New Reign von UrrSharrador (Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]) ================================================================================ Kapitel 33: Der Herr der Träume ------------------------------- Tag 81   Ken fühlte sich ein wenig wie ein sprichwörtlicher verrückter Hund. Nicht nur, dass er in einer riskanten Täuschungsaktion Davis zu seiner Marionette gemacht hatte und sich allein durch sein Schauspieltalent MetallPhantomon, den gefürchteten General der Geisterarmee, gefügig gemacht hatte, er hatte auch noch drei DigiRitter aus Deemons Spiel befreit. Das allein war ein kleines Wunder. Und dann hatte er Davis erneut ausgetrickst, während einer halsbrecherischen Flucht, und wie nebenbei noch Catherines Leben gerettet. Wenn er sein Glück noch einmal so strapazierte, würde ihn das Pech mit ganzer Breitseite erschlagen, da war er sich sicher. Taomon war mit Tai, Agumon und Sora zurückgeblieben, damit das Airdramon schneller fliegen konnte. Ken konnte nur hoffen, dass es sich allein durchschlagen konnte. Wieder und wieder fühlte er Catherines Puls. Nur der Kopf des Mädchens ragte aus seinem Umhang, und eine einzelne Locke ihres blonden Haares tanzte im Wind. Airdramon glitt ruhig durch die Luft, trotzdem konnte Ken ihren Puls nicht fühlen. Catherines sanfter Atem wurde vom Flugwind fortgeweht. Er konnte nur hoffen, dass sie durchhielt. Er entschied sich, eine Nachricht an Nadine zu senden. „Hier ist Ken. Triff mich dort, wo wir Orangen gegessen haben. Erzähl niemandem davon, und gib auf gar keinen Fall die Koordinaten weiter! Komm selbst und bring die besten Heil-Digimon mit. Es ist ein Notfall.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, beendete er die Verbindung auf seinem Connector. Nun blieb ihm nur zu hoffen. Er hatte keinen Fehler machen wollen. Überall konnten ihn feindliche Digimon abfangen, Soldaten von König Leomon, König Takashi oder der Wissens-Armee. Es war stockdunkle Nacht, als sie den Treffpunkt erreichten: ein kleines Dorf, etwas südlich von Masla, am Rand der Kaktuswüste. Hier hatten er und Nadine kurz vor dem Angriff auf die Sklavenhalterstadt genächtigt, und sie hatten saftige Orangen von den Bäumen gepflückt. Außerhalb ihrer Reihen wusste kaum jemand davon, und selbst wenn, wäre die Information nicht wichtig genug für Izzy gewesen. Als er das einzelne Licht sah, wusste er, dass er erwartet wurde. Airdramon ging zwischen den Orangenbäumen nieder und breitete die Flügel aus. Der Drache keuchte erschöpft. Ken bedankte sich bei ihm mit knappen Worten. Die Dunkelheit teilte sich raschelnd, und Nadine kam in ihrem schwarzen Kleid angerannt. Ihr folgten etliche Cutemon, rosa Kaninchendigimon mit Heilkräften, und sein persönlicher Jijimon-Arzt. In einiger Entfernung sah er die Umrisse Ookuwamons. „Ken! Was ist geschehen? Bist du verletzt?“, rief Nadine und klang atemlos. Auf ihrem Gesicht war tiefe Sorge eingraviert. „Mir geht es gut. Aber sie braucht dringend Behandlung.“ Ken hob Catherine hoch und reichte sie den Cutemon, die zu acht eine behelfsmäßige Bahre trugen. Nadine warf einen kurzen Blick auf das ältere Mädchen, dann nickte sie knapp und wies die Cutemon an: „Kümmert euch um sie. Wir fliegen sofort zum Rosenstein.“ Airdramon blieb noch, um sich auszuruhen. Nadine hatte noch ein Kuwagamon mitgebracht, und rasch bauten sie die große Sänfte auf Ookuwamons Kopf zu einem Krankenlager um, an dem Jijimon und die Cutemon für Catherine sorgten. Ken und Nadine zogen sich in die wesentlich kleinere Sänfte auf dem zweiten Insektendigimon zurück, und sofort stiegen die beiden mit surrenden Flügeln in die Höhe. Ken fühlte sich plötzlich so ausgelaugt, als hätte er einen monatelangen Marathonlauf hinter sich. Seufzend lehnte er sich gegen die Stoffwand der Sänfte, die sich im Flugwind bauschte. „Du hast mir richtig Angst gemacht“, sagte Nadine vorwurfsvoll. „Ich dachte, ich bekomme dich vielleicht nicht mehr in einem Stück zurück.