Ansatsu von UrrSharrador (Akrobat | Attentäter | Dunkler) ================================================================================ Kapitel 2: Attentäter --------------------- I paint a new world Magical brushes will lighten Paint a new world Earth, wind, fire and sea! (Helloween – Paint A New World) --- Der Mann wartete auf dem Hügel, wie er es gesagt hatte. Ein alter, knorriger Baum bog sich dort im Wind. An einen seiner verkrüppelten Äste war eine Gestalt gefesselt, ein Junge, erkannte ich, vielleicht etwas älter als ich. Er war wach und wand sich, seine Augen waren so sehr geweitet, dass ich das Mondlicht darin schimmern sehen konnte. Ein Tuch knebelte ihn, aber er brachte gestöhnte Laute hervor, als er mich sah. Ich trug meine übliche Miene aus Stein. „Da bist du also.“ Der Mann klang zufrieden. Tock, tock machte seine Stockspitze auf dem Boden. „Du hast dich also entschieden, mit mir in ein neues Leben zu kommen?“ „Ich will ein neues Leben. Aber ich will wissen, welches Leben es sein wird, das du mir bieten kannst.“ Er lächelte. „Dein Leben“, sagte er, „wird der Tod sein.“ Ungeschönt erzählte er mir, wer er war. Kalaschnikow nannte er sich, und Menschen konnten ihn dafür bezahlen, andere Menschen zu töten. Er sprach davon, als wäre es ein simpler Arbeitsauftrag, wie etwa ein Bild zu malen oder eine Skulptur zu behauen. „Es ist eine Kunst“, sagte er. „Ist das nicht offensichtlich? Es gibt immer Menschen, die etwas als Kunst bezeichnen, was in den Augen anderer abscheulich oder ohne Sinn ist. Also kann selbst das Töten Kunst sein. Ich bin der Künstler, und dich kann ich ausbilden.“ Ich überlegte lange. Ließ mir seine Worte besonnen durch den Kopf gehen. Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte er mir von seinem Handwerk schon am Tag zuvor erzählt. „Du verdienst dein Geld mit dem Töten“, sagte ich, „aber jeder, der Geld verdient, gibt etwas dafür. In der Manege haben wir die Menschen zum Staunen gebracht und sie waren hinterher stolz, dass sie uns gesehen haben. Aber du räumst nur die Feinde von reichen Leuten aus dem Weg. Du nimmst Leben, aber was gibst du?“ Es erschien mir nicht ganz richtig. Menschen, die ihn kannten und die genug Geld besaßen, sollten die Macht über den Tod haben? Das Schicksal hatte die Macht über den Tod, sonst nichts. Ich wusste damals noch nicht, dass er mich selbst zur Hand des Schicksals machen würde. „Ah ja, aber warum haben diese Feinde jemanden, der ihren Tod wünscht?“, sagte er, ließ sich von keiner meiner Fragen aus der Ruhe bringen. Warum auch? „Für wen heuert man Attentäter an, mein Junge? Für den Bettler, der einen im kalten Winter belästigt? Für den Strolch, der einen die Piroschki vom Teller klaut? Für die alte Dame aus der Nachbarschaft, die den ganzen Tag nur zetert und schimpft? Für den Hund, der den Zaunpfahl markiert hat? Nein. Nur, wenn jemand großes Unrecht getan hat und sich viele Feinde geschaffen hat, wird irgendwann vielleicht ein Todeskünstler angeheuert. Wenn du mit mir zusammen arbeitest, werden wir gutes Geld verdienen und die Welt von diesen Leuten säubern. Wir streichen die Welt neu, schöner und sauberer, wir verhindern Kriege und blutige Schlägereien. Ein einzelner Stich kann mehr bewirken als eine Ausschreitung auf offener Straße, mit Gewehren und Tränengas und hunderten Todesfällen. Aber wie es so mit Kunst ist, können das nur wenige verstehen. Und Künstler arbeiten nur für die, die sie verstehen, mein Junge. Würdest du über das Seil balancieren für jemanden, der für den Zirkus nur ein leeres Schnauben übrig hat?