New Reign von UrrSharrador (Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]) ================================================================================ Kapitel 34: Die Prophezeiung ---------------------------- Tag 104   Die letzten Bomben der Pteramon fielen noch und schlugen irgendwo im dichten Gelb und Grün des Waldes des Abendlichts ein, als ihre Digimon die Gefangenen schon zu ihrer Basis auf der Waldlichtung brachten. Sie hatten einen halben Tag gebraucht, um die feindliche Stellung auszuräuchern, hatten den Bambuswald stellenweise gerodet und Nadines Häscher in den Kampf geschickt, während sie von einem Hügel aus auf altmodische Weise die Truppen koordiniert hatten. Der Schwarze Turm des Einhornkönigreiches war zerstört worden, und hinter dem Kommandozelt ragte Kens eigener Turm auf. Fürst Hiroshi wurde von seinen eigenen Digimon ins Lager geführt, die nun Schwarze Ringe um den Leib trugen; das war die erste Demütigung, die ihm nach seiner Niederlage zuteilwurde. Es waren Ekakimon, Digimon, die Ken noch nie zuvor gesehen hatte und die wie Buntstifte mit Armen und Beinen aussahen. Buntstifte für den Comic-Zeichner. Das passt. Ein Lalamon schwebte hinter ihm her. Selbst Hiroshis Digimon-Partner hatte Ken in seiner Gewalt. Die Prozession blieb vor Ken und Nadine stehen, die unter der Zeltplane warteten, die sie zum Schutz gegen die Sonne aufgespannt hatten. Der Junge hatte sich wenig verändert. Dunkle Augen, dunkelbraunes Haar. Er war gewachsen und nun ein klein wenig größer als Ken. Das war er nun also – sein Feind, dem er die Vernichtung geschworen hatte. Die Territoriallords hatten ihren Angriffen und listenreichen Taktiken nicht lange standhalten können. Keiko war zu gewitzt gewesen, um ihnen in die Falle zu gehen, aber Hiroshi hatte sich ihnen mit seinem Heer hier im Wald des Abendlichts gestellt – und hatte mit Pauken und Trompeten verloren. Nun konnte er endlich Urteil über diesen Jungen sprechen. Ken holte tief Luft. „Hiroshi!“, platzte Nadine wütend heraus. „Du verdammtes, kleines Ekelpaket, was fällt dir eigentlich ein?“ Ken atmete wieder aus. Nadine schien gegen den Jungen mehr Groll zu hegen als er selbst. „Wie kommst du dazu, ein Bordell mitten in der DigiWelt aufzumachen?“, setzte sie ihre Tirade fort. „Hast du gar kein Ehrgefühl mehr? Hat sich dein Hirn in Daten aufgelöst? Nein, warte, ich weiß schon – ist doch toll, wenn man den großen Macker spielen kann, oder? Du spielst dich auf als Vasall des ach so großen und trotzdem mindestens einen Kopf kleineren Königs Takashi, und meinst, du kannst dir alles erlauben, nur weil du plötzlich Territoriallord bist, was? Klar, wenn man so viel Macht hat, kann man ja mit seinen perversen Fantasien rumspielen, ohne dass jemand was sagt. Du warst immer ein anständiger Junge, Hiroshi! Hat Deemon dir diese Flausen in den Kopf gesetzt? Wie zum Teufel hast du dich nur so verändern können?“ Hiroshis Miene wurde mit jedem Wort, das sie sagte, abfälliger. „Tu nicht so, als würdest du mich kennen“, knurrte er, auf jede Form von Höflichkeit verzichten. „Ich hätte dich wirklich auch in die Lotusblüte stecken sollen, als du auf meinem Land warst.“ Nadine schnappte erbost nach Luft, die Wangen vor Zorn gerötet. Ihre Digimon packten ihre Waffen fester, und sie sah aus, als würde sie Hiroshi im nächsten Moment eine Ohrfeige verpassen wollen. Ken berührte sie sachte am Arm. „Denk an das, was du gerade gesagt hast. Vielleicht hat ihn wirklich Deemons Stimme umgekrempelt. Er ist nicht er selbst. Bleib ruhig.“ „Ruhig bleiben? Der Kerl verdient eine Strafe, eine saftige!“ „Und die wird er bekommen, keine Sorge.“ Hiroshi legte stirnrunzelnd den Kopf schief. „Ihr seid ja wirklich ein ulkiges Pärchen. Der DigimonKaiser und die Schwarze Rose. Wisst ihr eigentlich, dass die ganze DigiWelt über euch lacht?“ Niemand wagt es, zu lachen, dachte Ken. Hiroshi deutete mit dem Finger auf ihn. „Du da, DigimonKaiser. Glaub bloß nicht, dass sie sich mit dir verbündet hat, weil sie etwas an dir findet. Im Gegenteil. Sie ist zuerst bei König Takashi und bei mir und bei allen möglichen anderen Menschen gewesen und hat sie angebettelt, an ihrer Seite kämpfen zu dürfen, diese schwächliche Möchtegernkönigin. Was glaubst du, was sie uns alles geboten hat, wenn wir sie aufnehmen? Das kannst du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen!“ „Das ist nicht wahr!“, zischte Nadine. „Ken, er lügt!“ „Ich weiß.