“ „Tut mir leid.“ Ken war zu müde, um mehr zu sagen. „Was ist mit deinen anderen Freunden? Du wolltest doch Sora und Tai suchen gehen, oder?“ Ihr Gesicht verschwamm vor Kens Augen. Jeder Blinzler war mühseliger als der vorherige. „Sie sind bei Taomon.“ Er hoffte inständig, dass sein Leibwächter es schaffte … immerhin musste er durch die halbe DigiWelt reisen, an den feindlichen Stellungen vorbei, um wieder zu ihm zu gelangen … Er würde endlich die Wüste erobern müssen, um ihm eine Schneise zu schaffen … Nein, er fühlte sich nicht in der Lage, solche Entscheidungen jetzt zu treffen. „Übrigens ist eine Nachricht von Zephyrmon eingetroffen, deinem General“, fuhr Nadine fort. „Sie haben Probleme. Ihr Vorankommen stagniert, und der Nachschub aus deinen Ländereien im Osten ist nicht eingetroffen. Takashis Soldaten sind die Wüste und ihre Entbehrungen gewohnt. Wenn wir Pech haben, muss Zephyrmon sich zurückziehen, und wir verlieren allen Boden, den es in den letzten Wochen gutgemacht hat.“ Sie biss die Zähne zusammen. „Und weißt du, wer dahintersteckt? Gerüchte gehen um von einem RiseGreymon, das in der Großen Ebene die Nachschublinien überfällt. Das heißt, es sind meine Truppen die die Probleme verursachen. Ich werde mich selbst darum kümmern, versprochen. Und ich schicke von der Felsenklaue aus Vorräte zur Front.“ Ken hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Er nickte noch schwach, dann war er wohl für Sekunden eingeschlafen, denn plötzlich saß Nadine neben ihn und hielt ihn fest, damit er nicht von der Sitzbank fiel. „Hey, alles okay?“, murmelte sie. „Bin nur … müde.“ Sein Kopf sank wie von selbst gegen ihre Schulter.   Tai öffnete den Mund, aber kein Ton verließ ihn. Er starrte ihn an, hasserfüllt, vorwurfsvoll, dann, plötzlich, erbebte eines seiner Augen, quoll aus der Höhle und tropfte weiß und rot und schleimig zu Boden. „Ken …“, röchelte er. „Das ist deine Schuld …“ Sein Gesicht verschwand im Schatten, sodass nur die leere Augenhöhle ihm entgegenklaffte. Ken schrak mit einem Ruck hoch. Er war eingeschlafen … Feuchte Hitze kroch über seine Wangen. Die Höllenkammer? Nein … Warmes Wasser schwemmte die Gänsehaut fort, die sich als Nachbote des Traums auf seiner Haut bilden wollte. Süßer Duft drang in seine Nase, und die Helligkeit, reflektiert von sandfarbenen Fliesen, holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er war auf dem Rosenstein, in Nadines Palast. Man hatte ihm ein heißes Bad bereitet, damit er sich erholen konnte, richtig, doch die Wärme hatte ihn wieder schläfrig gemacht. Draußen war es immer noch stockfinster, aber der Raum war hell und warm erleuchtet und verhieß nichts als Entspannung. Eine Weile sah er dem Dampf zu, wie er durch die Luft waberte. Er dachte an Tai. Catherines Beinahe-Tod hatte ihn von seinem Freund abgelenkt. Sein Auge ist ausgestochen … Wie konnten sie nur … Seine Gedanken wurden immer düsterer, als jemand an die Tür pochte und Nadine ihren Kopf hereinsteckte. „Störe ich?“ „Äh, nein, komm ruhig herein.