“ Seine Worte waren einfach zu verstehen. Ich hatte nie in einer Stadt gelebt, wo Menschen sich an Regeln halten müssen, um einander nicht an die Gurgel zu gehen. Wir Akrobaten waren eine große Familie, wir mochten uns und wenn wir stritten, versöhnten wir uns wieder. Aber wo viele Menschen zuhause waren, schwelte der Hass. Dann war es besser, einen simplen Stich zu setzen, als zu warten. Es war besser, die Wunde aufzustechen und den Eiter erlösend abfließen zu lassen. Das verstand ich. Das war auch nicht schwer zu begreifen, selbst für mich nicht. Darum brauchte Kalaschnikow sich nicht um Gesetze zu kümmern. Er setzte dort an, wo das Gesetz dem Recht im Weg stand. Und er bekam Geld dafür. Und er war frei, so frei wie er sein konnte. „Gesetze sind mir egal“, sagte ich zum Schluss, „und ich will auch nicht die Welt verbessern. Aber wenn das, was du machst, einen höheren Sinn hat, und sinnvoller ist, als im Zirkus aufzutreten, dann entscheide ich mich für dich. Aber – wenn ich mit dir gehe, werde ich nicht mehr angestarrt werden wie ein wildes Tier, oder? Obwohl ich wie ein wildes Tier töten würde.“ Er lachte, leise nur, als fürchtete er, gehört zu werden. „Oh nein. Niemand wird dich anstarrte, denn niemand wird dich sehen. Nur die, die unsere Kunst verstehen, werden uns tolerieren. Das muss dir klar sein.“ Das war mir klar. Ich nickte. „Nun gut. Ich stelle dich vor eine Prüfung. Jeder Künstler muss Talent haben. Beweise mir deines.“ Er deutete mit seinem Stock auf den Jungen, den er an den Baum gefesselt hatte. „Du musst aus dem Leben deiner sogenannten Familie verschwinden. Seine Leiche hier werden wir als deine ausgeben. Dazu musst du ihn aber töten. Kannst du das, mein Junge?“ Ich sah den anderen Jungen an. Er zitterte am ganzen Leib, starrte und starrte und hatte tellergroße Augen. Offenbar verstand er, was wir sprachen. „Ich brauche eine Waffe“, sagte ich. „Soll Kunst nicht elegant sein?“ Da packte er seinen Stock und zog den Knauf heraus. Eine dünne, zwanzig Zentimeter lange Klinge war in der Holzhülle verborgen gewesen. Sie blitzte im Mondlicht auf, als Kalaschnikow sie mir reichte. Ich nahm sie und schnitt dem Jungen die Kehle auf. Dann wich ich rasch zur Seite, um dem Blutschwall zu entgehen. Ich hätte auf sein Herz gezielt, aber ich war Anfänger. Vielleicht hätte ich daneben gestochen. Kalaschnikow nickte, als der Kopf des Jungen schließlich leblos herunterhing. „Du hast nicht gezögert. Kannst du mir sagen, warum?“ Es war einfach. „Er hätte sowieso sterben müssen“, sagte ich. „Er hätte unsere Kunst nicht verstanden, und er hat uns trotzdem gesehen. So hat sein Tod einen Sinn gehabt.“ Trotzdem war meine Kehle wie ausgedörrt. So wurde ich ein Assassine. Kalaschnikow half mir dabei, die Leiche des Jungen so herzurichten, als wäre sie von den Löwen zerfleischt worden, und sie in den Käfig zu zerren. Man würde denken, ich sei es gewesen, da sie meine Kleider trug. Kalaschnikow gab mir einen warmen schwarzen Mantel und führte mich fort von hier, fort von meinem ersten Mord, meinem ersten Kunststück, und meinem ganzen Leben hinter einem Vorhang. Die nächsten Jahre unterwies er mich. Es gab viel zu lernen. Als erstes lernte ich, mich zu verstecken. Das fiel mir besonders schwer, denn für gewöhnlich stand ich im Rampenlicht und musste achtgeben, von allen begafft zu werden. Ich schlich durch die Straßen einer russischen Stadt, bemüht, niemandem Grund zu geben, mich länger als einen Herzschlag anzusehen. Ich brach in Häuser ein, deren Türen mir Kalaschnikow zunächst noch öffnete, später dann ich selbst, und brachte ihm einen Löffel oder eine Gabel als Beweis, dass ich Dinge finden und lautlos schleichen konnte. Später musste ich die Dinge dann auch wieder zurücklegen, und wir beobachteten die Familie am nächsten Tag gemeinsam, um zu überprüfen, ob sie auch nichts von ihrem nächtlichen Besucher bemerkt hatten. Die Aufgaben wurden immer schwieriger. Ich musste einem Mann nachts den Ehering vom Finger stehlen oder mich am Abend in ein Haus schleichen und dort bis zum nächsten Morgen ausharren. Kalaschnikow meinte, wenn man mich erwischte, würde er mir nicht helfen. Also erwischte man mich nicht. Anfangs