New Reign von UrrSharrador (Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]) ================================================================================ Kapitel 5: Die Schöne und das Biest ----------------------------------- Tag 18   Mit dem Reisfest feierte das Shogunat von Little Edo jährlich die gelungene Ernte. Entsprechend war auch die Wahl der Speisen: Es gab Reisbällchen und gebratenen Reis im Überfluss, dazu Sake und stärkeren Reisschnaps, aber auch Fisch aus der Bambusbucht, filetiert oder als Auflauf, Meeresfrüchte und Schildkrötensuppe. Ein Leibgericht der Gekomon waren außerdem dicke, schwarze Fliegen auf Reis, über die Mimi nur die Nase rümpfen konnte. In der großen Pagode, die normalerweise nur ShogunGekomon und seinen persönlichen Dienern vorbehalten war, war das ganze Erdgeschoss mit kniehohen Tischen und Kissen vollgeräumt worden. Der Duft nach Reis erfüllte die Luft, die Teller und Schalen waren reich gefüllt. Gekomon und Otamamon saßen zu Hundert in der zentralen Halle und aßen und schwatzten fröhlich. Der Shogun selbst saß am Kopfende der Tafel auf dem Boden, sein massiger Leib überragte alle Anwesenden und reichte fast bis zur Decke. Wenn er dröhnend lachte, was oft geschah, bebte die ganze Halle und Schalen und Teller klirrten. Mimi kniete zu seiner Rechten auf einem blauen Samtkissen mit Goldborten und ließ ihren Blick über die Versammelten schweifen. Noch war ihr mysteriöser Angetrauter nicht erschienen. Sie war so aufgeregt, dass sie kaum einen Bissen hinunterbekam und nur mit ihren Stäbchen in ihrem Essen stocherte. Weit rechts von ihr, wo die Reihe der Ehrengäste, Händler und Großgrundbesitzer endete – die meisten waren wohlhabende Gekomon oder Kongoumon, auch ein spindeldürres, hässliches Vademon war darunter – und die Sitzplätze der gewöhnlichen Gäste begannen, sah sie Yolei und ihren Partner Hawkmon, die eifrig Curryreis in sich hineinschaufelten. Zwischen den Tischen führten Otamamon den Froschtanz auf, später in der Nacht würde eine Floramon-Truppe auftreten. Gesang und Trompetenklänge gab es von einigen Gekomon, bei deren Getröte sich Mimi am liebsten die Ohren zugehalten hätte, doch den Gästen schien es zu gefallen. Als kleine Showeinlage trommelte ein Gekomon mit gepolsterten Stöcken auf der Pilzkappe eines Mushroomons herum, was einen dumpfen, trommelartigen Ton erzeugte. Als es das sah, lachte ShogunGekomon so laut, dass es die Sakeschale fallen ließ, die es eben zum Mund führen wollte, und zwei Otamamon-Bedienstete eilig den nassen Fleck auf dem Boden fortwischen mussten. Und immer noch kein Prinz in Sicht … Der Lärm, der von draußen durch die dünnen Wände drang, nahm zu, als die Hauptgänge vorbei waren und es dunkel wurde. Das Fest setzte sich in der ganzen Stadt fort, nicht nur in der Pagode, und würde bis in die Nacht hinein andauern. Das gemeine Volk bekam kostenlos Reis zugeteilt, auf den Straßen wurde getanzt und gesungen. Als Mimi gerade dem fröhlichen Gelächter lauschte, sah sie aus den Augenwinkeln, wie ein Ninjamon-Soldat auf ShogunGekomons Schulter auftauchte und ihm etwas zuflüsterte. „Wunderbar!“, rief der riesige Frosch und schwenkte seine Trinkschale. „Unser Ehrengast ist endlich eingetroffen!“ Mimis Herz begann zu klopfen. Sie verrenkte sich fast den Hals, als die breite Schiebetür am anderen Ende des Saals zur Seite glitt. Auch Yolei blickte interessiert auf. In ordentlichem Gleichschritt und mit einer Haltung, die man unter Gekomon und Otamamon nie und nimmer fand, marschierte eine Doppelreihe Kotemon, deren Augen unter dem Schutzgitter ihrer Kendohelme gelblich glühten. Und hinter ihnen, begleitet vom Geräusch klappernder Rüstungsplatten, stampfte ein menschengroßes, wie ein Samurai gekleidetes Digimon in die Halle. Die kleinen Augen über dem hervorspringenden, grausamen Kiefer suchten ihren Blick und Mimi fühlte sich wie mit kaltem Wasser übergossen. Sollte … das etwa … „Musyamon, wir haben Euch schon sehnsüchtig erwartet, geko“, begrüßte ShogunGekomon das grauhäutige Digimon. „Nehmt Platz und esst mit uns! Eure Garde ist uns natürlich auch willkommen, geko. Macht Platz für unsere neuen Gäste!“ Musyamon schlug sich mit der Faust gegen die Brust. „Ich danke Euch, mein Shogun.“ Es blieb allerdings vor der Tür stehen, als wartete es auf etwas. Mimi sah ein riesiges Krummschwert an seiner Hüfte, das für das muskelbepackte Digimon wie ein Spielzeug zu halten sein musste. ShogunGekomon erhob sich schwerfällig von seinem Sitzplatz. „Verehrte Gäste“, sagte es dröhnend, dass die Wände wackelten, „vor Euch steht Daimyo Musyamon, der Herr der Reisfelder, der treueste Vasall von Little Edo und Held der Schlacht um die Voxel-Stadt.“ Vereinzelt brandete Jubel auf. Mimi hatte von dieser Schlacht durch Yolei erfahren. Die Streitkräfte des DigimonKaisers hatten sie als leichte Beute betrachtet, aber ein paar Digimon hatten eine Verteidigung organisiert und die Übernahme gestoppt. „Ihr bringt mich in Verlegenheit, Shogun.