New Reign von UrrSharrador (Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]) ================================================================================ Kapitel 4: Dreschflegel ----------------------- Tag 18   „DigimonKaiser, Ihr werdet dringend auf der Brücke gebraucht. Ein Angriff auf eine unserer Stellungen“, tönte die schabende Stimme eines Hagurumons aus Kens Connector. Das kleine Gerät, das er um sein linkes Handgelenk geschlossen hatte, war ungemein praktisch und vom Prinzip und der Bauweise her einfach genug gewesen, um es auch ohne den Intelligenzschub, den ihm einst die Saat der Finsternis verliehen hatte, zusammenschrauben zu können. Ken verließ die Galerie im unteren Hangar, wo er die Vorbereitungen zur Invasion der File-Insel überwacht hatte. Die Pteramon wurden eben frisch getankt und das schwarze Granulat, aus dem er seine Türme baute, wurde in Kisten zusammengetragen. Wormmon, das auf seiner Schulter saß, fragte, als sie auf dem Weg zur Kommandobrücke waren: „Meinst du, sind das schon Leomon und die anderen?“ „Wir werden es gleich sehen.“ Vorstellen konnte er es sich allerdings nicht; dafür fand der Angriff zu bald nach ihrem Gespräch statt. Leomon und seine Gefährten konnten noch nicht weit vom Mori-Mori-Wald sein, und Andromons Videobunker hatte er südlich der Hitzestraße niedergelassen. Mit wehendem Umhang erreichte er die Kommandobrücke im oberen Teil der Festung, wo freiwillige Hagurumon die Aktivitäten der Schwarzring-Digimon koordinierten, die Signale der Schwarzen Türme beobachteten und die Radargeräte und Sensoren überwachten. „Was ist los?“ „Feindbewegung in Sektor S, Koordinaten sind auf dem Notschirm“, berichtete eines der zahnradartigen Digimon. Ken runzelte die Stirn. „Der Bohrturm?“ Er tippte auf das interaktive Hologramm einer Tastatur, das vor ihm erschien, und verlinkte einige der zahllosen Bildschirme auf der Brücke mit den Überwachungsmechanismen des Bohrturms. Ein kahles, wüstes Land wurde sichtbar, auf der anderen Seite glitzerndes, träumerisches Meer. Über der Felsebene im Westen war eine Staubwolke sichtbar. Ken ließ die Kameras näherzoomen, bis er einzelne Digimon ausmachen konnte. Erst dachte er, Wormmon hätte recht und Leomons Kameraden würden ihn angreifen, aber nicht nur ein einzelnes, sondern gleich eine ganze Horde Centarumon kam dem Ölbohrturm entgegen geritten. An beiden Flanken trampelten Sagittarimon, mindestens ein halbes Dutzend; gepanzerte Zentauren, deren Rüstungsteile ihn an Veemons beide Armor-Formen, Flamedramon und Raidramon, erinnerten. In den Händen hielten die Sagittarimon wuchtige Langbögen, an den menschlichen Hüften trugen sie neben einem Köcher mit Pfeilen an langen Stangen befestigte Banner, die eine schwarze Rosenblüte auf weißem Feld zeigten. Weiter hinten, vom Staub verschluckt, schien sich noch etwas Großes zu bewegen. Alles in allem waren es wohl an die sechzig Digimon, die er ausmachen konnte. „Die Schwarze Rose?“, murmelte Ken. „Was machen die denn hier? Die müssen den halben Kontinent durchquert haben, um zum Bohrturm zu kommen.“ Das war übertrieben, dennoch war es eine weite Strecke von der Felsenklaue bis an den Net Ocean. „Es scheint sich um ihre Kavallerie zu handeln“, sagte eines der Hagurumon. „Offensichtlich. Können wir sicher sein, dass sie den Ölbohrturm angreifen wollen?“ „Sie halten genau darauf zu. Sie haben nur ihre Banner gehisst, keine weißen Flaggen.“ Und das ausgerechnet jetzt, wo ich mich um die File-Insel kümmern will … „Was sollen wir machen, Ken?