ließ er mich noch die Wahl, ob ich bestimmte Dinge tat oder nicht, später war er unnachgiebig. Er war ein guter Lehrer. Ich lernte hundert Gifte kennen und ebenso viele Arten, Menschen zu töten, mit Messern, Pistolen, Fallen und Bestechung. Ich lernte, Männer für mich anzuheuern und sie danach auszuliefern. Niemand wusste, dass ich dahintersteckte. Niemand konnte mich finden. Ich lernte Englisch, Russisch, Spanisch und Deutsch. Das wären die wichtigsten Sprachen, meinte Kalaschnikow. Wir bräuchten nur wenig zu reden, aber wenn wir es täten, wäre es gut, wenn möglichst viele Menschen auf der Welt uns verstehen könnten. Auch meine akrobatischen Fertigkeiten förderte er weiter. Sie überstiegen die Kalaschnikows bei weitem, aber ich hörte nie Lob von ihm. Er sagte einmal, sein Lob wäre, dass ich am Leben wäre. Ich erkannte, dass ich mir meine Freiheit erkämpfen musste. Er konnte nicht riskieren, dass ich seine eigene Freiheit gefährdete. Meinen neuen Namen durfte ich mir selbst auswählen. Mein Lehrer hatte sich nach einer Waffe benannt, aber ich dürfte alles nehmen, außer Ichirou, denn Ichirou war tot. So nannte ich mich Ansatsu. Ihm gefiel das, er verstand den Begriff und mochte seine Einfachheit. Nach anderthalb Jahren waren wir schon durch die halbe Welt gereist, nach Europa und Indonesien, sogar nach Kairo, immer dorthin, wohin es Kalaschnikow verschlug. Ich sah nie, wie er einen Auftrag bekam. Erst wenn er das nicht mehr von mir verbergen konnte, wäre ich so weit, selbst welche anzunehmen, die nicht nur der Übung dienten. Dafür durfte ich ihm zur Hand gehen, wann immer es möglich war, selbst bei wichtigen Missionen. Einmal sollten wir einen dicken Politiker in Frankreich töten und seine Leiche in einem Restaurant auf einem Tisch platzieren, inmitten einer großen Früchteplatte und mit einem Apfel im Mund, und sein Gesicht sollte die Farben der französischen Flagge haben, blutig und blutleer und erfroren. Das war das ausgefallenste Kunststück, das wir je zusammen erschaffen sollten, und es war lange Zeit in den Medien, erzählte mir Kalaschnikow, und nie fand jemand eine Spur, wer es getan haben könnte, bis man letzten Endes drei Männer verhaftete, die man verdächtigte, etwas damit zu tun zu haben. „Wenn man seine Vorlieben zur Kunst zu sehr bekannt macht, riskiert man, die Gegner dieser Kunst auf den Plan zu rufen“, sagte mein Lehrer dazu. Im Sommer, kurz bevor ich zwölf wurde, gab Kalaschnikow mir einen Auftrag, der sich sogar von alleine erfüllte. Das käme zuweilen vor, meinte er, und wir strichen dennoch die Belohnung ein. Aber diese Mission ist mir lange nicht aus dem Kopf gegangen. Wir flogen nach Mexiko City, wo es bestialisch heiß war; selbst nachts, in der Zeit unseres Wirkens, war es immer noch drückend warm. Wir hatten unter falschem Namen – ein gebrechlicher Großvater und sein Enkel – in einem billigen Motel Unterschlupf gefunden. In dem Teil der Stadt tobte ein Untergrundkrieg, Banden bekämpften sich seit Monaten bis aufs Blut, und die Polizei war damit überfordert oder man hatte sie schon längst geschmiert. Ein Politiker, dem diese Scharmützel ein Dorn im Auge waren, hatte uns angeheuert, zwei Schlüsselfiguren in diesem Kleinkrieg auszuschalten. Ihr Tod würde eine der beiden Seiten zusammenbrechen lassen, und der Politiker steckte mit der anderen unter einer Decke, vermutete Kalaschnikow. Zwei Männer zu töten, die wahrscheinlich mit Klappmessern und Pistolen bewaffnet waren, sich aber gern betranken und bekifften, war nicht schwierig, daher schickte er mich alleine los. Er gab mir Zeit bis zum Morgengrauen, ehe er selbst etwas tun würde. „Es ist ein gutes Training“, sagte er. „Ich versuche, mehr über unseren Auftraggeber herauszufinden.