“ Musyamon hatte eine volltönende, rauchige Stimme. Es deutete eine Verbeugung an, die Faust immer noch vor der Brust. „Eine Selbstverständlichkeit für jeden pflichtbewussten Samurai.“ „Pflichtbewusst, das will ich meinen, geko!“, donnerte ShogunGekomon. „Eure Anwesenheit ist in vielerlei Hinsicht ein Grund zum Feiern, geko! Verehrte Gäste, dieser tapfere Held hat mir die Ehre erwiesen, um die Hand meines Mündels Prinzessin Mimi anzuhalten!“ Also doch! Mimis Finger krallten sich in die Tischplatte. Sie spürte Yoleis mitleidigen Blick an ihr kleben. Alle Versammelten wandten sich ihr nun zu, gespannt auf ihre Reaktion. Warum nur? Warum so ein Ding? Musyamon trat zwischen den Tischreihen auf sie zu und sank vor ihr auf ein Knie herab. „Ihr seid noch schöner, als man mir beschrieben hat, meine Prinzessin.“ „Ich … bin nicht Eure Prinzessin“, fauchte sie. „Aber Mimi …“, murmelte ShogunGekomon, diesmal weit leiser. Musyamon sah sie fragend an. „Ist das dein Ernst?“, machte sie ihrem Ärger Luft. „Den da soll ich heiraten? Ein raubeiniges, hässliches, abstoßendes Digimon?“ „Ich … Also …“, murmelte der Shogun nur. Musyamon fand schneller seine Sprache wieder und neigte den Kopf. „Ihr mögt Recht haben, dass mein Äußeres hart und rau erscheint, doch es sind die Entbehrungen des Krieges und das Leben als Samurai, die mich in diese Form haben digitieren lassen. Ich versichere Euch, mein Herz ist rein wie ein Juwel und schlägt nur für Euch. Erlaubt mir, euch meine Worte zu beweisen.“ „Ich erlaube es nicht!“, schnappte Mimi und wandte sich an ihren Vormund. „Warum willst du mich mit einem Digimon verkuppeln? Es gibt genug ehrenhafte Krieger und Helden, die Menschen sind, sogar bekanntere als dieses … dieses …“ „Ich bin nicht der Drachenritter, holde Prinzessin, das ist wahr, aber ich würde ihn im Kampf besiegen, wenn ich dafür Eure Gunst erlangen würde.“ Das wollte sie nun überhaupt nicht hören. Dass Musyamon sich anmaßte, in ihr Bild des legendären Drachenritters zu treten, wälzte einen riesigen Klumpen Abscheu durch ihr Herz. „Wenn Ihr auch nur das Schwert vor ihm zieht, werde ich Euch das nie verzeihen!“ „Aber Mimi, Liebes, Musyamon ist ein angesehener Samurai unseres Shogunats, der fähigste, den du je finden wirst …“ ShogunGekomon klang weinerlich. „Der hässlichste, den ich je finden werde“, giftete Mimi. „Ich heirate auf keinen Fall ein Digimon! Niemals! Ich will gar nicht daran denken!“ Angewidert sah sie ihn Musyamons ungeschlachtes Gesicht, das unerschütterlich seine schiefen Zähne in einem Lächeln entblößte. Sie rümpfte die Nase, sprang auf und stapfte mit wehenden Röcken aus der Seitentür des Saales. „Mimi, warte!“ Palmon sprang auf und versuchte ihr auf seinen kurzen Stummelbeinen nachzueilen. Mimi hörte Musyamon laut etwas sagen und der ganze Saal lachte. Sollte es ruhig versuchen, seine Verlegenheit zu überspielen. Und sollte ihr Vormund vor Scham im Boden versinken. Die konnten ihr alle gestohlen blieben. Fuchsteufelswild lief sie den Gang entlang und dann die Treppe hoch. Ihr Leibwächter trat hastig zur Seite, als sie in ihr Gemach rauschte und sich wütend auf das breite Himmelbett war. Warum konnte sie nicht einmal Glück haben? Sie war eine Prinzessin, warum musste sie sich mit Kröten und Kaulquappen und hässlichen Samurais abgeben? Plötzlich fühlte sie sich weinerlich. Ihre Festlaune war gründlich verflogen, nein, in den Boden gestampft worden von den ungleichen Füßen Musyamons. Sollte es sich doch zurück zu seinen Reisfeldern scheren!     In kleinen, mit Öl gefüllten Schalen, die an den Wänden befestigt waren, flackerten Flämmchen, die in regelmäßigen Abständen ihren Schatten vor- und zurückspringen ließen. An das Klackern ihrer Stiefel auf den Holzdielen hatte sich Yolei längst gewöhnt, außerdem mochte sie die Stille ohnehin nicht. Nicht, dass es diese Nacht im Shogunat still geworden wäre, immer noch lachte und spielte und tanzte man in den Straßen von Little Edo. Einzig ihr Degen war Yolei stets unangenehm, er schlenkerte zu sehr herum und schlug ihr beim Laufen immer gegen die Beine – aber zu diesem festlichen Anlass gehörte er einfach dazu. Sie hatte sich ihre Uniform von einem renommierten Veggiemon-Schneider im Fürstentum von Karatenmon maßfertigen lassen, nachdem ShogunGekomon sie offiziell als Vertraute seines Mündels anerkannt und an seinen Hof gebeten hatte. Zuallererst hatte sie ja ein Kleid haben wollen, das möglichst einem der vielen von Mimi nachempfunden war – ihr Partner Hawkmon hatte ihr dann klargemacht, wie unpraktisch das auf Reisen wäre. Und auf Reisen war sie als freie Söldnerin – oder als Rōnin, wie die Digimon aus dem Shogunat sie oft nannten – eigentlich ständig. Seit Mimi verschwunden war, waren zwei Stunden