New Reign von UrrSharrador (Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]) ================================================================================ Kapitel 22: Das Signal aus der Wüste ------------------------------------ Tag 50 Andromon wirkte auf Izzy immer wie eine Statue. Wie es in der hohen, nach Schmieröl stinkenden Halle saß, auf einem einfachen, metallenen Stuhl, und mit den Dutzenden an Kabeln, die von seinem Körper weg und in die haushohen Rechenkästen führten, schien das Digimon längst mit den hochtechnischen Eingeweiden der Fabrikstadt verschmolzen zu sein. Wie Blut, das durch Adern pulsiert, leuchteten immer wieder die zahllosen LEDs in den Labyrinthen aus Großrechnern aus, in Mustern, die zu erschließen Izzy sich ohne sein Equipment keine Hoffnung machen durfte. Als er auf seinen Vorgesetzten zuging, fühlte er sich winzig und fehl am Platz, zu organisch. Zu menschlich für diesen Ort. Beide Augen geschlossen, sah Andromon aus, als würde es schlafen. Es bekam hier nicht viel Besuch, wurde aber mit allen nötigen Informationen gespeist, die durch die Rechner der Konföderation flossen. Streng genommen hätte sich Izzy die Mühe sparen können, es persönlich aufzusuchen. Irgendwie hatte er jedoch das Gefühl, ab und zu bei Andromon vorbeischauen zu müssen, um persönlich Bericht zu erstatten. „Andromon“, sagte er, seine Stimme klar in der kalten, dauergekühlten Luft, von der er sich unter Garantie erkälten würde, wenn er zu lang hier blieb. Elektronische Geräusche ertönten, und Andromon regte sich und schlug die Augen auf. Eines blinkte nur blau, so hastig, dass einem davon schwindlig wurde, das andere, richtete sich aufmerksam auf Izzy. „Sei gegrüßt, Izzy. Was gibt es?“, ertönte seine blecherne Stimme. „Nichts Besonders“, sagte er. „Ich mache mir nur Sorgen um ein paar von unseren Sensoren.“ „Wieso das?“ „Ich habe dir eine Nachricht wegen dieser Insel geschrieben, die unsere Kameras aufgenommen haben. Ich habe fliegende Digimon dorthin geschickt, um sie zu untersuchen – aber die Insel war nicht mehr dort.“ „Wie ist das möglich?“, schnarrte Andromon. „Ich weiß es nicht. Ich arbeite noch daran, das herauszufinden. Jüngere Überwachungsbilder zeigen die Insel auch nicht mehr. Vielleicht hat jemand unsere Sensoren manipuliert und wollte uns in eine Falle locken. Es könnte sein, dass ein Unterwasserheer an der Stelle gewartet hat, für den Fall, dass wir Meeresdigimon hinschicken, aber das ist nur eine Vermutung.“ Andromons Auge blinkte nun langsamer. „Gibt es etwas Neues von unseren Rittern?“ „Sie haben sich nicht bei mir gemeldet“, sagte Izzy. Wenn Willis und Michael ihn angefunkt hätten, wäre das auch Andromon nicht verborgen geblieben. Andromon fragte, weil es Izzys Interpretation des Umstands, dass sie nichts von sich hören ließen, erfahren wollte. Darum fügte er hinzu: „Ich schätze, sie haben aus Sicherheitsgründen noch keinen Kontakt mit uns aufgenommen, schließlich sind sie weit in feindlichem Gebiet. Deshalb wiederum glaube ich, dass sie Königin Mimi bereits gefunden haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihnen etwas zugestoßen ist. Es dauert sicher nicht mehr lange, bis wir unsere Pläne weiter vorantreiben können.“ „Diese Annahme kannst du nicht mit Daten belegen“, stellte Andromon fest. „Das stimmt. Aber ich vertraue ihnen.“ Andromon nickte. „Dieser Faktor ist ebenfalls von Bedeutung. Hoffen wir, dass wir bald Nachricht von ihnen erhalten. Wie steht es mit deinem Vertrauen in unsere geplante Operation?“ Izzy schluckte. „Es ist ein äußerst riskantes Vorhaben“, sagte er, „aber das wissen wir ja beide. Ich glaube trotzdem – nein, ich bin mir sicher –, dass wir es schaffen können.