“ Es war immer gut, Kunstkenner zu kennen. Kalaschnikow hatte es dann sogar geschafft, noch den einen oder anderen Peso zusätzlich aus ihm herauszuquetschen. Die Nacht war düster und stickig, sternenlos und smogverhüllt, als ich zu dem Lagerschuppen kam, wo meine beiden Ziele heute sein würden. Vielleicht noch mit Bodyguards, aber wenn ich einen Plan hatte, konnte ich es auch mit fünf gleichzeitig aufnehmen. Keine Leute waren hier auf der Straße, und ich war einer von ihnen – ein Niemand, ein Schatten ohne Licht. Es war ein heruntergekommenes Industrieviertel, alt und verlassen, aber der Treffpunkt für Abschaum und Gesindel, wie es schien. Durch das gekippte, kleine Fenster mit der undurchsichtig gewordenen Scheibe sickerten Licht und Zigarrenqualm, aber auch Geräusche, Stimmen und leise Schreie. Als ich an einem Faden befestigt eine Spiegelscherbe über dem Fensterspalt hochzog und unauffällig ins Innere des Schuppens sehen konnte, erkannte ich, dass meine Ziele Gefangene hatten. Nicht nur meine zwei, sondern auch ein dritter braungebrannter Mexikaner mit mehr Tattoos als freier Haut und mehr Muskeln als Knochen befanden sich dort drin. Die Tür war verriegelt und verrammelt, das Licht kam von ein paar gelben Neonröhren, die ein surrender Generator in der Ecke antrieb, der nach Diesel stank. Leere grüne Plastikcontainer standen herum, auf dem Boden lagen löchrige graubraune Decken. Es gab einen Kühlschrank und einen Tisch, auf dem eine Pistole, Munition, Spielkarten, eine Zigarrenschatulle und ein Hartschalenkoffer lagen. Ich prägte mir alles genau ein, jedes Detail konnte mir helfen oder schaden, je nachdem, wie ich es zu nutzen wusste. Einen Spiegel mit abgesprungener Ecke gab es auch, aber man konnte mich darin nicht sehen; außerdem war da eine alte Toilette in einer Ecke. Während des Bandenkriegs war so ein Versteck sicher Gold wert. Und dann waren da noch einmal drei Personen, die eindeutig nicht zu ihrer Gang gehörten. Ich zog an meiner Schnur, bis mein Spiegel sich so gedreht hatte, dass ich sie sehen konnte. Da war eine schwarzhaarige Frau, die einer der drei am Handgelenk gepackt hatte und durch den Raum zerrte. Von ihr kamen die Schreie. Ein Junge, vielleicht um die sechzehn, ebenfalls schwarzhaarig, und ein junges Mädchen waren an einer Wand an rostige Eisenrohre gefesselt. Der Junge schrie zornig, aber das Mädchen starrte nur ins Leere. Sie hatte blondes Haar, dicht und lockig, und ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Sie durfte etwa in meinem Alter sein. Der Mann stieß die Frau auf eine Decke und machte sich daran, ihr grob die Hose herunterzureißen. Seine Gefährten saßen am Tisch und lachten und scherzten, aber ich verstand sie kaum. Ihr Slang ließ ihr Spanisch gar nicht mehr richtig spanisch klingen. Die Schreie der Frau wurden lauter, als der hünenhafte Kerl seinen Gürtel öffnete und die Hose bis zu den Knöcheln runterrutschen ließ. Der gefesselte Junge brüllte laut, auf Japanisch und Englisch und brachte dann noch ein paar Brocken Spanisch hervor, beschimpfte die Männer und fluchte und beleidigte ihre Mütter, ihre Gesichter und alles andere, was ihm einfiel. Irgendwann wurde es einem von denen, die am Tisch saßen, zu viel. Er schnappte sich seinen Revolver, schlenderte auf den Jungen zu, während sein Genosse grunzend auf der Frau lag, und schlug ihm das harte Metall ins Gesicht. Nun schrie auch das Mädchen, weinte und flehte, sie mögen ihn in Ruhe lassen, aber der Mexikaner hätte sie wohl so oder so nicht verstanden. Er drosch wieder und wieder auf den Jungen ein, als wäre er ein Sandsack, mit der Waffe, mit der Faust und mit dem Fuß, bis sein Gesicht ein blutiger Klumpen und alles darin zerbrochen war, was man zerbrechen konnte. Dann spuckte der Mann aus, und der Junge regte sich nicht mehr. Das Mädchen nahm ihn wimmernd in den Arm, das erlaubten die Fesseln gerade noch, und mein Opfer ging zu seinem Kumpan zurück. Sie wechselten sich bei der Frau ab, während ich mir überlegte, wie ich sie am besten töten konnte. Ich