vergangen. In der großen Halle wurde wohl noch fröhlich gefeiert; sie hatte Hawkmon dort gelassen, damit es nichts verpasste, was der Shogun und seine Fürsten und Samurai noch sprechen mochten. Wobei Fürsten übertrieben war … Yasyamon stand breitbeinig vor der Tür zum Prinzessinnengemach. Es war ein muskulöses, hochgewachsenes Digimon, dessen weiße, gehörnte Maske nie offenbarte, war es gerade dachte. Es trug weite, einfache Hosen und war mit zwei hölzernen Bokutō-Schwertern und Armschützern bewaffnet. Auf Stirnhöhe prangte das Wappen der Aufrichtigkeit auf der Maske, das Zeichen der persönlichen Leibgarde der königlichen Familie. Yolei blieb vor ihm stehen, als es keine Anstalten machte, zur Seite zu gehen, und stemmte die Hände in die Hüften. „Ist was? Ich will zu Mimi.“ „Die Prinzessin ist nicht in der Stimmung, jemanden zu sprechen.“ Die Worte klangen dumpf unter der Maske. Die klaren Augen sahen Yolei aufmerksam an. „Hat sie das gesagt?“ „Sie ließ keinen Raum für Zweifel“, behauptete Yasyamon. „Oh, komm schon“, versuchte Yolei es übertrieben freundlich und lächelte den Leibwächter mit schräg gehaltenem Kopf an. „Ich darf doch wohl zu ihr, oder? Wenn nicht ich, wer dann?“ Yasyamon verschränkte die Arme, wobei die Spitzen seiner Schwerter fast herausfordernd durch die Luft schwenkten. „Bedaure.“ Yolei wurde langsam zornig. Yasyamon bildete sich etwas darauf ein, genau die Gemütslagen seines Schützlings erkennen zu können und dementsprechend in ihrem Interesse auf ihre Privatsphäre zu achten, aber jetzt ging es zu weit. „Du lässt mich jetzt sofort zu Mimi, oder ich …“ „Oder was?“ Die Tür hinter ihm glitt einen Spalt auf. „Lass sie rein, Yasyamon“, hörten sie Mimi. Sie klang müde, erschöpft. Yasyamon sah Yolei noch kurz an und wirkte dabei irgendwie trotzig, dann trat es gehorsam aus dem Weg. Yolei schenkte ihm ein überlegenes Grinsen und stolzierte an ihm vorbei. In Mimis Gemach war es dunkel, nur eine Laterne auf ihrem Nachtkästchen spendete warmes, karges Licht. Mimi hatte sich, noch in ihren Festkleidern, bäuchlings auf ihr Himmelbett geworfen und die Decken zerwühlt. Palmon saß auf einem Stuhl daneben und schwieg. „Hallo“, nuschelte Mimi schwer verständlich. Yolei zog die Tür hinter sich zu. „Wie geht’s dir?“ „Bestens.“ „Und wirklich?“ Mit einem lauten Seufzer wälzte sich Mimi auf den Rücken, als wäre es das Anstrengendste auf der Welt. „Schön langsam müsste es wissen, was ich mag. Als ob irgendein normaler Mensch ein Digimon heiraten würde!“ Sie meinte ShogunGekomon. Musyamon war nicht der einzige Bewerber gewesen. Laufend kamen Digimon, teils von weit her, um Mimis Schönheit zu huldigen. Reiche Händler und verwegene Barden hatten schon versucht, ihr Herz zu gewinnen, wobei die Prinzessin anscheinend vornehmlich Sukamon, Numemon und dergleichen anzog. Allesamt waren sie Digimon gewesen, die Mimi wohl zu keinem anderen Zweck haben wollten, als sie wie eine Skulptur in die Ecke zu stellen und sich tagtäglich an ihrer vielgerühmten Schönheit zu erfreuen. Ursprünglich hatten Digimon mit Hochzeiten nichts am Hut, hatte Yolei sich sagen lassen. Es war ein Brauch der Menschen, die sich damit aneinander binden und als Familie angesehen werden wollten. Die Digimon hatten das Konzept der Verbundenheit übernommen – allerdings nur in Fällen, in denen es ihnen etwas nutzte. Digimon schlüpften aus Eiern und wurden auf irgendeiner Insel weit im Osten geboren, sie konnten keine Familien gründen wie die Menschen, aber in unruhigen Zeiten wie diesen reichte allen der Gedanke, zusammenzuhalten. Und wer sich rühmen konnte, das Mündel des Gekomon-Reiches geheiratet zu haben, dem würde es fortan an nichts fehlen. Yolei hatte sich schon oft gefragt, ob die ganzen Numemon Mimi anhimmelten, weil sie sich tatsächlich in ihr Äußeres verliebt hatten, oder ob sie mit diesem Getue ein komplexeres Ziel verfolgten. Mimis Abweisungen waren oft auch recht harsch, aber das schien die Entschlossenheit ihrer Freier nur zu verstärken. Auch ein Mensch hatte einmal ein Auge auf sie geworfen, wie Yolei wusste. Ein Junge, arm wie eine Kirchenmaus, anscheinend war er Fischer in der Bambusbucht. Er hatte orangerote, wuschelige Haare und ein Crabmon als Partner gehabt, als er einen seltenen Fang auf dem Wochenmarkt von Little Edo feilgeboten und Mimi bei einem Spaziergang erblickt hatte. Eine Weile hatte er ihr nachgestellt, bis es ihr so lästig geworden war, dass sie Yasyamon angewiesen hatte, ihn zu vertreiben. Der Junge wäre auch nichts für Mimi gewesen, zu schüchtern, um ihr die Stirn zu bieten, und außerdem jünger als sie. „Vielleicht hat es auch nur gedacht, ein adeliger Verehrer würde dir besser gefallen“, nahm Yolei ShogunGekomon in Schutz. „Dann ist es noch blöder, als es aussieht“, brummte Mimi und starrte in die Düsternis in Richtung Decke. Den Jadeanhänger trug sie nicht mehr, bemerkte Yolei; sie sah ihn in einer Ecke auf dem Boden glitzern und hob ihn auf. „Wie läuft’s beim Fest?