Shards von UrrSharrador (At the End of Nightfall ... no one will be safe ... [Trailer online]) ================================================================================ Kapitel 28: Pandora's Box ------------------------- Staubgrube, DigiWelt Samstag, 25. August 2007 21:35 Uhr Die Nacht war hier an diesem Ort undurchdringlich, fiel Ken auf. Es war, als würde selbst der Himmel dieses Lager der Gesetzlosen in einem Schleier der Unkenntnis verhüllen wollen – dabei gingen hier, wie er gehört hatte, Dunkle und Scherben gleichermaßen ein und aus. Ken pochte an die Pforte. Er hatte sein ohnehin zerfetztes Wizardmonkostüm endgültig weggeworfen und stand nun in seinen normalen, kaum ansehnlicheren Klamotten vor dem Tor, und das Kokatorimon, das die kleine Holzklappe auf Augenhöhe öffnete, erkannte ihn sofort als Menschen. Wie er gehofft hatte, empfand es das nicht gleich als Grund zur Feindseligkeit. „Der Zutritt zur Staubgrube kostet einen Tribut“, krächzte das Vogeldigimon und musterte ihn genau. „Taugenichtse können wir nicht gebrauchen.“ „Das macht nichts, ich will nur eine Auskunft“, erklärte Ken und bemühte sich um eine feste Stimme. Unbewusst kratzte er seinen linken Arm. „Ich habe gehört, es gibt ein Keramon hier, das so ziemlich über alles Bescheid weiß. Hol es mir doch bitte her, ich habe Fragen an es.“ Kokatorimon rührte sich natürlich nicht von der Stelle. Sein schmutziges Gefieder raschelte, als es die Brust aufplusterte. „Wenn du nicht einmal den Eintritt bezahlen kannst, wie willst du Keramon dann bezahlen?“ „Ich habe nicht vor, zu bezahlen.“ „Dann verschwinde. Gute Nacht.“ Das Kokatorimon wollte die Klappe schließen und Ken sah sich gezwungen, etwas zu tun, das er lieber vermieden hätte. Es erinnerte ihn zu sehr an sein altes Selbst. „Bring Keramon her, und bring es dazu, mir zu antworten. Sonst werde ich die Staubgrube wirklich in Staub verwandeln.“ Ken bemühte sich um eine möglichst kalte Stimme, achtete aber darauf, dass er nicht zu sehr in sein DigimonKaiser-Ego abdriftete. Es ist nur gespielt, schärfte er sich ein. Ich würde es niemals wirklich tun. Das Kokatorimon sah ihn schief an. „Wenn du Ärger suchst, wirst du ihn hier gerantiert finden“, drohte es. „Jetzt verzieh dich.“ Ken hob demonstrativ die Hand, konzentrierte die Daten des Allomons in seinem Arm. Seine Narbe begann zu schimmern und eine orangerote Flamme begann in seiner Handfläche zu lodern. „Ich bin eigentlich friedlich hier“, sagte er gedehnt. „Aber du kannst mich ruhig angreifen. Eine neue Attacke kann ich immer gebrauchen.“ Die Augen des Kokatorimons wurden groß und er meinte so etwas wie Respekt darin zu erkennen. „Ich verstehe“, murmelte es. „Du bist … der Pirat.“ „Pirat? So nennt man mich?“ Immerhin besser, als wenn sie eine Verbindung zu dem Jungen namens DigimonKaiser hergestellt hätten. „Der Datenpirat. Die Staubgrube ist voll von Gerüchten über ihn. Man sagt, er sei ein Abtrünniger der Dunklen, weil er die Attacken von Digimon kopieren kann. Er wandert durch die DigiWelt und ist unverwundbar.“ Nun schwang sogar Ehrfurcht in Kokatorimons Stimme mit. Es scharrte nervös mit den Krallen „Dann weißt du, dass mit mir nicht zu spaßen ist“, sagte Ken gewichtig. „Ich kann die Staubgrube im Nu in Flammen aufgehen lassen. Bring das Keramon dazu, mir zu antworten, und ich werde euch nie wieder belästigen.