New Reign von UrrSharrador (Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]) ================================================================================ Kapitel 12: Ein Geschenk für die Prinzessin ------------------------------------------- Tag 26   Da die Kommandobrücke nach wie vor ein rauchender Haufen geschmolzenes Metall war, ließ Ken sämtliche Signale und elektrischen Leitungen, zusätzlich zu den bereits vorhandenen Steuerungsmechanismen, in seinen privaten Kontrollraum umleiten. Die Daten wurden regelmäßig gebackupped, sodass nur die direkt vor dem Angriff der Kurisarimon verloren gegangen waren. Für heute hatte er eine Sitzung einberufen und seinen Kontrollraum dementsprechend ausstaffiert; eine breite, holographische Karte spannte sich über den herbeigeschafften Tisch, billige Stühle mussten als Sitzgelegenheiten genügen. Wachen standen vor jedem der beiden Eingänge; noch einmal sollte sich das Attentat nicht wiederholen, schon gar nicht, wenn er seine wichtigsten Mitarbeiter zusammengetrommelt hatte. So saßen er, Wormmon, Spadamon, das für eine Weile zurückgekehrt war, Ogremon, sein erster und bislang einziger Ritter, und Zephyrmon, ein geflügeltes Digimon in Frauengestalt mit blauem, zum Teil federförmigem Haar und Mundmaske, um den ovalen Tisch herum. „Wir haben uns lange genug Zeit gelassen“, begann er sofort mit dem Wesentlichen. „Die Grenzen sind annähernd gesichert, und wir haben eine Armee, mit der wir bald losschlagen sollten.“ Noch blieben neue Rekruten von der File-Insel aus, aber die konnten das Reich sichern, wenn die Armee in Feindesland vorrücke. Ken hatte seine Truppen zusammengezogen, um eine geballte Schlagkraft zu besitzen, so, wie Matt oder Leomon es bereits getan hatten. Und eine stehende Armee zu versorgen, war ein horrender Aufwand und ungerecht den friedlichen Digimon seines Reiches gegenüber. „Gut!“, rief Ogremon sofort erfreut. „Du glaubst gar nicht, wie mir diese Herumsitzerei aufs Gemüt schlägt. Wenn ich nicht bald ein paar Kämpfe hinter mich bringe, roste ich wie so ein verdammtes Maschinendigimon.“ „Es war natürlich klar, dass dir egal ist, wohin es geht, solange du kämpfen kannst“, sagte Zephyrmon abfällig. „Natürlich!“, grunzte Ogremon. „Was ist schlecht daran?“ Zephyrmon stammte aus dem untersten Zipfel des Stiefels und somit vom südlichsten Ende von Kens Reich. Es hatte in den Kleinkriegen dort unten seine Führungsqualitäten bewiesen und Ken hatte es zu seinem neuen General gemacht. Oder Generalin, je nachdem, was es bevorzugte, hatte er dem Digimon angeboten, doch es hatte nur gemeint, das sei ihm gleichgültig. Den Titel Generalkommandeur wollte Ken nicht benutzen, er stammte von Deemon und hatte daher einen üblen Beigeschmack. General tat es auch. Zephyrmon war kühl und distanziert und ein kleines bisschen affektiert, vor allem Ogremon gegenüber. Ken vertraute diesem Digimon nicht hundertprozentig, aber eine bessere Wahl gab es nicht, und schlimmer als LadyDevimon konnte es kaum sein. Er räusperte sich und ergriff wieder das Wort. „Also, wir haben eine große Auswahl an Feinden, und ich will die Entscheidung nicht alleine treffen. Ich brauche Euren Rat – wohin sollen wir unsere Augen richten? Die Schwarze Rose hält noch immer den Bohrturm, aber das bedeutet mir zurzeit wenig. Neues Gebiet, darum geht es mir.“ Mehr Türme für Deemon. Gegen Deemon. „Leomon verkriecht sich im Norden, oder? Marschieren wir doch dorthin und locken wir es heraus.“ Es war klar, von wem das kam. „Du musst dich noch gedulden, Ogremon. Solange wir von Feinden umgeben sind, wäre es unklug, alles gegen das Nördliche Königreich zu werfen. Wenn möglich, möchte ich mir das bis zum Schluss aufheben.“ Ogremon grummelte beleidigt, aber Ken hatte ohnehin nicht erwartet, sonderlich intelligente Vorschläge von ihm zu erhalten. Es war eher ein Akt der Höflichkeit gewesen, es einzuladen. Ogremon durfte sich ruhig ein wenig wichtig und geehrt fühlen, umso treuer würde es sein. „Was ist mit Little Edo?“, fragte Zephyrmon. „Es liegt direkt vor unseren Toren. Ich traue mir zu, es zu erobern.“ „Das glaube ich, aber nur mit vielen Verlusten. Little Edo ist sehr defensiv, es wird uns kaum von sich aus angreifen. Ich bin sicher, wenn wir die Gebiete rund um das Shogunat erobern, wird sich ShogunGekomon uns freiwillig ergeben.“ „Wir dürfen auch nicht die Verluste vergessen, die wir bei der Voxel-Stadt einstecken durften“, erinnerte Spadamon. „Schlafende Drachen soll man nicht wecken.“ „Wie sieht die Lage auf der Großen Ebene aus? Spadamon?“, forderte Ken das kleine Löwendigimon auf. „Auch ein schlafender Drache. Oder eher, ein Pulverfass.“ Spadamon holte Kopien seiner Spionageberichte hervor und teilte sie aus. Ogremon warf als Einziges nicht einmal einen Blick darauf, aber Ken war sich nicht sicher, ob es überhaupt lesen konnte. „Der Eherne Wolf war zuletzt auf dem Weg nach Süden. Nun steht seine Truppe bei Little Edo.“ Spadamon hatte ihm bereits von Tais und Matts Buhlerei um Mimi berichtet. Ken war fassungslos gewesen, als er das gehört hatte. „Nördlich der Kesselstadt besitzt König Leomon jetzt auch schon die Küstenlinie. Unsere Türme wurden dort alle zerstört. Auch die meisten Städte im Dornenwald haben ihm die Treue geschworen, und es heißt, im Giga-Haus verstecken sich Deserteure. Und Marodeure. Mit Little Edo zusätzlich im Süden wären wir sehr schnell eingekesselt.