“ „Ganz gut, würde ich sagen.“ Yolei erinnerte sich an den Grund, aus dem sie hier war. „Der Shogun war ganz verlegen, aber Musyamon hat sich zu ihm gesetzt, mit ihm über den Vorfall gescherzt und dann haben sie auf dich angestoßen.“ „Sicher haben sie über mich gelästert“, murmelte Mimi, zog ihr Kissen heran und drückte es fest an sich. „Nein, gar nicht“, sagte Yolei schnell. „Musyamon war da sehr edel. Wenn überhaupt, hat es deine Willensstärke gelobt.“ „Hm“, machte Mimi nachdenklich. Yolei fiel auf, wie zerzaust ihr Haar nun war. Ihr Haar, das in die passende Frisur zu bringen Babamon über eine Stunde gebraucht hatte. „Allerdings ist Musyamon dann auch recht schnell wieder mit seinen Kotemon abgezogen. Sie waren kaum länger als für einen Gang da. Von den anderen Gästen hab ich gehört, dass es sehr stolz sein soll. Es hat es nicht gezeigt, aber wahrscheinlich ist es trotzdem tief beleidigt. Der Shogun wirkt auch besorgt.“ „Soll er“, murmelte Mimi in ihr Kissen. „Ist ja seine Schuld, wenn er sich solche Vasallen aussucht.“ „Mimi, so solltest du nicht reden“, mischte sich Palmon ein, das bisher schweigend zugehört hatte. „Ach, sei still.“ Yolei zögerte einen Moment. „Es gibt da noch etwas, das ich erfahren habe. Also, wie sie auf die Idee mit der Heirat gekommen sind, meine ich.“ Mimi setzte sich halb auf. „Wieso? Ich dachte, Musyamon hat den Shogun einfach gefragt.“ „Ich weiß nicht, wer als Erstes die Idee hatte“, räumte Yolei ein, „aber angeblich hat der Shogun Musyamon deine Hand versprochen, weil es die Voxel-Stadt so gut verteidigt und die Grenzen gesichert hat.“ „Was?“ Mimi fuhr hoch. „Das ist ja wohl die Höhe! Es wollte mich als Belohnung für eine Schlacht verscherbeln?“ Das Kissen flog durch den Raum und prallte von der Wand ab. „Bitte, dann hoffe ich, dass Musyamon schön zornig auf den Shogun ist und ihn am besten in der nächsten Schlacht im Wald stehen lässt!“ „Mimi, reg dich doch nicht so auf“, versuchte Palmon sie zu beschwichtigen. „ShogunGekomon würde dich nie mit jemandem verheiraten, den du nicht auch willst.“ „Das will ich hoffen!“, sagte Mimi schnippisch. ShogunGekomon liebte Mimi fast so, wie ein menschlicher Vater seine Tochter geliebt hätte. Es hatte sie und Palmon nicht nur als Mündel aufgenommen, sondern ließ sie sich auch eine Prinzessin nennen und hatte verfügt, dass sie auch so zu behandeln wäre. Zweifellos stand es dem Shogunat auch gut zu Gesicht, mit einer hübschen jungen Prinzessin aufwarten zu können, und es mochte gut sein, dass der Krötenkönig daraus auch den Vorteil eines politischen Bündnisses ziehen wollte. Musyamon war bereits Daimyo eines riesigen Fürstentums, das die nördliche Bambusbucht, die lebensnotwendigen Reisfelder, den Bambuswald und neuerdings auch die Voxel-Stadt und einen Teil des Edo-Gebirges umschloss. Wenn dieses Digimon durch eine Hochzeit mit dem Mündel des Shoguns in die königliche Familie eingegliedert werden würde, wäre es der Nachfolger ShogunGekomons und diese Gebiete würden sich ohne viel Aufhebens an kleinere, abhängigere Vasallen verteilen lassen. Das war zumindest Yoleis Theorie, sie hütete sich aber, Mimi davon zu erzählen. „Ich habe für die nächsten Tage einen Auftrag im Edo-Gebirge angenommen“, berichtete sie der Prinzessin. „Irgendein Tierdigimon terrorisiert die Dörfer in der Gegend und ich hab mich bereiterklärt, es zu fangen. Wenn du willst, kann ich im Anschluss ja mal bei den Reisfeldern vorbeischauen.“ „Wozu denn? Lass Musyamon doch einfach. Ich will gar nichts mehr von ihm hören.“ „Aber es wäre doch schade, wenn ShogunGekomon es als Vasallen verliert, oder? Für das Reich, meine ich.“ Mimi stieß nur abfällig die Luft aus und machte Yolei damit klar, dass es sinnlos war, dieses Gespräch zu führen. Yolei verstand ihre Reaktion gut, sie wäre wohl ebenfalls aufgesprungen und vielleicht noch mit ein paar unüberlegten Worten als Abschiedsgeschenk davongelaufen; der Unterschied war, dass Mimi um einiges sturer sein konnte. So verabschiedete sie sich nur von der Prinzessin, was diese kaum zu bemerken schien, und von Palmon und ließ die beiden allein.   Die Nächte in Little Edo waren wunderbar, vor allem während des Reisfests. Bunte Lampions schmückten die Straßen und schillerten warm in Rot, Gelb, Orange und Grün. Fahrende Händler verkauften Süßigkeiten; Zimtstangen und gesüßten Reis, mit Honig versetzten Wein und Lebkuchen, Reiswaffeln mit Honig oder Schmelzkäse, winzige Fische in Tüten, von denen man sich gleich ein Dutzend auf einmal in den Mund befördern konnte. Sogar Eis gab es, riesige Blöcke waren aus der Eisregion antransportiert und zu kleinen Portionen in Tonschalen zerstoßen und mit süßen Soßen versetzt worden. Dazu gab es Musik und Straßenkünstler, Opossummon, die Tricks aufführten, eine Gruppe feuerspeiende Digimon, die gefährliche Flammenshows veranstalteten, und natürlich Gäste und Touristen von überall her. Little Edo summte geradezu vor Leben in dieser Nacht. Yolei atmete tief die laue Nachtluft ein und stieß sie seufzend wieder aus. Sie duftete nach Backwaren, Räucherstäbchen und Zimt. „Auf geht’s, Hawkmon!