New Reign von UrrSharrador (Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]) ================================================================================ Kapitel 24: Nocturne -------------------- Tag 53   Zwei Tage lang sorgte er noch für den DigimonKaiser. Er sagte ihm mit keinem Wort, dass seine bloße Anwesenheit die Grundsätze des Ordens der Zuverlässigen ins Wanken brachte, aber vielleicht merkte er es auch so. Er war ein seltsamer Junge. Ja, zumal ein Junge; Joe hätte sich nie träumen lassen, dass der DigimonKaiser augenscheinlich um so viel jünger war als er selbst. Und er schien irgendwie … gebrochen zu sein. Wenn er auf seiner Lagerstatt seine Suppe löffelte, tat er es, als hätte sie keinen Geschmack, und starrte nur geradeaus. Oft versuchte er, Joe in ein Gespräch zu verwickeln, das ihn daran zweifeln ließ, ob sein Kopf nicht doch mehr abbekommen hatte, als er zunächst vermutet hatte. Wirres Zeug war es, von einem verbannten Digimon und einem Spiel und davon, dass er die ganze DigiWelt erobern müsste. Joe hatte schon Gerüchte gehört, dass der DigimonKaiser diesen Krieg nur als Spiel sah. Er hoffte inständig, dass es nicht wahr war. Wenn der Junge, der vielleicht die Macht hatte, die DigiWelt zu unterwerfen, nur ein Verrückter war, unheilbar krank in Kopf und Seele … Er wollte nicht an seine Ordenskameraden denken und daran, was sie dazu sagen würden. Einmal entdeckte eine militärische Truppe ihr Lager. Über einer Horde Guardromon und Kokatorimon wehten die Banner der Konföderation zur Wahrung des Wissens der DigiWelt. Joe hatte keine Ahnung, was die in diesem Teil der DigiWelt wollten, aber ihr Anführer, ein Mensch, verlangte Auskunft von ihnen. Niemand verriet, dass sie den DigimonKaiser versteckten. Noch war er ihr Patient, und Patienten hatten keine Titel. Wenigstens daran hielten sich die Orcamon, wenngleich Gomamon es war, das am selbstbewusstesten mit dem Ritter redete. Schließlich zog die Truppe weiter nach Westen. Joe fragte sich, ob es bald eine Schlacht geben würde. Die anderen drei Einheiten des Ordens waren noch weiter in Kriegsgebiet vorgedrungen, eine hatte an der Front in der Kaktuswüste in der Nähe des Kolosseums Stellung bezogen, die anderen beiden waren nun in der Goldenen Zone. Ihre Einheit war nur hier, weil man vermutete, dass die Schwarze Rose bald gen Norden marschieren würde. Nach zwei Tagen, als er zumindest körperlich wieder bei Kräften war, verlangte der DigimonKaiser seine Ausrüstung, vor allem etwas, das er Connector nannte. Joe brachte ihm zögerlich alles, was er ihm bei seiner Einlieferung abgenommen hatte. Das gewünschte Gerät schien defekt zu sein, aber der Kaiser werkte ein wenig daran herum, nachdem er es für einige Stunden einfach nur betrachtet hatte. Auch das tat er schließlich ohne sichtbares Interesse, als wäre es ihm egal, ob es wieder funktionierte oder nicht. Irgendwann tippte er darauf herum und legte es wieder zur Seite. „Heute Nachmittag kommt mich jemand abholen“, murmelte er, als Joe seine Verbände ein letztes Mal wechselte. Wieder traf ihn dieser leere, zerbrochene Blick. „Komm mit mir.“ „Ich? Das geht nicht“, sagte Joe sofort. „Bitte. Komm mit mir nach Rosenfels. Oder in meine Festung. Dort bist du sicherer.“ „Mein Platz ist hier.“ „Du willst nicht, oder? Ich kann dich nicht zwingen. Ich will dich nicht zwingen. Ich habe genug von alledem.“ Das Letzte flüsterte er nur. „Ein Zuverlässiger wird immer dort sein, wo er gebraucht wird“, fühlte Joe sich verpflichtet zu sagen. „Und am meisten braucht man uns eben nach einer Schlacht.