“ Er versuchte, so viel Selbstsicherheit in seine Stimme zu legen, dass sie selbst Andromon auffiel. „Die Vorbereitungen laufen gut. Wir brauchen noch einen Monat, dann ist alles fertig. Operation Seemonster wird plangemäß ausgeführt und mit Sicherheit ein großer Erfolg!“ Andromon nickte wieder schwerfällig. Die Kabel an seinem Kopf wippten. „Ich möchte, dass du sie selbst anführst. Fühlst du dich dazu imstande?“ Izzy überlegte. Andromon würde sein Zögern nicht als Schwäche auffassen. Es wusste, dass jede Berechnung, und wenn sie auf einem noch so schnellen Computer lief, Zeit brauchte. Schließlich atmete er tief die kühle Luft ein und stieß sie wieder in die Düsternis hinaus. „Ja, ich schaffe das.“ Zurück in seinem eigenen Computerraum fragte ihn Tentomon: „Und? Wie ist es gelaufen?“ Izzy brachte ein schwaches Lächeln zustande. „Wir brauchen eine Vertretung für meinen Posten hier“, sagte er. „Andromon hat mich zum Generaloperator der Mission Seemonster ernannt.“ Es würde schon gut gehen. Er glaubte wirklich, dass er es schaffte. Und Willis und Michael riskierten dort draußen schließlich auch ihr Leben. Irgendwie fühlte er sich trotz allem zittrig. „Das ist toll, Izzy!“, sagte Tentomon begeistert. „Übrigens will dich hier jemand sprechen.“ Es wies auf ein blinkendes Symbol auf Izzys Bildschirm. „Endlich!“ Izzy aktivierte die Videoübertragung. Sein eigener Bildschirm blieb finster; er empfing nur Ton. „Hallo?“ „‘n Abend, Izzy“, hörte er Willis. „Was ist denn mit dir los? Hast du einen Geist gesehen?“ Sah man es ihm so deutlich an, dass Willis es sogar über die Videoübertragung erkennen konnte? In dem Moment verfluchte Izzy die hohe Auflösung seiner Kamera. „Nicht so wichtig“, wiegelte er ab. „Sag lieber, was sich bei euch so tut.“ „Gerne. Ich hoffe, du schaffst es heute Nacht ohne Schlaf, mein Freund.“     Tag 51   Er erwachte ausgeruht wie lange nicht mehr. Sanftes Morgenlicht fiel durch das gekippte Fenster, die feinen weißen Seidenvorhänge wehten sachte im Wind. Für einen Moment glaubte er, alles nur geträumt zu haben. Doch das hier war nicht sein Zimmer, nicht seine Welt. Ken wälzte sich herum und genoss die weichen Laken und das Kissen. Die Zugluft hatte die Haut an seiner Schulter kalt werden lassen, also zog er sich die Decke hoch. Durch seine Schläfrigkeit sickerten die Erinnerungen an gestern Abend wie Wassertropfen. Nadine hatte ein Abendessen auftragen lassen, besser als alles, was er in seiner Zeit als neuer Kaiser gegessen hatte. Dann hatte sie ihn persönlich in die Gastgemächer geführt, obwohl er den Weg mittlerweile kannte, und ihm eine gute Nacht gewünscht – und ihn dabei auf die Wange geküsste. Ken tastete mit den Fingern über die Stelle. Bei dem Gedanken an das Bad vor drei Tagen fühlte er Hitze in seiner Brust. Das ist nicht gut, dachte er. Ich habe Verpflichtungen, ich kann mich nicht auf ihre Spielereien einlassen. Aber warum fühlte er sich in ihrer Gegenwart so wohl, so … zuhause? Er hatte in Unterwäsche geschlafen, sein Anzug hing über die Lehne des Stuhls, der neben dem Bett stand. Dort lag auch sein Connector, der in dem Moment surrte, erst sanft, dann penetranter. Seufzend richtete er sich auf. Nie hatte man Ruhe. In den letzten Tagen hatte er die meisten von Nadines Türmen durch seine eigenen ersetzt, selbst den großen Schwarzen Turm im Herzen des Rosensteins, der an vier Seiten von Felsmauern und oben von einem gläsernen Kuppeldach beschützt wurde. Hätte er das nicht getan, hätten ihn seine Digimon nun nicht stören können. Aber es war wohl ohnehin Zeit, aufzustehen. Die letzten Tage hatte er trotz allem mehr geschlafen als gearbeitet. „Ja?“, meldete er sich, während er in seinen Anzug schlüpfte und die Mikrofon- und Lautstärkeregler aufs Maximum schob. „Majestät, Eure Order wird erwartet.“ Es war ein Hagurumon aus der Zentrale, und die hielten sich nie mit übermäßigen Höflichkeiten auf, sondern waren stets sachlich und formell. „In welcher Angelegenheit?