“, rief sie gut gelaunt und stieß die Faust in die Luft. „Lass uns feiern und uns amüsieren, bis die Sonne aufgeht!“ „Übertreib es nicht, Yolei“, warnte sie Hawkmon halbherzig, das sich bemühen musste, neben ihr herzuflattern, als sie die Straßen stürmte. Dasselbe sagte es noch einmal impulsiver, als sie an dem Karren eines Deramons einen Becher heißen, gewürzten Feuerwein aus den Keltereien der Brennenden Küste hinunterstürzte. Das warme Getränk war einmal etwas anderes als der ewige Reiswein und Reisschnaps, die die Gekomon brauten. „Stell dich nicht so an, probier lieber auch einen Schluck“, wehrte Yolei ab. „Heute Nacht darf man ruhig über die Stränge schlagen.“ Hawkmon verweigerte vehement. Man sah heute sogar verhältnismäßig viele Menschen in Little Edo. Die meisten waren in Yoleis Alter oder jünger. Während sie an einem Stand auf ihre Dango wartete, überlegte sie, ob sie nicht Mimi überreden sollte, aus der Pagode zu kommen. Vielleicht würde sie sich dann eher unter Ihresgleichen fühlen. Als ihre Bestellung fertig war, verwarf sie die Idee wieder. Mimi würde wohl für die nächsten zwei Tage niemanden sehen wollen, der auch nur annähernd das Potential hatte, sie um ihre Hand zu bitten. Genüsslich ihre Reisklößchen zerkauend, wurde sie, als sie ziellos in den Gassen umherschlenderte, Zeuge einer Unterhaltung eines recht hoch gewachsenen Menschen mit einem fahrenden Sukamon-Händler. „Das ist kein Verbandszeug, das ist einfach nur Wolle“, sagte der junge Mann eben. „Das ist das Beste, was ich hab“, behauptete das plumpe, gelbe Digimon, dessen Zunge ihm bei jedem Wort aus dem riesigen Rundum-Maul hing. „Das Beste“, fügte das kleine, mausartige Chipmon hinzu, das auf Sukamons Kopf saß. Yolei schlich neugierig näher. „Das kann doch nicht euer Ernst sein. Damit kann man doch keine Verletzungen behandeln, das eignet sich höchstens als Schal“, erwiderte der Mensch. „Was anderes wirst du in der ganzen Stadt nicht finden“, sagte Sukamon. „Wirst du nicht finden“, bestätigte Chipmon. „Doch, wenn du weißt, wo du suchen musst“, mischte sich Yolei ein und trat näher. Der junge Mann sah sie fragend an. Sie musste zugeben, dass er recht gutaussehend war, sein dunkles, bläuliches Haar war ordentlich gekämmt und reichte ihm bis zu den Schultern und die Brille auf seiner Nase verlieh ihm etwas Intelligentes. Er trug einen einfachen, grauen Flickenmantel, auf dessen Rücken und auf die rechte vordere Seitentasche je ein verziertes, dunkelgraues Kreuz gestickt war. Sukamon und Chipmon sahen sie gleichzeitig abwertend an. „Was willst du, Schätzchen?“ „Ja, was willst du?“ Yolei achtete nicht auf die beiden. „Wenn du nicht nur Ramsch haben willst, darfst du nicht bei den fahrenden Händlern kaufen, sondern auf dem Markt“, erklärte sie dem Menschen. „Ich zeig dir, wo du ihn findest, er hat heute rund um die Uhr geöffnet.“ „Blöde Göre, mach uns nicht unsere Kundschaft abspenstig!“, schimpfte Sukamon. „Blöde Göre!“ Chipmon sprang wütend auf und ab. „Hör nicht auf die, die hat keine Ahnung von Qualität!“ „Keine Ahnung!“ Yolei streckte den beiden die Zunge raus und bedeutete dem Mann, ihr zu folgen. „Ich dachte, das wäre schon der Markt“, murmelte er, während sie ihn durch die bunt erleuchteten Gassen führte. Die Lichter überstrahlten das Funkeln der Sterne, somit war der Himmel samtig schwarz. „Weit gefehlt“, grinste Yolei. „Diese Gestalten nützen nur das Fest aus, um ihren Müll loszuwerden. Der richtige Markt ist auf dem Platz hinter der Pagode. Ich bin übrigens Yolei. Also eigentlich heiße ich ja Miyako, aber meine Freunde nennen mich so. Weiß auch nicht, warum, das war schon immer so. Und das ist Hawkmon“, schwatzte sie. „Ja, äh, hallo. Ich heiße Joe.“ Seine Stimme hatte einen warmen Klang. Yolei warf demonstrativ einen Blick auf den kreuzförmigen Aufnäher auf seinem Mantel. „Du bist vom Späten Nachschub, oder? Ach, wie unhöflich von mir, ich meine natürlich von den … Wie nennt ihr euch noch gleich? Tut mir leid, der Volksmund nennt euch den Späten Nachschub. Aber das weißt du, oder? Ich wollte dich nicht kränken oder so.“ Was plapperte sie da eigentlich? Sie hatte doch zu viel Feuerwein getrunken, wie sie spürte. Ihr Magen fühlte sich warm und wohlig an, ihr Kopf aber viel zu leicht. „Ist schon in Ordnung“, sagte Joe leicht überrumpelt, nachdem er ihren Wortschwall verdaut hatte. „Wir sind der Orden der Zuverlässigen.“ „Genau, die Zuverlässigen! Wie konnte ich das vergessen? Ihr seid fast sowas wie ein Ritterorden, nicht wahr?“ „Nun ja, nicht ganz.