“ Da zuckte der DigimonKaiser mit den Schultern, als wäre es ihm gleichgültig. Joe lächelte schwach. „Wenn du dich erkenntlich zeigen willst, kannst du mir stattdessen einen Gefallen tun?“ Eine Weile starrte er nur geradeaus. „Sicher.“ „Könntest du es einrichten, dass du in der Nacht abgeholt wirst? Es ist wahrscheinlich besser, wenn von den Orcamon niemand erfährt, dass du aufbrichst. Verstehst du?“ Er hoffte, dass der Junge nicht nachhaken würde. Das tat er nicht. Ein Nicken war die Antwort, und er griff wieder nach seinem Connector.   Gegen Mitternacht, als Joe noch wach war und in einem Buch las, raschelten weiche Flügel in der Nachtluft. Ein Schatten glitt ganz in der Nähe vom sternenübersäten Himmel. Als Joe das Zelt betrat, sah er den DigimonKaiser in seiner berühmten Kleidung dort stehen – obwohl diese so zerfetzt gewesen war, dass die Orcamon sie hatten wegwerfen lassen. Ein weißes Nachthemd und elastische Hosen, das war die Kleidung, die Joe für ihn zur Seite gelegt hatte – und doch stand er in den Gewändern, in denen ihn alle Welt erkannte, vor ihm. Was für ein Zauber war das? Oder war es schlichter Irrsinn? „Es … ist etwas gelandet“, flüsterte Joe. Der DigimonKaiser nickte. „Ich wünsche dir alles Gute“, fügte Joe hinzu. „Hier. Wenn du noch Schmerzen hast.“ Er reichte dem Jungen eine Dose mit handgefertigten Pillen. Der DigimonKaiser nahm sie entgegen und betrachtete das Wappen der Zuverlässigen, das auf den Deckel gemalt war. Dann nickte er erneut und schlich sich aus dem Zelt, durch eine Klappe auf der Hinterseite, die Joe eigens für ihn ausgeschnitten hatte. „Danke“, sagte er noch einmal, als er zu ihm zurücksah. „Wenn du es dir überlegst, meine Tür steht dir jederzeit offen.“ Er zögerte, als wollte er noch etwas sagen. Dann seufzte er tief und verschwand. Später sah Joe, wie der Schatten zwischen den Felsen wieder abhob und in südlicher Richtung davonflog. Nun würde er sich mit Gomamon zusammensetzen und beraten, was er den anderen erzählen sollte. Wie das Gespräch, das unweigerlich morgen folgen würde, wenn die Orcamon das Fehlen eines Patienten bemerkten, auch ausfallen würde: Er hoffte inständig und mit klammem Herzen, das Richtige getan zu haben.     Tag 54   Es hätte regnen sollen. Regen wäre passend gewesen. Doch in der Einöde der Felsenklaue war es staubig und trocken wie immer, und der Palast auf dem Rosenstein schimmerte ihm im Morgenlicht entgegen, als wollte er ihn verhöhnen. Ken hatte sich in seinen Mantel gewickelt, als die beißende Kälte der Luft in diesen Höhen ihm keine andere Wahl gelassen hatte. Er fühlte sich immer noch empfindlich und wund, als hätte ihm jemand sämtliche Haut abgezogen. So saß er auf dem Kopf des Airdramons und ließ seine Tränen noch im Entstehen trocknen. Ookuwamon gesellte sich beim Anflug auf den Palast kurz zu ihnen, stieß ein kaum hörbares Schnarren aus und flog dann vor. Als das Airdramon auf den Stufen landete, direkt vor dem Tor, kam Nadine mit gerafften Röcken herausgestürzt, die Haare ungeordnet und atemlos. „Ken, was …“, stieß sie hervor, als er sich von Airdramons Kopf fallen ließ. Er landete zwar sicher auf den Füßen, aber er fühlte den Aufprall schwer, als schleppe er Felsen mit sich rum. Er hatte seine Brille verloren; Nadine konnte den Ausdruck in seinen Augen sehen, und sie verstummte und biss sich auf die Lippen. Er schleppte sich die letzten Stufen hoch, seine Beine waren wie mit Blei gefüllt und in seiner Brust schmerzte sein Herz. „Was ist passiert? Du warst tagelang fort, ich …“ Wieder unterbrach sich Nadine, als sie einander gegenüber standen. Anstatt aufgeregt zu sein, klang sie nun mitleidig, als sie erneut fragte: „Was ist passiert?