“ Ken unterdrückte ein Gähnen. Die frische Luft half ihm, richtig wach zu werden. Sein Zimmer war hell, und durch das Fenster konnte er die öde Felsenklaue bleich im Licht des neuen Tages schimmern sehen. „Erstatte Meldung. Vor zwei Stunden wurden im neuen Territorium in Sektor Drei-Vier-C Feindbewegungen ausgemacht. Elektromagnetische Signale stören die Überwachungskameras, aber der Trupp wurde auf vier Digimon verifiziert. Sie dringen im Moment tiefer in das neue Territorium ein, ohne aber die Schwarzen Türme zu zerstören.“ Wenn Ken sich nicht täuschte, lag dieser Sektor am Rand der Kaktuswüste, wo Nadines Gebiet an das von Takashi grenzte, direkt nördlich vom Rosenstein. „Was habt ihr gemacht?“, fragte er. Dinge wie diese waren nicht ungewöhnlich; es gab viele Digimon, die sein Überwachungsnetz stören konnten. „Die Milizen der Schwarzen Rose wurden mit niedriger Priorität alarmiert“, berichtete das Hagurumon weiter. „Die Alarmierung wurde jedoch zurückgezogen.“ „Weswegen?“ „Die Störung unserer Systeme ließ kurzzeitig nach. Die Überwachungsbilder zeigen undeutlich erkennbar ein Digimon, das sich mit einer Wahrscheinlichkeit von achtundneunzig Prozent als Ebemon identifizieren lässt.“ „Ebemon …“, murmelte Ken. Das hatte er schon einmal gehört. „Schickt mir die Daten.“ Kurz darauf erhielt sein Connector ein holografisches Abbild des Digimons. Seine Erinnerungen hatten ihn nicht betrogen. Es war ein Roboterdigimon, das auf vielen Kabeln wie auf Tentakeln watschelte, einen riesigen Kopf und zwei hochtechnische Handkanonen hatte. Und es war auf dem Mega-Level. „Die Datenbanksuche ergab, dass eine der Kanonen von Ebemon andere Digimon unter dessen Kontrolle bringen kann. Bewusstseinsübernahme durch lineare Datenneustrukturierung. Begleitet wird es von drei Digimon mit geringeren Datenmengen. Wir haben die ersten Abfangbefehle zurückgezogen und Schwarzring-Digimon von der Front angefordert. Zusammentreffen der beiden Trupps ist in fünfzig Minuten und sechzehn Sekunden in Sektor Q geplant.“ Die Überlegung dahinter war einfach. Ebemon konnten sich Digimon gefügig machen, indem sie auf die Daten zugriffen, die ihr Bewusstsein ausmachten, und sie minimal veränderten. Es war ähnlich wie mit Devimons Zahnrädern. Schwarze Ringe allerdings bearbeiteten die Daten nicht-linear und wirkten viel komplexer. Sie würden jedes Konfigurationsprogramm von Ebemon überschreiben. Schwarzring-Digimon würde es nicht beherrschen können. „Ich verstehe. Das habt ihr gut gemacht. Was ist jetzt das Problem?“ „Ein erneutes Abflauen der Störwellen hat uns ein zusätzliches Bild gebracht. Ein Signal von einem DigiVice wurde sichtbar, und eine der Kameras zeichnete das Bild eines menschlichen Jungen auf, der neben einem Veemon durch den Sand geht. Er trägt mit Flammen bestickte Kleidung. Außerdem haben wir die Wellenlänge eines DigiArmorEis von ihm empfangen. Wir dachten, dass Ihr davon in Kenntnis gesetzt werden wollen würdet.“ Davis. Kens Herz schlug plötzlich schneller. Er hatte das DigiArmorEi der Aufrichtigkeit, das er in Little Edo erbeutet hatte, untersuchen lassen, um weitere Eier einfacher orten zu können. Wenn Davis in mein Reich kommt … Wollte er ihn herausfordern? Er zerstörte die Türme nicht, aber das brauchte er auch nicht, um Veemon digitieren zu lassen … „Sendet mir das Bild“, verlangte er. Seine Stimme zitterte. Sein Connector projizierte ein körniges Schwarzweißbild von bodenlos schlechter Qualität, aber er konnte Davis‘ stachelige Frisur erkennen. Sein Freund stand schräg in der Aufnahme, das Gesicht nur ein schwarzer Fleck, aber die Flammen auf seinem Mantel waren einwandfrei zu erkennen und das dunkelgrau dargestellte Digimon neben ihm war ohne Zweifel Veemon. Ken hatte es eilig, sich sein Cape umzuschnallen. Er stieß die Tür auf und rief nach Wormmon. Sein Digimon-Partner hatte ein eigenes Zimmer bekommen, das besser auf seine Größe zugeschnitten war, und öffnete die Tür, als Ken den mit Mosaiksternen gemusterten Flur entlang hastete. „Ich übernehme das Kommando vor Ort“, erklärte Ken dem Hagurumon. „Der Abfangtrupp soll nicht angreifen, ehe ich den Befehl gebe.