“ Kokatorimon sah unsicher hin und her. „Warte hier“, krächzte es dann und trampelte davon. Ken musste lange warten, offenbar war Keramon widerspenstig. Schließlich kehrte das Vogeldigimon mit einer Art blauen Qualle und einigen Mushroomon und Ninjamon im Schlepptau zurück, die fast so wirkten, als wären sie dabei, um das Keramon anzuschieben, sollte es stehen bleiben. Das Tor wurde geöffnet und die kleine Truppe trat zu Ken hinaus. „Was will der Pirat von Keramon?“, schnarrte es beleidigt. „Keramon hat nichts mit dem Piraten zu schaffen, schon gar nicht ohne Bezahlung.“ Ken hob den Arm und schoss einen hellblau glühenden Donnerball in den Boden vor Keramon, sodass es einen erschrockenen Satz machte. „Verstehen wir uns?“, fragte er scharf. Keramon verzog den Mund zu einem Grinsen – wenn er es genau nahm, schien sein Mund standardmäßig ein Grinsen zu sein. „Keramon liegt nichts an der Staubgrube. Und Keramon kann schnell untertauchen.“ Es sah sich um. „Die anderen werden für die Fragen des Piraten aufkommen müssen, jaja.“ Die Digimon, die es umstellten, schnappten empört nach Luft, wagten aber keine Erwiderung, als Ken sagte: „Mir ist es egal, wer dich bezahlt. Ich will Antworten auf meine Fragen.“ Keramon rieb sich die Pranken. „Also schön, Keramon wird sich Mühe geben.“ Und so fragte Ken das Digimon über alles aus, was in der DigiWelt vorging und woran er bisher blind vorbeigestolpert war. Er erfuhr, dass einer der neuen DigiRitter die anderen getötet und die Dunklen gegründet hatte, dass dieser Junge namens Taneo die Scherben befreit hatte und dass nun beide nach einer Möglichkeit suchten, Piedmon, den vierten Meister der Dunkelheit, aus seiner Verbannung zu befreien. Er erfuhr, dass Taneo einen der Triumviratoren der Scherben getötet hatte, LadyDevimon, und dass es laut den jüngsten Gerüchten bereits einen potenziellen Nachfolger gab, der allerdings ein Mensch war. Außerdem erfuhr er, dass die alten DigiRitter wieder in der DigiWelt waren, eine Nachricht, die er erfreut aufnahm. Er war lang genug ziel- und kopflos in der DigiWelt herumgeirrt, in Sorgen, Ängsten und einem Nebel aus unvollständigen Erinnerungen versunken. Es war Zeit, wieder nach vorne zu schauen und etwas zu tun. Seine Trauer konnte warten, die Zukunft konnte es nicht. Er musste sich seinen alten Freunden wieder anschließen, obwohl er sich ihnen mittlerweile so fremd fühlte. Aber noch nicht jetzt. Zuerst wollte er ein letztes Rätsel klären, das sich ihm in seinem Traum gestellt hatte. „Was weißt du von einer alten Stufenpyramide, die hoch im Norden in einem verschneiten Gebiet steht?“ Keramon blinzelte und wackelte mit den Gliedern, als hätte es keine Knochen darin, sondern Pudding. „Die Pyramide gibt es nicht mehr“, sagte es. „Sie ist vor etwa einem Monat zerstört worden, weil es dort eine Explosion gab. Man weiß nicht, wer dahintersteckt, aber vermutlich die Scherben, weil eine ihrer Armeen zu der Zeit in der Nähe war. Die Pyramide war in Wirklichkeit eine Fabrik der Dunklen, jaja. Taneo hat dort für seine Menschlinge DigiVices entwickelt, mit denen sie die Daten der Digimon, die sie töten, scannen und ihre Attacken kopieren können.“ Keramon sah Ken plötzlich auf eine merkwürdig forschende Art und Weise an, als erwartete es, dass er auch so ein DigiVice besaß. Und es machte ja sogar Sinn. Ein dumpfes Traumbild blitzte in seinem Kopf auf, in dem er vor einer Maschine mit fremdartigen DigiVices darin stand … Und da war dieser fremde DigiRitter gewesen, und Stingmon, und danach war er selbst in einer Schneehöhle aufgewacht. „Dann habe ich noch eine letzte Frage. Hast du schon einmal von einem Seil gehört, das in den Himmel wächst?