“ Ken wollte es ihr sagen, bewegte die Lippen, aber er hörte, dass kein Wort darüber rollte. Er musste plötzlich schlucken. Es zu wissen und es auszusprechen waren verschiedene Dinge. Es auszusprechen schmeckte bitterer. Sein Kiefer zitterte. „Wormmon“, brachte er schließlich heraus, und als er die Augen zusammenkniff, kamen die Tränen wieder. Er schluchzte haltlos, seine Schultern bebten. Seine Beine wollten den Dienst versagen, und er sank in Nadines Arme, die ihn bestürzt ansah. „Es ist wieder gestorben. Wegen mir. Wegen mir. Nur wegen mir.“ Für einen Moment reagierte sie nicht, dann strich sie ihm durch das sandverklebte, strähnige Haar. „Ich … Es tut mir leid“, murmelte sie, aber er hörte sie kaum. „Es wiederholt sich alles, Nadine. Wormmon ist tot, es hat sich für mich geopfert … Ich bin wieder allein. Mein einziger Freund in dieser Welt … Und es ist meine Schuld. Alles ist meine Schuld, vom ersten Schwarzen Turm angefangen. Ich habe all das ins Rollen gebracht, so viele müssen leiden, und Wormmon am meisten …“ Sie erwiderte nichts, sondern hielt ihn nur. Ihre Umarmung hatte etwas Tröstliches. Ihre Wärme vertrieb die Kälte des Fluges, und ihre Berührung die Schmerzen. „Du bist nicht allein, Dummkopf“, sagte sie und klang weinerlich. „Du hast doch noch mich. Komm, gehen wir hinein.“ „Es tut mir leid“, flüsterte er. „Das hat alles nichts mit dir zu tun. Es ist mein Spiel, und ich bin so unvorsichtig in eine Falle gelaufen.“ „Unser Spiel. Und ja, das war unvorsichtig“, sagte sie. „Aber weißt du was? Ich bin froh, dass du zu mir zurückgekommen bist.“ Als sie ihn so fest drückte, dass es wieder wehtat, merkte Ken, dass sie zitterte.   Selbst in seinen Träumen starb Wormmon, nur war er es, der es zu Tode peitschte, zeterte und wütete und dabei lachte, während Ken in seinem Inneren schrie und sich gegen die Fesseln des Schicksals aufbäumte, das ihm Wormmon ein ums andere Mal nahm. Als er aufwachte, war es dunkel. Er musste sich nicht erinnern. Er wusste, dass sein Freund tot war. Selbst der Schlaf ließ ihn nicht vergessen. Er hörte Nadine leise atmen. Sie war doch eingeschlafen. Vorsichtig löste er sich aus ihren Armen. Sie waren noch minutenlang vor den Toren stehen geblieben. Ken hatte lange geweint und schämte sich dafür. Nadine hatte dann Milch mit Honig und Mohn für ihn zubereiten lassen. Das Frühstück war gerade fertig geworden, aber er hatte keinen Bissen hinuntergebracht. Auch Nadine hatte ihres stehen gelassen. Sie hatten einander nur angeschwiegen. Danach hatte ihn bleierne Müdigkeit befallen. Ungefragt war Nadine bei ihm in seinem Gemach geblieben. Ken hatte nicht gewollt, dass sie ihn allein ließ, und sie schien das gespürt zu haben. Eng umschlungen hatten sie sich hingelegt, er in seiner Kleidung mit all dem Sand und dem Staub aus der Ödnis, sie mit ihrem kostbaren Königinnenkleid. Er wollte sie nicht loslassen, wollte seine Trauer in ihren Armen ertränken. Sie hatte ihm über die Wange gestrichen und ihn auf die Stirn geküsst, wie ein sanfter, kühler Hauch, der den Schmerz wegwehen konnte, wenn er ihm die Chance dazu gab. „Schlaf, Ken“, hatte sie gesagt. „Du hast noch mich. Ich bin immer bei dir, vergiss das nie. Schlaf, und versuche von mir zu träumen.“ Er versuchte es. Und doch sah er nur Wormmons Tod. Er setzte sich in seinem Bett auf, darauf bedacht, sie nicht aufzuwecken. Ein kühler Luftzug kam durch das gekippte Fenster. Der Vorhang wehte im letzten Licht des Tages, so wie er im ersten Morgenlicht geweht hatte, an dem Tag, als … Ken stützte seinen Kopf auf seine Hand. Eine Weile verharrte er, dann sah er erneut zu Nadine. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie würde immer für ihn da sein, hatte sie gesagt, aber sie sah so zerbrechlich aus, wenn sie schlief, so blass wie eine Porzellanpuppe, als der Mond seine Strahlen durch das Fenster tasten ließ. Er dachte an Elecmon, und daran, dass sie vielleicht ebenso zerbrechen würde, wie er zerbrochen war. Er wollte es ihr ersparen.   Auf der höchsten Turmspitze war der Wind schneidend kalt in dieser Nacht. Er zerrte an Kens Umhang, als wollte er ihn in die Tiefe reißen. Hinter den Zinnen der Brüstung stand er, und dennoch fühlte er sich, als gähnte direkt vor ihm nur Leere. Die Sterne waren seine Zeugen; fremde Sterne, die Bilder formten, denen er nie Namen gegeben hatte. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung. Nadine war ihm gefolgt, stand vor der Falltür, die durch den Turm führte. Ihr Kleid verschmolz mit der Nacht, zeichnete dunkle, goldene Linien hinein, aber sie hatte sich eine weiße Decke um die Schultern gelegt, die im Wind flatterte. Schweigend sah sie ihn an. „Würdest du mich aufhalten?“, fragte Ken. Der Wind trug seine Worte davon, kaum dass sie über seine Lippen kamen. „Du wirst nicht springen.“ Ihre Stimme klang fest, und ihr Blick war gefasster als heute Morgen. Sie war nun wieder eine Königin. Sie hatte weit mehr Königliches an sich als er. Seine Stimme zitterte. „Und wenn ich es doch tue? Es ist vielleicht am besten so.“ Nadine streckte den Arm aus und ihr schlanker, bleicher Finger zeigte in Richtung des Westturms. „Dein Airdramon wacht über den Wehrgang. Selbst wenn du springst, wird es dich auffangen. Und mein Ookuwamon ist auch nicht weit weg.“ Ken schnaubte und blickte erneut in die Tiefe. Unter all den Erkern und dem Mauerwerk krochen die Felsen ineinander, bis sie ein kantiges Gewirr bildeten. „Ich darf also nicht mal selbst sterben.“ Er ballte die Fäuste. „Wormmon darf ich opfern, sooft ich will, aber ich selbst muss immer weiter leben.“ Sie trat an seine Seite und tastete nach seiner Hand. „Dir gehört die Stadt des Ewigen Anfangs“, erinnerte sie ihn. „Es wird wiederkehren.“ „Darum geht es nicht!“ Er fühlte hilflosen Zorn in sich. Nicht schon wieder Tränen, bitte. „Verstehst du es nicht? Es ist schon einmal wegen mir gestorben! Immer wieder muss es sich opfern, damit ich leben kann, es stirbt freiwillig, damit ich meine Fehler ausbügeln kann! Ich bin derjenige, der es getötet hat, und ich werde es wieder und wieder tun, und Wormmon wird höchstens sagen, dass es gut ist, so, wie es kommt! Es verdient einen besseren Partner als mich.“ Wieder klang er weinerlich. Nadine wich seinem Blick aus und kaute auf ihrer Unterlippe. „Ich kann wahrscheinlich nur erahnen, wie du dich fühlst“, sagte sie langsam. „Elecmon und ich, uns ist nie … Ich glaube, Wormmon wäre traurig, wenn du es nicht abholen würdest, wenn es wieder schlüpft. Du hast vom Sterben geredet – wärst du bereit zu sterben, um es zu beschützen?“ „Ich kann nicht sterben“, sagte er tonlos. „Du hast es selbst gesagt.“ „Dann tu etwas Besseres. Beschütze Wormmon und all die anderen Digimon, indem du dieses verdammte Spiel zu Ende spielst! Ich helf dir dabei.“ Sie hielt ihm die Hand hin. Er sah sie an, aber er ergriff sie nicht. Stattdessen drehte er sich von der Brüstung weg. „Nein. Es ist vorbei, es muss endlich aufhören. Es ist nicht nur Wormmon“, murmelte er. „Ich hatte auch einen Bruder. Er ist auch gestorben. Und ich war der, der sich das gewünscht hat. Es ist wie ein Fluch. Jeder, der mir zu nahe kommt, wird von mir getötet.“ Er schnaubte bitter. „Was für ein furchteinflößender Kaiser ich doch bin!