würde warten, bis ihre Gefangenen schliefen – oder sollte ich sie auch gleich umbringen? Je weniger Zeugen es gab, desto besser. Das hatte der Auftraggeber klar gemacht. Außerdem hatten die Kerle eine Flasche Tequila angerissen. Ich würde warten, bis sie leer war. Bis zum Sonnenaufgang hatte ich noch genug Zeit. Reglos vor dem Fenster in verbranntem Gras hockend, mit einer hüfthohen Mauer als Rückendeckung und einem schwarzen Kapuzenmantel als Tarnung, lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf den Generator und versuchte zu eruieren, ob ich ihn irgendwie in die Luft jagen konnte, als ich ein paar Gesprächsfetzen von den Männern aufschnappte. Die Frau lag mit zerrissenen Kleidern halb in eine Decke gewickelt da und schluchzte, und sie spielten Karten und stritten dabei über ihre Gefangenen. „Schneid ihn ihr ab“, sagte der eine wiederholt. „Unnötig“ war das einzige, was ich dem Kauderwelsch des zweiten entnehmen konnte. „Vier Tage“, sagte der dritte, und ihn verstand ich am besten, „dann müssen wir Enrico ausbezahlen, sonst haben uns die Toros an der Gurgel. Wenn der Kerl nicht zahlen will, müssen wir’s ihm schmackhafter machen.“ „Darum. Schneid ihn ihr ab.“ Der zweite winkte grunzend ab und offenbarte ein gutes Blatt. Sie pokerten wohl, und er hatte einen Drilling. „Bin auch dafür. Wir geben bei dem Hotel jeden Tag einen ab. Er wird darum betteln, zahlen zu dürfen.“ Der dritte, einer meiner primären Ziele, warf seine Karten auf den Tisch. Full House. Was der zweite daraufhin knurrte, verstand ich nicht, aber es klang zustimmend. Ich wusste nicht, worum es ging, aber Nummer drei ging auf das Mädchen zu, mit Messer und Pistole bewaffnet. Wenn er sie erschoss, war es eine Kugel weniger, die mir gefährlich werden konnte. Das Mädchen war starr vor Schreck und drückte sich gegen die Wand. Ihr Blick flackerte immer wieder zu den anderen beiden Gefangenen. Der Mann hielt ihr die Pistole unter die Nase und deutete auf ihre Hand. Sie verstand nicht, also packte er knurrend ihr Handgelenk mit der Linken und setzte mit der Rechten das Messer an. Sie kreischte auf, und was sie dann tat, kam so schnell, dass selbst ich es fast nicht erkennen konnte. Sie stieß dem Kerl einen Finger ins Auge, und während er aufschreiend zurückzuckte, griff sie zu und hielt plötzlich die Pistole in den dünnen, blassen Fingern. Der Mexikaner ignorierte die Waffe völlig, knurrend streckte er die Hand nach ihr aus – und wurde rückwärts geschleudert, als sie abdrückte. Der rotgelbe Schwall, der aus seinem Hinterkopf brach, erwischte sogar noch die Männer am Tisch. Sie fluchten, sprangen auf, der eine griff nach seiner Pistole, der andere ließ sein Klappmesser aufschnappen, doch keiner behielt den nötigen kühlen Kopf. Anstatt sofort zu handeln, zögerten sie erst, und das kostete dem zweiten das Leben. Das Mädchen hielt die Pistole mit beiden Händen und schrie mit weit aufgerissenen, tränenden Augen, und die Kugel traf den Kerl in die Brust. Das Messer klimperte zu Boden. Der andere schoss zurück, und das Projektil schlug neben dem Mädchen in dem Eisenrohr ein, sprühte Funken und prallte ab und verfehlte sie ein zweites Mal um Haaresbreite. Knurrend warf sich der letzte Mexikaner zur Seite, aber sie erwischte ihn trotzdem mit dem übernächsten Schuss. Nachdem der eine in den Tisch fuhr, traf ihn der zweite am Bein. Er stolperte, fiel, verlor seine Waffe – und der nächste Schuss ging in seinen Kopf und machte ihm den Garaus. Ich war verdutzt. Das Mädchen schoss besser als ich. Sie war ein Naturtalent. Schluchzend sank sie in sich zusammen, und es dauerte viele Minuten, bis sie sich dazu aufraffte, die Leiche des ersten umzudrehen und das Messer aus der Blutlache zu ziehen. Sie zerschnitt ihre Fesseln und die des Jungen, den sie laut beim Namen rief und an der Schulter rüttelte, bis er stöhnend die verquollenen Augen aufschlug. Zu