben von euch werden sterben.“ Davis riss die Augen auf. „Du … Du meinst …?“ Er hatte sich verhört. Oder? „Sieben von euch werden in den nächsten Tagen sterben, wahrscheinlich schon heute, noch bevor die Sonne aufgeht“, sagte der Mann und sah ihn aus ernsten, bedauernden Augen an. „Nur einer wird überleben.“ In Davis tobte ein Sturm aus Gefühlen, Angst und Befürchtungen. Irgendwie war er froh, dass es wenigstens einer schaffen würde. Solange nur einer freikäme … Und Kari wäre nur die erste von vielen gewesen, und vielleicht wäre ihr Tod noch der schönere gewesen … Sein Stimme war trocken, als er fragte: „Und … wer wird es sein, der überlebt?“ Der Mann besah sich den Abakus erneut. „Ich kenne euch nicht, daher kann ich es nicht genau sagen. Aber siehst du diese Kugel?“ Er deutete auf eine violette Kugel, die am oberen Ende der Rechenreihen noch in der Mitte, in der unteren Hälfte allerdings am rechten Rand war. In der untersten Reihe waren alle anderen Kugeln nach links geschoben, und nur die violette blieb allein auf der rechten Seite übrig, mit einigem Abstand zu den anderen. „Ich weiß nicht, wen diese Kugel darstellt“, fuhr der Geist fort, „aber wie du siehst, war er oder sie lange das Zentrum eurer Gruppe. Die anderen haben sich um diese Kugel geschart, haben auf sie gebaut.“ Der Finger des Geistes glitt die Zeilen entlang und entzifferte die Geschichte, die dieser verrückte Abakus zu erzählen versuchte. „Dann ist etwas passiert, etwas, dass die Ordnung in eurer Gruppe zerschlagen hat. Siehst du, wie die Kugeln durcheinander sind? Sie liegen auch nicht mehr so dicht aneinander, sie haben sich voneinander entfernt. Die violette Kugel ist an den Rand gewichen, steht abseits, und will nur noch wenig mit den anderen zu tun haben. Sie versucht immer noch, der Gruppe zu helfen, aber die anderen vertrauen ihr nicht mehr. Hier siehst du, wie Streit die Lücken zwischen den Kugeln immer weiter vergrößert. Dann wandert eine nach der anderen nach links, was für Tod steht. Von acht Kugeln bleibt nur die violette übrig. Die, die zuerst wichtig war und alles zusammengehalten hat. Die, die von dem schrecklichen Ereignis, das passiert ist, am meisten betroffen war. Die, die ihr Bestes geben will, aber von den anderen nicht akzeptiert wird. Sie wird überleben.“ Davis war wie paralysiert. „Nicht akzeptiert wird … als Anführer?“, fragte er mit belegter Stimme. Der Geist nickte und legte ihm seine eisig kalte Hand auf die Schulter. „Das ist sehr gut möglich.“ „Danke. Ich glaube, ich weiß, um wen es geht.“ Davis versteckte den Abakus wieder hinter den Brettern, drehte sich um und verließ ohne ein Wort des Grußes den Raum. Er war erschüttert. Die Prophezeiung war klar: Er würde als einziger den Tag überleben. Nur er. Die Axt in seiner Hand fühlte sich schwerer an als je zuvor. Er ging zu den anderen zurück und hüllte sich in Schweigen. Sollte er es ihnen sagen? Nein, auf keinen Fall. Das brachte er nicht über sich – und es war auch besser, wenn sie ahnungslos blieben. Nachdem Davis gegangen war, spielte der Geist noch einen simplen Akkord auf dem Flügel. Besser spielen konnte er schließlich nicht. Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen, seine Form verschwamm und bildete den Lakenkörper eines Soulmons; eines Bakemons mit Hexenhut. Das Geistdigimon schnippte mit den blauen Fingern und der Rechenschieber verpuffte in einer Rauchwolke. Leise kichernd löste sich auch das Soulmon in Luft auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)