“ Er rückte seine Brille zurecht. „Wir ziehen immer dorthin, wo es Kämpfe gegeben hat. Nach der Schlacht versorgen wir die verwundeten Digimon. Egal, zu welcher Seite sie gehören.“ „Auch, wenn sie zum DigimonKaiser gehören?“ „Meistens schon, ja. Nur die mit den Schwarzen Ringen lassen sich nicht behandeln. Die greifen uns an, auch wenn sie verletzt sind.“ Yolei nickte. Der Späte Nachschub. Es war nicht schwer sich auszumalen, woher dieser Spitzname kam. Die Seite mit den meisten Verlusten im Kampf hätte wohl am dringendsten Nachschub gebraucht, und auf ihre Seite schlugen sich dann vornehmlich die Zuverlässigen, um die Verletzten zu verarzten. In gewisser Weise wären sie damit die Verstärkung, die diese eigentlich während der Schlacht gebraucht hatten. Aber die Zuverlässigen kämpften nicht gern. „Yolei, hast du das auch gesehen?“, fragte Hawkmon, das ein wenig höher geflogen war. „Was denn?“ „Ich dachte, da wäre gerade etwas an euch vorbeigeflogen. Hast du nichts bemerkt?“ Yolei sah sich um und schenkte Hawkmon dann ein entschuldigendes Lächeln. „Nein, nichts.“ Hawkmons Seufzen sprach Bände. „Hast du schon mal Feuerwein probiert?“, fragte sie Joe unvermittelt, als sie auf eine belebtere Straße kamen. Hier war genügend Platz, dass sogar ein Mammothmon durchmarschieren könnte, nur war auch hier jedes freie Fleckchen mit Festgästen, Akrobaten oder Ramschhändlern vollgestopft. „Äh, nein. Ich trinke eigentlich gar keinen Alkohol“, sagte Joe unbehaglich. „Ach so. Ich kann ihn dir aber empfehlen. Bist du das erste Mal in Little Edo?“ Joe nickte. „Wir waren vorher in der Voxel-Stadt. Dort hat es ja üble Kämpfe gegeben.“ „Aus denen ein übler Verehrer der Prinzessin hervorgegangen ist“, sagte Yolei. Joe blinzelte verständnislos, und sie winkte ab. „Ach, ist nicht weiter wichtig.“ „Nun ja, wir hatten so viele Verwundete zu versorgen, dass uns das Material knapp wird“, fuhr er fort. „Da sie in der Voxel-Stadt alle Ressourcen für die Samurai und den Wiederaufbau und die Grenzsicherung brauchen, sind wir um das Gebirge herum hierher gezogen. Westwärts, weil das Gebiet um die Ölbohrinsel momentan mehr als unsicher ist.“ „Verstehe. Gibt es bei den Zuverlässigen noch mehr Menschen wie dich?“ Vielleicht würde er ja Mimi gefallen … „Nein, ich bin der einzige. Früher einmal, als es noch mehr Menschen in der DigiWelt gab, und als noch wegen anderen Dingen Schlachten stattfanden, waren die meisten Zuverlässigen menschlich. Man braucht fast menschliche Finger, um Wunden gut zu verarzten. Aber es wurden wohl immer weniger; ich bin seit langem der einzige.“ Noch bevor Yolei darüber nachgrübeln konnte, rief Hawkmon, das jetzt noch wachsamer war als zuvor: „Da! Da oben! Sieh mal, Yolei!“ Sie hatten den Rand des großen Marktes erreicht. Als sie in die Richtung sah, in der sein Schnabel deutete, meinte sie tatsächlich kurz etwas über den gestreiften Markisen eines Töpferwarenhändlers aufblitzen zu sehen. Hawkmon hatte recht, irgendwas versteckte sich dort in der Dunkelheit der Nacht … Eine Gruppe Gotsumon trampelte vorbei, mit kleinen Laternen, die Yoleis Augen kurz blendeten, und das Glitzern verschwand. Was war das gewesen? Etwa ein … „Hast du es auch gesehen, Joe?“, fragte sie. „Ich bin nicht sicher, ich glaube, etwas hat sich bewegt.“ Auch der Zuverlässige kniff die Augen zusammen. Dann tauchte abermals etwas am Rand von Yoleis Blickfeld auf, wie ein winziges, lästiges Insektendigimon, das sie umschwirrte, aber kaum zu sehen war. Ohne zu zögern lief sie los. „Yolei!“ Hawkmon folgte ihr, als sie sich zwischen den Gotsumon hindurchschlängelte. Diesmal klackerten ihre Stiefel besonders laut auf dem Kopfsteinpflaster. Yolei schirmte ihre Augen gegen die Lichter links und rechts der Straße ab und diesmal konnte sie ihn sehen. Sie hatte sich nicht geirrt, es war ein Schwarzer Ring. Das Markenzeichen des DigimonKaisers. Scheinbar schwerelos schwebte er über dem Schindeldach eines niedrigen, rechteckigen Hauses und drehte sich unschlüssig auf der Stelle, schwarz und glänzend und unheilverkündend. Yolei sprang auf ein Fass Reiswein, die wütenden Rufe des BigMamemon-Händlers ignorierend, schwang sich von dort auf den Dachvorsprung und lief zum Giebel hinauf. Als hätte der Ring sie bemerkt, drehte er ab und floh in weitem Bogen vor ihr. Yolei setzte ihm nach. Ihre Stiefel fanden auf dem nächsten Dach guten Halt, und von dort aus sprang sie weiter auf die schulterhohe Mauer, die den Hinterhof eines ansässigen Händlers umgab. Zum Glück hatte das Veggiemon ihr die Paradeuniform eingeredet. Mit einem Kleid wäre das alles unmöglich gewesen. Kurz strauchelte sie, während sie den Ring genau im Auge behielt und über die Mauerkrone lief. Dieser verdammte Feuerwein! Sie hätte die Finger davon lassen sollen. Als sie kurz in die Knie gehen und sich an den Stein klammern musste, um nicht abzustürzen, verlor sie den Schwarzen Ring aus den Augen. Fluchend lief sie in die ungefähre Richtung weiter, bis sie ihn über einem zweistöckigen Brauhaus schwirren sah. „Yolei!