“ Auch heute war der Dampf wieder sehr dicht und viele schwarze Blütenblätter trieben auf der Wasseroberfläche. Außerdem war das Wasser durch die vielen Badesalze und Kräuter trübe … und überhaupt hatte Ken im Moment andere Probleme, als sich darüber Gedanken zu machen. Nadine zog die Tür hinter sich zu, stand eine Weile verloren in dem Raum, ohne ihn anzusehen, und ließ sich dann auf dem Hocker vor dem Fenster nieder. „Du machst dir bestimmt Sorgen“, murmelte sie. Auch er starrte nur ins Leere und beschloss nach einer schweigsamen Weile, das auszusprechen, was ihm am schwersten auf der Seele lag. „Ich habe Tai im Kerker gefunden. Als ich ihn befreit habe, da … Sie haben ihm das Auge ausgestochen, Nadine, das Auge! Ein Auge, das ist …“ Er brach ab, kraftlos, zu mutlos, um weiterzusprechen. „Furchtbar“, murmelte sie. „Es war eine Qual, ihn anzusehen“, sagte Ken düster. „Tai war der Anführer der Älteren, hast du das gewusst? Er war immer voller Tatendrang, hat immer sein Bestes für andere gegeben … Und da hing er, in diesem Käfig im Kerker, blutend, mit nur einem Auge …“ Er merkte, wie aus seinen eigenen Augen Tränen strömten. Ein Kloß schmerzte in seiner Kehle. „Tut mir leid“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Du hast dir auch Sorgen um mich gemacht. Tai lebt, und Catherine geht es besser. Ich sollte nur daran denken. Aber ich kann nicht.“ „Das ist nur verständlich“, sagte sie besänftigend. „Wenn du reden willst, ich höre dir zu. Sooft du willst.“ Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Salziges Badewasser brannte nun darin, aber es vertrieb die Weinerlichkeit. „Sora war auch bewusstlos. Ich habe gesagt, ich hätte sie gerettet, aber ich weiß gar nichts. Ich weiß nicht, ob sie in Sicherheit sind, ich weiß nicht, ob sie noch leben, ich weiß nicht, ob sie je wieder lachen können … Deemons Spiel wird von Tag zu Tag grausamer. Obwohl wir auf der Siegerstraße sind, liegt alles um uns herum in Trümmern.“ Eine Weile schwiegen sie beide, wie zwei Statuen, stumm in verschiedene Richtungen blickend. Das Wasser wurde kühler, der Rosenduft schwächer, Kens Gedanken wieder klarer. „Wenn das Spiel vorbei ist“, begann er dann wieder, „meinst du, alles wird wieder wie früher?“ Er stellte die Frage, obwohl er die Antwort schon kannte. Tai würde nicht einfach wieder sein Auge ersetzt bekommen. Und wer auch immer von ihnen in der DigiWelt starb, war für alle Ewigkeit tot. „Vielleicht.“ Auch Nadine klang halbherzig. Wieder Schweigen. Der Dampf lichtete sich ein wenig, und Ken meinte zu erkennen, wie die Dunkelheit vor dem Fenster heller wurde. „Sag mal“, sagte Nadine und räusperte sich. „Weil du es schon angesprochen hast … Wenn das Spiel erst vorbei ist, also wenn wir Deemon besiegt haben … dann möchte ich dich meinen Eltern vorstellen.“ Sie sagte es so plötzlich, dass Ken stutzte und einen Moment brauchte, um zu begreifen, was sie sagte. Für einen Moment war ihm sogar entfallen, dass sie beide eine Familie hatten, die außerhalb dieses verrückten Spiels auf sie wartete. „Wenn dich das nicht stört“, fügte Nadine schnell hinzu. Sie wich seinem Blick immer noch aus, hielt aber nun den Kopf gesenkt und betrachtete ihre Zehenspitzen. „Und … ich würde auch gern deine Eltern kennen lernen.“ Erst nach und nach verstand er die Tragweite ihres Vorschlags. Ihn ihren Eltern vorstellen … das klang so sehr nach … Obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war, musste er plötzlich lächeln. „Wir regieren unser Reich Seite an Seite, und ich weiß trotzdem kaum etwas über sich. Was du privat machst, und so. Bist du schon an der Oberschule?“ Sie nickte und sah ihn nun endlich an. „Ja, in der zweiten Klasse. In Odaiba. Und danach soll ich auf die Uni. Meine Eltern erwarten eine Top-Schülerin. Ich … Ich bin längst nicht mehr so klug wie damals, als ich unter dem Einfluss der Saat stand, aber ich bin gut genug, um nicht meine ganze Freizeit mit Nachhilfestunden zu verplempern. Wenn du Lust hast, könnten wir an Wochenenden was unternehmen – oder auch unter der Woche, je nachdem.