“, piepste Wormmon unbehaglich. Die vordersten Centarumon hoben ihre Hände im vollen Galopp. Die Solarstrahler in ihren Handschuhen leuchteten auf, und ein Hagel aus gelben Energiebällen ging auf den Bohrturm nieder. Zwei der Kameras wurden sofort getroffen und vernichtet, die Bildschirme erstarben. Auf den anderen sah man, wie die Tankmon aus dem Turm mit dem Gegenfeuer begannen. Die Kavallerie änderte die Richtung, galoppierte in weitem Bogen um den Bohrturm, um ihm nicht zu nahe zu kommen und ihn dennoch von der Breitseite der Trupps in Beschuss nehmen zu können. Die Sagittarimon schossen mit Pfeil und Bogen auf die verteidigenden Maschinendigimon, die sich ihnen entgegenstellten. Ken meinte das Kreischen des Metalls zu hören, das davon zerfetzt wurde. Die Kavallerie steckte kaum Verluste ein, doch seine eigenen Digimon standen still und waren ein leichtes Ziel. „Berechnungen haben ergeben, dass unsere Garnison im Bohrturm die Stellung gegen einen derartigen Angriff nicht halten kann“, berichtete ein Hagurumon. Etwa vier Dutzend Maschinendigimon besetzten den Bohrturm und pumpten das Öl aus der Tiefe; Mekanorimon und Guardromon und einige Tankmon zur Verteidigung, kein einziges Schwarzring-Digimon. Ken hatte einen Angriff auf den Bohrturm nicht erwartet; die umliegenden Gebiete gehörten ihm, nur im Westen grenzte das Gekomon-Shogunat daran, und das hatte bisher kein einziges Mal angegriffen, sondern sich nur verteidigt. „Was machen diese Digimon hier? Was bringt es der Schwarzen Rose, wenn sie den Ölbohrturm einnimmt?“ Deemons Stimme drängte sich in seinen Kopf. Das Digimon klang hämisch. „Na, bereust du es nun, MarineDevimon in den Strudel geworfen zu haben, Ken? Es wäre in der Lage gewesen, diese Truppe ganz allein auszulöschen.“ Ken bemühte sich, es auszublenden. „Gebt Befehl an alle Digimon im Bohrturm, sich sofort hierher zurückzuziehen. Wir geben den Turm auf.“ „Aber Ken“, murmelte Wormmon, während die Hagurumon die Befehle an den Hauptcomputer im Bohrturm sendeten, „sie sind sicher nicht schnell genug, um der Kavallerie der Rose zu entkommen …“ Das stimmte. Ken biss sich auf die Unterlippe. Die Mekanorimon konnten fliegen, die Guardromon ebenfalls, aber die Kavallerie bestand aus Fernkämpfern und war ebenfalls sehr schnell. Von den schwerfälligen Tankmon gar nicht zu reden … „Die Tankmon sollen den Rückzug decken. Alle anderen sollen fliehen und sich nötigenfalls so gut wehren, wie es geht.“ „Dann werden wir große Verluste einstecken, DigimonKaiser“, warnte Hagurumon. „Es geht nicht anders. Wir werden die Stadt des Ewigen Anfangs einnehmen, dann kehren sie wieder als DigiEier zurück.“ Gleichzeitig wusste er, was für eine schreckliche Ausrede das war. Die Stadt des Ewigen Anfangs vorzuschützen, um damit das Leiden und Sterben seiner freiwilligen Anhänger zu entschuldigen, war eine billige, grausame Ausflucht. Er hätte mehr Truppen dort stationieren müssen! In einem Winkel seines Verstands hörte er Deemon heiser lachen. Wormmon bemerkte seine zitternden Fäuste und berührte ihn sanft am Knöchel. „Ken, es ist besser so.“ Ken schwieg, während der Kampf tobte. Die Tankmon waren längst pulverisiert, die anderen Digimon versuchten über das Meer zu fliegen und von dort aus dem angreifenden Digimon-Mob zu entkommen. Die Reichweite der Sagittarimon war jedoch trügerisch: Selbst weit über der spiegelnden Oberfläche des Net Oceans verfolgten ihre Pfeile die Mekanorimon und Guardromon, die mit ihren Jetpacks flohen. Die meisten Kameras waren bereits defekt, und Ken konnte nur anhand der Erschütterung der anderen Bilder sehen, dass etwas Großes, Massiges gegen den Bohrturm krachte, dann verloren sie den Kontakt. Kurz darauf erstarb auch das Signal des Schwarzen Turms, den er in Küstennähe errichtet hatte. „Erfolgreicher Rückzug von vierzehn Digimon bestätigt“, berichtete Hagurumon. „Neun Mekanorimon, fünf Guardromon. „Verluste und verlorene Signale insgesamt bei sechsunddreißig.“ Ken atmete tief die Luft aus. So viele Digimon waren gestorben … wieder einmal wegen ihm. Nein, so darf ich nicht denken. Ich habe so viele gerettet, wie möglich war. Der Angriff kam unerwartet. Und ich kann dieses Spiel nicht ohne Opfer gewinnen. Und genau das bereitete ihm Sorgen. Er war zu leichtsinnig gewesen, hatte die Opfer viel zu schnell in Kauf genommen. Und er dachte bereits erneut von diesem Krieg als einem Spiel … Zärtlich hob er Wormmon hoch, während die Hagurumon die Flugroute der geretteten Maschinen nachverfolgten. „Wormmon“, flüsterte er müde. „Wenn ich zu sehr wie mein altes Ich werde … Greif mich bitte wieder an, so wie damals. Ich verspreche dir, diesmal werde ich schneller zu Vernunft kommen.