“ Ken zwang sich, ruhig zu bleiben, auch wenn es ihm schwerfiel. Irgendwann, vor langer Zeit, mochte er ein genauso großes Scheusal gewesen sein, wie Hiroshi es nun war. „Mach die Augen auf“, höhnte das Saatkind weiter. „Du warst nur der Einzige, der dumm genug war sich nicht zu wehren, als sie sich um deinen Hals geworfen hat.“ Nadine biss sich auf die Lippen. Ken beschloss, nicht auf seine Provokation einzugehen. „So dumm scheint das nicht gewesen zu sein. Hier stehen wir, und du bist unser Gefangener, nicht umgekehrt.“ Der entmachtete Fürst schnaubte. „Hast du mir nicht zugehört? Du warst ihre vierte oder fünfte Wahl. Das Flittchen wollte sich zuerst beim König einschleimen, dann bei mir, und sogar bei Keiko! Du bist nur ein trauriger Ersatz, nichts weiter.“ Ken fragte sich, ob diese rebellische Ader einfach Hiroshis Art war, selbst nach seiner Niederlage gegen sie beide zu kämpfen. „Ich weiß, dass sie zuerst bei euch war. Nadine hat mir davon erzählt.“ „Ken ist der Einzige, der nicht glaubt, dass das hier alles nur ein Spiel ist“, fauchte Nadine. „Anders als ihr hat er Augen im Kopf. Für euch sind die Digimon und die andere Menschen nur Spielsteine, mit denen ihr jonglieren könnt. Ich wette, du verstehst nicht mal das Konzept vom Sterben!“ „Sagt mir nicht, dass ihr wirklich glaubt, das hier wäre real.“ Hiroshi rollte die Augen. „Könnt ihr nicht mehr zwischen Spiel und Realität unterscheiden? Ich würde an eurer Stelle aufpassen. Leute, die sich zu sehr in einem Spiel versenken, laufen irgendwann Amok.“ Und das aus deinem Mund, dachte Ken. „Wie du meinst“, sagte er. „So oder so, du hast verloren. Für deine Missetaten werden wir eine geeignete Strafe finden.“ „Die sich gewaschen hat“, fügte Nadine hinzu. Sie war tatsächlich um einiges aufgebrachter ob der Lotusblüte als Ken selbst. Hiroshi zuckte nur mit den Schultern, dann veränderte sich etwas in seinem Blick. „Ich habe eine Nachricht für dich“, sagte er plötzlich. „Vom Spielmacher. Für Ken – das bist doch du, oder?“ „Vom Spielmacher?“, wiederholte Ken. „Deemon“, murmelte Nadine düster. Breit grinsend hob Hiroshi die Arme. „Das Kaiserreich wird bald vernichtet sein“, verkündete er. „Du sollst besser gleich aufgeben. Der Spielmacher steht hinter uns und informiert uns über alles, was wir wissen müssen. Datamon hilft König Takashi dabei, seine Truppen zu koordinieren, und König Leomon hat uns seine Unterstützung zugesagt, sobald es seine momentane Mission erledigt hat. Eure Armee im Osten ist viel schwächer, als ihr glaubt, schwächer noch als diese hier. Wir werden sie bald aus der Wüste getrieben haben, und dann führen wir Krieg auf eurem Land. Wir werden eure Türme ausreißen und unsere eigenen aufbauen, und von deinen Schwarzen Ringen werden bald nur noch Scherben übrig sein! Keiko wird im Nu eine neue Armee aufgebaut haben, dann vertreibt sie euch aus unserer Goldenen Zone. Dann sind wir es, die angreifen!“ Ken ließ sich von nichts, was er sagte, beeindrucken. Er wusste nicht, was von dieser Ankündigung wirklich Deemons und was Hiroshis eigene Worte waren, aber nun hatte er die Gewissheit, dass sein einziger wahrer Feind in diesem Krieg tatsächlich auch zu den Saatkindern sprach – und momentan benutzte er Hiroshi als Sprachrohr, weil Ken seine Gedanken vor ihm verschlossen hatte. „Du wirst jedenfalls niemanden mehr angreifen“, sagte er kühl. „Bringt ihn fort und sperrt ihn ein. Über seine Bestrafung werden wir noch nachdenken.“ Als sie beobachteten, wie Hiroshi sich folgsam fortführen ließ, sagte Nadine trocken: „Wenn es nicht unköniginnenhaft wäre, würde ich ihm in die Weichteile treten. Das hätte er verdient.“ Sie zögerte. „Ich hoffe, du glaubst ihm nicht. Ich habe nicht … Ich bin nur an den Königshof gegangen, um herauszufinden, ob sie den Ernst der Lage erkennen.“ „Ich weiß, keine Sorge.“ Ken massierte sich die Nasenwurzel. In letzter Zeit spürte er seine Brille schwer darauf liegen. „Wir sollten jetzt zuallererst das Lager hier befestigen und Außenposten im Wald errichten. Und Patrouillen aussenden. Es war ziemlich gewagt, so schnell so weit in den Norden vorzustoßen. Um Hiroshis Bestrafung können wir uns nachher noch kümmern.“ „Am besten wäre es, du ließest ihn kastrieren.“ „Nadine!“ „Verdient hätte er’s“, entgegnete sie patzig. „Das kann man so nicht sagen …“ „Nimmst du ihn etwa in Schutz?“, fragte sie mit schmalen Augen. Er seufzte und betrachtete die Wolken, die am Himmel vorbeizogen. „Ich habe damals auch viel Böses getan. Und es ist das größte Glück meines Lebens, dass man mir verziehen hat.