“ „Ich hätte eine Frage.“ Zephyrmons eisblaue Augen fixierten Ken. „Was ist eigentlich Euer Ziel, Kaiser? Wir kämpfen und erobern, aber was soll am Ende stehen?“ Was Ken an Zephyrmon beunruhigte, war, dass man aus seinem Gesicht nicht ablesen konnte, was es dachte. „Die vollkommene Herrschaft über die DigiWelt.“ „Wozu?“ „Muss ich Euch das wirklich erklären?“ „Ich bitte darum. Es stärkt die Moral der Truppen, wenn sie wissen, wofür sie kämpfen.“ Ken ließ sich mit der Antwort Zeit. Er war immer noch der Kaiser! „Um den Krieg zu beenden, der schon lange dauert. Frieden, unter unserem Banner. Und“, er sagte es zum ersten Mal, „um die Macht der Dunkelheit zu besiegen. In diesem Punkt müsst Ihr mir vertrauen. Die Macht der Dunkelheit greift nach der DigiWelt, und wir werden sie davor retten.“ „Wie nobel“, stellte Zephyrmon fest, und Ken war sich nicht sicher, ob es ihn verspottete. „Ich bin kein Tyrann“, sagte Ken schlicht. „Ich will tatsächlich das Beste für die DigiWelt. Das ist die Wahrheit.“ Zephyrmon sah ihn noch lange nachdenklich an und Ken erwiderte den Blick mit all seiner Entschlossenheit. Davon hatte er in den letzten Tagen genug aufgebaut. Schließlich wandte sich sein General wieder an die Allgemeinheit. „Was bleibt noch übrig? Die Felsenklaue? Wenn wir die Schwarze Rose in ihrer Heimat besiegen, werden ihre Truppen beim Bohrturm gewiss den Kampfeswillen verlieren und sich uns ergeben.“ „Gut möglich“, stimmte Ken zu. „Sie sind uns lange genug auf der Nase herumgetanzt.“ „Darf ich etwas anmerken?“, fragte Spadamon. Ken nickte ihm auffordernd zu. „Der Stiefel ist momentan unser gesichertstes Gebiet, auch wenn Little Edo quasi ein Loch in unserem Reich darstellt. Er bietet sich perfekt für Nachschub von der File-Insel an. Ja, er öffnet uns den Weg nach Süden zur Felsenklaue, aber ich glaube, dieser Schritt wäre zu voreilig. Im Süden sind wir wieder von Nachschublieferungen abhängig, genau wie die Besatzung des Bohrturms zurzeit. Aber es gibt noch ein anderes mögliches Ziel. Wir wissen, dass ein Mensch die Kaktuswüste kontrolliert. Sein Banner zeigt ein orangerotes Einhorn auf schwarzem Feld.“ „Ein orangerotes Einhorn?“ Das war keines der bekannten DigiRitter-Wappen. Handelte es sich dabei um ein weiteres Saatkind? „Allen Bündnisangeboten hat er sich bisher taub gezeigt; ich glaube, wir müssen das nicht einmal versuchen“, meinte Spadamon. „Er könnte uns in den Rücken fallen, wenn wir zur Felsenklaue marschieren, oder unsere Versorgung abschneiden.“ „Was schlägst du also vor?“, fragte Ken. Spadamon schlug entschlossen mit einer Papierrolle in seine Handfläche. „Expandieren wir nach Westen. Drängen wir diesen Menschen aus der Wüste, erobern wir sie. Wir wissen bereits, wie wir Wüsten am besten verteidigen können. Wenn wir die Kaktuswüste einnehmen, haben wir zwei davon. Wir schneiden ein großes Stück aus dem Kontinent. Wenn dieser Landstrich uns gehört, können wir einen Zweifrontenkrieg gegen die Rose führen, oder auch gegen Little Edo, und uns stehen ganz neue Expansionsmöglichkeiten zur Verfügung.“ „Der Plan hat etwas für sich“, murmelte das sonst so eitle Zephyrmon. „Vielleicht ist es die beste Möglichkeit. Auch wenn mir der Gedanke widerstrebt, in die Wüste geschickt zu werden.“ „Sei kein Weichei“, prahlte Ogremon. „Das bisschen Hitze hat noch keinem geschadet.“ Zephyrmon funkelte es an. „Kommt doch mit und kämpft auch an der Front, Sir.“ „Darauf kannst du einen lassen!“ „Nicht so voreilig“, ermahnte Ken die beiden. „Ogremon, du bleibst vorerst hier, vielleicht brauche ich dich noch. Außerdem“, fügte er hinzu, als er in das finstere Gesicht des Ogerdigimons sah, „könnte es sein, dass sich Leomon bald in unserem Reich blicken lässt. Dann will ich dich bei mir haben.“ „Hm. Zu Befehl.“ Ogremon schlug sich auf die Brust. „Nach Westen also.“ Ken nickte. „Gut, damit ist unsere Sitzung beendet. Zephyrmon, ich lasse Euch die Angriffsbefehle in Kürze zukommen. Spadamon, setze bitte die Mission, die ich dir gegeben habe, wie gehabt fort.“ Tag 31 Es gab einen Grund, warum Izzy so selten seinen unterirdischen Computerraum verließ. Das lag nicht, wie Michael gern behauptete, daran, dass er sich so schwer von seinem technischen Spielzeug trennen konnte. Es war dort schlicht und einfach viel angenehmer. Über dem kühlen, klimatisierten Raum im Kellergeschoss des Regierungsgebäudes breitete sich die Fabrikstadt aus, und mit ihr der stickige Geruch nach heißem Metall, Ozon und Smog. Die meisten Gebäude waren aus glänzendem Chrom, das im Licht der Sonne in den Augen schmerzte, und die Glaskuppel über der Stadt sorgte zusätzlich dafür, dass die Abgase nur durch das Belüftungssystem entweichen konnte und man sich wie in einem riesigen Gewächshaus fühlte. Es half auch nichts, die Stadt zu verlassen, denn dann stand man buchstäblich in der Wüste, in einer aus Staub und schmutzigem Sand, übersät mit den Wracks von metallischen Gerätschaften. Dort oben existierte kein Leben, und es gab dort auch nichts zu holen. Das Leben spielte sich in der Stadt und darunter ab, wo es Ölquellen und Pilzplantagen gab, damit auch die Menschen und Digimon, die sich