“ Wormmon vergrub traurig sein Köpfchen in Kens Brust. „Was sollen wir wegen dem Bohrturm unternehmen, DigimonKaiser?“, fragte ein Hagurumon. Ken atmete tief durch, sah Wormmon noch einmal beschwörend in die Augen und straffte die Schultern, ehe er sich wieder umdrehte und entschlossen verkündete: „Nichts. Ich hatte das Öl als Kraftstoff für die Maschinendigimon gedacht, aber im Moment haben wir nur wenige davon. Erst wenn wir die Stadt des Ewigen Anfangs haben und genügend Maschinen unsere Reihen füllen, wird er für uns wichtig sein. Außerdem kann die Schwarze Rose noch weniger damit anfangen als wir. Ihre Hauptstreitmacht und ihr gesamtes Land befinden sich weit weg, im Süden. Die Kavallerie ist nicht dafür geschaffen, eine Stellung zu verteidigen. Sie wird den Bohrturm entweder aufgeben oder sich selbst ihren größten Vorteil nehmen bei dem Versuch, ihn zu halten. Und dazu sind sie jetzt von jedem Nachschub abgeschlossen.“ Er wandte sich einem bestimmten Hagurumon zu. „Sorg dafür, dass unsere Flotte die Küste überwacht. Ich wünsche eine Blockade, falls die Schwarze Rose Seeeinheiten entsenden will, um den Turm zu verstärken.“ Während sich das Hagurumon um die Koordination kümmerte, wandte sich Ken an das nächste. „Über den Landweg müssten sie durch unsere Gebiete ziehen, also verstärken wir die Grenzposten. Und schickt einen Botschafter nach Little Edo. Sagt ihnen, ich werde es nicht dulden, wenn sie Streitkräfte der Rose durch ihr Gebiet marschieren lassen, und mit weiteren Angriffen reagieren.“ ShogunGekomon war feige genug, dass es sich durch diese Drohung würde einschüchtern lassen. Zwar hatten die Frösche seinen jüngsten Übergriff auf eine Stadt am Rande ihres Shogunats zurückgeschlagen, dabei aber große Verluste erlitten. Sie hofften viel mehr als er, die momentane Pattsituation weiterführen zu können. Es macht mir trotz allem zu viel Spaß, Befehle zu geben und Strategien zu entwickeln. Wieder ballte er die Faust, senkte den Kopf und verließ die Kommandobrücke. Aber jetzt haben wir umso mehr Grund, die File-Insel zu erobern.     Das Bokutō des Kotemons landete klappernd im Staub, sein Besitzer auf dem Allerwertesten. Codys Holzschwert ruhte auf der Schulter des Digimons, und Jubel brandete auf der Tribüne auf. Cody atmete schwer, gequält gleichmäßig, um dem Seitenstechen keine Angriffsfläche zu bieten. Glänzender Schweiß lief in Bächen seinen nackten Oberkörper entlang, brauner Sand klebte sich hartnäckig daran fest. Der Boden glühte unter seinen Fußsohlen, der grobe Stoff seiner dunkelblauen Hose kratzte und juckte mehr als sonst und das eiserne Amulett, das an seiner Brust baumelte, brannte von der Sonne aufgeheizt bei jedem Atemzug auf seiner Haut. Er konnte die Angst des Kotemons förmlich riechen „Was für eine unerwartete Wendung!“, plärrte die blecherne Stimme Shoutmons aus den Lautsprechern. „Dieser beeindruckende Hieb von Dreschflegel hat Kotemon entwaffnet! Wer hätte gedacht, dass ein einfacher Mensch einen Rōnin aus der Bambusbucht schlagen kann? Der Kampf ist vorbei, und was für ein Kampf das war! Hier habt ihr den Sieger!“ Die Zuschauer in den Rängen brüllten und jubelten, wie Wellenrauschen drangen ihre Worte an Codys Ohren, „Dreschflegel! Dreschflegel!“ und „Du bist der Größte!“ und „Tod! Tod! Tod!“ Die Menge griff den Befehl auf, bis die ganze Tribüne ihm lauthals zuschrie: „Tod! Tod! Tod! Tod!“ Er konnte nicht in der Miene des Kotemons lesen, das immer noch auf dem Boden verharrte; die Kendō-Maske hinderte ihn daran. Cody nahm das Schwert von seiner Schulter. „Tod!