“ Sie interpretierte sein Schweigen falsch und hob abwehrend die Hände. „Wir müssen natürlich nicht, wenn du nicht willst. War nur ein Vorschlag. Kino, oder Karaoke, so unter Freunden eben. Wir können auch noch jemanden mitnehmen, wenn du willst, oder eben zu zweit gehen. Das soll nicht heißen, dass …“ Sie seufzte. „Meine Stammelei ist nicht sehr königlich, was?“ Er lächelte schmal. „Ungefähr so königlich wie ich, als du mich zu meinem ersten Bad hier überredet hast.“ Sie lachte leise und seufzte dann tief, spielte mit den Ärmeln ihres Kleides. „Weißt du, ich fände es nur schade, wenn es enden würde, sobald wir das Spiel gewonnen haben. Wenn danach zwischen uns nichts mehr wäre.“ Diesmal versuchte sie nicht, die Bedeutung ihrer Worte zu verschleiern. „Wir sind danach vielleicht nicht mehr dieselben“, warf Ken ein. „Und wennschon. Wir stehen das gemeinsam durch und sind wieder frei. Frei genug, um uns selbst zu treffen – ohne über das Schicksal zweier Reiche philosophieren zu müssen.“ Ken erforschte sein Innerstes. Es lag in Scherben, war rau und hatte spitze Kanten neben bereits abgestumpften, aber er wusste, dass er das, was er nun sagte, wirklich empfand. „Ich würde das wirklich gern tun. Ich würde dich wirklich gern näher kennen lernen, ganz normal mit dir Spaß haben und … und mit dir ausgehen. Aber wir sollten jetzt nicht darüber sprechen. Das Spiel ist noch lange nicht vorbei, und wenn einem von uns etwas zustößt … Es wäre einfach zu traurig, uns jetzt Hoffnungen zu machen.“ „Das ist nicht wahr!“, begehrte sie auf. „Mit dir darüber so zu reden, das ist … Du glaubst es vielleicht nicht, aber ich habe auch eine Menge durchgemacht. Die ewigen Rechtsprechungen, das Leid des Krieges. Die ständige Angst um dich, weil du einfach nicht stillsitzen willst. Es tut gut, eine gemeinsame Zukunft zu planen, zumindest geht es mir so. Und wenn wir etwas haben, auf das wir uns freuen können, dann können wir noch erbitterter darum kämpfen!“ Ken wünschte sich, er könnte ihr zustimmen. Aber die Geschehnisse der letzten Wochen hatten ihm schwer zugesetzt. Vielleicht würde er nie wieder derselbe sein … Als Nadine nach einer Weile aufstand und zur Tür eilte, als wollte sie dringend fort von hier, gab er sich einen Ruck. „Ich will auch nicht, dass es einfach endet“, gestand er. „Was danach kommt, werden wir sehen.“ Nadine verharrte kurz in der Tür, ehe sie verschwand und sie leise hinter sich schloss. Tag 85   Die Berge wurden nicht weniger, aber sie wurden zumindest flacher. Das Ende der Nadelberge kam allmählich in Reichweite, nur wusste Tai nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Tagein, tagaus marschierten sie. Taomon ließ ihnen zwar mehr Rast, als notwendig gewesen wäre, und auf jeden Fall mehr Rast, als es selbst gebraucht hätte, aber wenn sie gingen, dann gingen sie stramm. Sobald die Sonne unterging, hielten sie an, und alle drei Gefangenen brauchten diese Schonzeit auch. Sie entzündeten nur ein Feuer, wenn sie in einer Höhle oder Felsnische nächtigten, und Tai hatte ihren Aufpasser noch nie schlafen gesehen. Das Fuchsdigimon in der weiten Kleidung hatte ihre Fesseln gelöst, aber das bewies wohl nur, wie überlegen es sich glaubte. Agumon trottete neben ihm und der Schwarzen Königin her, seine Schwellungen klangen allmählich ab. „Wir bleiben nicht lange deine Gefangenen“, hatte Tai zu Taomon gesagt, gar nicht lange, nachdem der das Bewusstsein wiedererlangt und erkannt hatte, in welcher Lage sie sich befanden. „Bald kommen wir in unser Land. Wenn wir auch nur in die Nähe eines Dorfes kommen, genügt es, wenn ich schreie, dass ich der Drachenritter in Gefangenschaft bin, und dann hast du mehr Digimon am Hals, als du dir vorstellen kannst. Und Agumons Flamme kann gut als Signal dienen.