“ Sie durften Davis nicht bekämpfen. Er musste mit ihm reden. Vielleicht würde er ihm sogar glauben, immerhin war er sein bester Freund, aber falls nicht, musste Ken wenigstens versuchen, ihn zu erreichen. „Was ist denn los, Ken?“, piepste Wormmon und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten. Ken setzte sich seine Brille auf. „Davis ist in unserem Gebiet aufgetaucht.“ Sie mussten die große Festhalle des Palastes durchqueren, wo Nadine bereits am Frühstückstisch saß. Ihr Kleid bildete einen scharfen Kontrast zu dem reinen Weiß des Tischtuchs und der Dekoration. Die Halle war voller hoher Fenster und bereits lichtdurchflutet. Auf Tellern warteten Pfannkuchen, Reisomelette, Torten und Kuchen, Brötchen mit Butter und Honig, Schalen mit Erdbeeren und Weintrauben und Krüge voll Milch und frischem Tee auf ihn. Floramon-Diener standen bereit, und gegenüber der Königin war auf der runden Tafel für einen weiteren Menschen und ein Digimon gedeckt. Nadine nippte gerade an einem Kristallglas mit Orangensaft. Als sie ihn bemerkte, stellte sie es ab und tupfte sich lächelnd mit der Serviette den Mund ab. „Guten Morgen“, begrüßte sie ihn. „Ich wollte euch eben wecken lassen. Setzt euch zu uns.“ Erst jetzt bemerkte Ken auch Elecmon, das neben ihr auf einem samtbezogenen Hocker saß und einen undefinierbaren Brei verschlang. In den letzten Tagen war es seltsam mit Nadine und Ken geworden. Er nahm ihre Bewegungen irgendwie stärker wahr, sah die Grübchen in ihren Wangen, wenn sie lächelte, bemerkte jedes Haar, das sich ihrer Frisur entziehen wollte, beobachtete, wie ihre Finger sich bewegten, wenn sie an ihrer Kleidung zupfte. Sie hatte ihm gestanden, dass zwei Allomon für das Erhitzen des Badewassers zuständig waren, und für diese war es ein Kinderspiel und nichts, was sie nicht zweimal kapp hintereinander zustandebrächten. Dabei hatte sie schelmisch gegrinst. Ken wurde nicht schlau aus ihr, und die Tatsache, dass er sich jetzt am liebsten zu ihr gesetzt und sich mit ihr unterhalten hätte, störte ihn am meisten, hatte er doch Wichtigeres zu tun in diesem außer Kontrolle geratenen Spiel, als zwischenmenschliche Zerstreuungen. „Tut mir leid, das Frühstück wird warten müssen“, sagte Ken knapp und eilte an der Tafel vorbei. Sie sah ihn alarmiert an. „Was ist passiert?“ „Ich habe alles im Griff, mach dir keine Sorgen. Ich erzähle es dir später.“ Damit war er am Ende der Halle angelangt und trippelte die hellen Marmorstufen nach unten. Per Connector rief er seine Leibgarde vor dem Palasttor zusammen. Sir Gorillamon und die Thunderboltmon hatten sich bereits eingefunden, als er die noch nicht allzu stickige Morgenluft einatmete, dazu ein Airdramon, auf dem er und Wormmon fliegen würden. Warte auf mich, Davis, dachte er, als sie abhoben.   Das Gebiet Q war felsig, mit einigen Rissen, wo der Boden unter der Hitze aufgebrochen war, und im Norden sah man noch Spuren von Sand, den der Wind hierhergetragen hatte. Da man fast endlos weit sehen konnte, wirkte das Muster aus Schwarzen Türmen hier viel dichter. Warmer Wind biss in Kens Nacken und ließ sein langes Haar und seinen Umhang flattern. Kens Airdramon war gelandet, seine Wache hatte Stellung bezogen. Ken schloss seinen Connector an einen kleinen Monitor mit ausfahrbaren Spinnenbeinen an, den er wie einen Beistelltisch auf den rauen, braunen Felsenboden stellte. Sein Radar zeigte das Ebemon noch nicht