“ Keramon sah sich um und grinste. „Oh, das wird teuer für Freunde, sehr teuer. Der Pirat muss wissen, das ist ein sehr altes, geheimnisumwobenes Artefakt. Vor acht Jahren oder so, kurz bevor die DigiWelt erneuert wurde, war es im Besitz der Meister der Dunkelheit. Man erzählt sich, dass erst mit seiner Hilfe das Übel, das damals die DigiWelt bedroht hat, es geschafft hat, die Feuerwand zu überwinden, aber das muss nicht stimmen. Nachdem das Hauptquartier der Meister der Dunkelheit auf dem Spiralberg zerstört wurde, ist das Seil verschwunden, jaja. Es ist aber wieder aufgetaucht, nachdem die letzten DigiRitter die finsteren Asuras besiegt hatten. Seitdem wird es in Santa Caria aufbewahrt.“ „Santa Caria …“, wiederholte Ken nachdenklich. „Jetzt ist es aber genug“, ertönte da eine schleimige Stimme. Ken hob den Kopf und sah ein hochgewachsenes Blossomon aus der Staubgrube gleiten. Das Digimon, das nur aus Blumen und armdicken Ranken bestand, musterte ihn mit einem fiesen Gesichtsausdruck. „Der Wicht soll der Datenpirat sein? Und von dem lasst ihr euch einschüchtern?“ Die Digimon der Staubgrube schwiegen betreten. „Macht Platz, ich zeige ihm, wie wir hier mit Störenfrieden umgehen“, blaffte Blossomon. „Tu das nicht“, murmelte Ken. „Ach, halt die Klappe, Mensch. Spiralblume!“ Ohne sich zu vergewissern, dass die anderen Digimon sich in Sicherheit brachten, begann Blossomon eine seiner Blumen, die auf langen Rankenaufsätzen thronten, zu rotieren und stieß damit auf Ken ein. Dieser hob nur die linke Hand und wie schon so oft bewahrte ihn die mystische Kraft in seinem Arm vor Schaden. Die rotierende Blume traf auf einen unsichtbaren Widerstand, und blaue bis rosafarbene Lichtblitze zuckte um Kens Arm herum, auf dem die Narbe silbrig aufglühte. Blossomon ächzte, gab aber nicht nach, selbst dann nicht, als sich die Spiralblume bereits aufzulösen begann. Kens Haar flatterte in dem Datenwirbel vor seinem Gesicht herum, als er sich um einen möglichst gleichgültigen Blick bemühte, mit dem er das Digimon maß. „Wenn ihr euch heraushaltet, werde ich euch nicht bestrafen“, sagte er zu den anderen, die respektvoll zurückwichen und wahrscheinlich so oder so auf den Ausgang des Duells gewartet hätten. Er hatte sich, seit er diese Narbe hatte und um ihr Geheimnis wusste, darum bemüht, seine Feinde nicht zu töten. Nur bei einem Devidramon, das ein Späher der Scherben gewesen war, war es ihm nicht gelungen. Aber er machte sich auch nichts vor. Ohne Opfer konnte er nicht siegen, schon gar nicht, wenn das Opfer bedeutete, die zu töten, die ihn töten wollten. Und das Blossomon hatte genau das vor, soviel konnte er in seinen Augen sehen – und in seiner Beharrlichkeit. Ken ließ eine eindrucksvolle Flamme in seiner Hand auflodern, die die Dunkelheit der Nacht zurücktrieb. „Dinoknall!“ Eine Stichflamme traf das Blossomon unterhalb der Kopfblüte und ließ es zurücktaumeln. Anstatt jedoch vor dem Feuer zurückzuweichen, warf es sich förmlich auf Ken, ließ aus jeder Richtung seine Ranken züngeln und versuchte ihn einzuwickeln. Ken wich nicht aus. Er ließ es zu, dass das Pflanzendigimon ihn gänzlich umschlang. Die Digimon der Staubgrube beobachteten das Spektakel mit angehaltenem Atem. Am meisten zappelte Keramon hin und her, das wohl vor allem fürchtete, jetzt doch keine Bezahlung zu erhalten. Das Blumengesicht des Blossomons verzog sich zu einem triumphierenden Grinsen, als der Datenpirat völlig unter seinen dichten Urwaldranken verschwand. Dann änderte sich plötzlich sein Gesichtsausdruck, wurde überrascht. Ein rotes Licht flammte in der Pflanzenwand auf und plötzlich wurden die Ranken von innen heraus zerfetzt. Wie tausende zuckende Tentakeln stoben die anderen auseinander, als Ken aus der Umklammerung stürmte, die linke Hand rot glühend, die Fingernägel in lange, glänzende Krallen verwandelt, die rote Lichtschweife hinter sich herzogen. Blossomon heulte auf und schoss eine weitere Spiralblume auf ihn ab. Diesmal saugte Ken die Attacke nicht, sondern holte nur mit seiner Klaue aus. „Rote Kralle!