“ Damit ging er auf die Falltür und die Treppe zu. „Ich hätte vor allem nicht gedacht, dass du so ein feiger Kaiser bist!“, rief sie ihm wütend hinterher.   Diesmal ließ sie ihn allein, aber er konnte nicht mehr schlafen. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab. Als Wormmon das letzte Mal gestorben war, war alles auseinander gebrochen. Er hatte nicht mehr gewusst, wer oder was er war, hatte sich tagelang eingeschlossen. Vielleicht brauchte er diese Zeit. Auf jeden Fall musste er seine Gedanken ordnen, und vielleicht war es gut, dass er so gründlich am Abgrund seiner selbst stand. Hätte ihn Wormmons Tod kalt gelassen … Er wollte diesen Gedankengang nicht fortführen. Ein feiger Kaiser … Vielleicht stimmte es. Nein, vielleicht hatte es früher gestimmt. Er hatte sein Bestes gegeben. Weiter als bis zu diesem Punkt konnte er unmöglich gehen. Sollte er mit Deemon Kontakt aufnehmen? Ihm sagen, dass es gewonnen hätte? Dann wäre er erst recht der Bösewicht in diesem Spiel. Seine Gedanken schweiften zu seinem Erzfeind. Er war leichtsinnig gewesen. Er hatte Deemon aus seinen Gedanken verbannt, aber nun konnte er dessen Züge noch weniger verstehen als zuvor. Vielleicht hätte es ihm einen Tipp gegeben, einen Hinweis auf den Hinterhalt, wenn er nur mit ihm geredet hätte; schließlich wollte es seinen Tod nicht … Vielleicht wäre Wormmon dann noch am Leben. Wütend auf sich selbst vergrub er seinen Kopf in seinem Kissen. Es duftete nach Nadines Haar, fiel ihm auf. Nadine. Vor Jahren hatte er sie beschworen, nicht denselben Fehler wie er zu machen, und sie hatte ihn verspottet. Nun hatte er seinen eigenen Fehler wiederholt, und sie bot ihm die Hand dar, um ihm zu helfen. Was für ein Idiot ich doch bin. Was für ein fürchterlicher, dummer, feiger Idiot.   Er fand sie im Speisesaal. Die Bodenfliesen leuchteten weiß; Mondstrahlen webten ein helles Muster zwischen den zahlreichen hohen Fenstern. Dort saß sie, allein bis auf ihre Floramon-Zofe, schaukelte mit dem Stuhl und hielt einen Kelch Wein in der Hand. Sie sah nicht auf, als er zaghaft eintrat, sondern betrachtete ihr Spiegelbild in dem Silber des Kelchs. „Ich habe keine Geschwister“, sagte sie, ehe Ken das Wort ergreifen konnte, und ihre Stimme klang verloren in der hohen Halle. „Und Elecmon war an meiner Seite, wann immer ich es wollte. Vielleicht habe ich nicht die … die Qualifikationen, auf dich einzureden. Ich fühle, dass dir das Herz wehtut, aber ich habe nicht das Recht, dir zu sagen, was du tun sollst. Es war gemein. Es tut mir leid. Dich noch mehr zu verletzen, das …“ „Ist schon gut.“ Ken lächelte schwach. Sie hat sich Vorwürfe gemacht. „Ich habe mich kindisch benommen. Wormmon wird zu mir zurückkehren, und ich muss nur abwarten. Es hasst den Krieg, aber vielleicht kann ich ihm eine friedliche Welt bieten, wenn es so weit ist.“ Nadine sah ihn überrascht an. Dann lächelte auch sie. „Das überrascht mich jetzt aber.“ „Deemon lacht sich sicher ins Fäustchen. Es hat Willis und die anderen umgekrempelt und glaubt, mich damit besiegt zu haben.“ Ken setzte sich auf den Stuhl neben ihr. Floramon brachte einen zweiten Kelch und schenkte aus einer Karaffe ein. Der Wein war dunkelrot, schwer und süß. „Aber es hat gar nichts geschafft.“ Ken nickte. „Nicht, wenn ich jetzt noch entschlossener vorgehe.“ „Das arme, dumme, böse Digimon.“ Nadine lächelte und prostete ihm zu. „Es wird nie verstehen, was wahre Verbundenheit bedeutet. Wie kann es da erwarten, uns mit solchen Psychospielen aufzuhalten?“ Er stieß mit ihr an. „Wäre Deemon nicht, hätte Wormmon nicht sterben müssen.“ „Du müsstest dir keine solchen Vorwürfe machen.