“ Vielleicht war es nicht sonderlich weise gewesen, ihm das zu verraten, aber Tai hielt das duckmäuserische Schweigen nicht mehr aus. Taomon hatte eben seine Verbände erneuert, auf die es scheußlich brennende Kräuter gestrichen hatte, und war vor ihm auf ein Knie gegangen, damit sie auf einer Höhe waren. „Ich habe vom Kaiser die Erlaubnis, Euch oder Euer Digimon ruhig zu stellen, wenn es sein muss. Außerdem“, es knotete überraschend sanft die Enden des Verbandes an seinem Hinterkopf zusammen, „seht Ihr in diesen Kleidern und ohne Eure Drachenstaffel wenig ritterlich aus, Sir.“ Es hatte wohl recht. Sein kostbares goldschwarzes Gewand war zerrissen, dreckig und blutbesudelt, sein Cape hatte das Digimon ihm weggenommen. Taomon war außerdem schlauer als MetallPhantomon: Als er zu sich gekommen war, konnte er sein DigiVice nirgends finden. Vermutlich bewahrte Taomon das Ding irgendwo in den Falten seiner Kleidung auf. Oder der DigimonKaiser hatte es bereits mit sich genommen. Während sie wanderten, sprach auch das Mädchen, das die Königin war, ihn irgendwann an – nur hatte sie nur noch wenig Königliches an sich, gerade mal ihr Kleid, und selbst das war verhältnismäßig einfach, wenn er es mit Mimis Garderobe verglich. Mit abwechselnd besorgtem, beschämtem und gehetztem Blick sah sie sich um, als müsste sie sich jeden Steilhang und jeden Baum merken. „Du … Ihr seid ein Ritter?“, fragte sie heiser. „Ich habe mich Euch schon vorgestellt“, brummte er missmutig. Taomon ging ein paar Schritte vor ihnen, sich sicher, dass sie ihm nicht entkommen konnten, aber es schien sich nicht an ihrem Gespräch zu stören. „Oh. Tut mir leid“, sagte sie traurig. „Wieso redet Ihr so respektvoll mit mir?“ Ja, warum eigentlich? Er hatte allen Grund, sie zu hassen. „Ihr seid schließlich eine Königin, oder?“ Sie wich seinem Blick aus. „Ich fühle mich aber nicht wie eine Königin“, sagte sie leise. „Sagt einfach Sora zu mir, ja?“ Tai könnte es eigentlich nicht egaler sein, wie er sie nennen sollte. Trotzdem nickte er. „Ich bin Tai.“ „Tai.“ Ein schmales Lächeln entwich kurz ihrer finsteren Miene. Dann wurde sie umso düsterer, als sie sein Antlitz studierte. „Ich … war ich das?“ Er biss die Zähne zusammen. „Einer deiner Lakaien.“ Sie machte große, entsetzte Augen. „Nein …“ „Dieses Dracmon hat Tai das Auge ausgekratzt!“, fuhr Agumon sie an. Es schien noch wütender als Tai, dem der ständige Schmerz fast alle Empfindungen raubte. „Und du bist danebengestanden und hast nur zustimmend genickt!“ Sora schlug die Hand vor den Mund. „Das … Das ist …“ Tränen schimmerten in ihren Augen und sie wurde noch bleicher. „Du hast ja schöne Untertanen!“, fuhr Agumon zornig fort. „Und überhaupt, was machst du hier auf unschuldig?“ Matt hätte seinen Digimon-Partner vielleicht beschwichtigt. Er hätte gemeint, es wäre jetzt nicht mehr zu ändern. So schätzte Tai ihn zumindest ein. Er selbst war viel zu aufgewühlt, um Agumon zurückzuhalten. Am liebsten hätte er Sora nie wieder gesehen – doch sie steckten hier gemeinsam im Schlamassel. „Es … Es tut mir so leid …“ Sora blieb wohl nichts anderes übrig, als noch weinerlicher zu klingen. „Ich erinnere mich an viele Dinge nur schemenhaft … Ich weiß, dass ich schreckliche Sachen getan habe. Es tut mir so leid, ich wünschte … Ich wünschte, ich könnte es wieder gut machen …“ „Dafür ist es zu spät!“, sagte Agumon unbarmherzig. Es hätte noch weitergeschimpft, aber Taomon legte plötzlich den Finger auf die Schnauze und duckte sich gegen eine Felswand. Geradezu abartig brav taten sie es ihm gleich. Die Vorsicht erwies sich als weise; keine zwei Minuten später brummten einige Snimon vor ihnen über die schmale, mit grünen Pflanzen überwucherte Schlucht. Sie gehörten eindeutig nicht zum Nördlichen Königreich. Tai vermutete, dass sie Briganten waren. Schweigend ging die Reise weiter. „Was weißt du über den DigimonKaiser?