“ Zielgenau zerriss er die Blume, sprang auf eine der Ranken, die Blossomon als Beine dienten, und rannte das Digimon empor. Als es versuchte, ihn abzuschütteln, sprang er und streckte den Arm aus. „Spiralblume!“ „Was?“, kreischte das Blossomon, als aus seiner Hand eine lange Ranke mit sich rotierender Blumenspitze schoss. Ken wickelte die Spiralblume um die Blütenblätter über Blossomons Kopf und zog sich daran hoch, indem er die Ranke wieder kürzer werden ließ. Wie mit einem Hakenwerfer gelange er so direkt vor Blossomons Gesicht. „Das Spiel ist aus“, rief er. „Rote Kralle!“ Wie Tarzan schwang er sich an seiner Liane direkt in Blossomons Blütengesicht und stieß seine rot glühenden Krallen hinein. Die zarten Blätter und Plfanzenhäute zerrissen wie Papier unter seinen Fingern und grüner Saft spritzte ihm entgegen, als er sich seinen Weg durch Blossomons Kopf bohrte. Völlig in zähflüssiges Sekret getaucht durchbrach er die Rückseite des Digimon, überschlug sich in der Luft und landete hart am Boden. Das glitschige Zeug ließ ihn noch ein Stück weiterrutschen, eher er wieder auf die Füße kam und gerade noch sah, wie Blossomon leblos hintenüberkippte und direkt auf ihn zu fallen drohte. Gerade, als er dachte, es würde ihn jetzt endgültig zerquetschen, löste es sich in Luft auf und bestäubte ihn mit funklenden Datenfragmenten. Ken atmete tief durch. Jetzt war es wichtig, ein gutes Auftreten hinzulegen, damit die anderen nicht auf dumme Gedanken kamen, auch wenn seine Klamotten noch so besudelt waren. Er drehte sich zu Keramon und den anderen Digimon um und erkannte, dass er einen furchteinflößenden Eindruck machen musste, das länger gewordene Haar schweißnass im Gesicht klebend, sodass man seine Augen kaum sehen konnte, die Narbe an seinem linken Arm bläulich glühend, die Krallen an seiner Hand, die wie Rubine mit darin eingeschlossenem Feuer wirkten, und über und über in das grüne Blut des Blossomons getaucht. „Danke für deine Auskunft“, sagte er ruhig. „Ich halte mein Versprechen.“ Damit drehte er sich um und ging. Im Inneren wusste er, dass er hier und heute eine neue Legende geschrieben hatte; etwas, von dem wohl selbst Keramon gratis erzählen würde. Finsterzitadelle, DigiWelt Samstag, 25. August 2007 23:25 Uhr „Du bist ja schon wieder hier“, schnauzte ihn SkullSatamon an, als er den Thronsaal betrat. „Die Wachen haben mich nicht aufgehalten“, erklärte T.K. „Als ich ihnen das hier gezeigt habe, hatten sie es sogar eilig, mich zu euch zu lassen.“ Er holte aus und warf seinen geöffneten Rucksack den Triumviratoren entgegen. Als er auf dem Boden landete, kullerte Akis Kopf vor SkullSatamons Füße. „Verstehe“, schnarrte das Skelettdigimon. „Du hast es wörtlich genommen.“ „War es denn nicht wörtlich gemeint?“ „Natürlich war es das“, kicherte SkullSatamon. „Aber ich hatte gehofft, dich wieder wegschicken zu können.“ „Nun, ich bin hier.“ Es hatte T.K. erstaunlich viel Überwindung gekostet, diese zweifelhafte Trophäe in dem Rucksack mitzunehmen, den er in der Finsterzitadelle unter einem Haufen von Überbleibseln der Dunklen gefunden hatte. Er ekelte sich vor sich selbst, so sehr sogar, dass ihm gleich zu Beginn schlecht geworden war, aber er hatte sich entschieden, diesen Weg zu gehen. „Wir hatten eine Abmachung.