New Reign von UrrSharrador (Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]) ================================================================================ Kapitel 32: Viertausend Volt ---------------------------- Tag 81   Es war Ken unverhofft leicht gefallen, den bösen Imperator zu spielen – zu leicht. Aber immerhin hatte Davis nun angebissen. Kaum dass sein Gespräch vorbei war, traf Ken Vorkehrungen für seine Reise in den Norden, obwohl er seinem Freund gegenüber Gegenteiliges behauptet hatte. Wenn er das richtige Timing erwischte, konnte er Tai und Sora in seine Gewalt bringen – und Davis vielleicht auch noch. Er gab sich keinen Illusionen hin: Seine Datenbanken beschrieben MetallPhantomon als furchteinflößenden Gegner. Ohne seine Sense war es vermutlich nicht ganz so stark, aber er würde trotzdem einen Weg suchen, es zu umgehen … Doch wie er Davis kannte, verlor der keine Zeit, also musste er selbst ebenfalls schnell handeln. Er nahm ein paar technische Spielereien mit, auch den Prototyp einer behelfsmäßigen Teufelsspirale, den er mühsam entwickelt hatte und von dem er sich nicht allzu viel versprach. Gegen ein Mega-Digimon würde er ihm sowieso nichts bringen. Eine kleine Garde Dokugumon, die er rasch zusammentrommelte und die sich in Myotismons ehemaligem Schloss mit seinen merkwürdigen physikalischen Gesetzen und verwinkelten Gängen gut würden bewegen können, nahm er mit, und natürlich Taomon. Auf einem Airdramon flogen sie los, als die Sonne noch hoch am Himmel stand. Ihre Flugroute sollte über die Wildwest-Stadt und Masla führen. Die Nadelberge lagen weit hinter den Linien des Einhornkönigs, und es war wohl fast unmöglich, die Front ungesehen zu passieren. Ken hoffte, dass die Linien im umstrittenen Bereich der ehemaligen Sklavenstadt genug ins Wanken gekommen waren, damit einem einzelnen Airdramon nicht viel Beachtung geschenkt wurde. Er wäre ein gefundenes Fressen für die drei Saatkinder, die sich irgendwo in diesem Gebiet aufhielten, und sollte er in ihnen in die Hände fallen, wäre alles aus – aber dieses Risiko musste er eingehen! Die Wüste kam als sandiger Streifen am Horizont in Sicht, als er eine Nachricht auf seinem Connector empfing, vom Rosenstein. Verwirrt nahm er ihn entgegen. War etwas Wichtiges passiert? „Sag mal, wo steckst du eigentlich?“, ertönte eine genervte Stimme. „Nadine?“, fragte er überrascht. „Du bist schon zurück?“ „Ich schon! Ich bin im Palast – wo zum Teufel bist du? Wieso sagt mir mein Kastellan, dass du Hals über Kopf irgendwohin aufgebrochen bist? Was hast du vor? Wieso erfahre ich davon nichts?“ Sie klang eindeutig gereizt, und Ken bekam plötzlich den Anflug eines schlechten Gewissens. Er hatte versprochen, auf dem Rosenstein zu bleiben, bis sie die Angelegenheiten in Masla geregelt hatte. „Ich muss etwas Dringendes erledigen“, sagte er in versöhnlichem Ton. „Ich bin in spätestens zwei Tagen zurück.“ „Sitzt du auf einem Airdramon? Ich höre den Flugwind rauschen! Hast du vergessen, was das letzte Mal passiert ist, als du allein …“ Sie verstummte, als wäre ihr klar geworden, dass sie in offenen Wunden bohrte. „Ich bin nicht allein“, versuchte er sie zu beschwichtigen. „Und ich passe auf mich auf. Ich muss ein paar meiner alten Freunde retten, verstehst du? Du musst dir keine Sorgen machen.“ Fast keine. „Tu ich ja gar nicht“, murmelte sie. „Schmollst du?“, fragte er vorsichtig, ehe er sich auf die Zunge beißen konnte. „Ich schmolle nicht!“, versetzte sie. „Ich bin nur so schnell wie möglich wieder zum Palast zurückgeflogen, damit wir wieder …“ Sie unterbrach sich, suchte nach Worten. „Ach, vergiss es.“ Ken hob überrascht die Augenbrauen. Wie sollte er darauf reagieren? Ein leichter, wohliger Schauer wanderte durch seinen Körper, als er ihren Satz in Gedanken vervollständigte. Nadine räusperte sich vernehmlich. „Und was ist das für eine Geschichte mit den neuen Dienern?“ „Was meinst du?“ „Tu nicht so unschuldig! Kaum setze ich einen Fuß in den Speisesaal, begrüßt mich eine Horde neuer menschlicher Diener, alles Mädchen! Und alle sagen, du hättest sie eingestellt.“ Alles Mädchen und ein Junge, verkniff sich Ken gerade noch. „Es sind eben auch Menschen, und im Palast sind sie in Sicherheit. Außerdem dachte ich, du könntest ein paar neue Diener gebrauchen.“ Es fühlte sich seltsam an, von anderen DigiRittern als ihren Dienern zu sprechen, aber es war am einfachsten, ein Schema für sie zu finden, in dem niemand Fragen stellte. „Ich? Oder eher du?“, fragte sie spitz. Die Frage machte ihn stutzig. Dachte sie, er würde den Palast immer noch als einzig ihr Eigen betrachten? Sie hatten schon vor langem geklärt, dass sie sich alles darin teilen würden – Himmel, sie hatten sogar schon zusammen gebadet! Und auch ihr Reich sollte ein großes Ganzes sein. „Für uns beide natürlich“, erwiderte er beruhigend. „Wenn wir mehr Digimon zur Front schicken wollen, sind menschliche Diener doch am besten.“ „Vor allem, wenn sie vorher in einem Bordell gearbeitet haben, oder was?“ „Nein, für sie selbst ist es einfach besser, wenn …“ Ken stockte. „Was … Was hast du gesagt?“ „Du hast mich schon verstanden! Du hast diese Mädchen aus einem Bordell in Masla freigekauft und in den Palast gebracht, damit sie dir zu Diensten sind? Das hätte ich dir nie zugetraut!“, sagte Nadine böse. Ken war für den Moment zu perplex, um sich zu rechtfertigen. „Ich … Woher weißt du das mit dem Bordell?“ Er hatte doch klar genug gemacht, dass sie nicht von seinem Besuch in der Lotusblüte zu erfahren hatte! Hatten die DigiRitter selbst geplaudert? Ein trockenes Lachen drang aus den Lautsprechern. „Glaubst du, ich weiß nicht, was ich vor mir habe, wenn mir ein Digimon, das wie eine geborene Puffmutter aussieht, erzählt, dass der DigimonKaiser ihre Angestellten gekauft hat?“ Lotusmon! Das würde ein Nachspiel geben. Immerhin wusste er jetzt, warum Nadine so aufgebracht war, aber er wusste nicht, ob ihn diese Gefühlsregung ehren sollte. „Du … du hast das falsch verstanden“, stammelte er und spürte, wie er rot wurde. Gut, dass sie ihn nicht sehen konnte. „Ach ja? Sie wollte mich festhalten, dieses hässliche, violette Weibsbild! Auf Order des DigimonKaisers, kannst du dir das vorstellen? Es war ihr völlig egal, dass ich ihre Königin bin!“ Autsch. Sie klang wirklich, wirklich gereizt … Ken konnte sich Lotusmon gut vorstellen, wie es sich bei der Sache ins Fäustchen lachte. „Das … das war nur, um … um andere … Was machst du überhaupt in einem Bordell?“, platzte er heraus. „Dasselbe könnte ich dich fragen – wobei, Moment, ich glaube, ich weiß es schon.“ „Nadine, das ist … Ich wollte mir nur ansehen, was das für ein Laden ist!“ Seine Stimme war lauter geworden, und kaum hatte er ausgesprochen, merkte er, dass er ins nächste Fettnäpfchen getreten war. „Und? Hat er deinen Vorstellungen entsprochen?“, fragte sie mit schneidender Stimme. „Nein, Nadine, glaub mir, ich wusste nicht … Ich meine, ich wusste schon, aber ich wollte nicht … Ich wollte mich nur davon überzeugen, was Hiroshi getan hat!“ „Ich auch“, sagte sie kühl. „Kannst du mir verraten, wie ich mich verhalten soll, wenn mir dieses Lotusmon brühwarm sagt: Guten Tag, Eure Hoheit, schön, dass Ihr Euch für mein Etablissement interessiert, leider hat Euer Gemahl meine Ware beschlagnahmt?“ Ken biss sich auf die Lippe. Gemahl … Ja, er würde ein ernstes Wörtchen mit Lotusmon reden müssen, ein sehr ernstes. Er atmete tief durch. „Nadine, glaub mir, ich habe dir nur nichts gesagt, damit du mich nicht für einen … für so jemanden hältst. Ich habe die Mädchen da rausgeholt, und weil ich nicht wusste, wohin mit ihnen, habe ich sie auf den Rosenstein bringen lassen. Ich hab nicht mit ihnen … Du weißt schon.