an; vielleicht war auch wieder das Signal gestört, aber er würde es hier von weitem kommen sehen. Dafür sah er den Trupp aus Schwarzring-Digimon, der von einem Lager an Zephyrmons Front im Osten abgezogen worden war. Metall glänzte in der Ferne. Die Hagurumon hatten gut gewählt: blecherne Guardromon für den Fernkampf, und Kokatorimon, die zwar nicht fliegen konnten, aber auch zu Fuß schnell unterwegs waren und ihre Feinde versteinern und somit verlangsamen konnten. Inwieweit sie ein Mega-Digimon aufhalten konnten, war natürlich fraglich, aber Ken hoffte, dass es gar nicht so weit kommen würde. Das Praktische an Schwarzen Ringen war die Einfachheit, die Digimon zu kontrollieren. In der Hinsicht waren sie disziplinierter als freie Digimon. Mit dem Connector griff Ken auf das Kommandointerface der Schwarzen Türme zu, die einen Befehl an den Trupp sendeten. Die Digimon formten eine Reihe und änderten ihren Kurs, sodass sie direkt auf ihn zukamen. Ken streckte sich und wartete. In Nadines Palast war das Frühstück sicher schon vorbei … Ein eisgekühltes Glas Orangensaft wäre ihm jetzt das Liebste gewesen. Immer noch war keine Spur von Ebemon und Davis zu sehen, weder auf dem Radar noch in natura. Gerade als er wieder einen Blick auf sein Pult warf, ertönte das Säuseln. Noch bevor er den Blick heben konnte, krachte etwas neben ihm in den Felsen und sprengte ein mehr als faustgroßes Loch hinein. Steinsplitter bohrten sich ihm ins Gesicht. Unter lautem Rufen kam Bewegung in seine Leibgarde. Verwirrt blickte er sich um – niemand war zu sehen, außer seinen eigenen Truppen. Dann kam die zweite Granate – eindeutig aus der Richtung seiner Verstärkung, und sie war besser gezielt. Ken erhaschte den Eindruck eines winzigen Gesichts mit Trillerpfeife im Mund, dann schnellte ein Thunderboltmon schützend vor ihn und verging in einem Datenwirbel, während die Explosion über die Ebene grollte. „Was ist da los?“, rief er aus. Gorillamon und die anderen formierten sich. „Geht in Deckung, Kaiser“, murmelte der Ritter. Ken starrte ungläubig auf seinen Bildschirm. Die Schwarzring-Digimon waren zum Angriff übergegangen? Er hatte doch jede Kampfhandlung verboten! Verwirrt gab er einen erneuten Befehl ein – sofort Feuer einstellen. Das Logfile bezeugte, dass die Türme den Befehl weitergegeben und die Schwarzen Ringe der Digimon ihn erhalten und bestätigt hatten … Warum griffen sie dann weiter an? „Ken, wir sollten schnell von hier verschwinden“, murmelte Wormmon, aber er verstand es kaum; Guardromon-Granaten sausten über sie hinweg und pfiffen und säuselten. „Bring den Kaiser in Sicherheit“, knurrte Gorillamon Airdramon zu. Seine Handkanone glühte auf. „Mein Kaiser, Ihr solltet fliehen.“ Es schoss einen gelben Energieball auf die Schwarzring-Digimon ab, die nun deutlich näher gekommen waren. Ken biss sich auf die Lippen. Ein neuer Befehl. Alle Einheiten, stehen bleiben. Wieder eine Bestätigung, und doch marschierten die Digimon unerbittlich weiter. Ein Fehler im System? Das Airdramon fauchte und schüttelte seine Flügel aus, und Ken beschloss, sich zurückzuziehen – als ein Kokatorimon-Blitz direkt über seinem Kopf hinwegflog und das Airdramon traf. Steinmehl rieselte auf Ken herab. Der rechte Flügel des Drachendigimons war zu grauem Fels geworden. Airdramon röhrte. Etwas metallisch Blitzendes löste sich aus dem herannahenden Trupp und war im Nu direkt vor Kens Camp. Ein MetallMamemon, nicht mehr als eine behelmte Kugel mit Armen und Beinen – und einer furchterregenden Kralle an der einen und einer noch furchterregenderen Kanone in der anderen Hand. Es blieb vor ihnen in der Luft schweben. Mit einem Zischen verließ ein rot glühender Ball sein Kanonenrohr und pulverisierte das Airdramon. Keine Sekunde darauf schnellte es direkt vor Ken, richtete seine Kanone