“ „Wir haben nur abgemacht, dass wir darüber nachdenken“, versetzte SkullSatamon. T.K. seufzte. „Seht euch an: Ihr braucht einen Dritten, sonst seid ihr kein Triumvirat. Geht das nicht in eure knöchernen Schädel? Und ich habe an einem Tag das geschafft, woran ihr seit Monaten scheitert.“ „Er hat nicht unrecht, SkullSatamon“, warf Phantomon ruhig ein. Das Skelett funkelte es wütend an. „Ich wusste, du hast mehr Verstand, Phantomon. Wenn euch meine Ideen nicht gefallen, könnt ihr mich immer noch überstimmen. Wo ist das Problem?“ Das Geistdigimon rasselte mit der Kette. „Also gut. Wir werden dich in das Triumvirat der Scherben aufnehmen. Du darfst auf dem mittleren Thron sitzen.“ T.K. verbeugte sich förmlich, rührte sich aber nicht von der Stelle. „Nun, Mensch, was gedenkst du nun zu tun, sozusagen als erste Amtshandlung?“, fragte SkullSatamon lauernd und ließ sich auf seinem eigenen Thron, dem ganz rechts, nieder. Ohne Zweifel hoffte es darauf, dass er bei ebenjener Amtshandlung schlussendlich ums Leben kam. T.K. lächelte. „Ich werde mich selbst zum Marschall der Albtraumsoldaten machen und einen Feldzug führen.“ SkullSatamons Totenkopf spiegelte eigentlich kaum Gefühle wider, aber in diesem Moment wirkte es eindeutig verblüfft, fast entsetzt. „Du willst was? Was erdreistest du dich?“ T.K. ging nun doch zu seinem Thron, setzte sich darauf, faltete die Hände und überschlug die Beine, ehe er gemächlich antwortete. „Ich brauche die Generäle für einen Schlag gegen die Dunklen. Sie sollen sich so schnell wie möglich bei mir melden. Ich werden den Angriff anführen, und wir werden sowohl ihre Festung zerstören als auch alle, die sich noch darin befinden.“ SkullSatamons Mund klappte auf und es sah hilflos zu Phantomon. Das Geistdigimon kicherte in seine Kapuze hinein. „Ich glaube, wir haben mit ihm eine gute Wahl getroffen.“ Santa Caria, DigiWelt Sonntag, 26. August 2007 16:38 Uhr Ken merkte, dass ihn seine Erinnerung getäuscht hatte, denn Santa Caria sah ein bisschen anders aus, als er gedacht hatte. Dennoch erkannte er die Stadt wieder, die sich über den Berghang zog wie Schimmel, die Häuser schmutzig braun und quaderförmig, die Straßen staubig und trocken. Sein Blick glitt auf die Bergspitze, dorthin, wo er einst einen seiner Schwarzen Türme errichtet hatte. Es war eine Ironie, dass er nun wieder hier war. Und er fühlte sich immer noch schuldig. Seine Reue wurde auch nicht gerade dadurch gemindert, dass Santa Caria immer noch von Gazimon bewohnt wurde. Die hundeähnlichen Digimon sahen ihn zunächst als Feind an, auch wenn er sicher war, dass sie ihn nicht als DigimonKaiser wiedererkannten. Nachdem er die Betäubungsblitze zweier Gazimon gescannt und kopiert hatte, indem er sie mit seinem linken Arm abgewehrt hatte, schaffte er es sie davon zu überzeugen, dass er nicht feindlich gesinnt war. Fortan begegneten sie ihm sogar mit so etwas wie misstrauischem Respekt und erklärten sich bereit, ihn zu dem Himmelsseil, wie sie es nannten, zu bringen. Ein ziemlich kleines, vorwitziges Gazimon mit hoher Stimme wuselte neben ihm her und schien einen regelrechen Narren an ihm gefressen zu haben. „Bist du wirklich der Datenpirat?“, fragte es mit leuchtenden Augen. Ken nickte. „Weißt du, wo das Seil hinführt?“ „Das versuche ich herauszufinden“, erklärte er. „Habt ihr nie versucht, hinaufzuklettern?