“ Sie dachte lange darüber nach, ehe sie sich einen sichtlichen Ruck gab. „Na gut. Verschieben wir seine Bestrafung ein wenig und lassen wir ihn zappeln. Wenn das Spiel vorbei ist und er womöglich begreift, was er getan hat, schämt er sich sicher in Grund und Boden.“ Nadine sah ihn an. „Du willst jetzt wieder in deine Festung zurück, oder?“ Ken nickte. Er hatte die Osthälfte seines Reiches schon zu lange ohne Obhut gelassen. Er riskierte eine Rebellion, wenn er nicht wieder Hof hielt, Bitten erhörte und Urteile fällte. Außerdem war in den letzten Tagen ein Bote eingetroffen. Devimon hatte auf der File-Insel eine alte Inschrift entdeckt, anscheinend eine Prophezeiung. Es hatte den Text abschreiben lassen, und seither versuchten die Hagurumon in der Mobilen Festung, ihn zu entschlüsseln, aber Ken wollte sich auch selbst ein Bild davon machen. Und er musste sich darum kümmern, dass an der Westfront alles glattlief. Vielleicht würde er Zephyrmon ebenfalls einen Besuch abstatten … „Ich komme mit“, beschloss Nadine. Er lächelte. „Das muss aber nicht sein.“ „Nein, muss es nicht. Aber ich will gerne in deiner Nähe blieben – sonst passiert dir nur wieder was. Es sei denn, du hast etwas dagegen.“ „Natürlich nicht.“ Er ergriff zärtlich ihre Hand. „Ich habe dich auch gern in meiner Nähe.“ „Du Schmeichler.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Was machen wir in der Zwischenzeit mit Keiko?“ Territorialherrin Keiko war nach Nordosten geflohen und hatte sich in Chinatown verschanzt. Diese Gegend ist voller Erinnerungen. Hier haben wir gegen BlackWarGreymon gekämpft, den letzten Heiligen Stein beschützt und Azulongmon getroffen. Deemon hatte den Heiligen Steinen nichts anhaben können, also hatte es sie einfach weit weg verfrachtet, wo sie keine Rolle in diesem Spiel spielten. „Wir weisen dein Heer an, sie zu belagern. Eine kleine Kompanie müsste reichen. Keiko hat kaum noch Truppen, immerhin hat sie bei der Schlacht um Masla eine ganze Menge davon verloren. Dann können wir sie getrost links liegen lassen und Takashi in die Zange nehmen.“ „Klingt einfach.“ „Sollte es auch sein … Mir macht nur dieses Datamon Sorgen, das Hiroshi erwähnt hat.“ Er hatte das Gefühl, es könnte sich um dasselbe Datamon handeln, das Tai und die anderen seinerzeit ausgenutzt hatte, um Etemon zu bekämpfen – immerhin war das ebenfalls in dieser Wüste gewesen. Etwas an diesem Gedanken verursachte ihm Bauchschmerzen. „Meinst du, wir müssen Deemons Drohung ernst nehmen?“, fragte Nadine. Er zuckte beklommen mit den Schultern. „Du hast Hiroshi gehört – Deemon ist der Spielmacher. Ich kann nicht glauben, dass es keinen Trumpf in der Hinterhand hat. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.“ Nadine nickte nachdenklich.     Es musste etwas Wichtiges sein, wenn Tentomon ihn mitten in der Nacht aus dem Feldbett riss, das er sich vor seinen ganzen elektronischen Geräten in der ansonsten leeren Lobby des Hochhauses aufgestellt hatte, um möglichst schnell bei seinen Computern zu sein. Nein, das ist ein falscher Gedankengang. Wir sind der Brückenkopf. Alles, was passiert, ist wichtig. In bequemen Trainingsklamotten folgte er gähnend seinem Partner ins Freie. Nach dem heißen Tag war die Kühle eine Wohltat. Man hatte sie durch die Stadt hierher geführt, und nun standen sie, scharf von zwei Reihen Mothmon bewacht, auf dem Platz und sahen sich mit großen Augen um. Die verblichene Standarte, die eines von ihnen trug, wäre gar nicht nötig gewesen, um Izzy erkennen zu lassen, dass er den Orden der Zuverlässigen vor sich hatte. Der Späte Nachschub. „Was ist hier geschehen?“ Ein junger Mann im grauen Mantel warf ihm einen beunruhigten, bebrillten Blick zu. „Wir dachten, der DigimonKaiser kontrolliert diese Stadt?“ „Nicht mehr“, sagte Izzy schlicht. Das Aufgebot seiner Pioniertrupps, das Fehlen Schwarzer Ringe und die Hackerausstattung sprachen wohl Bände. „Ich bin Koshiro. Ich habe jetzt hier das Sagen.“ Der Mensch tauschte einen Blick mit einem Gomamon. Die beiden waren die einzigen bunten Flecken in der grauen Gesandtschaft von Orcamon. „Ich heiße Joe. Wir … Also …“ Er schien etwas mit der Situation überfordert, daher sprang Gomamon ein. „Wir vom Orden der Zuverlässigen sind neutral. Also egal, wer ihr seid, wir würden gern Geschäfte mit euch machen.“ Das ist gar nicht gut. „Was habt ihr hier überhaupt zu suchen?