auf ihn – und wieder warf sich ein Thunderboltmon dazwischen. Diesmal war die Druckwelle so stark, dass Ken mit einem Schrei von den Füßen gerissen wurde und sich die Haut auf dem rauen Fels aufschürfte. Schweiß brach ihm aus. Seine eigenen Digimon randalierten … und das Ziel war er persönlich. Brüllend sprang Gorillamon MetallMamemon an, als seine Kanone gerade wieder glühte. Sein Leibwächter stülpte seine eigene, größere Handkanone halb über das Digimon, drückte es auf den Felsenboden und schoss selbst. Ein Krachen begleitete eine Explosion aus gelben und roten Farbspritzern, und Gorillamons Kanonenarm zerstob bis zu seinem Schultergelenk in Einzelteile. Von MetallMamemon blieb nur ein rauchender, rußgeschwärzter Fleck auf den Felsen. Gorillamon taumelte, die Zerstörung fraß sich weiter in es hinein und wehte Datensplitter weg wie der Herbstwind Blätter. „Schützt den Kaiser!“, befahl es ächzend, dann starb es. Was soll ich jetzt tun? Es waren Schwarzring-Digimon, sie … Ihm ging ein Licht auf. „Nach vorn!“ Er streckte den Arm aus. „Fangt sie ab!“ Die Thunderboltmon waren in null Komma nichts bei der anderen Truppe und hinderten sie daran, weiterzuschießen. Blaue Blitze zuckten auf und hagelten auf das kleine Schlachtfeld im Osten. „Wie fühlt es sich an, selbst der Gejagte zu sein, DigimonKaiser?“ Ken fuhr herum. Aus der anderen Richtung? Das Radargerät hatte nichts angezeigt … Ein Junge stand dort, war wohl aus einer Felsspalte geklettert, in der er sich versteckt gehalten hatte, fünfzehn Meter von ihm entfernt. Ken hatte ihn nie persönlich getroffen, aber dank Davis‘ Erzählungen wusste er, wer Willis war. Nur seine Augen hatte er sich anders vorgestellt; sie waren nicht warmherzig und charismatisch – das hatte ihm Yolei erzählt –, sondern eisblau und kalt. „Wenn wir wirklich ein Ebemon hätten, wärst du längst abgesetzt“, sagte er und legte überheblich den Kopf schief. Zu seinen Füßen watschelte ein Terriermon auf Ken zu. Wormmon trat ihm mit grimmigem Gesichtsausdruck entgegen. „Willst du etwa kämpfen?“ Terriermon schwieg. Ken wagte es, zu den kämpfenden Digimon zurückzusehen. „Was hast du mit dem Ganzen zu schaffen?“, fragte er. „Sollte ich was damit zu schaffen haben?“ „Du bist Willis, oder?“ Zeit gewinnen, eine Strategie überlegen. Was kann er mit einem Terriermon ausrichten? „Sir Willis, wenn ich bitten darf.“ Willis fuhr sich durch das blonde Haar. „Es gefällt dir vielleicht nicht, aber das ist dein Ende, DigimonKaiser. Und es ist sogar ziemlich erbärmlich. Du hast dir mit deinen Türmen dein eigenes Grab gebaut, weißt du? Dein eigenes Digimon kann nicht digitieren.“ Er lächelte Wormmon an. Ken schluckte. „Deines auch nicht“, sagte er, mit belegter Zunge, da er ein schlechtes Gefühl bei der Sache hatte. „Ach, wirklich nicht?“ Willis zog ein Goldenes DigiArmorEi aus seiner Gürteltasche, und Kens Augen weiteten sich. „Erstrahle!“ Während gleißendes Licht Terriermon einhüllte und seine Verwandlung vor seinen Augen verbarg, merkte Ken, dass sein Kiefer zu zittern begonnen hatte. Das ist unmöglich, dachte er. Es gibt nur ein Goldenes DigiArmorEi … Aber das stimmte nicht. Davis hatte es ihm erzählt. Sie hatten jeder eines gehabt, er und Willis, und Terriermon wurde zu … Rapidmons golden leuchtende Rüstungsteile rauchten nach der Digitation. Sein helmartiger Kopf schien Ken grimmig anzustarren. Willis lächelte. „Ich hab doch gesagt, das ist dein Ende.“ Ken packte Wormmon mit einer Hand und stürmte los. Rapidmon richtete seine Armkanone auf ihn und schoss. Gleißende Helligkeit zerbarst hinter Ken und er wurde nach vorn geschleudert, direkt an die Kante einer Schlucht in den Felsen. Ein Netz aus Rissen zog sich durch sein linkes Brillenglas. Wormmon entglitt seinen Fingern und polterte vor ihm über den Boden. Er hörte das unheilvolle Surren Rapidmons über sich. Bitte … nicht schon wieder …, war alles, was er denken konnte, während ihm Schweiß über das Gesicht lief. Er schmeckte Blut; beim Fallen hatte er sich auf die Zunge gebissen. „Wormmon, schnell!