“, verlangte das Publikum. „Töte es!“ „Sieht so aus, als dürsten die Zuseher nach Datenstaub“, stellte Shoutmon fest. „Töte es!“, brüllten die Digimon auf den Rängen lauthals. „Womit soll er es denn umbringen?“, schrie jemand höhnisch dazwischen. „Mit seinen kleinen Krallen?“ Etwas Blitzendes löste sich aus der Tribüne und flog in hohem Bogen in die Arena. Ein kostbares Zanbamon-Schwert, das golden die Sonne reflektierte, landete im Staub. „Tod! Tod! Tod!“, ging das Geschrei weiter. Das Kotemon rappelte sich ein wenig auf, kniete sich auf den Boden und senkte ergeben den Kopf. Cody ließ sein Bokutō fallen und ging zu dem Schwert. Es war eine edle Waffe, geradlinig und schwer, als er es aufhob. Das Fordern der Zuseher wurde immer lauter und die Stimmung aufgeheizter. Das lästige Shoutmon warf einen Witz in sein Mikrofon, doch nur die Hälfte des Publikums achtete darauf. Cody richtete das Schwert auf die Sonne, drehte sich zu Kotemon um, und rammte die Klinge mit aller Kraft in den Boden, dass eine kleine Staubwolke aufstob. Enttäuschung wurde aus Hunderten von Kehlen laut. „Hoppla, es sieht so aus, als wolle unser Champion den Wunsch des Publikums nicht erfüllen“, kommentierte Shoutmon. Buh-Rufe wurden in den Rängen laut. Cody achtete nicht darauf, er schüttelte sie ab wie den Staub der Arena und ging durch das kreisförmige Kampffeld zum westlichen Tor zurück, dessen Fallgatter hochgezogen worden war, als Shoutmon den Sieger verkündet hatte. Dicker brauner Stein dämpfte die Rufe der Digimon weitgehend ab. Von der prallen Sonne in den kühlen Schatten zu wechseln, war jedes Mal ein kleiner Schock, vor allem, wenn die Hitze des Kampfes noch in seinen Knochen steckte. Der fensterlose Vorbereitungsraum war leer; es war der letzte Zweikampf des Tages gewesen. Sein schmutziges Leinenhemd lag noch auf seinem Platz, ordentlich zusammengelegt, seine Feldflasche daneben. Jemand hatte eine Blechschüssel mit Wasser für ihn auf das kleine Steinpodest gestellt. Cody wusch sich eben den Schmutz von seinem Oberkörper, als er Chichos‘ kleine Gestalt die steinerne Treppe in den Vorbereitungsraum herunterkommen sah. Ihr Gesicht war so schmutzig, dass es fast die gleiche Farbe hatte wie ihre dicken Zöpfe; auch das einfache, ehemals weiße Kleid, das sie trug, wies unansehnliche dunkle Flecken auf. Cody fragte sich, was ihre Arbeit für heute gewesen war. „Ähm, ich soll dir ausrichten, du sollst gleich zu WaruMonzaemon kommen“, sagte sie. Ihre kindliche Stimme klang seltsam in seinen Ohren. Generell war vieles seltsam an Chichos. Sie war auch ein Mensch, und trotzdem sah sie völlig anders aus als er. Ihre Haut war um etliches dunkler, ihre Augen runder. Sie sprach dieselbe Sprache wie Cody, und doch betonte sie manchmal Wörter falsch, oder auch einfach nur … anders. „Ich komme schon“, sagte er, trocknete sich mit dem groben Tuch ab, das neben der Schüssel lag, und drückte prüfend auf den Bluterguss, der sich auf seinen Rippen abzubilden begann, wo Kotemons Schwert ihn getroffen hatte. Flink wie eine Maus lief Chichos wieder die Treppe hoch. WaruMonzaemon musste eine Stinkwut haben, wenn es sie extra geschickt hatte, um ihn zu sich zu rufen. Stinkwut war noch untertrieben, wie er schnell merkte. Er fand seinen Besitzer im ersten Stock des Arenagebäudes, in den Räumlichkeiten der Ehrengäste. Hier hielten sich vor und nach den Kämpfen die Reichsten der Reichen von Masla auf, die Territoriallords und, wie in WaruMonzaemons Fall, die Digimon, die die Kämpfer stellten. Die Wände bestanden aus dem gleichen gelben Sandstein wie der Rest des Bauwerks, doch waren sie mit kostbaren roten Teppichen behangen, und goldene Öllampen sorgten für die nötige Beleuchtung. Auch der Boden war mit einem weichen Teppich ausgelegt, der alle Geräusche schluckte. Das schwarze Bärendigimon, dessen Gelenke Nähte aufwiesen, lümmelte auf einem der kostbaren Hocker und schaufelte Weintrauben in sich hinein, als Cody eintrat. Um den Hals trug es ein Band mit zwei Lederbeuteln. „Da bist du ja!