“ Er wollte schärfer klingen, schaffte es aber nicht. Die Zuverlässigen hatten trotz allem einen guten Ruf, und er war nicht dazu gemacht, sich mit harschen Worten Respekt zu verschaffen. „Ihr solltet doch in der Kaktuswüste sein?“ Joe schob seine Brille zurecht. Ein Lichtklecks, vom Mond gespiegelt, funkelte darin auf. „Der DigimonKaiser und der Einhornkönig liefern sich momentan einen zermürbenden Stellungskrieg. Es gibt viele Verletzte auf beiden Seiten, und wir können längst nicht mehr alle versorgen. Darum sind ein paar von uns losmarschiert, um Nachschub zu besorgen. Verbandsmittel und Medizin.“ „Warum seid ihr dann in die Voxel-Stadt gekommen? Es gibt doch viele Städte, die näher an der Wüste liegen.“ „Wir sind hier eigentlich immer willkommen gewesen. Sonst freut man sich, uns zu sehen“, sagte Gomamon keck. „Was Gomamon sagen will“, meinte Joe langsam, „ist, dass die Voxel-Stadt am besten ausgestattet ist, was medizinische Ausrüstung angeht. Da sucht sie ihresgleichen. Und wir konnten hier immer unsere Geschäfte abwickeln. ShogunGekomon hat uns stets unterstützt, und nach dem Fall von Little Edo hat auch Musyamon im Namen des DigimonKaisers verkündet, dass wir hier willkommen wären. Außerdem haben wir kranke Digimon bei uns, die wir nur hier behandeln können.“ „Kranke Digimon?“, fragte Izzy alarmiert. „Wo sind diese Digimon?“ „Wir haben sie schon unter Quarantäne gestellt. Zwei, drei Orcamon kümmern sich schon um sie, wir haben ihnen Zugriff auf ein paar Medikamente gewährt“, berichtete Tentomon. Izzy nickte dankbar. Das war ganz in seinem Sinne – aber es war auf jeden Fall gefährlich, solche Krankheitsfälle hier zu haben. „Was ist das für eine Krankheit?“ „Wir wissen es nicht genau. Sie ist in einem der Lager des DigimonKaisers ausgebrochen. Viele haben sich seither damit angesteckt. Wir haben gehofft, hier einen Impfstoff zu finden, das ist auch einer der Gründe, warum wir die Kranken hergebracht haben“, sagte Joe. Das alles gefiel Izzy von Sekunde zu Sekunde weniger. Eine Seuche also. „Ihr könnt alles haben, was ihr braucht, um sie zu heilen und einen Impfstoff zu entwickeln“, sagte er. „Wir werden euch sogar dabei helfen. Aber wir können nicht erlauben, dass ihr die Stadt so bald wieder verlasst.“ Joe wirkte äußerst unglücklich. „Geht das wirklich nicht? An der Front erwartet man uns. Es ist sehr wichtig, dass wir ihnen Nachschub bringen.“ „Tut mir leid.“ Izzy gefiel es auch nicht, sie Sanitäter der DigiWelt festzuhalten, aber er hatte keine Wahl. „Wie ihr selbst gemerkt habt, ist diese Stadt nicht mehr unter der Kontrolle des DigimonKaisers, und unser Aufenthalt hier muss unter allen Umständen geheim gehalten werden.“ „Und wenn wir versprechen, nichts zu sagen?“ Izzy seufzte tief. „Tut mir leid“, wiederholte er, „aber irgendetwas dringt immer durch, und ich kann kein Risiko eingehen. Ihr bekommt Unterkünfte, Essen und alles, was ihr sonst noch verlangt. Aber ihr müsst euch damit abfinden, bewacht zu werden.“ Die Orcamon brummten unwillig, aber als die Mothmon ihre Kanonen auf sie richteten, wurden sie schnell ruhig. „Kannst du uns wenigstens sagen, wir lange wir hier bleiben sollen?“, fragte Joe, nachdem er einen Blick in die Runde geworfen hatte. „Leider nein. Aber euch wird nichts passieren, das garantiere ich euch.“ Izzy überlegte. „Allerdings werdet ihr wohl sterben müssen.“ „Ster–“ Joe stieß die Luft aus und sah ihn entsetzt an. „Nicht wirklich, natürlich!“, sagte Izzy hastig. „Aber es muss für euren Orden so aussehen. Ihr dürft diese Stadt nicht mehr verlassen, aber es darf auch niemand erfahren, dass ihr hier festgehalten werdet. Am besten wäre es, wenn man euch für tot halten würde.“ Ihm kam ein Gedanke, sein strategisches Gehirn arbeitete sogar so spät in der Nacht noch. „Wir haben von einer Truppe gehört, die hier in der Nähe marodieren soll. Wir werden es so aussehen lassen, als ob ihr denen zum Opfer gefallen wärt. Und wir werden euch übrigens entschädigen, wenn alles vorbei ist.“ Das war er ihnen schuldig. „Uns kannst du entschädigen“, rief eines der Orcamon. „Aber wie entschädigst du die Digimon, die sterben, weil wir sie nicht rechtzeitig behandeln konnten?