“ Gazimon schüttelte den Kopf. „Es heißt, nur der Auserwählte darf es versuchen. Es ist immerhin ein magisches Seil. Der Bürgermeister hat uns verboten, es auch nur zu berühren.“ Es strahlte über das ganze Gesicht, zumindest soweit Ken das erkennen konnte. „Aber es gibt eine Prophezeiung, dass einmal jemand kommen wird, der das Geheimnis lüftet. Das bist sicher du!“ Ken war ein wenig amüsiert, wie so ein Seil, an dem entweder ein großes Geheimnis oder auch einfach gar nichts hing, so viel Aufregung schaffen konnte, dass sich sogar Prophezeiungen darüber entwickelt hatten. Als er nichts sagte, fuhr das vorlaute Digimon fort: „Und derjenige, der die Prophezeiung erfüllt, wird auch der sein, der die Dunklen in die Schranken weist. Dass du auch ein Mensch bist, kann kein Zufall sein!“ Um der Ironie die Krone aufzusetzen, führten ihn die Gazimon direkt dorthin, wo einst unter seiner Regentschaft das Gefängnis gewesen war. Die Gitter waren fort und die Wände verziert, aber es war immer noch ein klobiger, schmutziger Bau, selbst für die Verhältnisse von Santa Caria. Dort stand, in einer ehemaligen Zelle und bewacht von zwei gewissenhaft dreinblickenden Gazimon, ein geflochtener Korb. „Der Datenpirat ist gekommen, um die Prophezeiung zu erfüllen“, sagte das Gazimon wichtigtuerisch. Die Wächter sahen sich kurz an und gaben den Weg frei. Als Ken sich nach dem Korb bücken wollte, um ihn zu öffnen, schnappte ihn sich sein Begleiter und lud ihn auf seinen fellbedeckten Rücken. „Nicht hier, komm, wir gehen auf die Spitze des Berges, dann musst du nicht so weit klettern.“ Und so kam es, dass auch der Ort, wo der Schwarze Turm, Kens persönliches Verbrechen an der DigiWelt, gestanden war, Besuch von ihm bekam. Das Gazimon stellte den Korb ab und öffnete ihn feierlich. Mittlerweile hatte sich eine beachtliche Ansammlung auf der Felsebene gebildet; die halbe Stadt schien gekommen zu sein. Ken sah mit großen Augen mitan, wie das Seil sich einer betörten Schlange gleich aus dem Korb wand und sich in einem steilen Winkel in den Himmel schlängelte, wo es in den Wolken verschwand. Das kleine Gazimon machte eine auffordernde Geste in seine Richtung. Ken atmete tief durch und begann den Aufstieg. Während er kletterte, fragte er sich, wie es kam, dass der Ort, an den das Seil führte, zufällig genau über der Stadt lag, wo er doch eigentlich auch auf der anderen Seite der DigiWelt sein konnte. Im gleichen Moment schalt er sich einen Idioten. Das hier war schließlich die DigiWelt. Wahrscheinlich stellte das Seil eine Verbindung zu diesem Ort her, wie ein Datentunnel. So konnte man ihn von überall aus erreichen – allerdings nur mit dem Seil. Als die Gazimon unter ihm so klein waren wie Ameisen, verbot sich Ken, weiterhin nach unten zu sehen. Der Weg war noch so weit, die Wolken noch ewig entfernt – und wer wusste schon, wie lange es dahinter noch weitergehen würde. Ken legte eine Pause ein, während derer er sich mit seinen neu gewonnen Blossomon-Ranken um das Seil wickelte, um seine Musken ausruhen zu können. Dann kletterte er weiter. Die Wolken schienen vor ihm zurückzuweichen, wurden von der scheinbaren Fläche zu einzelnen, kaum mehr erkennbaren Stellen, an denen die Luft etwas feuchter war. Ken kletterte immer noch weiter. Mittlerweile war es dunkel geworden. Zwar hatte Ken erwartet, dass die Luft allmählich dünner werden müsste, doch dem war nicht so. Über zehn Mal musste er noch eine Pause einlegen – viel Ausdauer hatte er sich in den letzten Tagen nicht aneignen können –, dann traf er auf eine besonders dichte, graue Wolkenschicht, und als er sie passiert hatte, sah