“ Nun klang sie wieder mitleidig. „Die DigiWelt wäre friedlich. Niemand von uns müsste Herrscher spielen.“ „Das wäre doch ein guter Stoff für ein Märchen“, sinnierte Nadine. „Ein Gaukler spricht bei einem Kaiser und einer Königin vor. Er sagt, er hätte ein obercooles Spiel für sie, und will sie einladen, mitzumachen. Aber die Spielfiguren sind lebendig, und sie werden im Laufe des Spiels verletzt und getötet. Wie, meinst du, soll das Ende sein?“ „Der Kaiser und die Königin bestrafen den Gaukler, weil er so vermessen war“, sagte Ken grimmig. Nadine lächelte. Im Mondlicht leuchteten ihre Zähne. Ihr Atem roch süß nach dem Wein, ihr Parfüm nach frischen Orangen. „Dieses Ende würde mir gefallen.“ Sie stießen erneut an. Ken fühlte immer noch einen dumpfen Schmerz in der Brust, ein Loch, eine ziehende Leere, aber er fühlte sich auch leichter, gelöster. Ihr Lächeln zu sehen gab ihm Halt in der Leere. Und Wormmon würde wiederkehren. Bis dahin wäre Deemon Geschichte. Er hatte wieder einen Ansporn. „Auf Deemons Untergang also“, sagte Nadine, nachdem sie sich dabei erwischten, wie sie einander verhältnismäßig lange angesehen hatten. „Darauf, dass ohne dieses Biest alles wieder gut wird.“ Sie leerten die Kelche und schwiegen danach, sahen ins Leere. „Weißt du“, sagte Nadine irgendwann, „etwas Gutes hat dieses Biest immerhin geschafft. Wir beide haben uns wiedergesehen. Das rückgängig zu machen wäre schade, meinst du nicht?“ Ken studierte lange ihr Gesicht. Im Mondlicht, mit leicht geröteten Wangen und halb geöffneten Lippen und ihren dunklen Augen, die wie Onyxe funkelten, kam es ihm wunderschön vor. „Ja“, murmelte er. Ohne es zu merken, waren sie einander näher gekommen. Er schluckte und zwang sich, den Blick abzuwenden. „Ja, das wäre es.“   Tag 55   Am nächsten Morgen, nach einem ergiebigen Frühstück, reparierte Ken seinen Connector. Er funkte seine Festung an und erfuhr, dass ein paar übriggebliebene Eherne Wölfe versucht hatten, sich in sein Hoheitsgebiet zu schleichen, um Matt zu befreien. Er verdoppelte die Wachen und fragte als Nächstes nach Ogremon, aber sein erster Ritter hatte sich noch nicht zurückgemeldet. Nach einem Lagebericht von Zephyrmon – sein Heer war bis zum Kolosseum vorgestoßen, wo sich Baronmon mit schwerem Geschütz, unter anderem dem Deckerdramon, verschanzt hatte, aber laut seinem General würde das große Amphitheater binnen Tagen fallen – beschäftigte er sich mit der Frage, wie er in Willis‘ Hinterhalt hatte geraten können. Er überprüfte die Befehlskette, versuchte, den Fehler darin zu finden. Aus Willis‘ Worten entnahm Ken, dass es gar kein Ebemon gab. Dennoch hatten seine Überwachungssysteme eindeutig eines gesichtet, außerdem noch Davis und ein DigiArmorEi. Mittlerweile hätten sie im Herz von Nadines Reich sein müssen, aber niemand war aufgetaucht. Hatten sie sich zurückgezogen? Von einem erneuten Störsignal war nichts zu bemerken, aber keine Kamera hatte etwas aufgezeichnet. Sie hätten sich in Luft auflösen müssen – wenn sie überhaupt je da gewesen waren. Die Hagurumon schickten ihm Logfiles des Befehls, Schwarzringtruppen von der Front abzuziehen, um sie gegen das Ebemon ins Feld zu schicken. Zephyrmon verneinte jedoch, solche Befehle erhalten zu haben, noch habe es Digimon von der Belagerung abgezogen. Dazwischen war also eine Lücke – auch seine letzten Formationsbefehle waren gesendet und anscheinend akzeptiert worden, dennoch hatten seine Digimon auf ihn gefeuert. Diese waren ebenfalls verschwunden. Vielleicht hatte Willis sie ausgelöscht, aber falls nicht … Er erinnerte sich an das versuchte Attentat in seiner Festung. Auch da hatte der Computer Schwarzring-Digimon