“ Darauf hatte Izzy keine Antwort, und schon lange hatte ihn nichts mehr so gewurmt. Er ließ den Kopf genauso hängen wie Joe, als man ihnen ihre Quartiere zeigte. Tag 106   Deinen Blick sollst du zum Anfang des Himmels richten Großer Künstler, der du Eisen zu Gold machst Wie sehr bist du zu bedauern Nie schließt deine Liebsten du in die Arme, nie möge sich dir etwas entziehen Wo andere ihre Freunde überdauern, lachst du nur bitter über ihr Leid Leid, das du ersehnst Die beiden Sieger zanken sich seit Jahrhunderten Keiner noch errang den Preis Vergraben, bis das Schicksal erwacht Zu sehen in goldener Morgenstund ist der Anbeginn Goldenes Licht die Dunkelheit verdrängt Zwei der Schätze, drei der Suchenden Mit Füßen treten, um zu befreien, ist es Magie? Magisch ist der Besiegten Mühe Nicht umsonst ihr Opfer sei Magisch ist des Feindes Macht An allen Ecken regiert das Böse Magisch sind stets Ende und Anfang.   Ken und Nadine standen im Dunkel der Brücke vor dem hellen, überdimensionalen Foto der Steintafel, das Devimon ihm geschickt hatte. „Hast du eine Ahnung, was das bedeutet?“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Und es ist von der File-Insel?“ „Ja. Anscheinend war es irgendwo in Centarumons Tempel versteckt.“ Als er von Leomons Invasionsversuch gehört hatte, hatte er seinen Verwalter warnen lassen, und über die quälend langsamen neuen Informationswege hatte er als Antwort dieses Bild erhalten. Die Hagurumon hatten die Zeichen des Digimon-Alphabets mit japanischen Schriftzeichen ersetzt, damit er den Text problemlos lesen konnte – was nicht bedeutete, dass er ihn ansatzweise verstand. „Wir sollten versuchen, dieses Rätsel zu lösen. Vielleicht ist es wichtig.“ „Wichtig wofür?“ „Ich habe mir das schon seit einer Weile gedacht.“ Ken kratzte sich am Kinn. „Als das letzte Mal ein Digimon von jenseits der Feuerwand die DigiWelt bedroht hat, gab es auch eine Prophezeiung. Sie verhieß im Prinzip nur, dass es acht DigiRitter brauchen würde, um die Dunkelheit von jenseits der Feuerwand zu besiegen. Ich weiß nicht, warum diese hier so … so rätselhaft ist, aber vielleicht kann sie uns helfen, falls wir …“ Er musste tief durchatmen, um es über die Lippen zu bringen. „Falls wir versagen und Deemon in die DigiWelt gelangt.“ Eine Weile starrten sie noch schweigend das Rätsel an, doch Ken konnte sich keinen Reim darauf machen. Sprach es von einem Digimon? Einem DigiRitter? Oder irgendeinem Ort? Hatte Deemon von der Prophezeiung gewusst? Warum hatte es sie dann nicht verschwinden lassen? Womöglich verhielt es sich damit wie mit den Heiligen Steinen, und alles, was es tun konnte, war, den Text in ein Rätsel zu ändern. Aber Ken glaubte nicht, dass es so einfach war. Nur gut, dass Deemon unsere Gedanken nicht mehr ausspionieren kann. Er wies die Hagurumon an, den Text nach allen möglichen Algorithmen zu entschlüsseln zu versuchen. Vielleicht war zwischen den Zeilen ein Hinweis versteckt. Dann verließen Nadine und er die Brücke. Nach der langen Zeit im sonnigen Süden und in all der Pracht von Nadines Palast kam ihm seine Festung noch schäbiger und dunkler vor. Er hatte schon mit Ogremon gesprochen, das ihn um einen neuen Auftrag gebeten hatte. Es hatte sein Versagen mehr oder weniger als Kens eigene Schuld hingestellt, weil es erstens unter Ogremons Würde wäre, entlaufene Prinzessinnen zu suchen, und es zweitens nur Schwächlinge unter sich gehabt hätte. Dass diese Digimon seine selbstgewählten Getreuen gewesen waren, schien es vergessen zu haben, und es wirkte ob ihres Todes auch nicht sonderlich betrübt. Ein Treffen mit Matt schob er noch vor sich her. Er wagte es aus irgendeinem Grund nicht, seinem Freund, den er wochenlang bei Kunstlicht in einer Zelle eingesperrt hatte, einen Besuch abzustatten. Was sollte er überhaupt mit ihm reden? Matt würde ihm kaum vergeben, in seinen Augen war Ken der Böse. Aber er wusste, dass er seinem Freund ein Gespräch schuldig war. Es war Abend, und Ken hatte für sich, Nadine und ihr Elecmon ein Essen vorbereiten lassen. Sie setzten sich in seiner Kantine an den Tisch, und mit seinen steinernen Schritten kam sein Gotsumon-Diener, tischte saftiges Fleisch auf, bei dessen würzigem Duft Ken das Wasser im Mund zusammenlief, und schenkte in zwei Kristallkelche dunkelroten Wein ein. Nadine schnupperte daran, während ihr Digimon-Partner sich sogleich übers Essen hermachte. „Feuerwein?“, fragte sie. „Der beste, den ich bekommen konnte. Immerhin müssen wir unseren Sieg über Hiroshi feiern.“ „Du genießt es wohl wirklich, dass du hier nicht unter die Minderjährigenregelung fällst“, stellte sie spielerisch tadelnd fest. Ken lächelte. „Ab und zu dürfen wir uns auch etwas gönnen.“ Sein Blick schweifte in die Ferne. „Ich hoffe, mit der File-Insel ist noch alles in Ordnung.“ „Ich dachte, du wusstest, dass Leomon diesen Schritt irgendwann tun würde?