er, dass seine Theorie mit dem Datentunnel wohl gar nicht so weit hergeholt war. Seine Umgebung hatte sich verändert. Er kletterte in fast völliger Dunkelheit weiter. Blaue, dichte Schäfchenwolken wanderten an ihm vorbei und ein nicht vorhandener Wind blies ihm etwas, das wie purpurner Sternenstaub aussah, um die Ohren. Alles sah seltsam zweidimensional aus und das Seil weiter vorne schien sich zu verbiegen, nur um wieder gerade zu werden, sobald er weiterkletterte. Seine menschliche Sicht war nicht gemacht für diesen Ort. Und immer höher und höher zog er sich, durch den finsteren, leeren Raum, und seine zahllosen Pausen wurden immer länger. Seine Zeit als Spitzensportler war längst vorbei, und seine Krankheit hatte ihre Spuren hinterlassen. Er überlegte sogar, ob er sich nicht einfach mit den Ranken an das Seil ketten und die Nacht über schlafen sollte – er war wirklich nicht erpicht darauf, schon weil er nicht wusste, ob ihn die Spiralblumen-Ranken auch im Schlaf halten würden, aber ihm blieb vielleicht keine Wahl. Gleichzeitig hoffte er, dass die Gazimon das Seil am Erdboden beschützten – und dass sie ihn nicht vielleicht aufs Kreuz gelegt hatten und ihm gar nicht so freundschaftlich gesinnt waren, wie sie taten. Der Gedanke, plötzlich abstürzen zu müssen, ließ ihn schaudern. Gerade, als er darüber nachdachte, erreichte er eine neuerliche Wolkenwand, die urplötzlich aus der Dunkelheit auftauchte, und war wieder an einem anderen Ort. Zunächst wollte ihm der Anblick die Augen ausschlagen. Dabei war es gar nichts Besonderes: Nur weiter, leerer Himmel, aber von einem so tiefen, künstlichen Blau, dass er sich ganz unwohl fühlte. Über ihm verschwand das Seil in der Unterseite eines riesigen, unförmigen, schwebenden Felsens. Ken blinzelte. Dieser Ort hier war seltsam. Er fühlte sich wie in ein altes Computerspiel versetzt. Alles war zu scharfkantig, um echt zu wirken, der Himmel bestand aus unzähligen Polygonen, die so aneinandergestückelt waren, dass sie annähernd wie eine Kuppel wirkten, aber eben doch nur annähernd. Der Felsen war so hart und fest, wie Felsen eben war, aber auch er sah nicht echt aus; glatte Oberflächen und Kanten wechselten sich ab, und die einzigen Details waren Risse im Gestein, die aber wie aufgemalt wirkten und mit den Fingern nicht zu ertasten waren. Das Seil zog sich durch das Herz des Felsbrockens und endete schließlich, als es durch ein Loch die Oberseite der schwebenden Insel erreichte. Ken war nicht einmal überrascht, als er sah, dass er anscheinend aus einem Brunnen gestiegen war. Er sprang auf den Brunnenrand hinüber und befestigte das Seil daran mit den Ranken – was mehr schlecht als recht ging, da sich selbst das ausgefranste Ende so gut wie gar nicht bewegen ließ, so als wäre es in der Luft festgefroren. Wahrscheinlich musste er sich keine Sorgen machen, aber der Gedanke, nicht wieder hier fortzukönnen, war beklemmend. Ken sah sich auf der Oberseite der schwebenden Insel um, die etwa einen Hektar groß war. Mehr und mehr fühlte er sich wie eine Figur in einem nur unzureichend modellierten Spiel. Das Gras war saftig grün, aber es war nur eine grüne Fläche, die zwar weich war und raschelte, aber aus der kein Grashalm hervorragte. Die Felsen, die sich alle auffallend ähnlich sahen und auffallend regelmäßig am Boden lagen, waren ebenso texturarm. Am meisten störte Ken jedoch das Fehlen der Sonne. Der unnatürlich blaue Himmel spannte sich soweit das Auge reichte, doch es war keine Sonne in Sicht. Trotzdem herrschte überall ausreichend ambientes