zweit gingen sie hinüber zu ihrer Mutter – ich nahm an, dass es ihre Mutter war, zumindest dem Jungen sah sie ähnlich – und ich sah zu, wie sie eine geschlagene halbe Stunde nur so dasaßen, sich einander umarmten und weinten. Die Sprache, mit der sie beruhigend aufeinander einredeten, war sauberes Japanisch. Sie berieten sich, was sie tun wollten, und kamen zu dem Entschluss, zu fliehen. Ich wartete geduldig. Das Mädchen wollte wieder nach der Pistole greifen, aber ihre Mutter schlug sie ihr aus der Hand. Also begnügten sie sich mit den Messern. Der Junge schaffte die verbeulten Metallfässer aus dem Weg, die die Tür versperrten, löste Ketten und Riegel und stieß sie auf. Auf meiner Seite des Lagerschuppens kletterte ich an der rostigen Regenrinne hoch aufs Dach und sah zu, durch welche Gassen sie ihre Flucht führte. Anschließend betrat ich selbst den Schuppen und vergewisserte mich, dass die drei Mexikaner tot waren. Ich kam mir ein wenig verloren vor, weil ich nichts zu tun gehabt hatte, und so beschloss ich, wenigstens etwas über den Grund ihres Ablebens herauszufinden. Ich folgte der Spur der drei bis zu ihrem Hotel und recherchierte auch noch die nächsten Tage etwas. Kalaschnikow sollte es nicht bemerken, nahm ich mir vor, aber wahrscheinlich tat er es doch. Er sagte jedoch nichts dazu. Die Familie war aus Japan, konnte ich mir schließlich zusammenreimen, und ich fand sogar ihre Personalien heraus. Der Vater war Europäer und ein reicher Geschäftsmann, und die Mexikaner hatten seine Familie gekidnappt, um Lösegeld aus ihm herauszupressen, mit dem sie ihre Schulden bei einem Schwarzmarkt-Händler bezahlen wollten, der ihnen zusätzlich zu der rivalisierenden Straßenbande auf die Pelle gerückt war. Ich folgte einem Gefühl und bewahrte die Informationen über die Familie auf. Besonders dieses Mädchen hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen, nicht nur, weil sie mir meine Arbeit abgenommen hatte. Das war das erste Mal, dass ich auf Miyuki traf. Ein halbes Jahr später tauchten die Nebelwesen wieder auf, und diesmal auf der ganzen Welt. Wir waren wieder in Russland, in Moskau, und es war schneidend kalt dieser Tage. Als wir in den Nachrichten davon hörten, erinnerte ich mich an die Geschichten über die Nebelmonster in Japan. „Glaubst du, dass es übernatürliche Wesen gibt?“, fragte ich Kalaschnikow. Er nickte andächtig. „Ja. Übernatürliche Wesen, das wären wir beide.“ Die Monster waren real, ganz gleich, was er sagte. Ich erhaschte auch einen Blick auf diesen schwarzen Obelisken, der direkt neben dem Historischen Museum auf dem Roten Platz aufgetaucht war. Und bei einem nächtlichen Ausflug, bei dem Kalaschnikow irgendwo im Geheimen einen langjährigen Auftraggeber und Freund treffen wollte und ich als Begleitschutz mitkommen durfte, bekamen wir es sogar mit einem der Wesen zu tun. Es kam uns in einer finsteren Gasse zwischen einer Hauswand und einer hohen Mauer entgegen getorkelt. So, wie es aussah, musste ihm höllisch kalt sein. Die Pflastersteine glitzerten vor Raureif und an den Backsteinwänden prangte der Frost, und Eiszapfen und Schneewehen waren sowieso überall zuhause. Das Wesen trug keine Kleidung außer Handschuhen und Stiefeln. Seine Arme und Beine wirkten auf den ersten Blick muskulös, aber sie wuchsen direkt aus seinem Kopf, und aus mehr bestand es schlussendlich nicht. Eine breite Brille bedeckte seine Augen, seine Lippen waren rot und fleischig, und borstiges schwarzes Haar bildete Bart, Augenbrauen und Achselbehaarung zugleich. Es wirkte grotesk, als versuchte es, sich in möglichst menschenähnlicher Form zu zeigen. Eine rote Tätowierung auf dem kahlen Schädel bildete ein Wort, das ich im schummrigen Licht der Straßenlaternen als Future entziffern konnte. Begleitet wurde es von einem undefinierbaren Gestank, und es blieb stehen, als es uns sah. Für einen Moment wussten