“ Er seufzte. Natürlich hatte er das gewusst. Er hatte mit Devimon seit seiner Übernahme Taktiken für jedes erdenkliche Szenario ausgearbeitet. Den besten Teil der Rekruten aus der Stadt des Ewigen Anfangs behielt es als Inselwache, und Ken hatte einige Truppen zur Unterstützung mobil gemacht. Aber bisher waren sie nur auf der faulen Haut gelegen, und wenn er die Insel verlor … Wormmon würde unter einem anderem Banner wiedergeboren werden. „Du hast recht. Wenn Leomon schon in See gestochen ist, muss die Besatzung der Insel reichen. Ich werde trotzdem MegaSeadramon mit der Flotte hinterherschicken. Vielleicht kann es Devimon unterstützen.“ In diese Gedanken versunken wollte er nach dem Wein greifen, um die Sorgen mit einem brennenden Schluck fortzuspülen, als Nadine ihre Hand auf seine legte. „Lass uns einen Ball geben.“ „Was?“, fragte er überrumpelt. „Wie kommst du jetzt darauf?“ „Jedes Reich sollte sein Volk mit Festlichkeiten bei Laune halten. Wir führen einen Feiertag ein, ja? Es gibt ein Fest, und es wird Musik gespielt und getanzt. Dann haben wir endlich mal ein wenig Spaß.“ „Nadine, das ...“ „Doch. Das geht. Auf uns lastet das Schicksal der DigiWelt. Wir müssen auch mal abschalten, sonst gehen wir an dem Gewicht zugrunde. Selbst jetzt, wo wir mal Zeit für uns alleine haben, reden wir über die weiteren Pläne, Digimon und Eroberungen.“ Ken überlegte. Warum eigentlich nicht? Irgendwie hatte sie recht. Aber er durfte seine Aufgabe nicht vernachlässigen … „Wir können doch auch einfach nur einen netten Abend verbringen. Heute. Ich halte einfach erst morgen Hof, das macht ohnehin keinen Unterschied mehr. Für heute ist alles erledigt.“ „Wir sollten trotzdem auch irgendwann einen festlichen Empfang abhalten. Von mir aus, wenn die Zeiten ruhig sind“, beharrte Nadine. „Aber wenn, dann machen wir das in meinem Palast. Hier bei dir kann man ja kaum ein Fest geben. Hast du dir schon überlegt, der Festung einen Neuanstrich zu geben? Das sind ja furchtbare Zustände hier. Man kann hier nicht mal ein ordentliches Bad nehmen, und die Duschen sind billiger als die in der Sportumkleide meiner Schule.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Dabei würde es dir doch gefallen, während unseres gemeinsamen Abends gemeinsam mit mir ein Bad zu nehmen, oder?“ Ich sollte mit der Antwort vorsichtig sein. „Es würde mir … nicht nicht gefallen.“ Sie lachte. „Du bist so süß, wenn du rot wirst, Ken.“ Er war also schon wieder rot geworden. Warum tat seine Gesichtsfarbe nur immer genau das, was sie erwartete? „Wenn wir uns dann tatsächlich sehen, nachdem Deemons Spiel vorbei ist, habe ich hoffentlich ausreichend Gelegenheit, mich an deine Sticheleien zu gewöhnen.“ „Das sind keine Sticheleien! Ich will nur … Oder bin ich zu fies?“ Ken wurde einfach nicht schlau aus ihr. Das Essen wurde langsam kalt, und Elecmon war bereits fertig, sprang von seinem Hocker und lief nach draußen, wie um sie nicht zu stören – wobei auch immer. Nadine rutschte unbehaglich auf ihrem Sessel herum. „Ich muss dir übrigens etwas sagen“, begann sie und fuhr dann mit dem Zeigefinger den Rand ihres Kelches nach, Runde um Runde. „Vermutlich kannst du es dir schon denken …. oder auch nicht. Aber ich finde, so etwas soll man aussprechen. Und ich weiß schon, man sollte es eher in einer romantischen Atmosphäre sagen und so … Und wir haben ja schon festgestellt, dass deine Festung nicht wirklich ein romantischer Ort ist“, lachte sie unglücklich. Ken fühlte etwas in seiner Brust aufsteigen, das zwischen Freude und Angst schwankte. Allein, was sie bisher gesagt hatte, ließ einen gewissen Verdacht auf das Weitere zu. Er schwieg, sah nur auf seinen Wein hinab und betrachtete sein Spiegelbild darin. „Ich will es einfach loswerden, weißt du?“, sagte sie. „Wir sehen uns fast jeden Tag und sprechen über alles Mögliche, aber irgendwie konnte ich meine Gefühle nie anbringen. Und ich will es nicht mehr … nicht mehr länger verbergen, verstehst du? Wenn wir heute tatsächlich einen gemeinsamen Abend, ohne das ganze Regieren und diesen Schnickschnack verbringen wollen, dann … Dann wäre eindeutig heute der richtige Zeitpunkt.“ Sie holte tief Luft. „Kann sein, dass ich wirklich ein wenig … ein wenig zu direkt bin, wenn ich mit dir flirte. Ich will dich auch nicht wirklich in Verlegenheit bringen, es ist nur so, dass ich … Also …“ Sie schien mit sich zu ringen, ob sie ihn nun ansehen sollte oder nicht. Letztendlich wandte sie den Blick ab. „Ich liebe dich, Ken.