“ Hawkmon hatte zu ihr aufgeschlossen und flog schräg über ihr. „Da vorn ist er!“, rief sie atemlos, setzte auf das nächste Dach über und erreichte mit einem halsbrecherischen Sprung die obere Dachkante der Brauerei. Als sie sich hochzog, schwindelte sie kurz. Die Anstrengung trieb schwarze Flecken vor ihre Augen und beinahe hätte sie übersehen, dass der Ring knapp neben ihr in einer Kurve in die Höhe flog. Ohne lange zu überlegen, stieß sie sich ab und bekam den Ring mit einer Hand zu fassen. Er versuchte, sie nach oben zu zerren, aber Yolei war zu schwer für ihn. Langsam, wie mit einem Fallschirm, sanken sie auf der Straße zu Boden. Auf einem halben Meter Höhe schien der Ring seine Flucht aufzugeben – und ging stattdessen zum Angriff über. Er zappelte regelrecht in Yoleis Hand, drehte sich und zog sich zusammen wie ein Gummiband. Mit einem Geräusch, als würde eine Türklinke einrasten, klammerte er sich wie angegossen um ihr Handgelenk. Yolei stieß einen abgehackten Schrei aus, als die Flugkraft weg war und sie den letzten halben Meter abrupt zu Boden plumpste. „Ist alles in Ordnung, Yolei?“ Hawkmon flatterte heran, als sie sich ächzend erhob und den Straßenstaub von ihrer Uniform klopfte. Ihr Hinterteil schmerzte höllisch. „Nichts passiert.“ Sie streckte grinsend die Hand mit dem Ring wie eine Trophäe aus. „O weh“, machte Hawkmon. „Den müssen wir losmachen.“ Es zog seine Feder aus seinem Stirnband. „Aber sei vorsichtig.“ Hawkmon schleuderte die Feder wie einen Bumerang auf Yoleis Handgelenk. Ein metallisches Geräusch ertönte, als sie gegen den Ring prallte, aber das schwarze Band wies keinen Kratzer auf. „So geht es also nicht“, stellte Hawkmon fest, als es die Feder zurücksteckte. „Fühlst du dich irgendwie komisch, Yolei?“ Nur etwas beschwipst. „Nein, wieso denn? Ich bin doch kein Digimon. Und außerdem gibt es hier nirgends einen Schwarzen Turm. Mach endlich den Ring ab, der sitzt nämlich ganz schön fest.“ Das kühle Metall drückte schmerzhaft gegen ihre Haut, sodass sie kaum die Hand bewegen konnte. Wahrscheinlich sperrte der Ring auch ihre Adern wirkungsvoll ab. Hawkmon begann, mit dem Schnabel an dem Metall zu picken. „Autsch! Nicht so fest!“ „Entschuldige.“ Der Ring saß fest und klammerte sich unerschütterlich an Yolei. „So wird das nie was“, brummte eine missmutige Stimme. Yolei blickte sich um und sah drei Ninjamon vor sich stehen. Die Ordnungshüter der Stadt waren wohl auf sie aufmerksam geworden, als sie auf den Dächern geturnt hatte. „Ein Ring hält mehr aus als das“, sagte das mittlere besserwisserisch und fuhr ungerührt fort: „Wir müssen den Arm abschneiden. Und zwar schnell, ehe zu viele Digimon den Ring sehen.“ Es deutete auf die zahlreichen Schaulustigen, die auf der Straße angehalten hatten. Schon hielten die Ninjamon ihre Katana in Händen. „Das meint ihr doch nicht ernst!“ Hawkmon flatterte erbost auf. „Ihr spinnt wohl!“, rief Yolei und versuchte, den Ring mit ihren Fingernägeln zu lösen. Es half nichts, er saß fest wie angewachsen. „Yolei! Hawkmon!“ Joe kam mit wehendem Mantel aus der anderen Richtung gelaufen. Sein Gesicht war vor Anstrengung gerötet und er keuchte schwer. Offenbar war er nicht der Sportlichste. „Wunderbar, da haben wir gleich einen vom Späten Nachschub. Da kann er dich ja dann gleich verbinden“, sagte ein anderes Ninjamon fröhlich. Täuschte sich Yolei, oder lallte es? Joe sah nicht so aus, als wüsste er, worum es gerade ging. „Haut ab, wir machen das selber“, fuhr Yolei die Ninjamon an. „Und seht besser nach, ob nicht noch irgendwo ein Ring umherschwirrt. Oder wollt ihr, dass ich der Prinzessin petze, wie vorbildlich nüchtern die Pagodenwache in ihrem Dienst ist?“ Das griesgrämige Ninjamon stieß seinen vorlauten Kollegen verärgert an und gab dann ein Zeichen. In einem Wirbel aus dunklen Blättern verschwanden sie. Yolei wusste, dass die Ninjamon einen gewissen Groll gegen sie hegten, weil ihre Prinzessin ihr, einer zugereisten Söldnerin, mehr Vertrauen schenkte als ihren eigenen Wachen. Deswegen glaubte sie nicht, dass die drei ihre Worte ernst gemeint hatten. Das Problem mit dem Ring blieb. Joe besah ihn sich kritisch, wusste aber auch keinen Rat. „Hawkmon, wenn du digitierst, könntest du ihn vielleicht dann zerstören?“ Hawkmon scharrte unbehaglich mit den Krallen über den Boden. „Vielleicht. Ich könnte dich aber verletzen.“ „Du schaffst das schon. Versuchen wir’s.