“ Sie schwieg eine Weile, schien sich aber beruhig zu haben. „Und ich hab jetzt einen Haufen Teilzeitprostituierter als meine Kammerzofen? Vielen Dank auch.“ „Es sind immer noch DigiRitter wie wir“, stellte Ken seufzend fest. „Und sie sind hübsch, zumindest ein paar.“ „Nadine!“ „Schon gut“, grummelte sie. „Wann kommst du wieder zurück?“ „In ein oder zwei Tagen“, wiederholte er. „Ich weiß, wo ich Sora und Tai finde. Erinnerst du dich an sie?“ „Klar. Die zwei, die dabei waren, als sie mich in die DigiWelt hinterhergebracht haben, oder?“ „Genau“, sagte er, erleichtert, dass die Sache vom Tisch war. „Gut. Dann pass auf dich auf“ sagte sie leise. „Und komm schnell zurück.“ Damit legte sie auf. Ken atmete einen Stoßseufzer aus. „Wo … wo sind wir gerade?“, fragte er matt. Er hatte sich so auf das Gespräch konzentriert, dass er nun lediglich wusste, dass sie schon Wüstengebiet überflogen. „Wir kommen bald zu der Ebene vor dem Trugwald, Majestät“, sagte Taomon, das reglos hinter ihm stand. Seufzend ließ er sich nach vorn gegen die Hörner des Airdramon sinken. Als er die Landschaft beobachtete, tauchte immer wieder Nadine vor seinem inneren Auge auf. War sie auch nur darüber verärgert, dass Deemon ein Bordell in die DigiWelt gepflanzt hatte, oder eher, weil sie glaubte, Ken hätte sich das zunutze gemacht? Er war nun aus irgendeinem Grund froh, in den saftig grünen Norden zu fliegen.     Piyomon war zu erschöpft gewesen, um sie zu begleiten, aber es hatte ihnen den Weg genau beschrieben. Auf der Schulter von Ex-Veemon sitzend flog Davis in die Nadelberge, von denen trotz des heißen Tags eine Kühle herab wehte, die ihn frösteln ließ. Er würde diese seltsame Höhle finden, den Fluch zerschlagen und Taichi und Piyomons Freundin retten, das hatte er geschworen! Seine Truppe hatte beschlossen, ihn zu unterstützen, selbst ohne Befehle von oben. Sie würden das Düsterschloss belagern und MetallPhantomon herauszulocken versuchen. Davis hatte es schon einmal in die Flucht geschlagen, das würde ihm wieder gelingen! „Ist es hier?“ Sie waren auf einer Lichtung in einem recht düsteren Wald angekommen und Veemon war zurückdigitiert. Nirgendwo öffnete sich der Schlund einer Höhle – hatten sie die Wegbeschreibung missverstanden? „Wir sind an den Felsen und dem hohen Baum vorbeigekommen“, überlegte Veemon. „Es müsste eigentlich hier sein.“ Davis trat noch einen Schritt weiter auf die Lichtung, als es passierte: Der Boden tat sich von einem Moment auf den anderen auf, unter ihren Füßen prangte plötzlich ein perfekt kreisförmiges, schwarzes Loch. Mit einem Aufschrei stürzten die beiden hinein. Die Welt stand plötzlich Kopf, und Davis rutschte und schlitterte über eine harte Schräge, stieß sich den Kopf und schmeckte Blut. Blinzelnd und stöhnend richtete er sich auf. „Ich glaube, wir haben sie gefunden.“ Die Öffnung hatte sich wieder geschlossen, kaum dass sie sie geschluckt hatte. Plötzlich wurde er doch nervös. Wie sollten sie den Ausgang wiederfinden? Es gab nur einen einzigen Weg, dem sie folgen konnten, und es war fast stockfinster. Klammen Herzens tasteten sie sich an der Felswand entlang. „Du, Veemon …“ „Was?“ „Wenn ich … Wenn ich mich irgendwie komisch zu benehmen beginne, schnapp mich und zerr mich hier raus, ja?“ „Mach ich.“ Es war eine Falle, natürlich war es das, was konnte es anders sein? Wenn der DigimonKaiser ihnen seine Hilfe anbot, war es entweder ein übler Trick oder ein Traum, und wie ein Traum wirkte das hier nicht … Weiter und weiter gingen sie in die neblige Finsternis. Er hatte gesagt, Davis müsse nur in die Höhle gehen, um sie zu besiegen, aber was genau sollte er jetzt tun? Die Wände einreißen? Er konnte doch nicht … Plötzlich blieb er stehen. „Ist das … Wasser?“, stieß er hervor. Veemon hielt ebenfalls an. „Was meinst du?“ „Na das!“ Davis deutete zu seinen Füßen. Ein schmaler Film schien die Felsen zu bedecken, aber die Felsen schienen dennoch so weit weg … Es war, als stünde er auf der Oberfläche eines riesigen, tiefen, unterirdischen Sees. Weiße Blasen stiegen von unten auf und blubberten zwischen seinen Füßen. „Das Wasser, auf dem wir gehen.“ „Du siehst hier Wasser?“, fragte Veemon verwirrt. „Das hier ist gewöhnlicher Höhlenboden, weiter nichts!“ Davis schwindelte. Wurde er verrückt? Vielleicht war das schon die Magie der Höhle, und er … Ich habe die Getreuen des Staubes sterben lassen. Der Gedanke kam ihm so plötzlich, dass er nach Luft schnappte. Sie waren tot, weil er sie nicht hatte beschützen können. Und jetzt kämpfe ich für ihre Mörder. Ich bin doppelt schuldig. „Davis?“, hörte er Veemon gedämpft, wie aus weiter Ferne. Mit einem Platschen sank er bis zu den Knöcheln im Wasser ein. Ich habe meine Freunde sterben lassen, und jetzt kann ich Taichi nicht retten. Es herrscht immer noch Krieg. Viele Menschen und Digimon leiden. Ich habe nichts ändern können. Ich habe versagt. Warum hatte er nie darüber nachgedacht? Er hatte sich ablenken lassen von kurzen, bedeutungslosen Erfolgen, wie leichtsinnig. Dabei war nichts wichtiger, als der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Die Getreuen des Staubes sind tot, Taichi ist bald tot, und die DigiWelt verwüstet, und ich bin hilflos und lebe in einer düsteren, verwüsteten Welt. Er meinte zu hören, wie jemand nach ihm rief, und irgendjemand packte ihn unter den Achseln, oder bildete er sich das ein? Mittlerweile stand er bis zur Hüfte im eiskalten, blubbernden Wasser. Die Briganten überfallen immer noch hilflose Digimon, die nichts mit dem Krieg zu tun haben. Der DigimonKaiser ist zu mächtig, wir können ihn niemals besiegen. Ich verhöhne nur das Vermächtnis der Getreuen. Tiefer und tiefer glitt er, die Kälte umschloss ihn immer mehr, und er merkte, dass er auch tiefer in seine Gedanken eindrang. Je mehr er grübelte, desto mehr erkannte er, wie schlecht es um ihn und die DigiWelt bestellt war. Es war wichtig, auszuloten, inwieweit er dafür verantwortlich war, es gab nichts Wichtigeres, er musste wissen, wie tief seine Schuld reichte. Doch egal, wie weit er darin tauchte, er erreichte den Grund nicht. Seine Verantwortung war bodenlos, und diese Tiefe zerrte ihn immer weiter ins Wasser. Bin ich also wertlos? Zukunftslos? Das bin ich wohl. Die Kälte umklammerte bereits seine Brust. Sie sind tot, die Getreuen des Staubes, weil ich sie nicht gerettet habe. Sie wussten nicht … Er stutzte. Sie wussten es! Jeder von uns war bereit zu sterben, und jeder war bereit, als Einziger zu überleben, für unser Ziel! Was denke ich da? Das Blubbern hörte fast auf. Das Wasser stieg auch nicht weiter. Es läuft doch eigentlich ganz gut? Was sollte ich mich beschweren? Ich kann mehr für die Unschuldigen tun als je zuvor, und das Nördliche Königreich ist jung und blüht trotzdem auf. Und mir selbst, mir geht es doch auch gut! Ich habe neue Freunde gefunden, Veemon ist immer noch bei mir. Löwemon und meine Truppe unterstützen mich, Leomon ist ein guter König, und ich werde auch Taichi retten! Ich weiß nicht, was morgen sein wird, und gestern war vielleicht düster, aber im Moment ist alles in Ordnung! Ich finde aus dieser dämlichen Höhle heraus, und am Abend zünden wir ein Lagerfeuer an und feiern unsere jüngsten Siege! Veemon und ich leben so sicher wie lange nicht, und wir können nachts schlafen und haben genug zu essen! Solange mein Leben so schön ist, ist es auch was wert! Aber ich verdiene das Essen und das Glück nicht, wenn ich nicht auch andere glücklich machen kann. Das Blubbern wollte nicht aufhören. Und genau das werde ich! Es gibt nichts, was Veemon und ich nicht schaffen könnten! Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe und was ich bin, denn das reicht allemal! Mit einem Bersten splitterte das Wasser auseinander. Nicht nur das - die ganze Höhle zerbrach vor Davis' Augen, als hätte es sie nie gegeben. Er und Veemon standen wieder auf der Lichtung. Überrascht stellte Davis fest, dass seine Kleidung nicht im Geringsten nass geworden war. Veemon wirkte außer Atem. „Davis“, seufzte es erleichtert. „Was ist los?“ „Ich dachte, die Höhle erwischt dich! Du hast dich plötzlich zusammengekauert und nicht bewegen lassen!“ „Echt?“ Davis sah sich stirnrunzelnd um. „War es das jetzt schon?“ Veemon sah ihn großäugig an. Wie als Antwort glomm zu Davis‘ Füßen ein Licht auf. Etwas war dort erschienen, etwas Längliches, das vage Ähnlichkeit mit einem schwarzen Schuh hatte. Aus der Spitze ragte ein blitzförmiger Dorn. „Was ist das denn?“ Davis drehte es in der Hand. „Da! Erkennst du das Wappen?“, rief Veemon aufgeregt. Verdutzt betrachtete er das blaue Symbol. Das war das Wappen der Ehernen Wölfe – was hatte das zu bedeuten? Die Wölfe waren doch längst zerschlagen! „Meinst du, das ist auch ein ... ArmorEi?“ „Vielleicht hast du es als Belohnung bekommen, weil du die Höhle zerstört hast. Vielleicht hat die Höhle es ja auch bewacht.“ Unschlüssig wog Davis das seltsame Artefakt in der Hand, dann strich sein Blick über die grauen, nadeldünnen Bergspitzen. „Wenn die Höhle wirklich besiegt ist, sollten wir schnell zu den anderen stoßen und Taichi befreien.“ Er grinste. „Was meinst du, Veemon – probieren wir dieses Ding gleich aus?“     Davis‘ Digimon waren schon eifrig am Werk. Es war einfach, das Düsterschloss zu finden, das Airdramon musste nur den Kampfgeräuschen folgen. Als sich das Schloss aus dem Nebel auf den Bergspitzen schälte, wurde es heftig umkämpft. Monochromon und Tyrannomon rannten gegen sein Fundament an oder schossen Feuerbälle von unten hinauf, und eine Horde Bakemon versuchte, sie auf Abstand zu halten. Als Ken über das Schloss flog, nahmen zwei Phantomon ihn ins Visier. Rotierend und mit schwarz blitzenden Sensen griffen sie an. Taomon musste nur seine Pfote heben, und die Geister prallten von einem Schutzschirm ab, in dem Yin und Yang verschlungen waren. „Es geht los. Sichert uns die Wege“, wies Ken seine Dokugumon an. Die Spinnen wurden nicht von Schwarzen Ringen beherrscht, so weit außerhalb seines Territoriums wäre das nicht möglich gewesen, aber sie folgten ihm seiner schieren Macht wegen. Fauchend gehorchten sie, sprangen ab, spien klebrige Fäden an die Türme und schwangen sich in verschiedene Fensteröffnungen. Falls sie auf Geister stießen, würden sie sie erledigen. Airdramon landete im Innenhof. Ken fiel auf, dass die Zinnen und Wehrgänge allesamt ziemlich ramponiert aussahen. Als Tai hierhergekommen war, hatte er wohl seine Handschrift hinterlassen. Er wies das Drachendigimon an, in sicherer Ferne auf sein Zeichen zu warten, und betrat mit Taomon das Schloss. Er hatte eine ziemlich starke Vermutung, dass Deemon Soras Thron im Torraum aufgestellt hatte, aber es würde schwierig werden, dorthin zu finden. Auch wenn die Dokugumon den Weg auskundschafteten, gab es keine Garantie, dass sie Erfolg hatten und ihm den rechten Pfad mitteilen konnten. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit. Wieder profitierte er von seinem Wissen, das niemandem sonst in der DigiWelt beschieden war. Fast wünschte er sich, Deemon könnte nun seine Gedanken lesen, aber womöglich beobachtete es ohnehin seine Schritte auf seine Art. Es war nur eine kurze Anekdote gewesen, aber Ken erinnerte sich daran. Gatomon hatte Wormmon in seinem Beisein einmal von seiner Zeit bei Myotismon erzählt. Das Vampirdigimon hatte in seinem Arbeitszimmer einen Geheimgang gehabt, der auch in den Raum mit dem Weltentor führte. Dieses Wissen würden sie sich nun zunutze machen. Einmal mehr fragte sich Ken voller Sorge, wo Kari und Gatomon überhaupt steckten. Er hoffte, dass sie am Leben waren. „Wir suchen ein Arbeitszimmer oder eine Art Bibliothek“, sagte er zu Taomon. „Wie Ihr befehlt.“ Es war nicht schwierig zu finden, da es ziemlich zentral lag. Indem sie den größten Gängen folgen, stießen sie knapp unterhalb der Erdoberfläche darauf. Das Zimmer war verlassen, auch wenn Kerzen auf dem Schreibtisch brannten. Die Bücher in den Regalen waren allesamt verstaubt. Ken fragte sich, wovon sie handeln mochten, doch sie hatten keine Zeit, es herauszufinden. Systematisch klopften sie die Steinwände ab. Taomon stieß auf einen Hohlraum. „Hierhinter“, vermutete es. Ken nickte. „Mach dich an die Arbeit.“ „Sehr wohl, Majestät.“ Sie kannten den Mechanismus nicht, mit dem man die versteckte Tür öffnete. Womöglich funktionierte es nur einem Zauber, den allein Myotismon gekannt hatte. Aber in so einem Fall konnte sich Ken schließlich auch auf die rohe Gewalt seines Leibwächters verlassen. Taomon holte einen geradezu absurd langen Schreibpinsel aus seinem Ärmel und malte damit ein einzelnes Zeichen auf die sorgfältig übereinander geschichteten Steine. Das Symbol glühte kurz auf, und sofort bröckelte ein kantiges Loch aus der Mauer. Zufrieden stapfte Ken hindurch. Sie folgte einer kurzen Treppe, ehe sie auf eine größere Steinstiege stießen, und kurz danach öffnete sich der riesige Torraum vor ihnen. Wie Ken vermutet hatte, war er gleichzeitig Soras Thronsaal. Er konnte seine Freundin in der Dunkelheit hinter der Tönung seiner Brille nur undeutlich sehen, aber sie schien auf einem Monstrum von Thron in der Mitte des Saals zusammengesunken zu sein. Wachen waren keine zu sehen, nur zwei ratlose, kleine Digimon, die zu ihren Füßen hockten und zu ihr hochstarrten. Eilig taten Ken und Taomon die letzten Schritte in den Saal hinein. „Welche Ehre, wir haben hohen Besuch!“ Kens Blick ruckte zur Decke. In einem Kreis aus roter Elektrizität schob sich ein abscheuliches Digimon aus schwarzen Fetzen und Metall in den Raum - in der Hand hielt es eine rot glühende Sense. MetallPhantomon! Es wäre ja auch zu schön gewesen. Und es hatte seine Sense wohl schon zurück. Piyomons Informationen waren ungenau gewesen. Verdammt! „Ich nehme an, Ihr seid MetallPhantomon?“ „Wie seid Ihr an den Wachen vorbeigekommen?“, knurrte das Digimon blechern, als es zwischen ihnen und Sora zu Boden schwebte. Ken zwang sich zu einem überheblichen Lächeln. „Ihr scheint Euer Schloss nicht so gut zu kennen, wie ich glaubte. Ich bin enttäuscht. Aber es ist ja genau genommen auch nicht Euer Schloss, und deshalb habe ich auch nichts mit Euch zu tun. Ich bin gekommen, die Königin zu sprechen.“ „Die Königin empfängt gerade niemanden!“, fauchte MetallPhantomon. „Seht Ihr nicht, dass sie nicht ansprechbar ist?“ Das sah Ken nur zu gut, und es bereitete ihm große Sorgen. Bedeutete das, dass Davis schon Erfolg hatte? „Ich bin ihr oberster General! Sprecht mit mir, wenn Ihr etwas wollt!“ Ken tat, als müsste er überlegen, dann seufzte er. „Nun gut, es spielt wohl keine Rolle. Vielleicht ist es so auch besser. Es sieht aus, das Schloss wird hart umkämpft, General.“ Das Geistdigimon machte ein abfälliges Geräusch. „Nur Ungeziefer. Ich muss nicht einmal selbst eingreifen, meine Truppen schaffen das mit Leichtigkeit.“ „Das will ich hoffen. Ein halbes Dutzend meiner Dokugumon befindet sich innerhalb der Schlossmauern. Sollte der Kampf sich zu Euren Ungunsten wenden, zögert nicht, sie zu kommandieren. Sie werden Euch bei der Verteidigung helfen – sofern Eure Geister aufhören, sie anzugreifen.“ Das brachte MetallPhantomon aus der Fassung. „Was soll das heißen? Was wollt Ihr?