“ Und das Gefühl in seiner Brust verdichtete sich zu einem warmen Nebel, der bis in seinen Kopf stieg und ihn alles vergessen ließ, was nicht mit ihr zu tun hatte. Ich liebe dich, Ken … Hatte er nicht gehofft, genau diese Worte jetzt zu hören? Hatte er nicht vor jedem anderen Geständnis Angst gehabt? Er wusste so gut wie nichts mehr. Sein Kopf war wie leergefegt, aber ihm war warm, gar heiß. Nadine stieß die Luft aus. „So, es ist raus. Und jetzt warte ich auf deine Antwort.“ Sie lachte unecht. „Meine größte Sorge ist, dass du sagst, zwischen uns, das wäre alles nur zweckgebunden, wegen dem Spiel“, gab sie freimütig zu. „Aber selbst wenn es so ist, will ich es wissen. Was empfindest du für mich?“ Ken musste antworten. Er musste unbedingt sagen, dass er ihre Gefühle erwiderte, nichts anderes war im Moment wichtiger … Aber warum war es so schwierig, über solche Sachen zu reden? „Das ist doch offensichtlich, oder?“, fragte er. „Nein“, sagte sie ernst. „Offensichtlich ist so was nur, wenn man es jemandem direkt sagt. Alles andere zählt nicht.“ Ken fühlte, wie ihm schwindlig wurde, dabei hatte er seinen Wein noch nicht einmal angerührt. Wenn er heute noch einen einzigen Tropfen trank, würde er gewiss verglühen. Wie sollte er es sagen? Es waren nur so wenige Wörter, aber einfacher wäre dennoch gewesen, ihr alles aufzuzählen, was sie für ihn war. Du bist meine Stütze, hätte er sagen können. Du hast mir immer beigestanden, wenn ich deprimiert war, du hast dir Sorgen um mich gemacht, du hast meinen Alltag bunter werden lassen, du hast mich immer wieder an meine Aufgabe erinnert. Ich finde dich wunderschön, ich mag dein Lachen; du bist viel königlicher, als ich es je sein könnte, in jeder Hinsicht, und ich würde gerne noch mehr mit dir teilen, dich besser kennenlernen. Es ist ein Traum, dass du mich liebst, denn ich liebe dich auch. Das alles hätte er sagen können, hätte er sagen sollen, doch als er den Mund aufmachte, kam nur ein Stottern über seine Lippen. Warum fiel es ihm nur so schwer, wo er doch das Gefühl hatte, ihr alles sagen zu können? Sie lehnte sich vor und sah ihn erwartungsvoll an. „Ja? Sag schon.“ Schließlich gab er es auf. Er beugte sich zu ihr, schob sanft die Hand in ihren Nacken und küsste sie auf den Mund. Ihre Augen weiteten sich überrascht, fast entsetzt, dann schloss sie sie genießerisch, und Ken tat es ihr gleich, bis er im Dunkel nur ihre Lippen fühlte, den Duft ihres Haares einsog – diesen Duft nach Orangen, den er so liebgewonnen hatte – und der Feuersbrunst lauschte, sie sich in seinem Herzen ausgebreitet hatte. War es eine Sekunde oder eine halbe Ewigkeit gewesen? Als sie sich langsam wieder lösten, lächelte Nadine ihn an, und er erwiderte ihr Lächeln. Als er etwas sagen wollte, musste er sich erst räuspern, was sie zum Kichern brachte. „Hat das gezählt?“ „Gute Frage“, gab Nadine schelmisch zurück. „Bei euch Männern muss es ja nicht gleich heißen, dass ihr eine Frau liebt, nur weil ihr sie küsst.“ „Nadine“, sagte er gequält. „Schon gut“, lachte sie abwehrend. „Mir ist es auch nicht leichtgefallen, das kannst du mir glauben.“ Sie sah ihm tief in die Augen. „Wenn das Spiel vorbei ist und wir uns das erste Mal in der Menschenwelt treffen, erwarte ich aber von dir, dass du es mir dann ins Gesicht sagen kannst. Ohne Ausflüchte.“ Er seufzte erleichtert auf. „Ich war noch nie gut in solchen Sachen. Tut mir leid. Ich könnte es versuchen, aber wenn ich sage, ich liebe dich, würde es sicher hölzern und wie ein Roboter klingen …“ „Aber du hast es gerade gesagt“, jubelte sie. „Der gefürchtete DigimonKaiser hat die drei magischen Worte gesagt!“ Erst fühlte er sich gekränkt, dann lachte er mit. Was für ein Dummkopf er doch war. Würde er sich ab jetzt jedes Mal zum Affen machen, wenn er mit ihr sprach? Das konnte ja heiter werden. „Darauf trinke ich“, verkündete Nadine und schwenkte ihren Kelch. „Darauf, dass es einer einfachen Frau wie mir gelungen ist, das Herz aus Stein des größten Tyrannen der DigiWelt zu erweichen!“ „Einfache Frau ist untertrieben“, sagte er und stieß mit ihr an. „Auf uns“, sagte sie. „Auf uns.