“, polterte des Puppendigimon los und sprang auf. „Du! Was bildest du dir eigentlich ein? Warum hast du diesen Wicht nicht getötet? Die Menge hat es verlangt!“ Cody zwang sich, ruhig zu bleiben. Das gelang ihm meistens in WaruMonzaemons Gegenwart. Es war sogar einfach, den Gegenpol zu seinem cholerischen Besitzer zu spielen. „Es wäre mein Schlag gewesen, der es getötet hätte. Deswegen war es auch meine Entscheidung“, sagte er. WaruMonzaemon schnaubte und fegte die Schüssel mit den Weintrauben von seiner Stuhllehne. Zwei der Trauben klatschten gegen Cody Gesicht, doch er blinzelte nur kurz. „Papperlapapp! Dir ist wohl der Sieg zu Kopf gestiegen!“ Der zwei Meter große Teddybär stapfte auf seinen lächerlichen Beinen auf ihn zu. Sein Atem stank nach faulem Obst. „Hast du vergessen, wer deine Ausbildung bezahlt hat? Wer hat dir denn die ganzen freien Tage gegeben, damit du trainieren kannst? Wer hat dich von der Straße aufgelesen und dich davor bewahrt, für den Rest deines Lebens als Putzsklave dieses stinkenden Gargabemons zu leben, hä?“ „Ihr wart das“, sagte Cody bemüht demütig. „Aber gekämpft habe trotzdem ich.“ „Ah, es ist zum Verrücktwerden mit dir! Du hast mich blamiert, die Menge hat den Tod dieses Winzlings sehen wollen! Ausgerechnet heute, wo die Fürsten der Goldenen Zone anwesend waren! Hast du sie gesehen, in ihrer Loge, hä? So wie die Dinge stehen, kannst du deinen Auftritt im Großen Kolosseum vergessen!“ Cody hatte nie in dieses Kolosseum gewollt. Es war nur ein beschwerlicher Marsch durch die Wüste, und wofür? Nur um seinem Herrn zu gefallen und fremde Digimon zu verprügeln. Der blaue Fleck auf seiner Brust begann erst jetzt schmerzlich zu ziehen. „Ich verstehe es, wenn Ihr mich nicht dorthin mitnehmen wollt.“ „Hmpf“, machte WaruMonzaemon, nun etwas ruhiger. Seine Wutausbrüche ebbten im Normalfall so schnell ab, wie sie aufbrandeten. „Was du vor allem nicht verstehst, ist, wo dein Platz ist“, brummte es. „Hau ab, geh mir aus den Augen. Nimm Chichos und geh in das Anwesen zurück. Morgen stehst du um Punkt fünf bei Gladimon auf der Matte.“ Das bedeutete, keine Rast für seine geschundenen Knochen. Morgen beim Aufstehen würden seine Muskeln in Flammen stehen, ohne Zweifel. Dennoch war es eine vergleichsweise milde Strafe. Wenn WaruMonzaemon sich bewegte, klimperte es in den Beuteln um seinen Hals verdächtig. Wahrscheinlich war das der Grund. Cody sollte wohl dankbar sein, dass sein Besitzer auf ihn wettete und nicht etwa auf seine Gegner. Er verbeugte sich tief und wollte das Zimmer, dessen Prunk ihm die Galle hochtrieb, so schnell wie möglich verlassen, als WaruMonzaemon ihm noch hinterher blaffte: „Und das nächste Mal, wenn das Publikum den Tod deines Gegners verlangt, dann tötest du ihn!“ Cody musste nicken, das gebot ihm die Höflichkeit. Dann erst schloss er die Tür hinter sich.     „Es wird einfach toll werden“, schwärmte Mimi, als Babamon die Schnüre an ihrem Kleid festzurrte. „Es gibt Musik und Tanz und jede Menge lustiger Digimon. Es wird das schönste Reisfest seit langem.“ Als das Kleid perfekt saß, drehte sie sich prüfend vor dem Spiegel. Es war hellgrün, die Farbe des Wappens von Little Edo, durchzogen mit hauchfeinen Silberfäden und mit weißer Spitze bestickt. Der weite Rock war mit Rüschen verziert und raschelte und bauschte sich bei jeder Bewegung. Mimi drehte sich zu Yolei um und hob die Arme ein wenig, damit Babamon ihr das weiße Seidentuch um die Hüfte binden konnte. „Und stell dir vor!“, sagte sie mit gesenkter Stimme, als dürfte niemand außer ihnen davon wissen, „ShogunGekomon hat gesagt, es hätte einen Bräutigam für mich und würde ihn mir heute Abend vorstellen!