“ Die respektvolle Anrede, die es gebrauchte, ließ Ken hoffen, dass sein Plan Erfolg hatte. „Ich werde es kurz machen. Ihr kennt mich. Mein Reich ist das größte in der gesamten DigiWelt. Fast der gesamte Süden ist mein. Meine Armee und die meiner Verbündeten zusammen sind unaufhaltbar. Ich bin die Macht der Dunkelheit in dieser Welt.“ MetallPhantomon lachte metallisch. „Spielt Euch nicht so auf. Die Macht der Dunkelheit? Ihr seid nur ein Mensch, was wisst Ihr davon?“ „Das stimmt, ich bin ein Mensch. Und die Schwarzen Türme, die ich baue, senden die Macht der Dunkelheit mehr aus als irgendetwas anderes. Wollt Ihr leugnen, dass ich die Dunkelheit bringe?“ Deemon hatte das schließlich klargemacht. Ken schmunzelte innerlich. Er war kaum mehr nervös, so gewöhnt war er mittlerweile daran, Kaiser zu spielen. „Wenn ich wollte, könnte ich dieses Schloss und das armselige Königreich, das von ihm regiert wird, an einem einzigen Tag in Trümmer legen. Selbst ein Bruchteil meiner Truppen würde genügen.“ „Und warum tut Ihr es dann nicht?“, fragte MetallPhantomon misstrauisch. Ken hoffte, dass es schlau genug war, um seine Worte zu verstehen und ernst zu nehmen und für seinen Vorschlag empfänglich zu sein, aber nicht schlau genug, um die Lücken in seiner Argumentation zu erkennen. Oder die tatsächliche Lage seiner Armeen. „Weil ich nichts davon hätte. Muss ich Euch das erst erklären? Als oberster General solltet Ihr doch wohl etwas von Strategie verstehen? Oder seid Ihr einer dieser unfähigen Heißblüter?“ „Passt auf, was Ihr sagt!“, fauchte MetallPhantomon und wackelte mit der Sense. Taomon war klug genug, sich nicht einmal zu bewegen. Das schuf Eindruck. „Sonst was?“, fragte Ken kühl. „Versetzt Ihr mich in Schlaf und dringt in meine Träume ein? Nur zu. Wenn es Euch nichts ausmacht, Eure Sense gleich wieder zu verlieren.“ Das wirkte. MetallPhantomon knurrte reglos. Wer wusste schon von seinem unrühmlichen Missgeschick? Es musste glauben, Ken besäße und verstünde dieselbe Macht, die von Sora Besitz ergriffen hatte. Als es weitersprach, wirkte es deutlich vorsichtiger. „Also, warum?“ „Das Königreich des Blutenden Herzens zu erobern, bringt mir nichts ein. Es liegt zu weit nördlich, um für mich von strategischem Wert zu sein. Aber es schwächt meine Feinde hier im Norden – darum liegt mir auch nichts daran, es zu zerstören. Das Problem ist die Königin. Nehmt es mir nicht übel, aber sie ist eine schwache Herrscherin. Ich habe mich über ihre Aktionen informiert. Sie handelt ohne Taktik und tut, was ihr gerade einfällt. Sie plänkelt mit dem Löwenkönig, ohne ein Ziel dabei zu verfolgen. Und in wichtigen Angelegenheiten ist sie nicht ansprechbar. So bringt mir dieses Königreich nichts. Deshalb habe ich beschlossen, die Schwarze Königin abzusetzen und einen Kastellan an ihrer statt zu ernennen – oder einen neuen König. Ich wollte mein treues Taomon hier einsetzen, aber … Ihr kennt dieses Gebirge doch wohl besser? Sieht man von den Geheimgängen in diesem Schloss ab“, sagte er trocken. MetallPhantomon horchte auf, als es verstand, was Ken ihm da vorschlug. Piyomon hatte gesagt, dass es ursprünglich selbst hinter dem Schloss her gewesen war. Dieses Wissen würde er nutzen. „Ich wäre die beste Wahl!“, behauptete es impulsiv. „Die Bakemon und Phantomon folgen mir.“ Ken ging nachdenklich im Thronsaal auf und ab und störte sich nicht daran, dass er MetallPhantomon dabei seinen Rücken entblößte. Es würde ihm nichts tun, bis die Sache erledigt war. „Ich weiß nicht. Ihr habt in meinen Augen nicht gerade strategisches Geschick bewiesen. Woher weiß ich, dass ihr das Reich nicht genauso herunterwirtschaftet? Es ist nicht einfach, zu herrschen. Es gehört mehr dazu, als Befehle zu erteilen.“ „Das alles weiß ich! Ich werde den Löwen zurückdrängen und das Heer richtig einsetzen! Ich werde diese tölpelhaften Briganten zurückrufen und sie darin eingliedern, damit es mehr Schlagkraft hat!“ Wie eifrig es plötzlich ist. „Nun, ich bin gewillt, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Ich gebe Euch einen Monat Zeit. Ihr müsst nichts weiter tun, als zu regieren. In einem Monat komme ich wieder, und wenn Ihr unzuverlässig seid, werde ich Taomon einsetzen.“ Nichts von dem meinte er ernst. Zum Ersten hoffte er, dass MetallPhantomon möglichst wenig gegen Davis und Tai ausrichtete, zum Zweiten würde in einem Monat wohl die ganze Armee des Digimons sein Empfangskomitee sein. „Eines will ich aber klarstellen“, sagte MetallPhantomon mit vor Stolz blitzenden Augen. „Ich werde nicht vor Euch kriechen! Ich regiere das Land als alleiniger König!“ Der Klang dieses Wortes scheint ihm zu gefallen. Ken lachte. „Ich bin nicht an einem Vasallen hier oben interessiert. Und ein Bündnis werden wir auch nicht schließen. Wenn Ihr Euch in Schwierigkeiten manövriert, müsst Ihr selbst damit fertig werden. Ein Nichtangriffspakt, mündlich, so etwas wird es sein. Nennt Euch meinetwegen König von Kaisers Gnaden, dazu habt Ihr meine Erlaubnis. Aber verteidigt Eure Rechte selbst. Seid Ihr einverstanden?“ MetallPhantomon kicherte. „Ich hatte mir Euch eigentlich als kleinen Jungen vorgestellt, der in der Sicherheit seiner Festung mit Digimon spielt. Ich habe mich wohl getäuscht.“ „Und ich hoffe, dass ich mich nicht in Euch täusche. Ist das ein Ja?“ MetallPhantomon nickte fauchend. „Gut. Dann habe ich noch eine Bedingung. Übergebt mir die Königin. Und alle anderen Menschen, die sich hier im Schloss befinden. Ich weiß, dass Ihr den Drachenritter gefangen haltet.“ „Was wollt Ihr denn mit ihnen?“, fragte MetallPhantomon misstrauisch. Ken seufzte. „Ihr kennt die Träume der Menschen, trotzdem versteht Ihr sie nicht. Zerbrecht Euch nicht den Kopf darüber. Ich kann sie noch auf verschiedene Weise brauchen, und für Euch sind sie wertlos.“ „Ihr solltet sie einfach töten“, schlug das Digimon vor. Ken sah es abfällig an. „Seid Ihr sicher, dass Ihr auch nur einen Funken Verständnis für Strategie und Taktik habt? Ich werde die alte Königin schon nicht gegen Euch einsetzen, darauf habt Ihr mein Wort. Ich hoffe doch, Euer Vorschlag entsprang rein dieser Sorge.“ MetallPhantomon sah ihn noch eine Weile an, ehe es sich grummelnd und klappernd in die Höhe schwang. „Tut, was Ihr wollt. Die kleinen Biester sollen Euch den Weg zum Kerker zeigen“, sagte es, ehe es wieder in der Decke verschwand und Ken ein Stein vom Herzen fiel. Er hatte es geschafft! Endlich konnte er an Sora herantreten. Sie schien zu schlafen, auf dem schwarzen Thron, in ihrem schwarzen Kleid, ihre Haut ganz weiß. „Sora? Hörst du mich?“, fragte er leise und rüttelte an ihrer Schulter. Äußerlich schien ihr nichts zu fehlen. „Wer ist das denn?“, fauchte eines der kleinen Digimon, die bei ihr waren. „Ja, wer ist das?“, fragte das andere. „Das hab ich dich gefragt, Dummkopf!“ „Selber Dummkopf! Ken ignorierte ihren Streit. Es galt, keine Zeit zu verlieren. „Taomon, ich muss dich bitten, sie zu tragen. Vorsichtig.“ „Wie Ihr wünscht.“ Behutsam hob Taomon Sora hoch. Da es über zwei Meter groß war, fiel ihm das nicht schwer. „Und ihr beiden bringt mich zum Kerker. Sofort“, sagte Ken scharf. „Pah! Wer bist du überhaupt?“ „Vor euch steht seine Majestät der DigimonKaiser. Also lasst Respekt walten“, sagte Taomon bedeutungsschwer. Das kleine Digimon zeigte ihm die Zunge. „Muss ich erst einen von euch töten, damit der andere redet?“, fragte Ken wütend. Er hoffte, dass er es mit seinen Spielen nicht zu weit trieb. Wormmon war nicht da, um ihn zurückzuhalten, wenn er zu sehr in seine alte Rolle verfiel. Als er merkte, wie Sora im Schlaf matt seufzte, versetzte er einem der beiden einen Tritt, der es durch den Raum schleuderte. Das andere stob mit einem Aufschrei davon. „Hierher! Hierher!