“ Er roch die Gewürze in seinem Feuerwein und beschloss, doch einen Schluck zu trinken, auch wenn ihm nach wie vor so heiß war, als würde flüssiges Feuer durch seine Adern kriechen, sein Kopf sich nebelig anfühlte und sein Herz nicht aufhörte, die Hitze weiter zu verbreiten. Zaghaft nippte er an seinem Kelch. Und bereute es sofort. Der Wein war wirklich höllisch scharf, brannte auf seiner Zunge und schmerzte regelrecht an seinem Gaumen. Prompt verschluckte er sich, ein Tropfen rutschte die falsche Kehle hinunter, und Ken musste heftig husten. Gleichzeitig schmeckte er etwas anderes, Schleimiges, das das Brennen auf seiner Zunge erst verursachte … Das ist nicht nur Wein. Würgend und hustend schleuderte er den Kelch von sich, der eine rote Spur durch die Luft zog wie eine Wolke. „… nicht …“, brachte er heraus, während er sich vornüber beugte und nach Luft schnappte. Schweiß trat auf seine Stirn. Nadine, die ihren Kelch gerade an die Lippen gesetzt hatte, erstarrte wie versteinert und sah ihn aus großen Augen an. Dann ließ sie den Kelch fallen, er prallte auf dem Tisch auf und verunzierte ihr kostbares Kleid mit dunklen Flecken. „Ken?“ Er hustete und hustete und fasste sich an die Kehle. Von seiner Mundhöhle ausgehend wucherte er ein taubes Gefühl durch seinen Hals. Gift!, wollte er rufen, doch er bekam kein Wort heraus. Mit zittrigen Fingern tastete er nach seinem Connector und drückte den Alarm-Knopf, den er installiert hatte. Falls sich nicht wieder jemand ins System gehackt hatte und seine Nachrichten abfing, würden die Hagurumon auf der Brücke über seinen Standort informiert werden und Hilfe schicken können. „Ken! Was ist los? Geht es dir gut?“ Nadine stürzte zu ihm, machte Anstalten, ihm auf den Rücken zu klopfen, schrie aber dann stattdessen laut: „Hilfe! Helft uns, irgendjemand! Elecmon!“ „Geht … schon …“, brachte Ken heraus, der nach Atem ringend aufstand. Sich am Tisch abstützend, bekam er wieder Luft, auch wenn es plötzlich unglaublich anstrengend war. Seine Lungen wollten irgendwie nicht von selbst atmen. Die Tür flog auf und Elecmon flitzte herein, gefolgt von etlichen von Kens Soldaten und Nadines Leibgarde. „Was ist geschehen?“, fragte Clockmon. „Der Wein!“, rief Nadine. „Er hat den Wein gekostet und plötzlich … ich weiß auch nicht …“ „Es war Gift“, stieß er hervor. „Gift …“ Seine Finger zitterten. Jemand hatte ihn vergiften wollen … Er hatte es wohl vornehmlich über die Mundschleimhaut aufgenommen. Wenn er sich nicht verschluckt hätte, hätte es ihn wirklich umbringen können … Er war bestürzt. Plötzlich begriff er, dass dies ein weiterer Nachteil war, Digimon ohne Schwarze Ringe zu seinen Untertanen zu machen. Sie hatten freien Willen und konnten ihn täuschen – Clockmon hatte sogar erzählt, dass ein Schwarzring-Digimon versucht hatte, Matt zu befreien, indem es sich in einem ausgeklügelten Plan selbst hatte versklaven lassen … Er hatte einen neuerlichen Hacker-Angriff erwartet, einen Hinterhalt von Willis, einen Überfall auf die Festung oder auf seine Flugrouten … aber niemals hätte er sich träumen lassen, dass ihn jemand innerhalb dieser schützenden Mauern heimtückisch vergiften könnte. Und diese Naivität hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Lebte so ein wahrer Herrscher? Ständig in Angst vor einem Attentat? „Wer hat das Essen zubereitet? Und den Wein?“, fragte Nadine Clockmon. „Das … Das muss Gotsumon gewesen sein, Herrin“, sagte das Uhrendigimon mit der Henkersmaske. „Unmöglich“, murmelte Ken. „Gotsumon … Dieses Gotsumon hat mich schon lange bekocht, es hätte gar keinen Grund …“ „Vielleicht hat man ihm eine hohe Belohnung geboten“, brummte Clockmon. „Jedes Digimon hat seinen Preis, sei er auch noch so hoch.“ „Ich …“, begann Elecmon vorsichtig, „ich habe vorhin etwas gesehen. Ich wollte zur Küche, mir einen Nachschlag holen. Da war ein Tapirmon, das aus der Tür huschte, gerade, als ich hinein wollte. Ich hab mir nichts dabei gedacht …“ „Sucht sofort nach diesem Tapirmon!“, befahl Nadine mit lauter Stimme. Ken fühlte sich noch nicht imstande, Befehle zu geben. Die Garde rauschte ab, und Nadine streichelte seinen Rücken. „Du hast mich echt zu Tode erschrocken. Geht’s wieder?“ Es gibt viele Tapirmon in Takashis Armee, erinnerte sich Ken. Hat er sich für Hiroshi rächen wollen? „Wir sollten alles, was wir essen und trinken, in Zukunft vorkosten lassen“, sagte er zähneknirschend. Nadine nickte. Und es hätte ein gemeinsamer, gemütlicher Abend werden sollen. Sein Mund brannte immer noch, als wären viele kleine Bläschen darin. Vielleicht war dem ja auch so.   Wir liegen zusammen am Ende der Nacht Die Geister, die wir riefen, waren wir Wir stehen am Abgrund und blicken hinab Die Tiefe hält uns nicht mehr (Faun – 2 Falken) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)