“ Ihre Freundin zog eine Augenbraue hoch. Auch sie war für das Fest hergerichtet, trug aber anstelle eines Kleides eine dunkelviolette Paradeuniform mit Zierdegen. Auf ihrer Brust glitzerte der goldene Orden mit dem Wappen der Aufrichtigkeit, die der Shogun ihr letzten Monat für ihre Dienste verliehen hatte. Das fliederfarbene Haar hatte sie sich zu einem Pferdeschwanz gebunden, der besser zu der Uniform passte, als wenn sie es offen tragen würde. Mimi wusste, dass diese Kleidung ihrem Stand gerecht wurde und ihr auch recht gut stand, trotzdem fand sie, einem Mann hätte sie besser gepasst. „Einen Bräutigam? Willst du etwa schon heiraten?“, fragte Yolei entgeistert. „Ach, wer spricht denn vom Heiraten“, winkte Mimi ab und setzte sich vorsichtig auf ihren Schemel, damit ihre kleine Zofe ihrem Haar den letzten Feinschliff geben konnte. „Wozu ist ein Bräutigam sonst da?“ „Na, um mich zu umgarnen. Wer das Herz einer Prinzessin gewinnen will, muss schon etwas dafür tun, und das wird er auch, da bin ich mir sicher.“ Mimi schloss seufzend die Augen. „ShogunGekomon sagt, er wäre ein stattlicher und ehrbarer Krieger, ein Held. Er wird wie ein Prinz zu mir sein und mich auf Händen tragen …“ Sie sah den Mann förmlich vor sich, ein einer schimmernden Rüstung, edel, hochgewachsen und gertenschlank, sah sein warmes Lächeln, aber der Rest seines Gesichts blieb im Dunklen. „Ich frage mich, wer es wohl ist!“ „Naja, ich weiß nicht“, murmelte Yolei. „Krieger gibt es viele im Krieg. Und sie kämpfen oft gegen Digimon, die viel stärker sind als Menschen. Bist du sicher, dass er kein hässliches Narbengesicht und einen amputierten Arm hat?“ Jetzt war ihr Bild zerstört. „Ach wo, er wurde kaum noch in der Schlacht besiegt, hat ShogunGekomon gesagt“, sagte Mimi gereizt. „Ein Held … Ob es wohl der Drachenritter ist? Oh, ich hoffe, er ist es! Die Beschreibung passt genau, er ist edel und ehrbar und wurde nie im Kampf besiegt. Oder es ist der Anführer dieser Wolfsarmee, von dem wir in letzter Zeit so viel hören?“ „Hm …“ Yolei machte ein verträumtes Gesicht. „Der soll ja jeden Barden in den Schatten stellen, heißt es. Obwohl er ein Feldherr ist, kann er traumhaft musizieren, wenn die Gerüchte stimmen.“ Mimi seufzte erneut. „Dann wird er bestimmt für mich singen und spielen. Er wird nachts unter meinem Fenster ein Lied nur für mich spielen, und dann werde ich ihm eine Rose zuwerfen, und er wird daran schnuppern und davonreiten …“ „Auf einem Wolf?“, schlug Yolei vor. „Ach, du bist so unromantisch.“ Mimi warf spielerisch eines der Kissen von ihrem Bett auf Yolei. „Auf einem Unimon natürlich.“ Babamon trat einen Schritt zurück und verbeugte sich und Mimi stand auf und begutachtete sich im Spiegel. Ihre Haare waren gelockt, mehr als üblich, und ein silbernes, mit Smaragden besetztes Diadem zierte ihre Stirn. Sie ließ sich von ihrer zotteligen, alten Zofe die armlangen, reinweißen Handschuhe überziehen. Das Grün passt nicht zu meinen Augen, fand sie und überlegte, ob sie Babamon um ein anderes Kleid schicken sollte, aber das Fest würde bald beginnen. „Ich bin schon so aufgeregt, Yolei. Der Drachenritter oder der Wolf, der Drachenritter oder der Wolf … Wer wird es wohl sein? Oder einer der Ritter aus dem Süden? Die sollen ja so galant sein!“ „Dafür, dass du ihn nicht heiraten willst, bist du ganz schön aus dem Häuschen“, grinste Yolei. Babamon kam mit einer Flasche Blütenwasser. Der Duft von Seerosen hüllte Mimi ein, als die Zofe ihr Kleid damit betupfte. „Vielleicht heirate ich ihn ja doch“, meinte sie leichtfertig. „Wenn er mir lange genug den Hof gemacht und mich mit Geschenken überhäuft hat, warum nicht?“ „Vergiss die Halskette nicht“, erinnerte sie Yolei, nahm das Schmuckstück von Mimis Schminktischchen und legte es ihrer Freundin an. Während sie die Haken in ihrem Nacken schloss, ließ Mimi den tropfenförmigen Jadeanhänger über ihre Finger klimpern. „Wenn er mich heute beim Fest beeindruckt, werde ich ihm die schenken, was meinst du?“ Yolei grinste frech. „Vermutlich wäre er mit einem Kuss glücklicher.