angezeigt, die gar keine gewesen waren. Nach reichlichem Hirnzermatern kam er zu dem einen Schluss. Man hatte sich in sein System gehackt, Signale abgefangen und manipuliert. Jemand hatte all seine Befehle gelesen und den falschen Schwarzring-Digimon genau gesagt, wie sie sich zu verhalten hatten, um keinen Verdacht zu erwecken, bis zur letzten Minute. Man hatte Ebemons und Davis‘ Auftauchen simuliert, um Ken hervorzulocken, und Willis‘ Präsenz verschleiert. Computersysteme zu hacken roch stark nach Izzy … und das Banner der Wissens-Armee zeigte nicht umsonst sein Wappen. Aber damals, als er das letzte Mal der DigimonKaiser geworden war, hatte der Rotschopf nichts ausrichten können. Vielleicht hatte er nun bessere Ressourcen, oder Ken war damals einfach zu intelligent gewesen. Er seufzte. Neunundneunzig Prozent seiner Aktionen liefen über einen Computer oder über die Schwarzen Türme. Es würde schrecklich langwierig sein, jeden Befehl altmodisch von Boten überbringen zu lassen, aber es war der einzige sichere Weg. Nun hatte er einen Grund, sich der Wissens-Armee so schnell wie möglich anzunehmen. Er ordnete eine Erneuerung des Verschlüsselungssystems an, ohne sich viel davon zu erhoffen. Danach sammelte er Informationen über den Dokumentarfilm, den der Hacker statt Kens eigentlichem Propagandavideo im Reich ausgestrahlt hatte. Wie Willis behauptet hatte, wurden seine sämtlichen Taten als Tyrannei und er selbst als grausamer, machtgieriger Herrscher dargestellt. Ken ließ alle Propagandaübertragungen abbrechen und schickte einfache Boten in jede größere Stadt, um die Kunde zu verbreiten, dass das Video ein Versuch seiner Feinde wäre, ihm zu schaden. Er griff auch wieder auf die altbewährte Methode zurück, Monitormon zu beschäftigen. Den Film mit ihm und Nadine hatte er ursprünglich über offizielle Bildschirme gesendet, was sich als Fehler erwiesen hatte. Die kleinen Monitormon erreichten zwar weniger Digimon, aber sie waren ihm wenigstens treu ergeben. Als er Nadine im Thronsaal besuchte, wo sie eben Hof hielt, schickte sie die letzten Bittsteller weg. Ken reichte ihr ein Formular. „Ich brauche Auskunft über deine Truppen. Die Anzahl, wo sie stehen, und welche abmarschbereit sind.“ Nadine studierte das Formular, auf dem er sich die Daten erwartete, stirnrunzelnd. „Du bist ja heute voller Energie“, stellte sie fest. Er lächelte schwach. „Ich habe auch keine Zeit zu verlieren.“ Bis sie eine geeignete Erhebung durchgeführt hatte, ließ er ihre Digimon Botengänge erledigen. Er musste unbedingt wissen, wie es im Norden stand, und wollte am liebsten Spadamon darauf ansetzen. Tai war irgendwo dort oben, und er würde sich nicht allzu lang mit Soras halbherziger Armee aufhalten. Und er selbst brauchte hier unten auf der Felsenklaue wieder Truppen, ehe Nadines zu sehr ausgedünnt wären. Dann war da noch die Sache mit Mimi und Yolei. Willis hatte gesagt, sie wären seinen Häschern entkommen. Das war übel. Er musste auch Fürst Musyamon deswegen benachrichtigen. Ja, es gab viel zu tun. Er konnte sich nicht länger mit Trauer aufhalten. Wenn Wormmon wiederkehrte, würde die Welt eine andere sein. Das schwor er sich. Und wenn je jemand ein Lied über ihn schreiben würde, so sollte er davon singen, wie nahe der DigimonKaiser dem Ende gewesen war, und wie glorreich er wieder ins Leben zurückgefunden hatte.   Follow these rules and this world will be free You still believe this, still holding your key Say what you want, I believe it’s nothing new No tears to shed, it’s just a game between us two (Celesty – Dark Emotions) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)