Ansatsu von UrrSharrador (Akrobat | Attentäter | Dunkler) ================================================================================ Kapitel 1: Akrobat ------------------ Now take the stage Take your positions Then swallow your fears You can’t turn back now (Dreamtale – Eyes Of The Clown) --- Ich wurde mit einem Schwall aus Blut geboren, also war ich mir immer sicher, dass ich auch mit einem Schwall aus Blut sterben würde. Die Einzelheiten verriet man mir nicht, aber jeder dachte, meine Mutter würde die Geburt nicht überleben. Ein Kaiserschnitt war notwendig, um mich zur Welt zu bringen. Später sagte jeder, was für ein großes Wunder es doch wäre, dass meine Mutter noch lebte. Jeder dachte, es würde ein Austausch werden. Ein Leben gegen einen Tod. Jahre danach wurde mir klar, dass sie damit doch recht gehabt hatten. Es war kein Wunder, sondern tatsächlich ein Austausch gewesen. Ein Leben, ein Tod. Meine Mutter hat überlebt, weil sie den Tod geboren hatte. Die Welt, in die ich geworfen wurde, war eine entbehrliche, zumindest, wenn man den sozialen Unterschied zwischen unseren Besuchern und uns betrachtete. Wir waren ein koreanischer Wanderzirkus, ein Haufen Heimatloser, die die Leute mit halsbrecherischen Kunststücken beeindruckten und es so über die Runden schafften. Vor meiner Geburt war meine Mutter Trapezkünstlerin gewesen und auch später, Jahre nach ihrem Beinahe-Tod, versuchte sie sich wieder als Akrobatin. Meinen Vater lernte ich nie kennen. Sie erzählte mir, sie hätte ihn auf einer Tour in Japan kennen gelernt, einen reichen Geschäftsmann. Eine einzige Nacht hatte gereicht, um mich zu zeugen. Auch meine Mutter war gebürtige Japanerin. Das führte dazu, dass ich zweisprachig aufwuchs und mir immer wieder anhören durfte, wie klug ich doch sei und wie ähnlich ich, ein kleines Kind, meinem Vater doch schon sehe. Von klein auf war ich Teil unserer Artistentruppe. Ich war das Kind, das auf den Schultern unseres Fackelwerfers einen Handstand machte, der Junge, der von einem Trapez zum anderen geworfen und wieder aufgefangen wurde und dabei einen Salto schlug. Ich konnte mich zusammenrollen wie ein Igel und passte dann in eine winzige Schachtel. Ich konnte die Füße im Genick überkreuzen und als kaum menschlich aussehendes Etwas auf den Händen marschieren. Und den Leuten gefiel, was sie sahen. Vor allem, wenn unsere Reise uns an den Rand der Städte führte, jubelten mir junge Frauen zu, wie süß sie mich doch fanden, und andere Kinder starrten mich mit offenem Mund an und deuteten mit ausgestrecktem Finger aufgeregt auf mich. Ich gewöhnte mir schnell an, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen. Ich mochte es nicht, wie sie mich ansahen. Es machte für sie keinen Unterschied, ob ein Löwe in seinem Käfig durch einen Reifen sprang, oder ob ich von Trapez zu Trapez flog. Wenn ich sie wütend angestarrt hätte, wären sie womöglich gegangen, und wir wollten schließlich begafft werden. Also versteinerte mein Gesicht, nicht nur in der Manege, sondern schließlich auch in meiner kargen Freizeit, wo ich nur für mich selbst übte oder mir meine Mutter Geschichten auf Japanisch erzählte. Zur Zeit der Nebelmonster waren wir in Korea, und es dauerte lange, bis man uns davon erzählte, was in Japan passiert war. Ich war etwa acht Jahre alt und hatte das Gefühl, noch nicht viel von der Welt gesehen zu haben, ganz gleich, wie weit ich schon gereist war. „Gibt es wirklich übernatürliche Wesen?