“ Ken und Taomon mussten sich beeilen, mit ihm Schritt zu halten, während das andere so erbärmlich schluchzend hinterherhumpelte, dass Ken Mitleid bekam. Wenigstens etwas. Bald standen sie in einem Kellergang vor einer breiten Tür, die Ken entschlossen aufstieß. Beim Anblick der Foltergeräte dahinter rieselte ein Schauer über seinen Rücken. Hoffentlich kam er nicht zu spät ... Im hinteren Ende des Raumes meinte er im Halbdunkel eine Gestalt auszumachen, aber jemand stellte sich ihm in den Weg: ein kleines, gehässig grinsendes Dracmon, das ihn schief ansah. „Er ist gemein! Pass auf!“, sagte das Digimon, das ihn hergeführt hatte, und Ken war sich nicht sicher, wen es nun meinte. Als Dracmon zu Taomon hochblickte, krächzte es etwas und trat zur Seite, ohne dass er es hätte auffordern müssen. Der Gestalt vorne entkam ein Stöhnen, und klopfenden Herzens beschleunigte Ken seine Schritte. Es war tatsächlich Tai, und er war in einem grausamen Käfig mit eisernen Dornenranken gefesselt. „Tai!“ Ken stürzte zu ihm. Sein Freund war halb bewusstlos und drehte mühsam den Kopf in seine Richtung. Kens Herz setzte einen Schlag aus, und er fühlte sich, als verknoteten sich seine Eingeweide. Nur eines von Tais Augen folgte seinen Bewegungen. Das andere war nichts als ein leeres, blutiges Loch. „Tai! Mein Gott!“ Das darf nicht sein! Himmel, das darf doch nicht wahr sein! Kens Finger flogen über die Stachelketten und zerrten daran, aber sie saßen fest. Blut sickerte langsam aus einem Dutzend Wunden überall an Tais Körper. „Tai, halte durch! Du da!“, herrschte Ken Dracmon an. Seine Stimme war plötzlich so rau, dass die Worte schmerzend durch seine Kehle schabten. „Hast du ihm das angetan? Mach ihn sofort los!“ Dracmon verschränkte trotzig die Arme. Die Geste war eindeutig. „Du sollst ihn losmachen!“ Rasend vor Wut packte Ken eine große eiserne Zange, die auf einer nahen Streckbank lag, und verpasste dem sturen Digimon einen wuchtigen Hieb. In seinem Innersten kreischte etwas verzweifelt auf. Er ließ sich auf dieser Reise zu sehr in Dunkelheit verstricken, es verlangte ihm sein Letztes ab, nicht einfach wieder der alte, grausame Tyrann zu werden, der er gewesen war, und am erschreckendsten war, dass es ihm im Moment nichts ausmachte, er konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Dracmon sprang sofort wieder auf und hob angriffslustig fauchend die Hände, dass Ken die Augäpfel darin sehen konnte, aber Taomon schob sich sofort zwischen es und den Kaiser, Sora immer noch in den Armen. „Hast du nicht gehört?“, brüllte Ken. „Ich lasse dir alle Gliedmaßen einzeln ausreißen, wenn du ihn nicht sofort losmachst!“ „Tai ...“, ertönte eine schwache Stimme aus einer Ecke. Ken sah Agumon in seinem Käfig liegen, grün und blau geprügelt und mit geschwollenem Kopf. „Agumon! Keine Sorge, ich ... Wir ...“ Ken riss sich zusammen. Er meinte, plötzlich nicht genug Luft zu bekommen, als der Schock erneut über ihm zusammenschlug wie eine eisige Meereswelle. Großer Gott, das kann doch alles nicht wahr sein ... Tai ... was haben sie dir nur angetan? Widerwillig fügte sich Dracmon, kurbelte an einer Winde und löste die Ketten. Tai brach schlaff zusammen und wäre fast auf den nach innen gerichteten Stacheln des Käfigs aufgespießt worden, hätte Ken ihn nicht an den Schultern gepackt und herausgezerrt. Als er ihn auf den Boden legte, zwang er sich, die schreckliche Wunde anzusehen. Ein Auge, das rechte Auge ... Deemon, das büßt du mir!, schrie Kens Geist erbost, obwohl es ihn nicht hören konnte. „Wer bist du ...“, murmelte sein Freund mühsam. Ken spürte, dass ihm Tränen über die Wangen liefen, unter seinem Brillenrand tropften sie zu Boden. „Ein Freund. Ich hole dich hier raus, hab keine Angst. Du! Befrei sofort Agumon, sonst kannst du was erleben!“ Während Dracmon den Käfig aufschloss, nicht ohne ihm vorher noch einen Tritt zu verpassen, packte Tai Kens Ärmel mit erstaunlicher Kraft. „Die Höllenkammer“, flüsterte er mit gebrochener Stimme. „Ken ... Du musst zur Höllenkammer … Sie ist dort ...“ Zum zweiten Mal binnen Minuten setzte Kens Herz einen Schlag aus. Tai hatte ihn beim Namen genannt. Er hatte ihn erkannt! Sein Freund war nicht ganz bei Sinnen, war etwas von seinem früheren Ich an die Oberfläche gesickert? Er wagte es kaum zu hoffen. Dann erst begriff er, was Tai ihm zu sagen versuchte. „Sie?“ War noch jemand hier eingesperrt gewesen? Oder meinte er Sora? Kens Gedanken rasten. „Die Höllenkammer … in der Höllenkammer …“, flüsterte Tai. „Wo ist diese Höllenkammer?“, fuhr Ken das Dracmon und das kleine schwarze Digimon an, das erschrocken zurückzuckte. „Bringt mich sofort hin, wenn euch euer Leben lieb ist!“ Dracmon zuckte nur knurrgrunzend die Schultern, aber das andere sah sich hilfesuchend um und bedeutete ihm dann duckmäuserisch, ihm zu folgen. Unter Soras Regentschaft hatte es wohl Narrenfreiheit genossen, doch nun zog Ken andere Seiten auf. „Taomon, du bleibst bei Sora und Tai. Wenn Dracmon Schwierigkeiten macht, töte es“, kommandierte er auf dem Weg nach draußen. „Wie Ihr befehlt.“ Das kleine Digimon – Ken wollte sein Name einfach nicht einfallen – und sein Zwilling, der wieder zu ihnen gestoßen war, führten ihn noch tiefer unter die Erde. Nach einer weiteren Geheimtür führte eine steinerne Wendeltreppe nach unten. Es wurde beständig wärmer. Ken berührte den Stein und spürte die Hitze durch seine Handschuhe. Stand das Schloss auf einem See aus Lava? Schließlich gelangten sie in einen feuchten Vorraum, von dem zwei Türen abgingen. Ein eiserner Kleiderständer war das einzige Möbelstück, und es roch hier nach Schwefel. Die Digimon zeigten beide auf die linke Tür. Energisch stieß Ken sie auf. Die Hitze, die ihm entgegenschlug, raubte ihm den Atem. Gelblicher Dampf kroch ihm auf Augenhöhe entgegen und seine Brillengläser beschlugen. Dennoch trat er ein, die Brille kurzerhand abnehmend. Die Kammer war gerade so groß, dass vier Menschen darin Platz hätten, ohne aneinander zu stoßen. Eine steinerne Bank diente als Sitzgelegenheit, und der Dampf fauchte regelmäßig durch schmale Ritzen im Boden. Es war stickig und heiß wie in einer Sauna – und vielleicht sollte es genau das darstellen. Als er vorsichtig einen weiteren Schritt tat, stieß er mit dem Fuß gegen etwas Weiches. Durch den Nebel sah er ein Mädchen reglos am Boden liegen, verrenkt und kreideweiß. Blonde, verfilzte Locken rahmten ihr Gesicht ein, ihr kostbares Gewand war zerfetzt und ihr ganzer Körper mit Wunden übersät, tiefer und gröber noch als Tais. „Nein!“ Mit einem Aufschrei ging Ken in die Knie. Er meinte sie sogar zu erkennen – manche der internationalen DigiRitter hatten nach Myotismons Fall E-Mail-Kontakt aufrechterhalten oder sich, als Soziale Netzwerke aufgekommen waren, darin unterhalten und Bilder ausgetauscht. Ken vermutete, dass er das Mädchen vor sich hatte, das Tai und T.K. in Frankreich getroffen hatten – zu Letzterem hatte sie eine Weile regen Kontakt gehabt. Wie war ihr Name noch gleich? Katrina? Catherine? Die Haut des Mädchens war feucht und überraschend kalt, aber sie regte sich nicht, als Ken sie schüttelte. Das Blut rauschte in seinen Schläfen, als er auf ihren Atem lauschte, aber weder drang Luft aus ihrer Nase, noch hob oder senkte sich ihr Brustkorb. Sie hatte die Augen geschlossen, das Gesicht war wie Wachs. Mit zitternden Fingern tastete Ken nach ihrem Handgelenk und hoffte, einen Puls zu spüren. Nichts. Sein eigenes Herz jagte, er riss sich die Handschuhe herunter und tastete erneut. Immer noch kein Puls. Ken stieß einen wortlosen Wutschrei aus und raufte sich die Haare. Verdammt, das Mädchen war tot! Deemons teuflisches Spiel hatte ihr das Leben geraubt, ohne ihr die Chance zu geben, es zu verteidigen! Als sein Hals schmerzte, verfiel er in ein tonloses Schluchzen. Alle Kraft war aus ihm gewichen, als er zu Boden sank. Catherine war tot. Er war zu spät gekommen. Und sie würde nicht wiedergeboren werden. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit unbändiger Wut. Er würde das nicht akzeptieren! Er wollte das einfach nicht wahrhaben! Wenn sie nicht wiedergeboren werden konnte, würde er sie selbst wieder ins Leben zurückholen! In der Realen Welt, wo der Tod etwas Endgültiges war, kämpfte man mit einem Eifer ums Leben, den viele Digimon vielleicht gar nicht verstanden! Zornig über seine eigene Ohnmacht zog Ken Catherine an den Knöcheln aus der dampfumwaberten Höllenkammer. Im Vergleich zu drinnen war es hier fröstelnd kalt. Er kniete sich über sie, riss ihr die letzten Reste ihres Kleides von der Brust, verschränkte die Finger ineinander und presste die Hände mit aller Kraft auf ihren Brustkorb, wieder und wieder, schneller und schneller. Ihr Körper war noch nicht starr, vielleicht gab es noch Hoffnung ... Ken zwang sich, mitzuzählen. Als er bei zwanzig war, schob er ihr Kinn zurück und beatmete sie, einmal, zweimal, ehe er mit der Herzdruckmassage weitermachte. Nach nur wenigen Sekunden war ihm so heiß, dass ihn schwindelte. Schwer keuchend ließ er es zu, dass ihm bald die Haare im Gesicht und der Anzug auf der Haut klebten. Doch sooft er Catherine auch beatmete, sie gab kein Lebenszeichen von sich. „Ihr scheint Probleme zu haben.“ Im ersten Moment glaubte Ken, Deemons Stimme zu hören, aber als er MetallPhantomon sah, das durch die Decke schwebte, erstarrte er kurz. Weinte er? Nein, sein Gesicht war vor Schweiß nass. Er bemühte sich um einen grimmigen Ausdruck und machte weiter. „Was tut Ihr da?“ Das Geistdigimon, das er zum neuen König des Düsterschlosses gemacht hatte, legte misstrauisch den Kopf schief. „Ihr als Digimon versteht das nicht. Ich hauche ihr wieder Leben ein“, brachte Ken ächzend hervor. Nur nicht aufhören, keine Sekunde aufhören, nicht aus dem Takt fallen ... Vielleicht fand MetallPhantomon es ja beeindruckend, wenn er von Wiederbelebung sprach. „Und wozu?“, knarzte die hässliche Stimme. „Habt Ihr überhaupt eine Ahnung, wer das ist?“, keuchte Ken. Die Hitze setzte ihm schwer zu, aber der Adrenalinschock ließ seinen Verstand zu Hochformen auflaufen. „Das ist eine hohe Adelige von der Brennenden Küste, mit Verbindungen zur Wissens-Armee! Wenn wir sie lebend hätten, könnten wir sie als Druckmittel einsetzen!“ Er unterbrach sich und hauchte Catherine erneut seinen Atem ein. Es war hoffnungslos. „Sie würde uns eine Menge Vorteile in diesem Krieg bringen, und Eure alte Königin hat sie so behandelt!“ Seine Stimme wurde immer lauter, je mehr seine Kräfte schwanden. Trotz allem war er plötzlich über die Maßen zornig auf Sora, und diesmal hoffte er, dass dieses Gefühl seinem begrabenen Selbst entsprang. MetallPhantomon schwieg, aber er sah nicht in seine Richtung. Es brachte nichts. Ihr Herz mochte erst vor kurzem aufgehört haben zu schlagen, aber er konnte sie nicht ins Leben zurückholen. Ken wünschte sich, dass alles nur ein böser Traum wäre, oder zumindest eine Illusion – dass er tatsächlich in der Realen Welt war und ein Sanitäterteam unterwegs sein würde, mit Medikamenten und reinem Sauerstoff und Defibrillator und sonstwas ... Ein Defibrillator. Ken fuhr zu MetallPhantomon herum. „Ihr könnt Strom erzeugen, richtig?“ „Was ist das für eine Frage?“, schnaubte das Digimon. „Könnt Ihr Spannung und Stromstärke kontrollieren? Dann brauche ich Euch. Helft mir, diesen Menschen zurückzuholen, und es soll Euer Schaden nicht sein. Ich würde sie nur ungern hier verrotten lassen.“ Er war selbst erschrocken, wie gefühlskalt er darüber sprechen konnte, doch all seine Gedanken kreisten im Moment um das Leben dieses bleichen Mädchens. „Und warum sollte ich Euch helfen?“, schnarrte MetallPhantomon. „Ich habe mit diesen Wissens-Leuten nichts zu tun.“ „Wie kann man so dumm sein? Soll ich Euch nicht doch gleich ebenfalls absetzen? Die Wissens-Armee sind meine Feinde, wie der Löwenkönig auch! Es würde mich nicht wundern, wenn sie sich längst verbündet hätten. Auch Euer Königreich wäre in Gefahr, wenn sie ihre Kräfte vereinen, begreift Ihr nicht?“ MetallPhantomon dachte nach, zur Hölle, warum dachte es so lange nach? Es ging um jede Sekunde! „Die Hälfte des Lösegeldes“, verlangte es. „Aber in Form von etwas Nützlichem. Ich lasse Euch ausrichten, was ich brauche.“ „Einverstanden. Wenn ich das Mädchen auf andere Weise nutze, bekommt ihr etwas Entsprechendes. Kommt her.“ Gehorsam schwebte MetallPhantomon näher. Ken hatte nicht mehr viel Hoffnung, und seine Arme und Schultern schmerzten entsetzlich, aber er würde nicht aufgeben. Alles würde er ausprobieren, alles, was ihm einfiel! Angestrengt dachte er darüber nach, was er über Defibrillatoren wusste. Sie würden nur Erfolg haben, wenn Catherines Herz noch irgendwelche krampfenden Bewegungen machte, aber die konnte er weder untersuchen, noch war das jetzt von Belang. „Lasst den Strom von hier nach hier fließen“, sagte er und deutete auf ihre rechte Schulter und dann auf ihre linke Seite. „Durch ihren Körper. Ganz kurz. Sobald ich das Signal gebe. Viertausend Volt und fünfzig Ampere. Könnt Ihr das einrichten?“ „Aber ja“, murrte MetallPhantomon, und Ken hoffte, dass es in etwa eine Vorstellung davon hatte, was Volt und Ampere waren. Und dass ein kleiner Fehler nicht gleich fatale Auswirkungen hatte. Er pumpte noch kurz weiter und riss dann die Hände fort. „Jetzt!“ Die Blitze, der aus MetallPhantomons Kugel zuckten, waren rot und schmal. Es legte die Hände dort auf, wo Ken es angewiesen hatte, und Catherines Körper bäumte sich auf. „Warten!“, befahl Ken und begann wieder mit der Herzdruckmassage. Nach einem erneuten Beatmungsversuch nickte er MetallPhantomon wieder zu, da er völlig außer Atem war. Ein neuer Schock, ein neues Aufbäumen. Und plötzlich verließ ein Röcheln Catherines Kehle. „Aufhören!“, rief Ken MetallPhantomon zu, das bereits fertig war. Er stürzte zu dem Mädchen, tastete nach dem Puls – und diesmal fühlte er tatsächlich etwas. Grenzenlose Erleichterung durchströmte ihn. Das war zu schön, um wahr zu sein! Mehr als zuvor kam es ihm wie ein Traum vor. Glückstränen fanden nun doch den Weg seine Wangen hinab, aber er störte sich nicht an MetallPhantomons Entgeisterung. Sollte es ihn für verrückt halten, umso besser. Jetzt durfte er keinen Fehler machen, um den winzigen Lebensfunken nicht gleich wieder zu ersticken. Catherine atmete wieder selbstständig, wenn auch sehr flach. Er überlegte, ihrem Herz noch Unterstützung zu leisten, indem er dagegen presste, wenn es sich anschickte zu schlagen, aber das wagte er dann nicht. „Ihr könnt gehen“, sagte er zu MetallPhantomon. Es blieb. Hoffentlich war es nun nicht zu misstrauisch ... aber das war ihm fast egal. Vorsichtig brachte er Catherine in die stabile Seitenlage, wie er es in einem Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte, der viel zu lange zurücklag. Sie atmete weiter, und als er alle paar Sekunden ängstlich ihren Puls fühlte, schlug ihr Herz immer noch. War sie über den Berg? Vermutlich nicht. Sie brauchte so schnell wie möglich irgendwelche ärztliche Hilfe. So behutsam wie möglich hievte er sie in die Höhe. Sie war so sehr abgemagert, dass es ihm nicht schwer fiel, sie in den Armen