mit Öl nicht zufriedengeben konnten, etwas zu essen hatten. Sogar der Trailmon-Express, der nach Westen zu den wenigen besiedelten Gebieten der Lava-Region führte, lag unter Tage. Es hätte sich wohl erübrigt zu erwähnen, dass die verbrannten Pilze den menschlichen Bewohnern schon lange zum Hals heraushingen. In der Kantine des Militärstützpunktes herrschte selten gute Laune. Als Michael letzte Woche von einem Erkundungszug aus dem Norden zurückgekehrt war – einem der wenigen, die sie unternahmen, hatten sie doch viel bessere Methoden der Informationsbeschaffung –, hatte er hartes Brot und Maiskolben mitgebracht und mit Izzy, Willis und ihren Digimon geteilt. Es war mal etwas anderes gewesen, wenn auch kein Festschmaus; im Süden der Felsenklaue war der Boden ähnlich karg wie hier. Und so lohnte es sich schlicht und einfach nicht, nach draußen zu gehen. Es war viel nützlicher, hier im Halbdunkel zu arbeiten und Pläne zu schmieden, Sicherheitscodes zu knacken und die Stärken und Schwächen aller möglichen Digimon zu analysieren. Willis ging das alles ohnehin viel zu langsam. Er half zwar auch mit, aber seine eigenen Recherchen gingen nicht in die Richtung, in die Izzy forschte, und so arbeiteten sie nebeneinander her. Izzy bereute es bereits, Willis die Freigabe für seine Mission erteilt zu haben. Der Zwillingsritter wollte in die Schlacht ziehen; im Gegensatz zu ihm hielt er es nicht so lange an einem Ort aus. Er würde sogar auf einen genauen Schlachtplan verzichten, hatte er gesagt. Sobald sie den DigimonKaiser ausgetrickst hätten, würden sie ihn ohnehin erwischen. Das mochte so stimmte, aber der Gedanke, bei einem unüberlegten Angriff verbündete Digimon zu verlieren, behagte Izzy nicht. Zumindest diese Idee würde er Willis ausreden. Er hatte bald begriffen, dass Krieg eine furchtbar komplexe Angelegenheit war. Im Gegensatz zu Michael, der das alles wenig ernst nahm, und Willis, dem sowieso alles egal war, was nicht direkt ihn oder seine Digimon betraf, machte Izzy sich durchaus Sorgen, was geschehen mochte, wenn er nicht bei der Planung sein Bestes gab, um den Schaden zu minimieren. Das schloss auch das Töten von Sklaven des DigimonKaisers mit ein. Die Sicherheitstür gab ein Klicken von sich, dann glitten ihre Flügel auseinander. Tentomon watschelte in den Computerraum und flog dann kurzerhand über den Kabelsalat, der den Boden bedeckte, hinweg. Es hielt ein großes Paket in den Insektenhänden. „Was Neues?“, fragte Izzy. „Andromon hat gesagt, ich soll dir das hier geben.“ Das Käferdigimon lud das Päckchen auf der breiten, grauen Schreibtischplatte ab. „Schon wieder die Spähberichte von der Küste?“ Izzy seufzte. Die Küste zum Net Ocean war so sturmverseucht, dass das Salzwasser bis hoch über die vergleichsweise niedrigen Klippen spritzte. Die Maschinendigimon wurden dort unschön mit Staub und Salz verkrustet und rosteten, daher hatte Andromon unkompliziert zu wartende Batterien mit Überwachungskameras und Sensoren wie Infrarotsicht und Echolot installiert. Die lieferten ganz brauchbares Material, nur waren sie noch immer nicht an das Informationsnetzwerk der Aufklärungseinheit angeschlossen, und deshalb mussten die Daten immer manuell überspielt werden. Izzy öffnete das Paket und legte einen Stapel der Disks in das automatische Laufwerk seines Supercomputers ein, der sie nacheinander auslas und automatisch auf Anomalien prüfte. „Gibt es denn schon was Neues von dem Netzwerk in der Kaktuswüste?“, erkundigte sich Tentomon, während sie warteten. „Du meinst diesen Kabelwirrwarr?“ Dafür hatte er in den letzten Tagen keine Zeit gehabt. „Ich hab es noch nicht geschafft, mich hineinzuhacken, aber selbst wenn es mir gelingt, können wir es höchstens zum Überwachen benutzen. Sonst hängt da nichts mehr dran, weder Digimon noch Verteidigungsanlagen, gar nichts.“ Nach allem, was sie wussten, hatte der Einhornkönig in der Wüste nicht ganz so freie Hand gehabt, als er sich dort niedergelassen hatte. Ein Digimon auf dem Ultra-Level, das sich selbst auch König nannte, hatte ihm anfangs die Hölle heiß gemacht. Es hatte ein Netzwerk aus Kabeln in der Kaktuswüste verlegt, das vor allem der Aufklärung gedient hatte. Der Einhornkönig war aus den Kämpfen schließlich siegreich hervorgegangen und hatte, anscheinend mithilfe eines Datamons, seine eigene Flagge in den Sand gesteckt. Was aus dem anderen Digimon geworden war, wusste niemand, aber das Netzwerk war zu großen Teilen noch vorhanden, wenn auch nutzlos. Willis hatte sein Signal aufgenommen, aber es war natürlich einbruchsgeschützt, wenn auch nicht sehr gut. Ein Symbol blinkte auf seinem Sechsundvierzig-Zöller auf. Die automatische Auswertung hatte etwas Unerwartetes entdeckt. Izzy holte das entsprechende Bild auf den Schirm. „Was ist das?“, murmelte er. „Eine Insel, wenn du mich fragst.“ „An der Stelle sollte aber keine Insel sein.“ Die Aufnahme zeigte irgendeinen rauen Küstenstreifen und dahinter das Meer. Das Wasser glitzerte in der Nachmittagssonne, und weit draußen, wo er fast im Dunst versank, stach etwas wie ein riesiger Felsen aus den Fluten. „Wir sollten das mal von unserer Flotte untersuchen lassen“, murmelte Izzy. „Weißt du zufällig, wo die gerade steckt?