“, fragte ich daher meine Mutter, als die Nacht das Lager verstummen ließ. „Nein“, sagte sie sanft und küsste mich auf die Stirn. „Schlaf gut, mein Ichirou.“ Sie hatte mich nach meinem Vater benannt, obwohl sie ihn kaum gekannt hatte. Anscheinend mochte sie ihn trotzdem. Ich fragte mich lange, ob es Schicksal war, dass sie nur wenige Tage danach vom Trapez fiel. Eine Frau wie meine Mutter, die fast ihr ganzes Leben in luftiger Höhe verbracht hatte, von erschrockenen Rufen, bewundernden Pfiffen und erstaunten Seufzern begleitet worden war, wurde von ihrem eigenen Schrei in ihren Sturz in den Tod begleitet. Meine Welt brach in sich zusammen. Sie war die Stütze in meinem Leben, das Seil, über das ich balancierte. Wie konnte sie so einfach sterben? Es hatte Jahre gedauert, bis ich begriff, wie zäh sie gewesen war, wie groß die Kraft des Lebens, das in ihr pulsiert hatte. Ein einzelner, wohl platzierter Stich kann einen Menschen töten. Ein einziger Tropfen einer bestimmten Substanz, ein dünner Schnitt, eine winzige Kugel, ein simpler Schlag, ein mikroskopisch kleines Bakterium. Um meine Mutter zu töten, hatte das Schicksal sie fünfzehn Meter weit in die Tiefe schleudern, ihren Körper auf dem harten Boden zerschmettern müssen, und nichts weniger. Ich war lange nicht mehr bei dem Zirkus, als ich erstmals Stolz für sie empfand. Das Leben – die Show – musste weitergehen. Etwas in mir war zerbrochen, die Scherben schmerzten, aber der scharfkantigste Felsen wird bekanntlich irgendwann von den Meereswellen abgerundet. Ich war weiterhin eine der Hauptattraktionen, übertraf meine Mutter, übertraf die meisten der älteren Künstler. Ich durfte auch bei den Kunststücken mit den beiden Löwen mitwirken, nur als Randfigur, weil unser Dompteur beteuerte, Erfahrung wäre das Ein und Alles. Unsere Wanderschaft führte uns bis in das russische Hinterland. Wir hatten unsere Zelte aufgeschlagen und die erste Vorführung gegeben. Ich trug soeben Futter zu den Löwenkäfigen, als der Mann mich ansprach. Erst hätte ich ihn in der hereinbrechenden Nacht gar nicht bemerkt. Das Gras und die nahen, kargen Büsche wirkten schwarz, der Himmel war samtblau, und der Mann war irgendetwas dazwischen. Erst, als er seinen Zylinder abnahm, sah ich etwas Helles an ihm; volles, akkurat gestutztes Haupthaar. Er hatte ein scharfes Gesicht und eine noch schärfere Nase und seine Augen waren hell und durchdringend, genau wie meine eigenen. Sein Frack ließ ihn wirken, als stammte er aus einem anderen Jahrhundert, und obwohl er einen jugendlichen und agilen Eindruck machte, hatte er einen Spazierstock dabei. Er sagte etwas auf Russisch zu mir, und ich zuckte mit den Schultern, die Miene gleichgültig wie immer, und ging weiter. Schließlich versuchte er es auf Koreanisch. „Junge. Das war ein beeindruckender Auftritt. Ist das Fleisch für die Löwen?“ Ich schwieg und hievte den Korb vor dem Löwenkäfig zu Boden. Dann warf ich die rohen Fleischbrocken zwischen die Gitterstäbe. Knurrend warfen sich unsere beiden großen Katzen auf sie. Der Anblick der hungrigen Löwen schlug normalerweise jeden Zuschauer in die Flucht, der so arrogant war, nach der Vorstellung zwischen unseren Zelten umherzuschleichen. Nicht so ihn. Im Gegenteil trat er genau neben mich und musterte fasziniert, wie die beiden ihr Futter zerrissen. „Prachtvolle Tiere“, sagte er. Sein Koreanisch klang perfekt. „Aber ihre Zähne und Klauen sind hier im Käfig verschwendet. Hattest du keine Angst, als du mit ihnen in der Manege warst?