“ Hawkmon sah sie forschend an, nickte dann aber. „Aber halt bloß still“, sagte es. Dann hüllte es goldenes Licht ein, sein Gefieder wurde länger, während sein Körper wuchs, bis ein riesiger gehörnter Adler seine Schwingen entfaltete und die Straße, als er sich in die Lüfte erhob, gänzlich vom Staub befreite. Die anderen Digimon stießen erstaunte Rufe aus, während Aquilamon einen Bogen flog und wieder auf Yolei zukam, die die Hand in die Luft gestreckt hielt. Aquilamons Hörner glühten auf wie Kohlen, und es flog so dicht über Yolei vorbei, dass der Windstoß sie fast von den Füßen riss. Eines seiner Hörner streifte den Schwarzen Ring, gerade so, dass sie die Berührung spürte. Noch während sie um ihr Gleichgewicht kämpfte, fühlte sie das schwarze Metall zerbröseln, dann fiel der Ring von ihr ab und löste sich knirschend auf dem Boden in Datenmüll auf. „Puh“, machte sie und schüttelte ihr schmerzendes Handgelenk aus. „Endlich wieder frei.“ Aquilamon digitierte zurück, wobei es eins mit den Lichtern des Reisfests wurde, und landete vor Yolei. „Ich habe dir doch hoffentlich nicht wehgetan?“, erkundigte sich Hawkmon. „Nicht die Spur“, sagte Yolei leichthin. „Mich wundert es, dass der Ring sich nicht schon eher ein Ziel geschnappt hat“, murmelte Joe und sah in den samtenen Nachthimmel hoch, als erwarte er, dass gleich ein ganzer Schwarm weiterer Ringe auftauchte. „Ja, seltsam. Es war, als wollte er zuerst vor mir fliehen, und dann erst, als es keinen Ausweg mehr gab, hat er sich um meine Hand geschlossen. Komisches Ding.“ „Ich vermute, es war eine Art Späher“, überlegte Hawkmon. „Ein Späher des DigimonKaisers?“ „Ich habe gehört, er benutzt die Ringe auch zur Spionage. In seiner Festung sieht er dann die Bilder, die der Ring aufnimmt.“ „Ach, hätte ich das doch nur vorher gewusst!“, seufzte Yolei. „Dann hätte ich ihm im Großformat noch schnell den Mittelfinger zeigen können.“     Die gute Yolei. Das sieht ihr ähnlich, einfach so einem Schwarzen Ring hinterherzujagen. Wenigstens etwas. Ken tippte auf seiner gestaltlosen Konsole herum und spulte die Aufnahme zurück bis zu dem Gespräch, das sie und Joe geführt hatten. „Nein, ich bin der einzige. Früher einmal, als es noch mehr Menschen in der DigiWelt gab, und als noch wegen anderen Dingen Schlachten stattfanden, waren die meisten Zuverlässigen menschlich. Man braucht fast menschliche Finger, um Wunden gut zu verarzten. Aber es wurden wohl immer weniger; ich bin seit langem der einzige.“ Das waren Joes Worte gewesen. Ken nagte an seiner Daumenkuppe. Das ergab keinen Sinn! Die Wirklichkeit dünnte aus und Deemon wurde als gedanklicher Umriss in der Ecke des Kontrollraums sichtbar. Was hat das zu bedeuten?, fragte er es. Es hat sicher noch nie so viele Menschen in der DigiWelt gegeben wie jetzt. Die anderen Menschen auf dem Fest sind garantiert internationale DigiRitter, denen du untergeordnete Rollen verpasst hast, aber welche Leute hat Joe gemeint? Solche Menschen können nie existiert haben! Es ist gerade so, als findet es jedermann ganz normal, dass Menschen in der DigiWelt herumlaufen. Deemons Stimme erscholl in seinen Gedanken, scharf und rasch wie ein Pfeil. „Natürlich gab es diese Menschen nie. Den Orden der Zuverlässigen gibt es schließlich auch erst, seit wir unser Spiel begonnen haben. Wenn du ein Spiel reibungslos spielen willst, musst du erst die Spielsteine schleifen, Ken. Früher gab es Menschen in der DigiWelt, genauso wie Digimon. Die Digimon digitierten, während die Menschen nur alterten und starben. Das ist Evolution, Ken. Die Starken setzen sich durch, die Schwachen verschwinden nach und nach. Diesen Aspekt habe ich in unser Spiel eingebaut. Nur so konnte ich so viele deiner Mitmenschen einbringen, wie ich wollte.“ Deemon ließ ihn sein knochentrockenes Lachen hören, ehe Ken sich wieder auf die Realität konzentrierte und die Illusion verschwand. Plötzlich konnte er sich das Video nicht mehr zuende ansehen. Er stand auf, straffte sein Cape und verließ den Kontrollraum. Ziellos marschierte er durch die Gänge der Festung. Yolei ist eine Söldnerin. Joe ist Arzt. Sie kannten sich bis eben nicht. Die Prinzessin muss Mimi sein, und anscheinend will der Held der Schlacht um die Voxel-Stadt ihr Herz erobern. Dieses Spiel wurde immer verworrener. Die ganzen Regeln würde er nie überschauen können … Wie tief hatte Deemon wohl in der Vergangenheit seiner Freunde gewühlt? Er wollte es nicht fragen, nicht wieder sein überlegenes Lachen hören. Mit Sicherheit wusste er momentan nur, dass es kaum Hoffnung gab, diesen Krieg zu gewinnen, ohne irgendwie das dünne Netz, das seine Freunde in dieser DigiWelt darstellten, zu zerreißen. Und wenn alles so lief, wie Deemon es höchstwahrscheinlich plante, und er sich zu lange Zeit ließ, würden seine Freunde es selbst zerreißen – als Feinde, die sich nie kennen gelernt hatten und an unterschiedlichen Fronten dieses Krieges standen.   There is nothing left in you There is nothing left for broken heart’s rivers Down low, you’re the fallen one So close, so far away from love You’re shadow in the sun (My Reflection – Shadow In The Sun) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)