“ Er könnte auch die Missionsberichte durchblättern, aber Tentomon wusste es womöglich auswendig. „Als ich das letzte Mal von ihnen gehört habe, haben sie in der Hitzestraße gegen die Gesomon gekämpft. Ich glaube, Shaujinmon sucht jetzt ihr Versteck.“ Izzy erinnerte sich. Die Gesomon gehörten wahrscheinlich zu einer Art Piratenbande, die in der Hitzestraße Überfälle auf Handelsschiffe oder auf die Küstenstädte und -dörfer ausführten. Besonders auf den Feuerwein, der dort gebraut wurde, hatten sie es abgesehen. Admiral Shaujinmon war mit seiner Flotte aus rochenartigen Mantaraymon und den Tylomon-Drachenmaschinen die Meerenge hineingefahren, um diese Brut auszuräuchern. „Ich schreibe Andromon einen Nachricht deswegen“, beschloss er. „Vielleicht ist es sogar besser, wenn wir diese komische Insel aus der Luft untersuchen.“ Gerade, als er die Mail abgeschickt hatte, erschien eine neue Nachricht in seiner Inbox. Stirnrunzelnd betrachtete er das Top-Secret-Symbol und den Betreff. Eine Materiallieferung? Warum kam so was zur Aufklärungseinheit? Als er die Mail durchlas, verstand er es immer weniger. „Was hast du da, Izzy?“ „Sie wollen unsere Industrieabfälle“, murmelte Izzy. „Den ganzen Giftmüll und das alles. Und sie wollen dafür bezahlen? Hier steht, die Lieferung soll im Geheimen über den Seeweg stattfinden. Die stellen sich das ja sehr leicht vor, wenn überall im Meer die Digimon des DigimonKaisers rumschwimmen.“ „Wohin soll die Lieferung denn gehen?“, fragte Tentomon. Izzy las die Nachricht erneut durch, für den Fall, dass er sich verlesen hatte. Dann zog er den Cursor über den Text und markierte die Stelle, damit Tentomon es selbst lesen konnte.     Auf dem großen Plasmaschirm in seinem Kommandoraum beobachtete Ken, wie seine erste, große Armee abzog. Monochromon und Tortomon deckten die Flanken, ein wenig innerhalb marschierten blaue, gestreifte Allomon und grüne, gestreifte Tuskmon. Schwerfällige Rockmon verzögerten die Armee, doch wurde ihre Schlagkraft dringend gebraucht. Ein Geschwader aus Flymon und Snimon flog voraus und sicherte den Weg, den sie einschlugen. Kiwimon, die als Boten in der Schlacht dienen würden, liefen etwas abseits der Hauptarmee durch den Sand. Weiter hinten stapften Gorillamon, Kokatorimon und andere Digimon, die durch Schwarze Ringe kontrolliert wurden. Sie würden Zephyrmon vonnutzen sein, wenn es darum ging, eine eroberte Stellung zu halten; für Invasionen konnte man Schwarzring-Digimon nicht gebrauchen, da für gewöhnlich keine Türme ihren Ringen Signale liefern konnten. Ken hatte es ausprobiert: Die Türme der anderen Saatkinder hatten keine Auswirkungen auf seine Ringe; umgekehrt besaßen diese selbst gar keinen Weg, Digimon auf ähnliche Weise wie er ihrem Willen zu unterjochen. Einige Ultra-Digimon wanderten verstreut in der Armee mit, die meisten so groß, dass sie wie Giganten hervorstachen; zumeist Mammothmon und fürchterliche Cyberdramon aus den Bergen vor der Kaiserwüste. Am Rand der Wüste würden noch eine ganze Horde freiwilliger Gazimon und Mushroomon aus den Dörfern zu der Armee stoßen. Trosse mit Nahrung und vor allem Wasser wurden von kräftigen Digimon gezogen, genug, um dieses Heer hoffentlich lange genug ernähren zu können, bis die Kaktuswüste ihm gehörte. Über allen glitt General Zephyrmon durch die Lüfte, sodass sein Schatten immer über den Digimon zu sehen war, und überwachte den Abmarsch. Ihr Ziel war die Kaktuswüste, wo Tai und die anderen damals gegen Etemon gekämpft hatte, der erste geplante Angriffspunkt das Kolosseum, wo Greymon zu dem Ken auch schon bekannten SkullGreymon digitiert war. Es hatte Ewigkeiten gedauert, bis endlich Bewegung in die Digimon gekommen war, aber es war ein erhebender Anblick, all diese Digimon in den feurigen Ball der untergehenden Sonne marschieren zu sehen, wobei sie lange, schwarze Schatten warfen und selbst zu dunklen Flecken wurden. Nun, es stimmte nicht ganz. Hätte er sie nicht eben in die größten Schlachten geschickt, die er bisher geschlagen hatte, dann wäre es ein erhebender Anblick gewesen. So war Ken mulmiger zumute, als er sich eingestehen wollte. Wormmon war bei ihm und spürte seine Sorgen. „Es wird alles gut gehen, Ken. Die Wüste anzugreifen war die beste Entscheidung, die du treffen konntest.“ „Sie war trotzdem falsch.“ „Du weißt, dass du den Krieg nicht ohne Opfer führen kannst“, murmelte Wormmon unbehaglich. Ja, er wusste es, und sie hatten oft darüber gesprochen, wenn es ihm schwerfiel, einzuschlafen. Er tätschelte Wormmon den Kopf. Ohne es hätte er niemanden, der ihm Mut zusprach. Er war froh, dass Deemon ihm seine Erinnerungen gelassen hatte. „Du ergreifst also nach langem Warten endlich die Offensive, Ken“, meldete sich ebendieses in seinen Gedanken, kaum dass die Armee so weit weg war, dass er den Bildschirm herunterfuhr. Du sagst doch immer, dass das hier ein Spiel ist. Beim Schach zum Beispiel muss man erst seine Reihen stärken, ehe man selbst angreift. Deemon lachte sein unangenehmes Lachen. „Du lernst schnell. Aber ich gebe dir einen guten Rat. Auch wenn du deinen Blick jetzt auf die Ferne richtest, solltest du achtgeben, was in deiner Nähe passiert.“ Ken gefiel Deemons Ton nicht. Was willst du damit sagen? „Du hast vorher einen Vergleich mit Schach gebracht. Ich kenne dieses Spiel, Ken. Ich weiß viel über euch Menschen, auch wenn es dich vielleicht überrascht. Was unterscheidet westliches Schach von eurem Shōgi, Ken?