Licht. Schließlich entdeckte er etwas im Gras, ein paar Dutzend Schritte von ihm entfernt. Es sah aus wie eine Mikrowelle, von der jemand den Oberteil abgeschraubt hatte; eine Metallplatte drehte sich langsam darin, selbst ohne ersichtliche Stromquelle. Ken trat näher und spürte eine freudige Erregung. So musste sich ein Spieler eines Online-Rollenspiels fühlen, der als erster im ganzen Spiel einen geheimen Ort erkundete und im Begriff war, das Geheimnis desselben zu lüften. Ken suchte nach etwas wie einem Schalter und fand einen Knopf auf der Rückseite des Gerätes. Die Metallplatte begann schneller zu rotieren, sprühte plötzlich Funken und dann ragte mit einem Mal ein dreidimensionales Hologramm vor Ken auf, das einen Mann zeigte, den er kannte. „Wer auch immer ihr seid“, begann Gennai, „lasst mich euch etwas sagen, bevor ihr anfangt, Fragen zu stellen. Das hier ist nur eine Aufzeichnung, also werde ich sie euch nicht beantworten. Hört daher gut zu: Ich habe mich hierher zurückgezogen, doch selbst dieser Ort war nicht sicher genug. Allerdings ist hier etwas versteckt, das in den richtigen Händen nützlich sein wird, in die falschen allerdings gar nicht erst gelangen darf. Vier Schritte hinter mir findet ihr ein Kästchen begraben, in dem sich etwas befindet, das für die Zukunft der DigiWelt von entscheidener Bedeutung ist. Ich hoffe, dass ihr es seid, die es finden. Ihr werdet es mit euren DigiVices aufschließen können. Das Kästchen ist mit einer protektiven digitalen Signatur ausgestattet, die zu der eurer DigiVices passt; auf andere Weise ist es nicht zu öffnen und auch nicht zu zerstören. Außerdem rate ich davon ab, es mit in die reale Welt zu nehmen, da ich nicht sagen kann, was dort mit ihm passiert. Es tut mir leid, dass ich euch nicht mehr helfen kann. Aber mehr habe ich in der kurzen Zeit nicht finden können.“ Gennais Abbild verblasste und ließ Ken allein zurück. Seine Gedanken rasten. Er stürzte zu der angegebenen Stelle und tauchte die Finger in das Gras, das zwischen ihnen zerbröckelte. Er musste nicht lange graben, bis er ein verziertes Kästchen zutage gefördert hatte. Statt eines Schlosses hatte es so etwas wie einen Supermarkt-Barcode, nur dass die Farben invertiert waren; der Hintergrund war schwarz und die Striche weiß. Unschlüssig drehte Ken die Büchse in den Händen. Gennai hatte sicherlich nicht gewollt, dass Taneo das Kästchen in die Finger bekam. Wahrscheinlich brauchte man ein älteres DigiVice, um es zu öffnen. Und hier stand er vor einem Problem: Sein eigenes DigiVice war verschwunden. Er hatte es die ganze Zeit über nicht bei sich gehabt, und er glaubte sogar zu wissen, warum. In seiner Traumerinnerung hatte er sich in der Stufenpyramide stehen gesehen, in diesem Labor mit den ungewöhnlichen DigiVices, die den Dunklen hätten gehören sollen. Er hatte sein schwarzes D3-DigiVice auf den Apparat gerichtet und ihn irgendwie damit zerstört. Dabei waren wohl die Fähigkeiten der fremden DigiVices, Digimonattacken zu scannen, mit seinem eigenen DigiVice und seinem Arm verschmolzen und hatten sich als gläserne Narbe in sein Fleisch gebrannt. Einer Eingebung folgend hielt er seine linke Hand vor das Kästchen, aber nichts geschah. Er seufzte. Es half nichts. Er musste sich mit den anderen treffen. Langsam, fast andächtig, stand er auf und ging zu dem Seil zurück. Die Vorfreude war wieder da. Er hatte etwas gefunden, an einem Ort, wo vor ihm noch kein Mensch oder Digimon war. Er musste nur noch herausfinden, was es war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)