“ „Nein“, murmelte ich. Der nächste Fleischklumpen flog. „Warum nicht?“ Weil sie mich kennen, wäre die Antwort gewesen, die mir auf der Zunge lag. Aber dieser Mann nervte mich. „Wenn ich mit ihnen in der Manege bin, sollten sie es sein, die sich fürchten, deshalb.“ „Ich verstehe.“ Er neigte den Kopf und ich sah sein schräges Lächeln. Ein Zahn fehlte ihm, konnte ich erkennen. „Wie alt bist du, Junge?“ „Zehn.“ „Und mit zehn beherrschst du solche Kunststücke?“ Ich zuckte mit den Schultern. Eine Weile schwieg er. „Auch deine Fähigkeiten sind hier verschwendet“, meinte er schließlich abfällig. „Willst du für den Rest deines Lebens diesem Zirkus angehören?“ „Er ist meine Familie.“ „Ah ja, Familie“, flüsterte er. „Familien sind gefährlich. Sie brechen auseinander, Familienmitglieder sterben, und man versinkt in einem Meer aus Trauer. Die einzige Familie, die ein Mensch braucht, ist dieser Mensch selbst, und alles, was er je geleistet hat, sodass er keine Zeit hat zu trauern, wenn sein Ende gekommen ist.“ Die Worte des Mannes verwirrten mich, aber gleichzeitig fand ich sie faszinierend. Ich dachte an meine Mutter. Und ich hatte schon lange genug von der Manege, wollte mich nicht mehr anstarren und bejubeln lassen. Ich war eine Puppe, die jeden Tag, jede Aufführung dasselbe tanzte, immer und immer wieder, ohne etwas anderes als Langeweile dabei zu empfinden. „Ich habe keinen anderen Ort, an den ich gehen könnte“, sagte ich mutlos. „Ah ja“, machte er wieder. „Danach streben die Menschen, wohl wahr. Aber braucht man so einen Ort wirklich? Was ist eine Heimat? Ein Land? Ein Fleck Gras? Eine Häuserruine? Wenn der Mensch einen Ort braucht, an dem er bleiben kann, wozu hat er dann Beine, die ihn überall hin tragen?“ Ich schwieg, und er fuhr fort. „Du selbst könntest deine Familie sein. Wo du gerade stehst, das ist deine Heimat. Was du erreichen kannst, das ist dein Besitz. Hört sich das gut an?“ „Ja“, murmelte ich nach langem Überlegen. „Nach … Freiheit.“ „Ah, Freiheit.“ Er lachte leise und schulterte seinen Gehstock. „Solange ein Mensch essen muss, um zu leben, kann er nicht frei sein. Aber er hat die Möglichkeit, frei zu wählen, wodurch er sich sein Essen verdienen will.“ „Wer bist du?“, rief ich ihm hinterher, als er sich zum Gehen wandte, so laut, wie ich es gerade noch wagte. „Ich komme morgen wieder. Triff mich nach der Aufführung dort hinten auf dem Hügel.“ Sein Stock deutete hinter seinen Rücken, wo das Land ein klein wenig anstieg. „Dann sag mir deine Entscheidung.“ Welche Entscheidung, hätte ich fragen können, aber ich verstand, was er meinte. In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Ich wusste nichts über ihn, doch gerade das faszinierte mich. Dieser Mann sah mich nicht als ein Tier, als ein Objekt seiner Belustigung. Er glaubte, dass ich mit meinen Fähigkeiten etwas anderes tun könnte, obwohl alle anderen immer meinten, der Zirkus wäre das einzige, wo wir unsere Fähigkeiten gebrauchen konnten. Und dass ich mich entscheiden konnte, bedeutete Freiheit, wenn auch nur ein bisschen. Ich konnte nicht einschlafen, ich war wach, bis der Morgen graute. Und ich entschied mich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)