“ Man kann Spielsteine des Gegners für sich selbst nutzen? „Exakt.“ Deemons Lachen verhieß nichts Gutes. Was soll das heißen? Rede mit mir! Doch Deemon schwieg böswillig. Ken biss sich auf die Unterlippe. Er drückte auf eine Taste seiner Konsole und nahm Kontakt zu den neuen Hagurumon auf, die in einem neuen Computerraum behelfsmäßig die Arbeiten der Kommandobrücke übernahmen. „Lasst sofort überall in unserem Gebiet die Schwarzen Ringe ausschwärmen und die Umgebung aufnehmen. Überprüft die Videos live auf Ungewöhnlichkeiten und schickt alles, was auch nur ein bisschen fragwürdig aussieht, auf meinen Bildschirm.“ Er überwachte sein Reich nicht ständig. Das würde selbst für seine Supercomputer eine Datenmenge bedeuten, die zu verarbeiten die Mühe nicht wert war. Jetzt war er froh, so viele Ringe in Reserve zu haben, die schnell all seine Gebiete checken konnten. Er musste auch nicht lange warten, bis ein Bild auf seinem Hauptschirm aufblitzte. Der Ring filmte ein schattiges Waldstück; den Detailinformationen daneben zufolge befand es sich in der Nähe der Stiefelbucht. Eine menschliche Gestalt in einer dunklen Uniform lief rasch durch das Unterholz. Yolei, erkannte Ken erschrocken. „Der Ring soll ihr folgen, aber außer Reichweite bleiben. Schickt andere Ringe, um ihr Digimon zu fangen“, befahl er, wusste aber, dass es wahrscheinlich sinnlos war. Hawkmon war zu Shurimon digitiert und hackte Äste und Dornenranken entzwei, um Yolei das Vorankommen zu erleichtern. Der Winkel, in dem er sie sah, änderte sich, als der Ring seinen Kurs änderte und ihr nun folgte. Auch Ton wurde jetzt dazugeschaltet, aber er hörte nichts außer dem Rauschen des Windes und dem Knacken von Ästen. Sie erreichte eine Steilklippe, die zum Strand hinab führte, und kletterte auf Shurimons Rücken. Das Digimon vollführte mit seinen Rankenbeinen einen gewagten Sprung fünfzehn Meter in die Tiefe und verschwand kurz vom Bildschirm. Dann flog der Ring über die Kante und man sah, wie Shurimon mit Yolei auf die flachen Steine sprang, die die Bucht säumten, weiter und weiter auf das Wasser hinaus. Ken wusste, was sie vorhatten. „Schnell! Haltet sie auf!“, befahl er den Hagurumon. Sie würden schon eine schnelle Möglichkeit finden, einzugreifen. „Dem Mädchen darf nichts passieren“, fügte Ken hinzu. Andere Ringe tauchten von drei Seiten auf und kreisten Shurimon ein. Es ließ Yolei absteigen und Kens Herz machte einen erschrockenen Sprung, als es aussah, als würde sie auf dem rutschigen Felsen ausgleiten und ins Wasser fallen. Das Meer war stürmisch und aufgewühlt, und die vielen Felsen und Riffe machten es zusätzlich gefährlich. Sie ist meine Feindin, aber ich hoffe trotzdem, dass ihr nichts passiert, dachte Ken ironisch. Shurimon holte aus, zerschmetterte Ringe mit den Klingen in seinen Händen. Drei näherten sich ihm von hinten, Ken sah Yolei etwas schreien, was im Tosen der Wellen unterging, und Shurimon warf seinen wirbelnden Wurfstern, der in einer Kurve alle drei Schwarzen Ringe vernichtete. Dann schloss das Ninja-Digimon Yolei in die Arme, setzte noch ein paar Felsen weiter – und wurde glühend wieder zu Hawkmon. „Haben wir nichts, um sie aufzuhalten?“, verlangte Ken zu wissen. „Wir haben acht Kuwagamon losgeschickt“, berichtete ein Hagurumon über den Kommunikationskanal. „Schwarzring-Digimon oder freiwillige?“ „Schwarzring-Digimon.“ „Verdammt!“ Bis dort in die Bucht hinaus reichten die Schwarzen Türme nicht. Er sah die roten Hirschkäferdigimon in der Ferne heranflattern. „Ruft sie zurück, es hat keinen Sinn mehr.“ „Befehl verstanden.“ Ken sah, wie die Kuwagamon abdrehten, während Hawkmon die Champion-Digitation zu Aquilamon vollzog. Yolei kletterte auf seinen Rücken und die beiden flogen in weitem Bogen in Richtung offenes Meer. Garantiert würden sie eine Schleife fliegen und nach Little Edo zurückkehren, auf einer Route, wo sie kein Schwarzer Turm behindern würde. Ken nagte an seiner Daumenkuppe. Das schien seine neue Angewohnheit zu werden. „Was haben sie dort gemacht?“, fragte sich Wormmon. „Ich weiß nicht. Findet es heraus. Findet heraus, wo sie waren, mit wem sie gesprochen haben, und tragt alles zusammen. Das hat oberste Priorität“, befahl er den Hagurumon. Es war weniger die Tatsache, dass er vielleicht einen seiner Freunde hätte gefangen nehmen und damit aus dem Weg und in Sicherheit schaffen können. Yolei war dort in seinem Gebiet auf etwas gestoßen, etwas, das eigentlich Ken gehörte und das sich jemand anders krallen würde, wenn er nicht aufpasste. Genau wie ein Shōgi-Stück.   