“ Er schwang sich über die Felskante, rutschte über den zackigen Hang und riss sich Handschuhe und Hose auf. Ächzend kam er unten zum Liegen und fühlte sich wie mittendurch gebrochen. Wormmon landete wesentlich eleganter neben ihm. „Was tun wir, Ken?“ Seine Augen waren wässrig und es klang verzweifelt. Ken atmete wie nach einem Dauerlauf. Ja, was konnten sie tun? Er ballte hilflos die Fäuste. Schon damals hatte eine Goldene Armor-Digitation seine Herrschaft beendet, sollte es nun wieder so sein? Das goldene Rapidmon war ebenso stark wie Magnamon, dessen war er sich sicher. „Willis!“, schrie er mit allem, was seine raue Kehle hergab. „Ich weiß nicht, was man dir gesagt hat, aber es ist eine Lüge! Ich muss diesen Krieg gewinnen, sonst ist die DigiWelt verloren!“ „Eine Lüge, ja?“, hörte er Willis von oben zurückschreien. Ken presste sich gegen die Felswand in seinem Rücken, als er das Schimmern von Gold sah, auf dem sich Licht brach. Es hatte einen Grünstich. „Dann ist es wohl auch eine Lüge, dass du meine Digimon dazu getrieben hast, sich gegenseitig umzubringen?“ Ken stockte fast der Atem. „Das ist eine Lüge!“, brüllte er. „Ich habe nie so etwas getan – ich war das nicht!“ „Du bist der gleiche DigimonKaiser von damals! Wage es nicht, das zu leugnen!“, spie ihm Willis voller Hass entgegen. „Ich hab es in deinen Augen gesehen, als Terriermon digitiert ist! Das Legendäre Goldene hat uns seine Macht vermacht, damit wir dich aufhalten!“ Nein, dachte Ken fiebrig, das Legendäre Goldene war Magnamon, und du warst zu jener Zeit nicht mal in der DigiWelt … „Du hast Kokomon missbraucht!“, rief Willis weiter. Ken wusste, dass es sinnlos war, mit ihm zu reden. Er nahm Wormmon in die Arme und tastete sich die Felsspalte entlang. Seine Gedanken waren eine blanke Tafel. Er musste hier weg, nur hier weg … „Du hast es für deine Experimente hergenommen, hast ihm deine Teufelsspirale aufgezwungen und es dazu gebracht, auf ein falsches, höheres Level zu digitieren! Dafür bring ich dich um!“ Die Worte hallten schmerzhaft wie ein Zahnarztbohrer in Kens Kopf nach. Er schluckte. Eine Explosion erschütterte den Felsspalt. Steinbrocken hagelten in die Tiefe. Ken schrie auf und rannte, so schnell er konnte, stolperte über Felszacken und riss sich die Kleidung weiter auf. Sein Umhang blieb irgendwo hängen, also öffnete er die Schnalle und ließ ihn zurück. Atemlos hetzte er ins gleißende Sonnenlicht zurück, wo der Boden anstieg und wieder an die Oberfläche führte. Und jetzt? Überall waren Schwarze Türme, und Rapidmon war verteufelt schnell. Selbst wenn er irgendwie einen Turm zerstören konnte, würde es ihm nichts bringen. Er hatte sie so platziert, dass jeder Fleck von mindestens zwei Türmen überlappt wurde, damit er beim Ausfall des einen immer noch den zweiten hatte. Wenn Wormmon nur zu Stingmon werden könnte … „Ken, ich muss kämpfen!“, piepste Wormmon und zitterte. „Du kannst nicht gegen es kämpfen!“, brachte Ken entsetzt hervor. „Es ist viel zu stark!“ „Na? Wie fühlt es nun sich an, plötzlich der Gejagte zu sein, DigimonKaiser? Du läufst weg wie ein Feigling, das ist es, was du wirklich bist!