“ „Da muss er mich erst wirklich beeindrucken“, meinte Mimi schnippisch und Yolei lachte. Die Tür wurde aufgedrückt und Palmon schlich in ihr Gemach. „Bist du bald fertig, Mimi?“ „Jaja.“ Mimi entließ Babamon mit einer einfachen Handbewegung, was die alte Zofe mit einem demütigen Nicken quittierte, und durchquerte mit raschem Schritt das ausladende, in Weiß und Rosa gehaltene Zimmer. Ihre Röcke bauschten sich. Sie hoffte, dass es elegant und würdevoll wirkte. Yoleis hochgeschlossenen Stiefel gaben klackende Geräusche von sich, als sie ihr folgte.     Zum Schlafen bekamen WaruMonzaemons Sklaven nur rohe Pritschen, die mit stacheligem Stroh und schmutzigen Leintüchern bedeckt waren. Sie schliefen im Keller von WaruMonzaemons eigenem Haus, das groß genug war, um die zehnfache Menge an Menschen und Digimon unterzubringen. Das Bärendigimon handelte mit Süßspeisen, die es bis in die Gebiete um den Mori-Mori-Wald exportierte, und mit Honeybeemon-Honig. Die fleißigen, gelb gepanzerten Bienendigimon hatten östlich von Chinatown ganze Honigfabriken besessen, und WaruMonzaemon liebte den Honig so sehr, wie seine Kunden ihn liebten. Allerdings hatten sich mehr und mehr der Honeybeemon der Wissens-Armee im Süden angeschlossen und waren über die Hitzestraße in die unwirtliche Staubwüste geflogen, warum, wusste keiner. Ihr Honig war somit eine Rarität geworden, und wann immer WaruMonzaemon etwas davon auftreiben konnte, war es guter Dinge. Die Hälfte aß es stets selbst, die andere wurde zu so horrenden Preisen weiterverkauft, dass es dabei sogar noch Gewinn machte. Oft streckte es die Ware mit dem minderwertigen Honig der Fanbeemon, von denen es noch genug in diesem Teil der DigiWelt gab, es sei denn, die Lieferung ging an einen besonderen Feinschmecker. Ein Restaurant in Chinatown gehörte zu seinen besten Kunden; dort brauchten sie den Honig, um ihm ihrem Curry-Spezialrezept beizumengen. Und so reich WaruMonzaemon auch war, so viele Entbehrungen mussten seine drei Haussklaven ertragen. Cody teilte sich den Raum, der wenig mehr war als eine Kerkerzelle, mit einem Floramon, das so etwas wie WaruMonzaemons Mundschenk war, weil es nicht sonderlich kräftig war, und der kleinen Chichos. Und Letztere war es, die ihn in dieser Nacht mit ihrem Schluchzen weckte. Cody blinzelte den Schlaf aus seinen Augen. Er hatte unruhig geschlafen und war beim kleinsten Laut aufgewacht. Ein Kohlebecken tauchte den unterirdischen Raum, der aus gelbbraunem Stein bestand, in düsterrotes Licht. Er sah sich um. Chichos lag zusammengerollt auf ihrer Pritsche und weinte zitternd. Auf der anderen Seite des Raumes grummelte Floramon etwas und drehte sich zur Seite. Es war beileibe nicht das erste Mal, dass Chichos weinte. Meistens ging dem ein harter Arbeitstag voran, oder der Traum von Freiheit, oder WaruMonzaemon hatte sie geschlagen. Sie war schon länger im Besitz des Bärendigimons als er selbst; Cody war vor vier Jahren von WaruMonzaemon gekauft worden. Richtig erinnern konnte er sich nur an die Zeit nach dem Kriegsbeginn. Dazwischen gab es in seinen Erinnerungen irgendwo einen Bruch, es war alles unscharf, aber er wusste, dass er Zeit seines Lebens der Sklave verschiedener Digimon gewesen war. Seufzend stand er auf, schlich mit nackten Füßen an Chichos‘ Bett und rüttelte sie sanft an der Schulter. „Was ist los? Hast du schlecht geträumt?“ Sie sah ihn aus verquollenen, schokoladenfarbenen Augen an. „Cody“, murmelte sie und schüttelte dann den Kopf. Zehn oder elf, älter konnte sie nicht sein. „Nein, nicht schlecht … Gotsumon. Ich habe von Gotsumon geträumt.