Es dauerte bis zum Mittag des nächsten Tages, ehe alle Daten zusammengetragen waren, und Ken hielt das Ergebnis zunächst für einen schlechten Scherz. Es war höchst alarmierend, aber auch kaum vorstellbar, dass Yolei so etwas in Erfahrung hatte bringen können, wenn er selbst es noch gar nicht gewusst hatte. In großen Schlucken schlürfte er seine zweite Tasse schwarzen Kaffee; er hatte schlecht geschlafen in dieser Nacht. Deemon, das mit Sicherheit wusste, worum es bei dieser Sache ging, hatte sich nicht erweichen lassen, es ihm zu sagen, so als wollte es Zeit schinden. Als er den Bericht endlich fertig in Händen hielt, wusste er, wieso. Die Hagurumon hatten in seinem Namen bestochen und Erkundigungen eingeholt, was das Zeug hielt, und Yoleis Weg bis zu den Reisfeldern der Gekomon in der Bambusbucht zurückverfolgt. Gemeinsam mit einem Revolvermon hatte sie ein Boot gemietet, das sie auf den Stiefel gebracht hatte. Die Digimon dort hatten gesehen, wie sie in Richtung der Maya-Pyramide gegangen waren. Ken erinnerte sich noch sehr gut an dieses Gebiet. Als er vor so vielen Jahren schon einmal der DigimonKaiser gewesen war, hatten seine späteren Freunde ihn dort bekämpft. Auch heute standen dort zwar überall Schwarze Türme, aber es war ein kaum besiedelter Bereich und die Überwachung ließ zu wünschen übrig. Yolei hatte anscheinend den Stiefel komplett überquert, was an sich keine weite Strecke war, aber sie war schließlich mit Shurimon allein wieder aus dem Wald hervorgekommen, ohne Revolvermon im Schlepptau. Was dazwischen passiert war, erfuhr Ken erst, als er einen Bericht von Spadamon las. Nachdem sie in Erfahrung gebracht hatten, dass Yolei von der Stiefelbucht wieder unterwegs nach Little Edo war, hatten die Hagurumon seinem Spion eigenmächtig eine Nachricht zugefunkt, die ihn zu einer riskanten Aktion veranlasst hatte. Spadamon war wieder in Little Edo gewesen, um Nachforschungen über Kens Freunde dort anzustellen, und hatte sich bis auf den Hauptplatz der Pagode geschlichen. Dort hatte es ein Gespräch belauscht und mit dem tragbaren Mailgerät, das Ken ihm gegeben hatte, Wort für Wort wieder in die Festung gesendet. Das Ende des Berichts überflog Ken nur noch. Höchste Eile war geboten. „Ich brauche eine Liste von Digimon, die möglichst sofort zur Maya-Pyramide aufbrechen können!“ Tag 32   Was Taichi über die Prinzessin gesagt hatte, stimmte leider zu großen Teilen. Sie sah tatsächlich nicht so aus, als hätte sie irgendein Interesse daran, sich zu vermählen – dafür umso größeres daran, umschwärmt zu werden. Die letzten Tage hatte Matt fast ausschließlich in ihrer Gesellschaft verbracht. Seine Wölfe wurden langsam rastlos und ungeduldig, jagten in der Ebene und verschreckten die braven Gekomon der Stadt mit ihrer bloßen Anwesenheit, aber es sah aus, als würde dieses Minneduell zwischen ihm und dem Drachenritter noch lange andauern. Sir Taichi hatte höflich und förmlich vor dem ganzen Hof um Entschuldigung gebeten. Er wäre betrunken und verärgert gewesen, und, und, und. Zum Schluss sah es nicht so aus, als hätte die Prinzessin ihm verziehen, aber er durfte sich immerhin wieder in ihre Nähe wagen, ohne dass sie ihrem Yasyamon-Leibwächter gleich befahl, ihn zu verjagen. Matt schätzte seine Karten als die besseren ein, er aß mit Mimi, führte sie in die wenigen Reisfelder, die Little Edo direkt umgaben, wobei sie beide und ihre Digimon in einem hübschen Palankin von Gekomon getragen wurde. Er sang für sie und spielte auf Shamisen, Gitarre und Mundharmonika und gab sich so galant wie möglich. Immerhin entlockte er ihr oft genug ein Lächeln, dass man von einem Fortschritt sprechen konnte, aber Matt wollte sich nichts vormachen. Die Prinzessin wollte nicht lieben. Sie wollte nur geliebt werden. Und langsam hatte er die Nase voll von dieser Farce. Und ShogunGekomon? Das mächtigste Digimon in diesem Teil der DigiWelt schien innerlich zerrissen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte Mimi den Drachenritter geheiratet, das wusste er. Vielleicht auch nur, weil Matt ihm seine Absichten nicht so offenkundig dargelegt hatte. Nun lebte das riesige Digimon in einem Zwist zwischen seinen eigenen Idealen, den Wünschen Mimis und der ständigen Gefahr, sich einen Feind zu schaffen, wenn es einen seiner beiden hochrangigen Besucher zu sehr bevorzugte. Ein neuer, strahlend schöner Tag war angebrochen, der versprach, heißer als die vorhergehenden zu werden. Das weiße Pflaster auf dem Pagodenvorplatz gleißte in der Sonne. Matt hoffte, Mimi dort anzutreffen – laut Togemogumon schlief sie gerne lange, aber für heute Morgen war der Besuch einer Delegation vom westlichen Fuß des Edo-Gebirges geplant, wo das Fürstentum von Daimyo Karatenmon lag. Der Shogun und die Prinzessin würden ihnen die Ehre erweisen, sie persönlich zu empfangen und mit ihr zu frühstücken. Zwei säuberliche Reihen Falcomon mit sauberem Gefieder hockten bereits vor der Pagode und wurden eben von Mimi und Palmon begrüßt. ShogunGekomon dürfte im Inneren warten. Matt war also zu spät gekommen. Mimi sah schon von der Ferne wenig glücklich aus, die Ninjavögel willkommen heißen zu müssen, und sie würde während dieser Pflicht kaum Zeit finden, auch noch seinen Vorschlag, wie sie den heutigen Nachmittag verbringen könnten, anzuhören. Die Prinzessin schwebte in die Pagode und die Falcomon folgten ihr. Palmon sah kurz zu Matt und lief dann auf seinen Pflanzenbeinchen auf ihn zu. „Sieht aus, als wäre sie schwer beschäftigt“, sagte Matt nach einer kurzen Begrüßung. „Oh ja. Sie hat ja schon einen von ShogunGekomons Vasallen beleidigt, daher verlangt es von ihr, bei den anderen doppelt so freundlich zu sein.“ Matt hatte schon gehört, wie sie Musyamon brüskiert hatte. „Wird die Delegation lange bleiben?“ „Ich weiß nicht genau, was sie besprechen“, gestand Palmon. „Aber ShogunGekomon hat das Mittagessen um vierzehn Gäste erweitern lassen.