wir nicht, wie wir reagieren sollten. An einem Menschen wären wir einfach vorbeigegangen. Wir waren zwei Landstreicher, die vor der Kälte flohen, nichts weiter. Wer uns sah, spielte keine Rolle, es durfte sich nur niemand an uns erinnern. Aber das war ein Monster. Ein Nebelwesen, ein Alien? Es gab keine wirkliche Erklärung für sein Auftauchen. Als wir es noch anstarrten, rülpste es. Feindselig schien es nicht zu sein. Hinterher sagte Kalaschnikow, er hätte befürchtet, es könnte wie ein Tier unsere wahren Absichten riechen oder erkennen, was sich unter unseren Kapuzenmänteln verbarg. In dem Moment sagte er nur: „Ansatsu.“ Und ich wusste, was ich zu tun hatte. Wir stürmten auf das Untier zu und nahmen es in die Zange. Das bemerkte es auf jeden Fall, denn es drehte sich zu mir herum und hob die Fäuste. Es war gut, dass es mich angriff, ich war schneller als mein Lehrer. Ich wich seinem Schlag um Haaresbreite aus und verpasste ihm einen halbhohen Tritt gegen den überdimensionierten Kopf. Seine Arme waren vergleichsweise so kurz, dass ich nicht genug Wucht zusammenbekam, um es umzuwerfen, aber auch so prallte es zurück. Kalaschnikow hatte indes seine Stabklinge gezogen und stieß zu, aber das Biest sprang aus dem Stand zwei Meter hoch und er stolperte unter ihm hindurch. Das Monster landete auf der Mauerkrone und geriet dort dank des Eises ins Rutschen, fing sich aber wieder. Ich würde es nicht entkommen lassen. Wir hatten ihm offenbart, dass wir Künstler waren, und in Russland hatten sich Gerüchte breit gemacht, dass die Monster das Ergebnis amerikanischer Genforschung waren. Es war vermutlich nur Panikmache, aber wenn die Wesen menschliche Herren hatten, durften diese nichts von uns erfahren. Nur auserwählte Menschen erfuhren von uns Künstlern, jene, die unsere Kunst auch zu schätzen wussten. Also setzte ich dem Ding hinterher. Ich sprang auf das Fensterbrett zu meiner Rechten, von dort aus zur Mauer, stieß mich gleich wieder ab, wobei die ausgeklappten Stahlklingen meiner Stiefelsohlen knirschten und Funken schlugen, als sie sich durch die dünne Frostschicht und in die Ritzen der Backsteine gruben, erwischte das Fensterbrett ein Stockwerk höher mit den Fingern, hing für einen Moment in der Luft, wobei ich gefährlich abrutschte, dann stieß ich mich abermals mit den Füßen fort, schlug einen Salto in der Luft und landete genau auf dem Biest, das eben wieder sicheren Stand gefunden hatte. Auf der Mauer selbst hätte ich mich ohnehin nicht halten können, also riss ich es einfach mit mir, als ich auf der anderen Seite wieder hinabstürzte. Es stieß einen rauen Schrei aus, ich rollte mich zu einer Kugel zusammen, um den Aufprall zu dämpfen … Wir landeten auf einem leicht abschüssigen Hang, wo die Erde zu Stein gefroren war. Ein leichter Schmerz zuckte durch meine Schulter, aber ich rollte mich gekonnt ab und kam am Fuß des Hangs wieder zu stehen. Das Monster kollerte mir hinterher. Wie konnte ich es nun töten? Bei einem Menschen wäre ich auf die Kehle oder das Herz gegangen, aber das Wesen hatte keine Kehle und auch keinen Brustkorb. Wie dick mochte sein Schädelknochen sein? Würde ich durch die Sonnenbrille und seine Augen stechen können? Ich zückte vorsorglich meine Stiftklinge, die ich in einem Unterarmhalfter aufbewahrt hatte. Knurrend sprang die Kugel wieder auf und schlug nach mir. Abermals wich ich aus, die Kälte hatte sie verlangsamt. Die behandschuhte Faust erwischte einen toten Baum und riss ein Loch in die Rinde. Es war gefährlich. „Ansatsu!