die Treppe hinauf zu tragen. MetallPhantomons glühender Blick folgte ihm stumm. „Wir brechen sofort auf, Taomon“, rief er in die Folterkammer hinein. Sein Leibwächter brachte Tai und Sora mit sich, Tai hatte wieder das Bewusstsein verloren. Drei Menschen, und alle bewusstlos. Das ist ein großes Problem. Agumon ging auf zwei Beinen, wenn auch wankend, aber seine Augen waren weit aufgerissen, seine Pranken gefesselt und das Maul geknebelt. Ken würde Taomon beizeiten fragen, was geschehen war. Die Kämpfe hatten noch nicht aufgehört, als sie den Innenhof erreichten. Seine Dokugumon liefen geschäftig von Zinne zu Zinne, und in regelmäßigen Abständen flackerten von jenseits der Mauer die Feuerstöße der feindlichen Tyrannomon. Taomon pfiff auf zwei Fingern, und nur wenig später landete Kens Airdramon. Kens Gedanken drehten sich im Kreis. Wenn sie die Dokugumon hier ließen, hätten er, Taomon, Sora, Tai und Catherine zwar Platz auf dem Digimon, aber wie sie sich festhalten sollten, war eine andere Sache. „Ihr habt es plötzlich sehr eilig“, schnarrte MetallPhantomon, das durch den Boden schwebte. Die Enden seiner Sense zuckten, und das beunruhigte Ken. „Wir haben auch keine Zeit zu verlieren. Das Mädchen braucht richtige Behandlung. Sollte sie sterben, ist sie wertlos.“ „Ich habe das Gefühl, dass Ihr mich betrügt, DigimonKaiser“, stellte MetallPhantomon fest und Ken überlief ein Schauer. „Für wen haltet Ihr mich?“, fragte er und klang richtig gereizt. „Ihr werdet das Mädchen der Wissens-Armee zurückverkaufen, und mir werdet Ihr erzählen, sie sei gestorben. Ihr wollt meinen Anteil an Lösegeld sparen.“ Ken war trotz der Umstände erleichtert. Für einen Moment hatte er gedacht, MetallPhantomon hätte gemerkt, dass er nicht der kalte Bösewicht war, als der er sich ausgab. Vielleicht spielte er seine Rolle sogar zu überzeugend … „Da müsst Ihr mir wohl oder übel vertrauen. Ich bin vieles, aber kein Wortbrecher.“ „Nein. Nein, muss ich nicht. Lasst mir einen anderen hier, zur Absicherung. Ihr könnt ihn abholen, wenn Ihr mir meinen Anteil bringt.“ Ken blieb nichts anderes übrig, als das Gespräch im Kreis zu drehen. In Wahrheit packte ihn die kalte Angst, wenn er an Catherines Zustand dachte. „Das kommt nicht infrage. Ich muss ein Ultimatum stellen, und es kann dauern, bis ich alles erhalten habe. Wenn Ihr stümperhaft Euer neues Reich regiert, fallen meine Gefangenen dem Löwen in die Hände. Ihr könnt stattdessen meine Dokugumon behalten. Die bringen Euch in Eurer Lage weit mehr, mir aber nutzen sie nicht mehr viel.“ „Hm.“ Das Geistdigimon ließ sich das durch den Kopf gehen. Ken fragte sich, ob er sein Glück nicht schon überstrapaziert hatte. „Aber wenn Ihr sie nicht braucht, werdet Ihr sie auch kaum holen kommen.“ „Nein. Seht es als Zeichen meines guten Willens, dass ich Euch unterstütze. Reicht das?“, fragte er barsch. MetallPhantomon sah ihn nur durchdringend an, und er seufzte. „Ich bin es müde, mit Euch zu verhandeln. Ich lasse Euch einen Schuldschein ausstellen.“ „Was für ein Schuldschein?“ Ken gab Taomon ein Zeichen. Es lud Tai und Sora vorsichtig ab und begann mit einem wesentlich kleineren Pinsel als seinem üblichen einen weißen Zettel zu beschriften. Verdammt, wir müssen endlich von hier weg! Irgendwo brüllten Digimon – oder war es ein Jubelgebrüll? Noch hatte niemand die Mauern gestürmt. „Dieses Papier garantiert, dass das Kaiserreich Euch in zwei Monaten hunderttausend Dollar zukommen lassen wird. Wenn ich auf dem Papier lüge, verlieren alle meine Verbündeten ihr Vertrauen in mich. Hunderttausend ist sogar mehr als die Hälfte von dem, was ich zu bekommen hoffe. Mit dem Geld könnt Ihr in meinem Reich nach Belieben einkaufen, und wenn Ihr wünscht, liefere ich Euch stattdessen persönlich etwas anderes. Für mich macht es keinen Unterschied. Ist Euch das Absicherung genug?“ MetallPhantomon sagte wieder nichts dazu, aber es nahm den Schuldschein entgegen. In diesem Moment krachte etwas ganz in der Nähe, dann noch etwas, und Ken war sich sicher, kurz zuvor einen blauen Blitz gesehen zu haben. Ein Schwall Datenreste fegte wie eine Welle über die Mauer, und mit einem riesigen Satz landete ein Digimon auf dem Wehrgang, das Ken zu seinem Leidwesen sofort erkannte. Raidramon, und Davis auf seinem Rücken, der etwas schrie, das im jubelnden Röhren der Dinosaurierdigimon unterging, die den Fuß des Schlosses angriffen. Ken fluchte innerlich, resigniert. Sein bester Freund war das Letzte, das er jetzt gebrauchen konnte.     Die Digimon stießen lauten Jubel aus, als Davis auf Raidramon über Berghänge und durch Unterholz geprescht kam und mit ein paar gewaltigen Sprüngen auf den Zinnen des Schlosses landete. Davis war nicht der Einzige, der von Veemons neuer Form begeistert war. Seine Gefolgsdigimon kämpften nun noch erbitterter gegen die Bakemon, Dokugumon und sogar die Phantomon, die sich ihnen entgegen warfen. Mehr als Ablenkung brachte der Angriff allerdings nicht; die Tyrannomon und Monochromon kamen wohl kaum in das Bauwerk, da es keinen offensichtlichen ebenerdigen Eingang gab. Davis sah sich gehetzt um. Er musste so schnell wie möglich in dieses verdammte Schloss und Taichi finden! „In dem Wehrturm dort drüben gibt es vielleicht eine Treppe!“, rief er Raidramon zu, und sein Partner bewegte sich, ohne dass er ihm die Sporen hätte geben müssen. Seine Krallen kratzten über den steinernen Wehrgang, und schon nach zwei Schritten wurde es von einem Phantomon bedrängt, das seine Sense durch die Luft sausen ließ. Doch Raidramon war schnell wie der Wind und wendig wie ein Blitz. Der vermummte Geist wurde allein vom Luftzug fortgeweht, die Sense kam nicht einmal in Davis‘ Nähe. Als Nächstes griffen zwei Bakemon von vorne an. Davis duckte sich, und aus der Klinge in Raidramons Stirn zuckte ein Blitz, der sie entzwei schlug und in Datenwolken verpuffen ließ. Sie hatten den Turm fast erreicht, als Raidramon grollte: „Davis, sieh mal, dort unten!“ Schlitternd blieb es stehen und Davis reckte den Hals. Er hatte bisher noch nicht in den Schlosshof gesehen – aber nun überlief es ihn eiskalt. Ein Airdramon stieg mit energisch schlagenden Flügeln von dort auf, und auf seinem knöchernen Kopf stand der DigimonKaiser. Als sie auf einer Höhe waren, begegneten sich ihre Blicke. Der Tyrann trug seine Brille, aber Davis meinte dahinter etwas aufblitzen zu sehen. Den nachtblauen Umhang hatte er abgenommen, und eine Gestalt lag, völlig darin eingewickelt, neben ihn. Mit einer Hand hielt der Kaiser das Bündel fest, die andere umklammerte das Horn seines Flugdigimons. „Du!“, schrie Davis ihm entgegen. Das Airdramon wendete und flog knapp über den Zinnen davon Richtung Süden. „Hinterher!“ Raidramon stürmte los, noch ehe er den Befehl dazu geben konnte. Der DigimonKaiser hatte ihn angelogen! Wie hatte er nur so dumm sein können? Er hatte Taichi in seine Gewalt gebracht, kaum dass Davis für Verwirrung gesorgt hatte, indem er die Höhle besiegt hatte. „Zieht euch zurück!“, schrie er seinen Digimon zu. „Wir treffen uns im Lager!“ Es hatte keinen Sinn mehr, das Schloss zu belagern, wenn das Ziel eben davonflog. Die Schwarze Königin war wohl noch irgendwo dort, aber an sie kamen sie wohl ohnehin nicht heran. Mit rauschenden Schwingen flog das Airdramon über den kleinen Wald und dann zwischen den hochaufragenden Berghängen. Raidramons Pranken donnerten auf den Stein, dann stieß es sich von den Zinnen ab. Davis kniff die Augen zusammen und klammerte sich an den Schultern seines Partners fest. Mit einem brutalen Ruck landete Raidramon vor dem Schloss und nahm die Verfolgung auf. Äste und Zweige peitschten und kratzten über Davis‘ Gesicht, als es durch das Unterholz brach. Dann tat sich ein Tal vor ihnen auf. Airdramon flog wenige Meter über ihnen, aber sie holten rasch auf. Raidramon war mindestens so schnell wie das Drachendigimon. Mit gewaltigen Sprüngen setzte es von Berghang zu Berghang, fand auf rutschenden Felsen Halt und arbeitete sich immer höher. „Schneller!