“ Also dauert es mindestens bis Mittag. Bis dahin konnte er Mimi wohl kaum sprechen. Er überlegte, ob er stattdessen Gabumon aufsuchen sollte, das die Ordnung im Lager erhielt. Ein paar Worte an seine Wölfe zu richten wäre vermutlich auch nicht falsch … Harte Stiefelabsätze klackerten hinter ihnen über den Boden und Matt wandte sich um. Ein Mädchen kam angelaufen, in einer violetten Uniform und mit wehendem, fliederfarbenem Zopf. Auf der Nase trug sie eine Brille, und ihre Wangen waren vor Anstrengung gerötet. Sie winkte ihnen zu. „Wer ist das?“, fragte Matt. „Das ist Yolei!“ Palmon ging ihr entgegen, und jetzt erst fiel Matt das Hawkmon auf, das dem Mädchen hinterherflatterte. „Dämliche Ninjamon!“, japste Yolei und stützte die Hände auf die Oberschenkel, um zu Atem zu kommen. „Wenn die mir nicht verboten hätten, auf Aquilamon zu fliegen … Glauben die wirklich, es würde die Bürger so sehr erschrecken?“ Sie bemerkte Matt und strich sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. „Oh, hallo. Guten Morgen.“ „Guten Morgen“, sagte Matt. „Ihr kennt euch?“ „Yolei ist eine gute Freundin von Mimi“, erklärte Palmon und das Mädchen lächelte schwach. „Yolei, das ist Matt. Der Eherne Wolf.“ Yoleis Augen wurden groß. „Der Wolf? Das ist … großartig. Ich hab viel von dir gehört. Also, nichts Konkretes, aber Gerüchte hier und da. Du sollst ein richtiger Freiheitskämpfer sein. Ist es wahr, dass dein Digimon zu vier verschiedenen Formen weiterdigitieren kann? Hast du etwa auch ein DigiArmorEi?“ Von ihrer Kurzatmigkeit schien nicht viel übrig geblieben zu sein, aber Matt kam nicht dazu, auch nur eine ihrer Fragen zu beantworten, denn sie sagte sofort: „Oh, tut mir leid, dass ich dich so damit überfalle. Palmon, ich muss unbedingt mit Mimi reden!“ „Das wird nicht gehen“, meinte Palmon mit einem unbehaglichen Blick auf die Pagode. „Sie haben gerade wichtige Gäste … Soll ich ihr etwas ausrichten?“ „Ja“, keuchte Yolei. „Ja. Sag ihr … DigiArmorEi! Ich hab ein DigiArmorEi entdeckt!“ Matt hob überrascht die Augenbrauen. Palmon schien ebenso verblüfft. „Wo? Wie denn?“ „Also, das war so …“ Yolei maß Matt kurz mit einem Seitenblick, aber Palmon winkte ab. „Sag es ruhig. Mimi wird es ihm sowieso erzählen, wenn die beiden allein sind.“ „Wenn die beiden allein …“ Yoleis Gesicht wurde nachdenklich, dann hellte es sich auf und ein Grinsen schlich sich auf ihre Züge. „Oho, so ist das also.“ „Du hast etwas von einem DigiArmorEi gesagt“, erinnerte sie Matt. „Richtig. Wo fang ich an? Wir, also Hawkmon und ich, wir waren ja im Edo-Gebirge, einen Auftrag ausführen. Nichts Großartiges. Bevor wir uns auf den Rückweg gemacht haben, dachte ich, ich schau bei den Reisfeldern vorbei und höre mich nach Musyamon um. Scheint alles ruhig zu sein, offenbar hat der Fürst jede Menge edle Scherze über diese Sache gemacht, so in der Richtung, seine Reife ließe ihn wahrscheinlich viel zu alt für die Prinzessin aussehen, und seine Kraft würde ihrem schlanken Körper wohl auch nicht gut tun, so etwas in der Art.“ „Und wo kommt das ArmorEi ins Spiel?“, fragte Matt und hielt die Umgebung genau im Blick. Der Drachenritter hatte die Angewohnheit, genau in den unpassendsten Augenblicken aufzutauchen. „Ich hab mich noch ein wenig auf den Reisfeldern umgehört und dort ein Revolvermon auf der Durchreise getroffen. Das hat Unterstützung bei einer gewissen Unternehmung gesucht, und mich angeheuert.“ „Ich höre nur Auftrag und anheuern. Bist du eine Söldnerin?“, fragte Matt. Yolei nickte. „Da es ja nichts Ungewöhnliches von den Reisfeldern zu berichten gab, sind Hawkmon und ich mit dem Revolvermon zum Stiefel gefahren. Mit einem Boot.“ „Es hat gesagt, es wäre ein Schatzjäger“, erzählte Hawkmon weiter. „Es gibt im nördlichen Teil des Stiefels eine alte Stufenpyramide. Revolvermon ist auf eine Legende gestoßen, die besagt, dass es unter der Pyramide geheime Räume gibt. Es hat vermutet, dass dort ein Schatz versteckt ist, und wollte uns als Unterstützung, weil sie mitten im Gebiet des DigimonKaisers liegt.“ „Das hört sich gefährlich an“, sagte Palmon. „Ach was“, winkte Yolei ab. „Da waren nur Türme, kaum Digimon. Das Gebiet, wo wir an Land gegangen sind, ist dichter Dschungel. Wir haben uns zur Pyramide geschlichen und Revolvermon hat sogar den versteckten Eingang gefunden. Es hat eine Art Schlüssel eingesetzt, und die Steinplatte ist in die Höhe gezogen worden. Das war wohl irgendein Mechanismus. Dort drin haben wir es dann gesehen.“ „Das Ei?“ Yolei nickte. „Es war ganz sicher ein DigiArmorEi. Es sieht zwar komplett anders aus als meines, aber Revolvermon hat es sofort erkannt.“ „Es war ganz aus dem Häuschen“, fügte Hawkmon hinzu. „Das kann man laut sagen“, meinte Yolei säuerlich. „Deswegen hat es auch nicht aufgepasst. Es ist in die Kammer gerannt und hat dabei irgendeine Falle ausgelöst. Wir haben nur gesehen, dass violettes Gas in den Raum geströmt ist.“ „Wahrscheinlich Gift“, sagte Hawkmon. „Dann ist die Steinplatte wieder zugefallen, obwohl der Schlüssel noch drin gesteckt hat. Wir haben sie nicht mehr aufbekommen. Also haben wir gemacht, dass wir von dort wegkommen. Und ich glaube, der DigimonKaiser hat uns bemerkt.“ „Wusste er, dass da ein ArmorEi in seinem Gebiet liegt?