“, fragte Tai Sora irgendwann. „Immerhin werden wir sicher gerade zu ihm gebracht.“ Er wusste selbst nicht genau, warum er mit dieser Frau sprach, die ihm all das hier angetan hatte, aber er schaffte es einfach nicht, nichts zu sagen. Er musste sich ablenken, musste sich ablenken von dem grauenhaften, nagenden Schmerz in seiner Augenhöhle, der sich anfühlte, als wüteten gefräßige Maden darin. Taomon hatte die Wunde gesäubert, als er noch bewusstlos war, und ihm den Verband verpasst, aber nichts davon schien die Schmerzen gelindert zu haben. Anfangs hatte er kaum gehen können, so sehr hatten sie ihn daran gehindert, seine Muskeln zu kontrollieren, und er wäre fast wahnsinnig geworden. Auch jetzt fiel ihm das Gehen schwer. Sein Sichtfeld begann immer wieder zu verschwimmen oder körnig zu werden, und er musste höllisch aufpassen, wohin er die Füße setzte, weil er Entfernungen nicht mehr richtig abschätzen konnte. Auch innerlich fühlte er sich zerstochen. Der erste Horror über dem Verlust seines Auges war auch jetzt noch nicht ganz abgeklungen. Immerhin fühlte er sich nicht mehr wie ein Häuflein Elend, das resigniert auf den Tod wartete, sein Schicksal und alle, die daran beteiligt waren, verfluchte und abwechselnd schrie und weinte, so wie er es in Gefangenschaft im Düsterschloss getan hatte. „Nicht viel“, murmelte sie. „Ich habe seinen Namen immer wieder mal gehört, vor allem, wenn MetallPhantomon mir irgendwelche Berichte gegeben hat. Ich glaube, es hat ihn bewundert.“ „Ich weiß wenig Gutes über ihn zu berichten“, sagte Tai mit zusammengebissenen Zähnen. Jeder Schritt schlug dumpf wie ein Hammer gegen sein fehlendes Auge. „Eigentlich gar nichts Gutes. Er ist ein machtgieriger Tyrann. Er wollte sogar König Leomon zu seinem Vasallen machen, aber es hat sich geweigert und stattdessen sein eigenes Königreich gegründet.“ „Das ist … beeindruckend“, sagte sie. „Ich musste für mein Königreich keinen Finger rühren … Da waren diese Digimon, und sie haben mich einfach so Königin genannt … dabei wollte ich nie Königin sein.“ „Und wir wollten nie deine Gefangenen sein!“, giftete Agumon. „Hast du von Little Edo gehört?“ Tai würde Agumon nicht dazu auffordern, mit seinen Anfeindungen aufzuhören, aber er musste sich immer noch ablenken. Sora schüttelte den Kopf. „MetallPhantomon hat es vielleicht ein paarmal erwähnt … Es ist an den DigimonKaiser gefallen?“ „Das war bisher sein dreistestes Stück.“ Tai behielt Taomon genau im Auge, aber es ließ sich nicht provozieren. Es wirkte nicht einmal, als hörte es zu, aber es würde seinem Herrn zweifellos über jedes gefallene Wort Bericht erstatten. „Er hat sich mit einem von ShogunGekomons Vasallen verschworen und bei der Hochzeit von Mimi, dem Mündel des Shoguns, einen Schwarzen Turm in den Festpavillon geschmuggelt.“ Dass eigentlich auch er an dieser Hochzeit hätte teilnehmen sollen, verschwieg er. Allein bei dem Gedanken daran kochte Wut in ihm hoch, Wut auf Matt, auf Mimi, den DigimonKaiser natürlich, und auf sich selbst. Sora schwieg eine Weile. „Trotzdem“, meinte sie niedergeschlagen. „Du bist wahrscheinlich lieber sein Gefangener als meiner.“ Irgendwie verspürte Tai das Bedürfnis, sie zu trösten. Sie war plötzlich so sehr anders als die Schwarze Königin, die ihn gefangen gehalten hatte – menschlicher. Und man konnte sich tatsächlich mit ihr unterhalten. „Ich wäre lieber niemandes Gefangener“, knurrte er und fixierte Taomons Haube von hinten. „Hör zu, Taomon, ich werde auf jeden Fall entkommen und wieder in mein eigenes Land zurückkehren, und ich werde euch besiegen, dich und deinen Kaiser, das schwör ich dir!