“, hallte Willis‘ Stimme über die Ebene. Ken wusste, dass Rapidmon direkt über ihm war. Er sah es an den gesprenkelten Reflexionen auf dem Boden vor ihm. Eine Rakete, ein Krachen, und vor ihm klaffte ein riesiger Krater voller spitzer Geröllbrocken auf. Einmal mehr wurde er von den Füßen gerissen, schlug diesmal mit voller Wucht mit dem Hinterkopf auf. Hustend rappelte er sich auf, obwohl sich alles in seinem Kopf drehte. Es hatte keinen Sinn. Er war erledigt. Er würde sterben. Durch eine Staubwolke schritt Willis gemächlich auf ihn zu. „Jetzt bezahlst du für all deine Verbrechen. Ich verrate dir noch was: Die wahre Königin von Little Edo werden deine Digimon auch nicht mehr kriegen. Sie ist jetzt bei uns. Verstehst du? Du hast absolut keinen Trost mehr in der Welt. Als Nächstes nehmen wir uns diese Schlampe vor, mit der du diesen herzerwärmenden Film gedreht hast. Den haben wir übrigens auch abgefangen und durch eine Dokumentation über deine wahren Gräueltaten ersetzt. Ich sag es nochmal, du bist am Ende. Stirb wenigstens wie ein Mann, ja? Rapidmon, los.“ Wormmon sah aus, als wollte es sich ihm entgegenstellen, also hob Ken es hoch und drückte es fest an seine Brust. Er zitterte so heftig wie schon lange nicht mehr. Wann hatte er zuletzt derartig Angst gehabt? Beim Kampf gegen MaloMyotismon? Als er gegen die Dunkelheit gekämpft hatte? Er konnte es nicht sagen. Er wollte einen trotzigen Schritt in Willis‘ Richtung machen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Dann traf etwas seinen Bauch und riss ihn fort. Ken brauchte einen Moment, ehe er merkte, dass Rapidmon noch gar nicht gefeuert hatte. Der Boden unter ihm verwandelte sich in verschmierte, graubraune Schlieren. Wie eine starke Böe zerzauste der Flugwind sein Haar. Er sah an sich hinab und begriff. Ein Thunderboltmon war zurückgekehrt. Es hatte die Arme um seine Hüfte geschlungen, soweit es möglich war, und trug ihn fort von diesem Ort. Eins seiner Beinchen war grau angelaufen und versteinert, und das Schiefermuster breitete sich langsam über den Rest seines Körpers aus. Und trotzdem flog es mit ihm. Ein schwaches, ironisches Lächeln entkam Kens Lippen. Und dabei war ein Thunderboltmon das erste Digimon, das Stingmon vernichtet hat. Aber das war ein Schwarzturmdigimon gewesen. Und es war in einem anderen Leben. Es gab kaum ein Digimon, das so schnell war wie ein Thunderboltmon. Aber dieses hier hatte eine schwere Last zu tragen und war verletzt – und Rapidmon holte es nach wenigen Sekunden ein, als Willis schon nur mehr als dunkler Punkt in der hellen Landschaft zu sehen war. Es war urplötzlich neben ihnen, stoppte im Flug, um besser zielen zu können. Ken schrie. Thunderboltmon würde nicht rechtzeitig den Kurs ändern können … Rapidmon streckte einen Arm aus, zündete eine Rakete … Und Wormmon stieß sich von Kens Brust ab. Sein Schrei verstummte, obwohl er immer noch den Mund und die Augen weit aufgerissen hatte. Mit blutigen, in Fetzen gehüllten Händen griff er seinem Partner hinterher, doch er erreichte ihn nicht. Nein … Die Rakete und Wormmon prallten aufeinander. Ein goldener Feuerball erstrahlte; den Knall hörte Ken erst später. Wie in Zeitlupe flogen Datensplitter vor seinen Augen umher, das zersplitterte Brillenglas verzerrte die Explosion wie ein Kaleidoskop. Immer noch hatte Ken die Augen aufgerissen und die Hand ausgestreckt. Er schrie Wormmons Namen, doch er konnte sich nicht einmal selbst hören. Die Druckwelle stieß ihn und Thunderboltmon noch weiter fort, und er zappelte und wand sich, aber sein Leibwächter ließ ihn nicht los. Das Glühen blieb hinter ihm zurück und Rapidmon schrumpfte zu Terriermon, als sie wie ein Blitz über die Ebene rasten und dabei dem Boden immer näher kamen. Selbst seine Tränen wurden seinen Augen entrissen und vom Wind fortgeweht, und das Krachen hallte immer noch in seinen Ohren nach. Nein … nein … nein … Nicht Wormmon … Warum? Warum wiederholt es sich? Thunderboltmon begann unter seinem Gewicht zu zittern, das Grau hatte die Hälfte seines Körpers ummantelt. Warum? Warum? WARUM?   Tears of blood in my eyes The world’s set on fire I will meet you without a defense (Primal Fear – World On Fire) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)