“ Wieder schluchzte sie und Tränen erschienen in ihren Augenwinkeln. Cody streichelte ihr zaghaft über das strähnige Haar. Er hatte Gotsumon nie kennen gelernt, aber Chichos hatte einmal gesagt, dass es früher ihr einziger Freund gewesen war. Dann war sie von WaruMonzaemon gekauft worden, Gotsumon aber nicht. Es war mit den Sklavenhändlern weitergezogen. Auch Cody erinnerte sich an einen Kindheitsfreund, ein gelbes, kleines Digimon mit goldglänzendem Panzer, dessen Namen er bereits vergessen hatte. Auch sie waren getrennt worden – das war das Los der Sklaven. „Schlaf weiter“, flüsterte er. Mehr tröstende Worte fielen ihm nicht ein. „Ich will Gotsumon so gern wiedersehen“, wimmerte das Mädchen. „Ich will nicht immer für WaruMonzaemon arbeiten. Es ist so groß und so gemein, und … und es muss gar nichts arbeiten, und die anderen Digimon müssen auch nichts arbeiten.“ Was sie noch sagte, ging in ihrem Schluchzen unter. Cody wusste nicht, was er sagen wollte. Er wollte ihr so gern Trost spenden, aber wie konnte er das? Sie waren Sklaven, und sie würden es immer bleiben. Sie hatten gegen WaruMonzaemon keine Chance. „Mach dir keine Sorgen“, sagte er trotzdem. „Es wird alles gut. Irgendwie wird es gut werden.“ „Versprich es mir“, murmelte sie. Er schluckte. Er konnte es ihr nicht versprechen. Er konnte und wollte nicht lügen … Oder war es in Ordnung, zu lügen, wenn er in dieses traurige Gesicht sah? „Ich verspreche es“, sagte er schließlich. „Ich tue alles, damit wir eines Tages frei sind. Dann kannst du Gotsumon suchen und es auch befreien.“ Chichos lächelte, noch während ihr Tränen über das kindliche Gesicht liefen. Dann umarmte sie ihn stürmisch, und Cody hatte bereits ein schlechtes Gewissen, ihr Hoffnungen gemacht zu haben. Aber er konnte nun nicht mehr zurück, er musste tatsächlich versuchen, sie zu befreien. Sonst wäre alles nur eine Lüge gewesen – und außerdem war er neugierig, was sich in der Welt jenseits der Mauern von Masla verbarg. Unbewusst umfasste er das Amulett, das er auch im Schlaf trug. Chichos bemerkte die Geste; da es in Masla stets warm war, auch in der Nacht und in diesem mit glühenden Kohlen beleuchteten Kellerraum, schlief er nur in seinen weißen Leinenhosen. „Was ist das da eigentlich?“, fragte sie und berührte das Amulett mit den Fingerspitzen. Ihre Augen sahen nicht mehr so trüb aus wie noch vor einem Moment, aber Cody sah nun die dunklen Ringe darunter. Chichos schlief nie gut. Er hob das Schmuckstück an, damit sie es in dem Dämmerlicht besser sehen konnte. „Ich hab es auf der Straße gefunden. Es ist mein Glücksbringer.“ Nach seinem ersten Gladiatorenkampf, als er verängstigt und entsetzt war und haushoch gegen ein ritterähnliches PawnChessmon verloren hatte, das ihm gütigerweise Gnade geschenkt hatte, hatte er eine Ecke des Symbols im Schmutz der Straße glitzern sehen. Es war aus schmuddeligem Eisen, wertlos in WaruMonzaemons Augen, weshalb es ihm gestattet hatte, es an einer Schnur um den Hals zu tragen, und stellte ein Kreuz dar, hinter dem sich ein X versteckte. Seitdem trug er es, obwohl er wusste, dass es so etwas wie Glücksbringer und Talismane nicht gab, und seitdem hatte er nie wieder verloren. Ein fahrender Händler hatte ihn einmal darauf angesprochen; offenbar war dies das Symbol des Zuverlässigen Ordens, von dem Cody schon gehört hatte. Anscheinend hatte es eines seiner Mitglieder in Masla verloren. Cody bewahrte es trotzdem als seinen kostbarsten Schatz auf. „Glücksbringer?“, fragte Chichos. „Ja.“ Er sah sie ernst an. „Wenn du willst, such ich dir auch einen Glücksbringer. Dann gehen diese Tage schneller vorbei.“ Die nächste Lüge. Hör auf damit. Es gehört sich nicht, zu lügen. Selbst für einen Sklaven nicht. Er fühlte sich so schlecht wie schon lange nicht mehr. Im Gegensatz zu Chichos. Das Mädchen lächelte glücklich. Cody deckte sie zu und lauschte, wie sie bald darauf in einen ruhigeren Schlaf sank. Er selbst lag noch lange wach und dachte über seine wahnwitzigen Versprechungen nach. Es hat keinen Sinn. Wir kommen niemals frei. Wir können nicht fliehen. Ich habe gelogen. Mit diesen Gedanken schlief er dann ein.   There is a chance for everyone Takes time, but can be done Fight the darkness Don't be afraid, my friends (Helloween – My Life For One More Day) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)