“ Taomon reagierte auf diese Drohung wie auf alle anderen im Laufe dieser Reise, nämlich mit überlegenem Schweigen. Tag 95   Davis‘ Träume waren ein Wirrwarr aus Schwarz, gekrümmtem Metall und rotem Glühen. Er gab selten viel auf Träume, aber diese waren beunruhigend, da sie so sehr anders waren als übliche Schlafwelten. Als er an diesem Morgen aufwachte, war das Wetter diesig und kühl, die Luft feucht, und es war merkwürdig still in Santa Caria. Als wäre die Stille eine Warnung. Auch Veemon schien schlecht geschlafen zu haben. „Sag mal, hast du auch dieses komische Gefühl?“, fragte es beim Frühstück. „Ich weiß genau, was du meinst“, murmelte er, ohne nachfragen zu müssen. Irgendetwas war heute anders. Als versteckte sich hinter dem Dunst nicht die Sonne, sondern etwas Düsteres, Unheilvolles. Die Tage waren eintönig gewesen, seit sie vom Düsterschloss zurückgekommen waren. Mit seiner Truppe war es ihm nicht möglich gewesen, die Feste einzunehmen, und auch der Grund hatte sich verflüchtigt, als der verdammte DigimonKaiser mit Tai in den Süden geflogen war. Zurück am Ratstisch hatte Davis sofort den anderen davon erzählt. Suchtrupps waren losgeschickt, Patrouillen neu koordiniert worden. An alledem hatte er wenig Anteil getragen. Davis fühlte, dass ihn die anderen eher als Kämpfer denn als Strategen sahen. Sollten sie. Seine schlechte Laune hatte mehr oder weniger bis heute angehalten – bis das neue Gefühl von vager Vorahnung und Nervosität ihn gepackt hatte. Die Antwort auf die ungestellte Frage kam gegen Mittag. Centarumon galoppierte das Band entlang und jagte kurz darauf durch die Tore der Stadt. Sofort eilten die Piximon-Wächter herbei. Centarumon war eigentlich ein eher gemütliches Digimon – wenn keine Gefahr drohte. „Was ist los?“, fragte Davis, als er und Veemon über den gepflasterten Platz zu ihm liefen, auf dem Tai sie einst mit Stricken gefesselt Leomon vorgeführt hatte. „Ist was passiert?“ Centarumon war nicht außer Atem, obwohl es in so halsbrecherischer Geschwindigkeit unterwegs gewesen war. „Ruft Meramon“, wies es die Piximon an und trabte auf den Ratssaal zu. Davis folgte ihm ungeduldig, und kaum dass die kleinen Feendigimon außer Reichweite waren, begann es zu sprechen. „Die Westgrenze wird angegriffen.“ „Was?“, riefen Davis und Veemon aus einem Munde und blieben fast stehen. Die Westgrenze, damit meinte es den Mori-Mori-Wald nördlich der Nadelberge. „Aber – wer ist es? Der DigimonKaiser?“ Jemand anders wollte Davis nicht einfallen. König Takashi hatte einen Nichtangriffspakt mit ihnen, und die Schwarze Königin war aus dem Verkehr gezogen – oder? „Es würde mich wundern, wenn ich mich irre, aber ich denke, die Angreifer waren dieselben Briganten, die uns schon länger Schwierigkeiten bereitet haben. Diesmal jedoch gingen sie geordnet vor, als sie unsere Stellungen überfielen. Heute Nacht haben sie uns gefährlich zurückgedrängt.“ Sie erreichten das Rathaus und Centarumon stieß die Torflügel auf. Der leere Tisch wartete dahinter, kalt und wenig einladend. In letzter Zeit war er selten benutzt worden. „Aber der DigimonKaiser hat die Königin des Blutenden Herzens mit sich genommen! Ganz sicher!“ Davis hatte das zwar nicht gesehen, aber warum hätte der Kaiser sich damit begnügen sollen, nur Tai aus dem Düsterschloss mitzunehmen? Er hatte sich doch nicht mit der Königin verbündet, oder? Was hatte sich alles geändert, weil er in diese dunkle Höhle gestiegen war? Verdammt, er hätte dem DigimonKaiser nie trauen dürfen! „Die Angreifer trugen andere Banner, und es waren auch viele Bakemon unter ihnen. Ich vermute, sie kämpfen für einen neuen Anführer – und es scheint mir jemand zu sein, den du kennst.“ „MetallPhantomon“, murmelte Veemon. „Unser Erzfeind.“ „Richtig.“ „Worauf warten wir dann noch?“ Davis warf Veemon einen auffordernden Blick zu. „Wir werden sofort nach Westen reisen und uns um ihn kümmern.