“, brüllte Davis, bis sein Hals heiser schmerzte. „Schneller, Raidramon!“ Das Airdramon kam näher, schon konnte er die bläuliche Haarmähne des DigimonKaisers im Wind wehen sehen. Es war ein Fehler gewesen, ihm zu vertrauen. Er würde ihm Taichi nicht überlassen! Airdramon musste immer wieder scharfen Felskanten ausweichen, die Raidramon hingegen als Trittbretter nutzte. Der Drache flog in halsbrecherischem Tempo und der Kaiser hatte sich auf seinem Kopf geduckt und hielt seinen Gefangenen fest umklammert. Mit einem einstimmigen Schrei erreichten Davis und Raidramon dieselbe Höhe und rannten auf einem schmalen Bergpfad neben ihnen her. „Bleib hier, du Feigling!“, schrie Davis, aber der Wind trug seine Worte davon. „Du hast mich belogen! Du hast gesagt, du würdest im Süden bei deinen Türmen bleiben!“ Raidramons Horn blitzte elektrisch, aber es wusste so gut wie Davis, dass es den DigimonKaiser nicht angreifen durfte. Das armselige Bündel, das Taichi war, lag viel zu nahe bei ihm. Wenn sie auch nur abstürzten, würde der Drachenritter das nicht überleben. Airdramon kannte keine Hemmungen. Es wandte fauchend den Kopf, und ein Schwall violetter Flammen wehte Raidramon entgegen. Sie versuchten auszuweichen, aber der Angriff streifte sie und brachte sie ins Taumeln. Davis schrie auf, als er den Abgrund plötzlich direkt neben sich sah, dann sprang Raidramon von seiner unglücklichen Schräglage auf den gegenüberliegenden Berghang, landete dort so hart, dass Davis‘ Zähne schmerzhaft klapperten, und setzte noch ein paar Meter tiefer, von wo es wieder das Tal entlang preschte. Das Flugungeheuer und der Kaiser hatten nun wieder einen beträchtlichen Vorsprung, aber Davis war schwindelig von diesem Beinahe-Absturz, und er begriff, wie gefährlich diese Jagd war. Dennoch durfte er nicht aufgeben. „Wir müssen sie erwischen, bevor sie das Gebirge verlassen!“, rief er seinem Digimon zu. Auf offenem Gelände konnte das fliegende Digimon allzu leicht entkommen. Raidramon knurrte etwas Zustimmendes und erklomm wieder im Sturmschritt die Felsen. Vor ihnen erblickte Davis das Ende des Tals, eine grün angehauchte Senke, in der wieder Wald auf sie wartete und dahinter kleinere Hügel. Sie hatten die Nadelberge fast hinter sich gebracht. Endlich, nach einer zähen Ewigkeit, erreichte Raidramon den fliehenden Kaiser wieder, der sich mit zusammengebissenen Zähnen nach ihnen umsah. Diesmal gab Davis‘ Partner seinem Feind keine Gelegenheit mehr, anzugreifen. „Halt dich gut fest, Davis!“ Kaum dass sie auf einer Höhe waren, sprang es auf den schlangengleichen Leib des Drachen und schlug fest die Krallen in dessen schuppigen Körper, knapp über den Flügeln sodass Airdramon schmerzerfüllt aufröhrte. Der DigimonKaiser und Taichi waren fast in greifbarer Nähe … Der Tyrann rief ihm irgendetwas entgegen, das er nicht verstand, wankte über den Kopf seines Flugdigimons und begann trotz der schwindelnden Höhe und dem rauschenden Flugwind auf Raidramon einzutreten. Davis warf sich nach vorn, um ihn zu packen und ihm die Seele aus dem Leib zu prügeln. Die Hand des DigimonKaisers glitt in seine Hosentasche und er warf Davis irgendetwas entgegen, das wie schwarzer Staub aussah. Für einen Moment war er geblendet, und er spürte harte Körner in seinem Mund. Als er an seinen Tränen vorbei blinzelte, sah er gerade noch, wie das Airdramon sich in der Luft aufbäumte. Der DigimonKaiser taumelte zurück, umklammerte das knöcherne Horn – und das Drachendigimon warf sich selbst seitlich gegen die Felswand. Raidramon brüllte auf und Davis spürte scharfe Felszacken und losgerissene Steine über seine Haut kratzen. Ein heftiger, schmerzhafter Stoß zuckte durch seine Wirbelsäule und er schlug sich den Kopf, schmeckte Blut auf der Zunge. Das felsige Krachen hörte er erst später. Sie fielen. Das Airdramon, der DigimonKaiser und sein gefangener Freund wurden immer kleiner, ebenso die vom Abend orange gefärbten Wolken und der helle Himmel. Davis hörte den Schrei des DigimonKaisers in den Ohren klingeln, der wohl nur ein Schrei des Triumphs sein konnte. Er schloss die Augen … und Raidramon drehte sich in der Luft wie eine Katze und landete auf allen Vieren. Davis prallte mit der Nase gegen den gepanzerten Hals seines Freundes und sah bunte Flecken vor seinen Augen tanzen. Raidramon schüttelte sich und jagte weiter. Sein Durchhaltevermögen war unglaublich. Davis wurde auf seinem Rücken durchgeschüttelt wie eine Puppe. Er fühlte sich so benommen, dass er sich kaum aufrecht halten konnte. Kurz wurde es dunkler, und wieder peitschte ihm dunkles Grün entgegen. Sie hatten das Tal und die Berghänge hinter sich gelassen. Nur Minuten später endete auch der Wald in einer grasbewachsenen Ebene. Hoch über ihnen flog der DigimonKaiser, unerreichbar, es sei denn, sie würden ihn mit Blitzen angreifen, und das wagte Raidramon nicht. Schließlich, als sich Davis‘ Kopf wieder klärte, endete die Jagd. Ein spiegelglatter, breiter See tat sich vor ihnen auf, die Sonne feurig rot im Abendlicht auf der Oberfläche glitzernd. Airdramon flog geradeaus weiter, hin nach Süden, hinein ins Hoheitsgebiet des DigimonKaisers, hinein in die größte Kriegszone der DigiWelt. Raidramon blieb an seinem Ufer stehen. Den See zu umrunden würde zu viel Zeit kosten. Sie würden das Airdramon verlieren … Sie hatten es längst verloren. Es und den DigimonKaiser. Und Taichi. Davis fiel mehr von Raidramons Rücken, als dass er abstieg. Während sein Freund zurückdigitierte, stieß er einen rauen Wutschrei aus und stieß die Faust in den weichen Boden.     Die Dämmerung senkte sich über das Düsterschloss und die Schatten, die sie brachte, erinnerten daran, warum es diesen Namen trug. „Sie sind weg“, stellte MetallPhantomon schnarrend fest. „Diese Feiglinge haben tatsächlich Reißaus genommen.“ Es hätte ihnen gerne eine ordentliche Lektion erteilt, aber das würde schon noch kommen. Schließlich war es nun König. „Ich hoffe, Ihr wisst, wem Ihr ihren Rückzug zu verdanken habt“, sagte Taomon, das in den Innenhof trat. MetallPhantomon wandte sich ihm unwillig zu. Es trug die beiden Menschen über den Schultern, die Königin und den jungen Mann mit dem toten Auge, und hielt das ermattete, geknebelte Agumon fest in der Hand. „Ich verstehe nicht, warum der Kaiser Euch mit denen beiden betraut und nur diese Adelige mitgenommen hat. Die hier müssen doch viel mehr wert sein als sie, oder?“, sagte der metallene Geist. „Ihr scheint die Gedanken meines Kaisers tatsächlich nicht nachvollziehen zu können. Vertraut darauf, dass er einen genialen Schachzug im Sinn hat.“ Taomon zögerte. „Ich werde mich nun auf den Weg machen. Ich habe eine Mission zu erfüllen. Kümmert Euch um alles hier, und vergesst nicht den Pakt, den Ihr mit seiner Majestät geschlossen habt.“ „Sonst nehmt Ihr mir meine Krone weg?“, fragte MetallPhantomon feindselig. „Ich tue, was immer mein Gebieter mir aufträgt“, sagte Taomon demütig, schwebte langsam in die Höhe und machte sich mit seinen Gefangenen auf den Weg nach Süden.   From the holy sea of golden flames Flies the last winged unicorn With its magic breath of innocence Rising to the crystal throne (Rhapsody Of Fire – The Last Winged Unicorn) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)