“ Ich sah einen Schatten auf der Mauer. Kalaschnikow warf mir etwas zu. Ich griff danach und fing den Gehstock auf. Etwas über einen Meter fein gemasertes Hartholz, mit stählerner Spitze und eisernem Knauf. Alles, was ich brauchte. Als das Wesen erneut zuschlagen wollte, hüpfte ich ihm auf den Kopf, riss mit den Stiefelklingen seine Haut auf und sprang senkrecht in die Höhe, den Stock im Mund, erwischte einen Ast des Baumes, spannte meine Bauchmuskeln an und schwang mich auf dessen Oberseite. Mit Dingen aus der Natur zu arbeiten war meist ein wenig komplizierter als mit Requisiten aus der Manege, aber es war ungleich interessanter. Die nächsten Äste erreichte ich schneller. Sie knarrten unter meinem Gewicht, aber zum Glück war ich nicht wirklich schwer. Als ich die gewünschte Höhe erreicht hatte, starrte das Wesen mit blutigem Kopf zu mir hoch und machte Anstalten, mir zu folgen – also sprang ich und hielt den Stock mit beiden Händen wie eine Feuerwehrstange. Kurz bevor ich es erwischte, stieß es sich ab, aber genau auf mich zu. Der Stock stieß es mit meiner ganzen Fallgeschwindigkeit wieder auf den harten Boden, die eiserne Spitze bohrte sich genau auf Höhe seiner nicht vorhandenen Nase durch den behaarten Kopf und bis in den Boden. Das Monster schrie laut auf und streckte mir die zu Klauen geöffneten, zitternden Hände entgegen, dann zerbarst es in tausend funkelnde Einzelteile. Ich sah verwirrt nach, wie sie gen Himmel schwebten. War es nun tot? Oder hatte es sich aus dem Staub gemacht? Nein, wenn es gewissen Regeln der Kunst folgte, musste es tot sein. Ich atmete tief durch. Die eiskalten Nadeln in meiner Lunge bewiesen mir, dass ich noch am Leben war. So erfuhren wir, Kalaschnikow und ich, dass diese Monster, die überall in der Welt auftauchten, nicht unsterblich waren. Am nächsten Tag hörten wir von einem Luftkampf zwischen verschiedenen Monstern über dem Roten Platz, und kurz darauf waren sie alle wieder verschwunden, aber ich war um eine Erfahrung reicher. Zwei weitere Jahre vergingen, bis Kalaschnikow sagte, ich wäre soweit, mein eigener Herr zu sein. Er hätte mir nichts mehr beizubringen. Kurz zuvor hatte ich einige seiner geheimen Briefe gefunden und geöffnet und Kontaktdetails zu seinen Auftraggebern gefunden, und ihn außerdem belauscht, wie er mit einem anderen redete, ohne dass er es bemerkt hatte. Ja, ich war bereit, meine eigenen Kunstwerke zu gestalten, allein. „Ich habe dich als meinen Schüler angenommen“, sagte Kalaschnikow an jenem Abend zu mir. „Nun sollst du mein Nachfolger werden.“ Und dann griff er mich an. Ich hatte es erwartet. Es war die letzte Prüfung, die auch er vor mir abgelegt hatte. Töte deinen Lehrer, nur dann hast du ihn übertroffen. Das war eine Regel der Todeskunst. Wenn ein Attentäter alt wurde, suchte er sich einen jüngeren Schüler, bildete ihn aus und ließ ihn sein Werk fortsetzen. So drehte sich das Rad und dem einen Decknamen folgte der nächste, und ich könnte wieder ein Stück freier werden. Der Kampf war kurz und einfach. Kalaschnikow war in der Tat alt, und ich war schneller, stärker, geschickter und gelenkiger. Als er mit einer klaffenden Kehle und einem Lächeln vor mir am Boden lag, sagte er: „Gut gemacht, Junge.“ Es war das erste und einzige Lob, das ich von ihm hörte. Ich verzog keine Miene. Das wollte er, und es musste so sein. Das war vielleicht die wahre Prüfung, keine Trauer für den Mann zu empfinden, der vier Jahre lang so etwas wie der Vater war, den ich nie gehabt hatte. Ich übernahm seine Stammkunden und schrieb meinen Namen statt seinen in die Untergrundnetzwerke, wo neue Auftraggeber mich anwerben konnten. Zur Feier des Tages ließ ich mich tätowieren, wo das Blut meines Lehrers meine Stirn benetzt hatte. Rot und verschlungen wurde es, geheimnisvoll und gefährlich. Es sollte mein Andenken an ihn sein und mich selbst zwingen, noch vorsichtiger zu sein, weil ich damit auffälliger wäre. Es würde meine Sinne schärfen, wie er sie stets geschärft hatte. Zwei Jahre lang lebte ich auf eigene Faust, und das Leben war so einfach wie der Tod. Bis man mir eines Tages einen Auftrag stellte, wie ich ihn noch nie bekommen hatte. Es ging wieder um die Nebelmonster. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)