“ „Nein“, sagte Centarumon sofort. „Das ist unklug, Davis.“ „Was? Wieso denn?“ Er war verwirrt. MetallPhantomon war seit jeher seine Aufgabe gewesen. Seine und Veemons. „Ich bin hierhergekommen, um Verstärkung mit in den Westen zu nehmen, ja. Und euch zu unterrichten. Aber ich möchte, dass ihr beide hier in Santa Caria bleibt. Wir brauchen jemanden, der das Königreich zusammenhält, jetzt in König Leomons Abwesenheit.“ Davis klappte der Mund auf. „Aber wieso müssen wir das sein? Nehmt doch Meramon!“ Er deutete auf das Flammendigimon, das eben über den Platz marschierte. „Auch das wäre unklug.“ Centarumon senkte die Stimme. „Ich zweifle nicht an seiner Entschlossenheit, doch Meramon ist für ein Temperament bekannt. Es ist zu stürmisch, zu heißblütig, und es ist ein Fremder in diesem Land. König Leomon stammt wie wir auch von der Insel, zu der es gegenwärtig unterwegs ist, doch es ist der König, würdevoll in Tat und Äußerem. Die Digimon unseres Königreichs vertrauen ihm. Gewiss bauen sie auch auf Meramon, aber wenn es als einziger von König Leomons Beratern hier bleibt und alleine die Geschicke des Reiches lenkt, wird sich bald Unmut zeigen. Wir haben seit langem keinen Sieg mehr errungen, der König ist fort und hat lange nichts von sich hören lassen, und im Westen tobt wieder Krieg. Ich befürchte einen Aufstand, sollten wir auch nur einen winzigen Fehler machen.“ „Aber Veemon und ich sind doch in euren Augen Banditen, oder?“, konnte sich Davis nicht verkneifen zu fragen. „Vielleicht wart ihr das einmal. Doch ihr seid die Helden des Dornenwalds und habt erfolgreich gegen die Briganten gekämpft. Und ihr stammt aus diesen Landen. Die Digimon vertrauen euch mehr als Meramon. Darum möchte ich, dass ihr hier bleibt. Fällt Entscheidungen gemeinsam, wie es sich für einen Rat gehört. Leitet Berichte weiter. Und versichert dem Volk, dass wir alles tun, um sie zu schützen.“ Es konnte nicht mehr weitersprechen, da Meramon im Rathaus angekommen war. Schlagartig wurde es wärmer, aber noch heißer kribbelte es unter Davis‘ Fingernägeln. Er wollte nicht untätig hier herumsitzen, er wollte kämpfen! Da fiel ihm ein, dass er vielleicht nicht als Einziger ein Anrecht auf diesen Kampf hatte. Centarumon und die anderen regierten dieses Land schon viel länger, als er Teil ihrer Armee war. Es kostete ihn einige Überwindung, doch als Centarumon vor Meramon noch einmal den Bericht über den Angriff vortrug, versprach er, mit Meramon in Santa Caria zu bleiben, zumindest bis der König endlich zurück war.   Der unruhigen Nacht und dem unruhigeren Tag folgte eine weitere Nacht, die noch um vieles unangenehmer war, mit einem weiteren düsteren Traum. Diesmal nahm die Dunkelheit, das Metall und das Glühen von Augen Form an. Auf der nadeldünnen Spitze eines riesigen Berges schwebte MetallPhantomon, eine vernichtende Sense in der Hand, und breitete die Arme auf das Land aus, über das seine Armeen schwappten. „Fürchtet mich!“, krächzte es. Die Worte schienen nicht allein an Davis gerichtet zu sein, aber er fasste sie dennoch so auf. „Ich bin der Herr eurer Träume! König von Kaisers Gnaden! Der Norden soll überrollt werden, ein Albtraum, Tag und Nacht!“ Dann lachte es, seine Kiefer schepperten, und Davis meinte zu spüren, wie seine Geister über schwarze, verbrannte Erde krochen, schnell und lautlos. Und als er die geballte Gewalt fühlte, die aus den Nadelbergen strömte, wusste Davis, dass er bisher nur einen Funken von MetallPhantomons wahrer Macht kennengelernt hatte. Die schwere Sense, die es hielt, funkelte im Licht des roten Mondes.   I’m hiding in the shadows Always by your side In the dark of the night Covering the light (Sinbreed – Shadows) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)