“, fragte Palmon. „Wohl kaum, sonst hätte er es längst in seine Gewalt gebracht.“ Matt hakte seine Daumen in seinen Gürtel und wippte nachdenklich auf den Fersen. „Aber womöglich weiß er jetzt davon. Kann man diese Steinplatte aufbohren?“ „Ich wüsste nicht, warum es nicht gehen sollte“, murmelte Yolei. „Wir dachten, wir erzählen es euch so schnell wie möglich, falls der Shogun etwas deswegen unternehmen will“, sagte Hawkmon. „Du kennst ihn ja“, seufzte Palmon. „Bis er sich dazu entschieden hat, ist es längst zu spät. Außerdem wird er sicher niemanden so weit ins Feindesland schicken.“ „Er nicht“, stimmte Matt dem Digimon zu. „Ich dachte ja nur …“ Yolei rang mit den Händen. „Wenn ein Digimon die Armor-Digitation schafft, kann es sogar in dem Land, das vom DigimonKaiser oder der Schwarzen Rose kontrolliert wird, digitieren. Es wäre eine nützliche Waffe …“ Und ein außergewöhnliches Geschenk, dachte Matt. „Naja, aber wie ihr meint.“ Yolei gähnte ungeniert. „Dann werde ich mal was essen gehen und mich eine Runde aufs Ohr hauen. Ich bin todmüde …“ „Drei Stunden“, sagte Matt. Sie sah ihn verwirrt an. „Ich brauche drei Stunden, um hier ein paar Dinge zu erledigen und meine Truppe zu mobilisieren. Wenn du mitkommen willst, sei bereit.“ „Du willst dir das ArmorEi holen?“, fragte Yolei. Er nickte. „Und es Prinzessin Mimi schenken. Es wäre gut, wenn ich dich dabeihätte, du warst schließlich vor Ort.“ Er zögerte. „Deinen Sold von Revolvermon wirst du ja noch nicht bekommen haben, oder? Ich bezahle ihn mit und heuere dich gleichzeitig neu an.“ Yolei sah ihn lange an, dann grinste sie. „In Ordnung. Wenn ich auf einem deiner Wölfe reiten darf, kann ich ja vielleicht unterwegs noch ein bisschen schlafen.“ „Wohl kaum“, schnaubte Matt amüsiert.     Mimi hatte sich gerade für das Mittagessen umgezogen und alles in ihr sträubte sich dagegen, ihr Gemach zu verlassen. Es war kein erfreulicher Vormittag gewesen. Wenigstens auch für ShogunGekomon nicht. Die Falcomon hatten beunruhigende Nachrichten aus dem Westen gebracht. Ein Feind mit einem orange-schwarzen Banner bedrohte die Grenze, soweit sie das verstanden hatte. Sie hatte nur mit einem Ohr zugehört, aber so, wie die Falcomon gejammert hatten, musste es etwas Ernstes sein. Durch den Trugwald streiften schon feindliche Truppen, hieß es, und Späher waren hinter ihre Grenzposten gelangt. Seufzend betrachtete sie ihr Gesicht zum wiederholten Male im Spiegel. Es war müde. Am liebsten hätte sie den Rest des Tages im Bett verbracht. Als sie sich herumdrehte, hörte sie ein Scharren, als jemand ihr Fenster aufschob – und plötzlich sprang der Eherne Wolf in ihr Gemach. Mimi unterdrückte einen Aufschrei. „Was wollt Ihr hier?“, rief sie erbost. „Ich bin gerade dabei, mich umzuziehen!“ „So wie ich das sehe, seid Ihr schon fertig damit.“ Matt legte den Finger auf die Lippen. „Seid leise. Euer Leibwächter sollte uns nicht hören.“ Ihr lag eine saftige Entgegnung auf der Zunge, aber sie verstummte und schluckte. Auf der einen Seite war sein Verhalten natürlich allergrößte Impertinenz … auf der anderen war es etwas so Verbotenes, Direktes, dass schon ein gewisser Reiz dahinterlag. „Was wollt Ihr?“, fragte sie mit zu einem Flüstern gesenkter Stimme. „Ich werde bald an der Tafel meines Vormunds erwartet.“ „Ich weiß. Hört mich nur an. Ich werde in die Schlacht ziehen.“ „Schlacht?“ Mimi blieb ihr Mund offen stehen. „Wo gibt es denn eine Schlacht?“ „Nicht hier, keine Sorge. Ich werde mich weit hinter die Linien des DigimonKaisers wagen und wollte mich verabschieden. Wartet bitte hier auf mich.“ „Ihr wollt gehen?“ Leichter Zorn wallte in ihr hoch. „Wieso auf einmal? Ich dachte, Ihr wollt um mich werben. Und jetzt wollt Ihr so einfach …“ Sie war immer lauter geworden, bis er ihr einen Finger auf die Lippen legte. Sie spürte Hitze ihre Wangen hochkriechen. „Ihr nehmt Euch zu viel heraus“, meinte sie anklagend. „Schon möglich“, sagte er augenzwinkernd. „Aber ich bin Euch diese Antwort schuldig. Ich begebe mich in das Hoheitsgebiet des DigimonKaisers – für Euch. Ich werde Euch von dort ein Geschenk mitbringen, das es kein zweites Mal in der DigiWelt gibt.“ Sie machte große Augen. „Was?“, hauchte sie. „Ein DigiArmorEi.“ „Oh.“ Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber irgendwie war sie enttäuscht. Er schien das zu spüren. „Wartet, bis Ihr Euch ein Urteil bildet. Jedes DigiArmorEi ist einzigartig, und es gibt nur eine Handvoll davon in der DigiWelt. Vielleicht kann Euer Palmon es sogar benutzen. Falls nicht, es ist etwas für die Ewigkeit. Wie meine Liebe zu Euch“, fügte er hinzu. Mimi lächelte schwach. So gesehen war es natürlich schon etwas Einzigartiges … und er wollte es allein deswegen mit dem gefürchteten DigimonKaiser aufnehmen! „Dann nehmt das.“ Sie zog das blütenweiße Brusttuch aus ihrem Mieder hervor. „Ich schenke es Euch. Es soll Euch Glück bringen.“ Er nahm es entgegen und führte es mit geschlossenen Augen zu seinen Lippen. Tief sog er den Duft ein. „Ich werde es Euch zurückbringen, mitsamt dem DigiArmorEi.“ In dem Moment dachte Mimi, dass sie, wenn sie müsste, wohl ihn als Gemahl wählen würde.   Bis der Schleier fällt Bis die Stille bricht Bleib bei mir Bitte weck mich nicht (Faun – 2 Falken) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)